Schriftliche Abiturprüfung 2010 – Nachtermin – Fach: Geschichte Prüfungsart: G-Niveau Dauer: 3 Stunden Seite 1 Lösungs- und Bewertungsvorschlag Nur für die Hand der Lehrerinnen und Lehrer Der Vorschlag umfasst einschließlich Deckblatt 7 Seiten. -2- Schriftliche Abiturprüfung 2010 – Nachtermin – Fach: Geschichte Prüfungsart: G-Niveau Dauer: 3 Stunden Nur für die Hand der Lehrerinnen und Lehrer Seite 2 1. Beschreiben Sie die außenpolitischen Zielsetzungen des Wiener Kongresses und ordnen Sie die Neuregelung Deutschlands in diesen Zusammenhang ein. (15 Punkte; Anforderungsbereich I/II) Der Prüfling beschreibt strukturiert und auf zentrale Aspekte beschränkt die sich aus dem Wiener Kongress ergebende außenpolitische Neuordnung und die daraus folgenden Konsequenzen für Deutschland. Erhalt der Großmachtstellung Frankreichs in den vorrevolutionären Grenzen Ziel: Schaffung eines Gleichgewichtes zwischen fünf den europäischen Kontinent beherrschenden gleichberechtigten Großmächten (England, Frankreich, Österreich, Preußen und Russland), von denen keiner in der Lage sein sollte, auf dem europäischen Festland eine Hegemonialrolle einzunehmen aus den politischen Leitideen „Restauration“, „Legitimität“ und „Solidarität“ abgeleitete defensive Maßnahmen zum Schutz der neugeschaffenen Ordnung: international: Gründung der „Heiligen Allianz“: gemeinsame Interessenpolitik legitimer Fürsten zur Abwehr nationaler und liberaler politischer Bewegungen für Deutschland: nach dem Untergang des „Heiligen Römischen Reiches“ (1806) und dem Ende der napoleonischen Vorherrschaft (1813-1815) Notwendigkeit einer Neuordnung mit dem Ziel, ein das europäische Gleichgewicht beeinträchtigendes vereintes „Deutsches Reich“ zu verhindern: Errichten des „Deutschen Bundes“ als ein Zusammenschluss von ursprünglich 35 – darunter auch von ausländischen Herrschern geführten – Einzelstaaten und vier freien Reichsstädten, deren Souveränität in der „Bundesakte“ garantiert wurde Struktur des „Deutschen Bundes“: einziges Organ eine unter dem Vorsitz Österreichs in Frankfurt am Main tagende Bundesversammlung (Bundestag) der Bevollmächtigten der einzelnen Bundesstaaten, geringe Handlungsfähigkeit des Bundestages aufgrund der Verpflichtung zu einstimmigen Beschlüssen. -3- Schriftliche Abiturprüfung 2010 – Nachtermin – Fach: Geschichte Prüfungsart: G-Niveau Dauer: 3 Stunden Nur für die Hand der Lehrerinnen und Lehrer Seite 3 2. Analysieren Sie den vorliegenden Text. (20 Punkte; Anforderungsbereich II) Der Prüfling gliedert den Text und weist die Argumentationsstruktur des Autors auf. Behauptung, dass die Aktualität der „deutschen Frage“ nicht erst seit dem Ende des 2. Weltkrieges, sondern schon seit der Zeit des Wiener Kongress existiere (1–7) Beleg der Behauptung über eine sowohl wortwörtliche als auch paraphrasierende Wiedergabe eines Textauszuges aus einer Denkschrift Humboldts aus dem Jahre 1816: o Ein geeinter deutscher Staat ziehe umgehend eine nachhaltige Störung des europäischen Gleichgewichts nach sich, da er hegemoniale Bedürfnisse in sich berge, die sich aus geopolitischen Aspekten wie Bevölkerungsdichte und ökonomische Stärke eines geeinten Deutschlands ergäben. o Demzufolge könnten sich rasch Bündnisse unter den übrigen europäischen Großmächten aus Furcht vor einem solchen hegemonialen Deutschland bilden, oder Deutschland könnte, um solche Bündnisse zu vermeiden, expansive Tendenzen annehmen. o Solche Tendenzen lägen den Deutschen grundsätzlich jedoch fern. (8–26) Einschränkung ausgerichtet, der indem Annahme Loth Humboldts, auf die Deutschland zentralistisch sei nicht ausgerichtete expansiv deutsche Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts verweist (26–28) abschließende Behauptung Loths, dass die Entstehung des geeinten Deutschen Reiches 1866 – 1871 vor allem der zu diesem Zeitpunkt herrschenden Uneinigkeit der übrigen europäischen Großmächte geschuldet sei und dass die Existenz dieses neuen Staates sofort die von Humboldt befürchtete Gefährdung des europäischen Gleichgewicht nach sich gezogen habe (28–33). -4- Schriftliche Abiturprüfung 2010 – Nachtermin – Fach: Geschichte Prüfungsart: G-Niveau Dauer: 3 Stunden Nur für die Hand der Lehrerinnen und Lehrer Seite 4 3. Weisen Sie nach, dass die kleindeutsche Einigung von 1871 „das innereuropäische Gleichgewicht in Frage gestellt“ (Z.28 f) hat. (Anforderungsbereich II; 10 Punkte) Der Prüfling erkennt die geopolitischen Veränderungen in Europa im Zuge der Reichsgründung. Durch die Niederlagen von Österreich und Frankreich steigt das neue, preußisch dominierte Deutsche Reich zu einer halbhegemonialen Stellung in Kontinentaleuropa auf und zerstört dadurch das seit dem Wiener Kongress herrschende Gleichgewicht der Mächte. Mit der Gründung des Kaiserreiches ändert sich die geopolitische Situation in Mitteleuropa grundlegend. Das bisherige Gleichgewichtssystem der europäischen Großmächte, das auf dem deutschen Gleichgewicht zwischen Preußen, Österreich und dem Dritten Deutschland in der europäischen Mitte beruhte, wurde prinzipiell verändert. Preußen, 1814/15 schwächste der europäischen Großmächte, errang im Rahmen des Deutschen Reiches eine halbhegemoniale Stellung auf dem Kontinent. Schon durch die Niederlage im Deutschen Krieg 1866 wurde Österreich als Führungsmacht in Deutschland von Preußen abgelöst und war in der Folge schwächste der europäischen Großmächte. Durch den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 verlor Frankreich seine führende Rolle in Kontinentaleuropa und musste durch die Abtretung Elsass-Lothringens einen erheblichen Prestigeverlust hinnehmen. Die Annexion belastete das deutschfranzösische Verhältnis und nährte den französischen Wunsch nach einer Revision der Entscheidung von 1871. Die Großmächte England und Russland verfolgten mit Sorge die machtpolitischen Veränderungen in Europa, da sie Hegemonieansprüche des Deutschen Reiches befürchteten. -5- Schriftliche Abiturprüfung 2010 – Nachtermin – Fach: Geschichte Prüfungsart: G-Niveau Dauer: 3 Stunden Nur für die Hand der Lehrerinnen und Lehrer Seite 5 4. Überprüfen Sie auf dem Hintergrund der Erfahrungen mit Deutschland im Zweiten Weltkrieg, wie es Deutschland 1990 gelungen ist, „die Furcht der übrigen europäischen Mächte vor einer deutschen Dominanz“ (Z. 3 f) auszuräumen. (Anforderungsbereich III; 15 Punkte) Der Prüfling erläutert die Gräuel und Ziele der nationalsozialistischen Kriegsführung, die die Sicherheitsbedenken der europäischen Mächte gegenüber der deutschen Vereinigung verständlich machen. Er zeigt auf, dass nur durch erhebliche Zugeständnisse an die europäischen Mächte, die feste Verankerung in das westliche Bündnissystem und die Bereitschaft, als vertrauenswürdiger Partner beim Aufbau einer friedlichen Ordnung Europas mitzuwirken, die Vereinigung Deutschlands ermöglicht wurde. Der Zweite Weltkrieg wurde von Deutschland von Anfang an als Eroberungs- und Vernichtungskrieg geführt, der rassenideologisch mit der Lebensraumtheorie begründet wurde. Das Kriegsziel war die Errichtung einer neuen europäischen Ordnung unter nationalsozialistischer Herrschaft und die Unterwerfung der Völker Europas. Die kriegswirtschaftliche Ausbeutung Polens begann schon unmittelbar nach seiner Zerschlagung – im Zusammenspiel mit der UdSSR – und es zeigten sich mit der gezielt einsetzenden Ausrottung der polnischen Oberschicht, der Konzentration der Juden in den Ghettos und der Germanisierungspolitik die Methoden des Eroberungsund Vernichtungskrieges. Das Ziel des Westfeldzuges war die politische Ordnung Westeuropas zugunsten einer hegemonialen Stellung Deutschlands zu gestalten, um, einen Zweifrontenkrieg vermeidend, alle Kräfte zum Angriff auf die Sowjetunion bündeln zu können. Trotz der erfolgreichen Blitzkriege gegen die Benelux-Staaten und Frankreich blieb Hitler ein militärischer Triumph über England versagt. Zwar wurde Frankreich zunächst -6- Schriftliche Abiturprüfung 2010 – Nachtermin – Fach: Geschichte Prüfungsart: G-Niveau Dauer: 3 Stunden Nur für die Hand der Lehrerinnen und Lehrer Seite 6 teilweise, dann vollständig besetzt, aber die erhoffte unumschränkte Kontinentalhegemonie konnte Deutschland nicht erringen. In England und den USA wuchs der Wille zum Widerstand. Im Sommer 1941 begann der Angriff auf die Sowjetunion. Ohne Schonung der Zivilbevölkerung und ohne jegliche völkerrechtliche Bedenken wurden in diesem Ausbeutungs- und Vernichtungskrieg die rassenideologischen Ziele der Lebensraumdoktrin bedingungslos umgesetzt. Der Aufbau eines autarken kontinentalen Imperiums sollte letztendlich dem Kampf Deutschlands um eine weltweite Vormachtstellung dienen. Begleitet wurde dieser Krieg von einer brutalen Rassen-, Bevölkerungs- und Siedlungspolitik, die vor allem die Bevölkerung Osteuropas und die Juden erleiden mussten, und einer schonungslosen wirtschaftlichen Ausbeutung und Zerstörung der besetzten Länder. Wegen dieser schmerzhaften Erfahrungen bestanden 1990 in den westlichen und östlichen Nachbarländern erhebliche Bedenken gegenüber der Vereinigung Deutschlands. Diesen Bedenken vor dem Wiederaufleben eines deutschen Hegemonialstrebens musste von deutscher Seite durch deutliche Zugeständnisse und Garantien Rechnung getragen werden. Aufgrund der alliierten Vorbehaltsrechte gegenüber Deutschland wurde mit den 2+4 Verhandlungen die deutsche Einigung durch die beiden deutschen Staaten und die vier Siegermächte ausgehandelt. Ein deutscher „Alleingang“ sollte damit von vornherein ausgeschlossen werden. Durch das klare Bekenntnis zur Zugehörigkeit auch eines vereinten Deutschlands in NATO und Europäischer Gemeinschaft, durch die Anerkennung der bestehenden Grenzen, insbesondere der Oder-Neiße-Grenze, auch durch gewisse Zugeständnisse gegenüber der Sowjetunion konnten Widerstände letztlich überwunden werden. -7- Schriftliche Abiturprüfung 2010 – Nachtermin – Fach: Geschichte Prüfungsart: G-Niveau Dauer: 3 Stunden Nur für die Hand der Lehrerinnen und Lehrer Seite 7 Zur Bewertung Eine Arbeit kann mit der Note „gut“ bewertet werden, wenn der Prüfling über ein umfassendes Wissen hinsichtlich der Geschichte des Wiener Kongresses und der deutschen Außenpolitik von 1939 bis 1990 verfügt und in der Lage ist, sein Wissen aufgabenspezifisch zu reorganisieren, den Inhalt des Textauszuges strukturiert wiedergibt, Loths Einschätzung der deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert einer eingehenden Beurteilung unterzieht und klar strukturierte Ergebnisse herausarbeitet, differenziert und sprachlich korrekt (unter Verwendung der Fachterminologie) argumentiert. Eine Arbeit kann mit der Note „ausreichend“ bewertet werden, wenn der Prüfling über ein Grundwissen hinsichtlich der Geschichte des Wiener Kongresses und der deutschen Außenpolitik von 1939 bis 1990 verfügt, den Inhalt der Rede zwar unstrukturiert, aber richtig wiedergibt, Loths Einschätzung der deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert ansatzweise einer Beurteilung unterzieht und Ergebnisse herausarbeitet, seine Ausführungen geordnet und verständlich formuliert. Lehrplanbezug Es wird Bezug genommen auf folgende „Verbindlichen Inhalte“: Die Französische Revolution (2. Halbjahr der Hauptphase) Außenpolitische Auswirkungen der Revolution Nationalstaatsbildung in Deutschland (2. Halbjahr der Hauptphase) Reichsgründung von oben Die nationalsozialistische Diktatur (3. Halbjahr der Hauptphase) Zweiter Weltkrieg in Europa Judenverfolgung und Völkermord Die Welt nach 1945 (4. Halbjahr der Hauptphase) Zwischen Entspannungspolitik und erneuter Konfrontation Das Ende des Kalten Krieges Punktezuordnung und Anforderungsbereich Aufgabe Aufgabe 1 Aufgabe 2 Aufgabe 3 Aufgabe 4 Gesamtpunktzahl Punkte 15 20 10 15 60 Anforderungsbereiche I/II II II III