Manfred Lange

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Manfred Lange
Ich sah den Mount Everest
oder der beschwerliche Marsch nach Gorak Shep
Impressionen aus dem Himalaja
Titelbild
Unsere Anmerkungen (3) sind rot und fett im Text.
Ich habe durchgängig Tama gegen Tamara ausgetauscht.
(Toma ist die richtige Abkürzung, aber besser ist Tamara.)
Unser Träger hieß Chung. Ich habe das durchgehend einheitlich
gemacht.
12 Photos
Darstellung Nepal im Umfeld
Darstellung der Tour in Nepal
Detaildarstellung der Tekkingroute
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Der beschwerliche Marsch nach Gorak Shep
Ein jeder Bergsteiger hat wohl ein Mal davon geträumt, auf dem höchsten Berg der Erde,
dem Mount Everest, zu stehen. Vergönnt ist es nur wenigen. Nepal und der Himalaja sind
weit weg. Es sind bergsteigerisches Können, beste körperliche Voraussetzungen, Mut und
Ausdauer erforderlich, aber auch viel Geld und Zeit. Mehrere Monate erfordern die
Vorbereitung, das Gewöhnen des Körpers an die Höhe und das Warten auf den richtigen
Zeitpunkt. Und man weiß, daß dieses Abenteuer das Leben kosten kann.
Wer nur in seine Nähe möchte, seinen Hauch spüren will, kommt mit weniger Aufwand
aus und reduziert die Gefahren erheblich. Das ist möglich, wenn man den langen Marsch
bis Gorak Shep auf sich nimmt, zum Basislager des Mount Everest (5364 m) weitergeht
oder auf den Kala Patthar (5550 m) steigt.
Weil ich unbedingt ein Mal in seine Nähe wollte, beschäftigte ich mich schon seit Jahren
mit diesem Thema, las und recherchierte. Dabei sprang der Zufall ein. Tamara und Frank
hatten das gleiche vor, waren bereit, mich mitzunehmen, auf ihre zweite Tour nach Nepal.
Ohne Zögern nahm ich das Angebot an.
Mit Gulf Air flogen wir in zwei Tagesetappen über Bahrain nach Nepal. In Kathmandu,
der Hauptstadt, organisierten wir die Tour. Ein Guide, Kusang Tamang, und ein Träger,
Chung Tamang, waren unsere Helfer in den drei Wochen dieses kleineren Abenteuers.
Nach einer elfstündigen Fahrt mit dem Überlandbus erreichten wir Jiri. Danach gibt es
keine Straßen mehr. Auf steinigen, steilen und glitschigen Gebirgspfaden, in brütender
Sonne, im Wolkennebel, bei strömendem Regen führte uns Kusang in acht Tagesmärschen
nach Namche Bazar (3440 m), dem Hauptort der Everest-Region. Nach einer Rast
erreichten wir nach weiteren zwei Tagen Dingboche (4410 m). Von dort aus unternahmen
wir einen „Tagesausflug“ zur Höhenanpassung über Chukhung zum Basislager des Lhotse
(8501 m) in etwa 5300 Meter Höhe.
Frank und Tamara erkrankten nacheinander. Deshalb trennten wir uns nach
einvernehmlicher Beratung am nächsten Morgen in Dingboche. Beide marschierten mit
Chung in zwei Tagen auf dem gleichen Pfad zurück nach Lukla und flogen am nächsten
Tag nach Kathmandu.
Ich marschierte mit Kusang nach Lobuche (4910 m), wo wir übernachteten. Am nächsten
Tag, dem 27. September 2000, zogen wir weiter nach Gorak Shep und erreichten um 9.05
Uhr den Gipfel des Kala Patthar, kaum zehn Kilometer Luftlinie von der Spitze des Mount
Everest entfernt. Wegen starker Anzeichen von Höhenkrankheit bei Kusang mußten wir
über Nacht Gorak Shep bleiben. Von dort schafften wir es dann in zwei Tagen bis nach
Lukla. Yeti Air Lines brachte auch uns sicher nach Kathmandu, wo ich, wie vereinbart, am
30. September wieder in „Pilgrims Hotel“ mit Tamara und Frank zusammentraf. Meine
Erkältung, die nun durchbrach, war in der Sonne des Kathmandu - Tales leichter zu
ertragen. Die verbleibenden Tage waren dem kulturellen Teil gewidmet, den Stätten
buddhistischer und hinduistischer Kultur, wie Bodnath, Pashupatinath, Bhaktapur,
verbunden mit einem Eintauchen in die Welt der Völkerschaften Nepals.
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Die Reportage kann nicht den Reiseführer ersetzen. Sie kann ihn ergänzen, soll dem Leser
Eindrücke von dieser Reise vermitteln.
08.09. Fr
11.30 ab Frankfurt mit Gulf Air (GF 016).
18.15 (OZ) an Bahrain, nach fast 6 Std. Flug.
Übernachtung im Bahrain International Hotel.
Der indische Koch – Über der Wüste - Arabische Nacht
Im Flugzeug. Fensterplatz hinter der Tragfläche, mit ausreichender Sicht nach unten.
Neben mir eine junge Frau aus Ostasien, keineswegs aus wohlhabenden Verhältnissen,
schlicht gekleidet. Sie hat Probleme, sitzt, besser, liegt in ihrem Sitz mit geschlossenen
Augen. Sie bemerkt aber, daß ich meinen TV-Bildschirm an der Rücklehne des
Vordermannes nicht in Gang bringe und hilft mir erfolgreich. Dann aber wird sie von der
Stewardeß mit einem zur Eile auffordernden „Quick!“ in die vordere mittlere Platzreihe
geholt. Der junge Inder aus der Mittelreihe, der mit ihr zu tun hat, sitzt plötzlich neben mir.
Nach einer Weile verlegenen Schweigens beginnt er ein Gespräch mit der Frage nach
meinem Namen. Er, Nousha Sharif, kommt aus dem Bundesstaat Kerala, im äußersten
Südwesten des indischen Subkontinents. Er ist akademisch ausgebildeter Elektroniker,
aber als Koch der Königlichen Familie von Quatar tätig, dem durch das Erdöl zu Reichtum
gelangten Emirat am Persischen Golf. Offenbar ist er aber mehr als nur Koch. Denn
mehrmals erscheinen zwei „Infanten“, im langen, weißen arabischen Gewand, mit weißer
Kopfbedeckung, von dem schwarzen Doppelring gehalten, flüstern ihm etwas ins Ohr und
erhalten Salzgebäck aus dem Handgepäck. Beide sind von friedlichem Aussehen,
keineswegs herrisch, mit verträumten Augen, allerdings sehr gut genährt. Ja, es sind die
vierzehn- und siebzehnjährigen Söhne des „Chefs“, der vorne in „First Class“ sitzt. Jedes
Jahr von Juni bis September ist Nousha Sharif mit der „Royal Family“ in Germany, in
ihrem „Haus“ in Düsseldorf. Von diesem Hauptquartier aus besuchen die Königlichen
Europa, Amsterdam, Berlin, Paris... Der begleitende Troß, keine Araber, sondern Inder und
Südostasiaten, besteht aus mindestens zehn Personen, bei uns in „Economic Class“
verstreut. Auch Kinder sind dabei, mit asiatischen Gesichtszügen. Den indischen Film am
TV-Bildschirm, der die lustigen Abenteuer einer Hindustani und eines Hindi in der
Schweiz zeigt, sieht sich mein Nachbar auch bei der Wiederholung in voller Länge an. Ich
fand den Film zeitweise interessant, erinnerten mich doch die Gesänge an frühere indische
Filme mit dem berühmten Schauspieler Raj Kapoor.
Der TV- Bildschirm informiert, daß wir über dem östlichen Teil von Zypern hinweg
fliegen. Nicht sehr lange sind wir über dem offenen Meer, dann ist die arabische Halbinsel
erreicht. Unter uns Syrien, eine Hafenstadt, die Landschaft hügelig, dann sandige Wüste.
Wir fliegen westlich an Damaskus vorbei. Weiter im Westen ein Höhenzug. Sollten das die
Golan- Höhen sein, Zone kriegerischer Auseinandersetzungen in Nahost? Immer stärker
prägt die Wüste in vielfältigen Formen die Landschaft. Weit unten eine Kette von winzigen
Punkten, eine Karawane in der endlosen Wüste? Es ist bereits dunkel, als die Maschine den
schmalen Meeresarm zwischen der arabischen Halbinsel und dem Inselstaat Bahrain
überfliegt und sicher aufsetzt. Nousha und sein Troß, die Königlichen und ihre Betreuer,
werden wohl gleich weiter fliegen, mit einem „Katzensprung“ auf die aus Arabien
herausragende Landzunge, die sich Quatar nennt. Wir haben eine ganze Menge an
Kontrollen und Formalitäten zu erledigen, ehe wir den Kleinbus besteigen und in das Hotel
auf der Hauptinsel gefahren werden.
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Nach dem üppigen Dinner im Bahrain International Hotel, auf Kosten der Gulf Air,
tauchen wir ein in die arabische Nacht, bei 33 ° C. Es ist sehr heiß, schwül, wie in der
Sauna, noch um 22 Uhr Ortszeit. Das Hemd klebt sofort am Körper. Wir schauen in eine
andere Welt. Die Hauptstraße ist wenig belebt, eine um diese Zeit eher triste Straßenzeile
mit Hotels, Banken, Firmensitzen. Mehrmals erreichen uns Zurufe aus vorbeifahrenden
Autos, wohl um Taxidienste anzubieten. Ein offenbar ungewöhnlicher Anblick, drei
Nichtaraber, dabei noch eine Frau, die schon wegen ihrer Kleidung sofort auffallen. In den
Nebenstraßen werden abendliches Treiben und Geschäftigkeit intensiver, die Angebote
zum Mitfahren häufiger. Hier ist auch keinerlei Prachtentfaltung erkennbar, die Fassaden
schlicht, die Häuser meist einstöckig. Getreu der arabischen Gepflogenheit, Reichtum und
Luxus nicht vordergründig zu zeigen. Auch die Frauen sind unseren Blicken verborgen.
Die weißen Burnusse der Männer bestimmen das Bild. Außer von den Autofahrern werden
wir kaum beachtet, Gefühle von Angst, spätabends in einer für uns völlig fremden Welt,
kommen nicht auf. Nur, der Schweiß rinnt in Sturzbächen den Körper herunter, die
Kleidung ist quatschnass. Wir gehen zurück zum Hotel, benetzt mit einem Hauch von
Arabien.
Beim kurzen Rundgang in dem übersichtlich gegliederten Hotel entdecken wir noch einen
„Sündenpfuhl“, eine Art Disco, in der nur Männer an den Tischen mit wohl alkoholfreien
Getränken begehrliche Blicke zu den asiatischen Schönheiten in leichterer Bekleidung auf
dem Podium werfen. Wir sind zu müde, um auf sündige Szenen zu warten...
09.09. Sa
9.45 ab Bahrain (GF 2008).
16.15 (OZ) an Kathmandu (Zeitdifferenz ca. 4,45 Std.).
Mit Kleintaxi zum „Pilgrims Hotel“ (Stadtteil Thamel).
Gastarbeiter – Mekka – Über Pakistan und Indien – First Class - Kathmandu
Halb acht Abfahrt mit dem Kleinbus. Die wenigen Schritte vom Hoteleingang bis dahin
sind bereits schweißtreibend. Im klimatisierten Bus ist alles überstanden. Drinnen setzt
sich sofort, mit Vorbedacht, ein junger Bursche neben mich, die Brille macht ihn älter, das
„base cap“ wiederum jünger. Spricht mich sofort an, freundlich, wißbegierig. Er gehört zu
der Gruppe jüngerer nepalesischer „Gastarbeiter“, die in Saudi Arabien arbeiten und nun
nach Hause, nach Kathmandu, fliegen. Offenbar nicht das erste Mal, denn sie bewegen
sich später ziemlich sicher und vertraut im Flughafengebäude. Sie arbeiten in der
Hauptstadt Riyadh (Riad), „in the middle of town“ (im Stadtzentrum), also nicht auf einem
Bohrfeld, wie ich ursprünglich vermutete. Sicherlich im Dienstleistungsgewerbe. Klar, die
reichen Saudis leisten sich dafür billige ausländische Arbeitskräfte. Als ich seinem
Nachbarn auf die Frage nach dem „Woher“ mit „Germany“ antworte, platzt der heraus:
„Mercedes...“
Dann sitzen wir wieder im Flugzeug. Auf dem Bildschirm erscheint immer noch in kurzen
Abständen die Inschrift „Makkah ... miles“. Der gläubige Muslim wird informiert, wie weit
er von Mekka, dem Pilgerort, entfernt ist. Aber im Flugzeug sind heute keine Araber, keine
weißen Gewänder der Männer, keine schwarzen der Frauen, keine verhüllten Gesichter...
Was sollte auch Araber nach Nepal locken? Der Bildschirm informiert ferner, daß wir das
spitze Horn an der Ostküste von Arabien überfliegen, die Vereinigten Arabischen Emirate
und Oman. Danach wieder endlose Wasserfläche unter uns, nicht mehr der Persische Golf
sondern das Arabische Meer. Später wieder Festland, Persien, der Iran. Unwirtliches
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hügeliges Land; keine Vegetation, keine Straßen und Ansiedlungen zu erkennen,
Baluchestan. Sind bis hierher die kriegerischen Horden Alexanders des Großen vor
zweitausend Jahren vorgedrungen? Später dann doch wieder Leben unter uns:
Wüstenzonen, unterbrochen von Gebieten mit Vegetation, mit Straßen, Ortschaften. Wir
müßten schon über Indien sein.
Rechts neben mir, in der Fensterreihe, ein Paar mittleren Alters, vom Aussehen her
Tibeter. Später, in Nepal werde ich erkennen, daß es sich um Sherpa handelt, Angehörige
des Volksstammes, der vor Hunderten von Jahren aus Tibet eingewandert und in den
Hochgebirgslagen der Everest Region, im Khumbu, ansässig ist. Er hat sich einen Whisky
verlangt und das Weinfläschchen seiner Partnerin geleert. Sie sitzt mit gekreuzten Beinen
auf ihrem Platz. Für mich eine artistische Leistung. Später macht er es ihr nach, aber
modifiziert, die Beine über Kreuz auf dem winzigen Klapptisch für die Mahlzeiten...
Schon lange haben wir keine Sicht mehr. Auf dem Bildschirm sehe ich: Der gläubige
Muslim ist schon über zweitausend Meilen von Mekka entfernt. Wir sind an Karachi in
Pakistan nördlich vorbei geflogen und steuern nun direkt auf Delhi zu. Kathmandu liegt da,
wo in der Darstellung das tiefe Grün des indischen Subkontinents in das Dunkelbraun des
„Plateau von Tibet“ übergeht...
Die „Buisiness Class“ der Boeing 767 ist leer, das kann ich sehen. „First Class“ ist durch
einen Vorhang für neidische Blicke unsichtbar gemacht. Wie es dort aussieht, wo
Königliche, Reiche und Schöne fliegen, das möchte ich auch gerne wissen. Natürlich habe
ich mir auch einen harten Whisky geben lassen. Habe nun Mut und bitte die nepalesische
Stewardess, mir „First Class“ zu zeigen. Freundlich erfüllt sie mir den Wunsch. Letzten
Endes ist der Einblick ernüchternd: Der „Raum“, ohne jeglichen Luxus, besitzt keinerlei
Besonderheiten. Aber die Enge ist weg. Insgesamt zehn gut gepolsterte Sitze mit viel
Freiraum für die Füße (auf gleicher Fläche sind bei uns „hinten“ 28 Sitze). Es sitzen dort
nur zwei Herren, still, in Akten vertieft. Kein süßes Leben zu erkennen... Mit Sicherheit ist
es hier langweiliger.
Noch vor dem Dunkelwerden taucht der Flieger aus dem Wolkenmeer. Grünes, hügeliges
und bewaldetes Land unter uns, von Dunstschwaden eingehüllt. Die Nepali neben mir
freuen sich, klatschen in die Hände. Es regnet unten. Der Monsun ist noch nicht vorüber.
Die Landebahn befindet sich auf einer Hochfläche neben steilen Hängen. Wir landen
sicher. Freundliche Beamte: Formalitäten, Visum, Geldwechsel sind schnell erledigt.
Kofferträger und Taxifahrer stürzen sich auf uns drei. Wehren ist zwecklos. Die
Schnellsten sind die Sieger. Ich bin sicher, daß „mein“ Träger die 20 Rupies erwischt hat.
Ein anderer ruft dazwischen: „...too much – zu viel!“ Neidverhalten oder Zurechtrücken
der Relationen? Ein winziges Auto, von der Größe des polnischen Klein Fiat, bringt uns
zum „Pilgrims Hotel“. Es regnet. Feuchte, schwüle Luft umgibt uns. Die Uhren haben wir
bereits umgestellt, dreidreiviertel Stunden voraus. Kathmandu, Hauptstadt des
Königreiches Nepal, nimmt uns in ihren Bann.
Ein buntes, exotisches Gewirr von Menschen südlicher Prägung. Braune, manchmal fast
schwarze, „indische“ Gesichter, „mongolische“ Typen, Menschen aller Schattierungen, ein
buntes Völkergemisch. Ein chaotisch erscheinender Verkehr. Autos, kleine
Lieferfahrzeuge, Motorräder, Rikschas, Fahrräder, Lastenträger, Fußgänger. Ein
ohrenbetäubender Lärm vom Hupen, Klingeln, Rufen. Wuselige und quirlige
Geschäftigkeit. Das ist nun Nepal. So habe ich mir Indien vorgestellt.
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Das von Frank favorisierte „Pilgrims“ Hotel im Stadtteil Thamel hat Zimmer für uns frei,
preiswert und mit hinreichendem Komfort. Erster Rundgang in Thamel im Regen. Die
Windjacke ist bald durch, aber nicht das Hemd. Aggressive Händler umringen uns.
Besonders der mit dem Haschisch läßt sich auch durch ironische Bemerkungen von Frank
nicht so leicht abschütteln. Tamara ist Russin. Deshalb ist sie besonders entsetzt über das
häßliche Verhalten eines Autofahrers, der sich mit seinem „Cruizer“, mit sechs Personen
besetzt, durch den dichten Verkehr, vorwiegend Fußgänger und Rikschas, drängt. Der
einen älteren Rikscha - Fahrer in russisch unflätig beschimpft und sich diebisch freut, daß
der Nepali seine unter Grinsen gesagten Worte nicht versteht. Dieser bringt seine Rikscha
zum Stehen und lächelt freundlich. Der offensichtlich betrunkene Fahrer versucht einen
Formel I – Start, würgt dabei den Motor fast ab und fährt von dannen.
10.09. So
Organisation der Tour im „Highlander“ Trekkigbüro.
Nachtgeschrei - Kusang Tamang und der „Highlander“ – Die „Schmeißfliege“ –
Eine Göttin aus Fleisch und Blut
Die Nacht hätte gut sein können. Doch die australische Lady im Zimmer mir gegenüber
und ein Nepali, ihr Guide, wollen das anders. Ab zwei Uhr rollen sie ihr Beziehungsdrama
auf dem Gang in voller Lautstärke und in Überlänge ab. Morgens belegen zerrissene
Photos vor ihrem Zimmer die Heftigkeit des Zerwürfnisses zusätzlich.
Beim ersten Ausmarsch in Thamel läuft uns zufällig Kusang Tamang über den Weg, der
Guide, den Frank und Tamara schon im Jahr zuvor engagiert hatten. Er arbeitet jetzt für
den „Highlander“. Ihn wollen wir wieder haben. Also zum „Highlander“. Dort organisieren
wir unsere Trekking Tour zum Everest Base Camp. Die soll 19 Tage dauern, mit einem
Guide (Kusang Tamang) und einem Träger (Chung Tamang). Der Linienbus soll uns zum
Ausgangspunkt Jiri bringen, ab dort gibt es keine Straßen mehr. Von Lukla werden wir
nach Kathmandu zurück fliegen.
Bummel zum Durbar Square. Der Halbwüchsige mit den gelbbraunen Haaren, vielleicht
„angebleicht“, ist lästig wie eine „Schmeißfliege“. Schon lange Zeit klebt er an mir, will
Geld haben für eine Milch. Er sieht aber gar nicht ärmlich aus. Er ist ein Profi. Ich mag
diese „Ausgebufften“ nicht. Besonders inländische Reiseführer fordern, dem Betteln von
Kindern aus erzieherischen Gründen nicht nachzugeben. Ich tue das auch nicht, weil
allgemeine Not nicht durch Bettelgaben gelindert wird. Auch die Kettenreaktion muß man
bedenken, auf die man schon gar nicht eingestellt ist. Da er nicht von meiner Seite weicht,
ununterbrochen „money“ und „milk“ auf mich einredet, sage ich ihm mit deutlich
„angeschärfter“ Stimme, daß er endlich verschwinden solle, sonst... Für das „sonst“ habe
ich jedoch keine Lösung. Er hat aber verstanden, bringt sich in Sicherheit, aber nur einige
Schritte weiter – zu Tamara. Sie wird ihn erst los, als sie die Nerven verliert und ihm die
gewünschten Rupies gibt...
Ich bin ein Glückspilz, ich habe die Kumari gesehen, zwar nur für zwei Sekunden, aber ich
habe sie gesehen. Sie ist wirklich sehr schön mit ihren vielleicht erst zehn Jahren. So wie
auf der Ansichtskarte, die ich gerade am Durbar Square gekauft habe. Wie eine kleine
Prinzessin. Aber sie ist ja viel mehr, sie ist eine Göttin, die wohl einzige Göttin aus Fleisch
und Blut - verehrt von den Hindus als Schutzgöttin. Die zwei Sekunden Blick auf das
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schöne Jungmädchengesicht kosten dann eine kleine Spende - erschwinglich. Denn die
Höhe wird nicht vorgeschrieben. Das Glück der Kumari ist nur ein kurzes, trügerisches.
Die Gunst, aus der Schar der Bewerberinnen aus der Newar Hochkaste der Shakya
ausgewählt zu werden. Die Kindheit zu verbringen wie eine Göttin, platziert auf einem
Thron, behütet von ausgewählten Frauen, verehrt von Priestern, die ihre Füße mit ihren
Köpfen berühren, in rote und goldene Seidenkleider gehüllt, mit kostbarem Schmuck
behängt und umgeben von anderen Kindern, die nur im Tempel mit ihr spielen dürfen. Nur
bei besonderen religiösen Anlässen darf sie den Tempel verlassen, in einer reich verzierten
Sänfte getragen. Tausende von Menschen bekunden ihre Verehrung. Dann, wenn sie eine
Frau wird, das erste Mal Blut verliert, ist alles vorbei. In den Alltag zurückgeworfen, ohne
Schulbildung, vergessen... Der Mythos, daß ihr Ehemann früher sterben werde, erschwert
das Finden eines Partners. Die vielen Gaben und Geschenke der Menschen aus ihrer
Kumari - Zeit hat die Familie an sich genommen, die sie betreute...
11.09. Mo
5.00 ab Hotel mit Taxi zum Busbahnhof.
5.30 ab, 15.30 an Jiri, Unterkunft in Cherdung Lodge.
Menschliche Fracht – Lange Fahrt im Bus durch das Gebirge – In Jiri
Das scheint unmöglich zu sein! Das Taxi von der Größe eines Fiat Uno soll neben dem
Fahrer noch fünf Personen, den Guide, den Träger und uns drei, Tamara, Frank und mich,
mitnehmen. Und dazu das Gepäck: Den Seesack, zwei große Rucksäcke und mehrere
Tagesrucksäcke. Irgendwie geht es dann doch - vier Männer auf dem Rücksitz. Ich sitze
außen links, eine fremde, männliche Backe auf meinem rechten Oberschenkel. Ich mag das
eigentlich nicht... Noch in der Dunkelheit erreichen wir den Busbahnhof im östlichen
Kathmandu. Scheinbares Chaos, aber alles funktioniert, wie tags zuvor versprochen. Ich
erkämpfe einen Fensterplatz in dem vollen Bus. Das Gepäck verbleibt gegen Zusatzgebühr
im Bus, im Blickfeld. Außerdem könnte es ja auch regnen und degegen ist auf dem Dach
des Busses nichts vorgesehen.
Das wird eine abenteuerliche Fahrt! Aus Kathmandu heraus, durch Vorstadt und Vororte,
an Reisfeldern, in denen Kuhreiher einher staken, vorbei im Morgennebel, der langsam der
Morgensonne weicht, durch kleine Städtchen, Ortschaften voll pulsierenden Lebens. Die
Straße schlängelt sich nach Tibet hoch in die Wolken, durch Schluchten, an Abgründen
entlang, über Flüsse auf alten Brücken, in Täler hinab, wieder auf Höhenzüge hinauf. Elf
Stunden Fahrt durch atemberaubende Natur. Viele Menschen unterwegs, Aussteigen der
Angekommenen, Einsteigen anderer Fahrgäste zu anderen Zielen in die Hochgebirgstäler,
Menschen vieler ethnologischer Schattierungen, ein Völkergemisch, brodelnd, exotisch...
Bei jedem Halt an den kleinen Flecken zwischen Hang und Abgrund, auf denen nur
wenige Häuser, Buden, Kioske stehen, kann ein wenig Wegzehrung eingekauft werden.
Draußen, aber auch drinnen, von den Jungen und Mädchen, die mit Früchten, Bananen,
Melonenscheiben und Gebäck durch den Bus gehen. Ich verkneife mir zunächst alles, was
nicht gewaschen, gekocht, geschält ist, aus Furcht vor einer Magenverstimmung.
Im anbrechenden Morgen überall an der Straße, vor den Häusern, Menschen beim
Waschen, beim Zähneputzen, mehr Frauen als Männer... Der Bus hält. Eine hübsche junge
Frau, weit vornüber gebeugt, in einem trägerlosen Gewand, das über der Brust abschließt.
Sie massiert ausgiebig ihre wohlgeformten Waden. Während Hüften und Bauch der Frauen
frei sind, verlangt der Glaube, daß die Beine bedeckt bleiben. Deshalb tragen alle Frauen
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Hosen unter dem Gewand oder dem Sari. Beim Waschen ist das Tabu wohl aufgeweicht.
Das lange, dunkle Haar reicht in ihrer Beugestellung über der Schüssel bis auf den Boden.
Nach der Massage scheuert sie ihre Fußsohlen einige Male auf dem Fußboden aus Ziegeln
und spült sie dann mit einem Wasserstrahl aus dünnem Schlauch ab. Danach beugt sie sich
mehrmals so tief, daß die halbe Länge der offenen schwarzen Haare in die wassergefüllte
Schüssel taucht. Dann spritzt sie mit vollen Handflächen Wasser in das Gesicht, spült es
ab. Danach nimmt sie die Haarpracht in beide Hände, preßt sie zu einem Langen Zopf
zusammen und dreht ihn irgendwie ein. Dann... dann fährt der Bus weiter, die schöne
Nepali bleibt hinter der Hausecke zurück und der „Spanner“ am Busfenster muß sich nach
einem neuen Blickfang umsehen.
Nach dem Hellwerden tauchen im Osten schneebedeckte Giganten auf, majestätisch über
den Wolken. Ich vermute die Achttausender Annapurna, Dhaulagiri... . Kusang belehrt
mich aber, daß diese ja, von unserer Route aus gesehen, im Westen thronen. Er vermutet
den Gaurishankar, einen Siebentausender im Rolwalin Himal, an der Grenze zu Tibet.
Auf den Sitzplätzen gegenüber ein junges Paar, beides schöne Menschen. Sie ist voll mit
dem Kind beschäftigt, stillt es nahezu ununterbrochen. Dabei läßt sie das Oberteil des Sari
weit offen. Auch, als das Paar den Bus nach Stunden Fahrt durch das Gebirge verlassen
will und nach vorne zur Tür geht. Niemand nimmt Anstoß daran, keine Blicke, kein
Tuscheln... Erst kurz vor dem Aussteigen korrigiert sie ihre Garderobe. Kaum aus dem Bus
heraus, muß sie sich übergeben, an der offenen Abwasserrinne zwischen Straße und den
unmittelbar anliegenden Läden und Kiosken. Das Kind behält sie auf dem Arm. Der junge
Mann wendet sich ab, ohne sichtbare Regung, mit einem gewissen Stolz in der Haltung
und ein wenig traurigen Augen. Unsere Blicke treffen sich, eher zufällig. Ich mache
instinktiv, fast unmerklich, eine Abschiedsbewegung mit der Hand. Da hellt sich sein
Gesichtsausdruck ein wenig auf... Der Bus fährt weiter.
An einer Haltestelle, in der feuchten Kühle des Wolkennebels, ein Bild, das mich aufwühlt.
Während sich andere Kinder eifrig am Handel beteiligen, schreiend umhertollen, liegt auf
der Fläche zwischen Abwasserrinne und Verkaufsständen, die nur drei bis vier Schritt
voneinander entfernt sind, ein etwa vierzehnjähriger Junge. Zusammen gekrümmt, seitlich
auf der Erde, nur mit einem Regenmantel bedeckt, der Kopf neben einem Brettchen. Als
ich ihm ins Gesicht schaue, sind seine Augen voll auf mich gerichtet, ausdruckslos, tief
traurig. Ich erschrecke, kann ihm nicht lange in die Augen sehen, schaue weg. Nach einer
Weile blicke ich unwillkürlich wieder zu ihm. Gesichtsausdruck und Lage sind
unverändert. Niemand nimmt von ihm Notiz. Er ist wohl schwer krank.
Der Bus hält wegen einer Panne, linkerhand ein Steilhang aufwärts, an dem Menschen ihre
Häuser errichtet haben, Terrassenfelder kleben, Rinder weiden. Rechts am Steilhang
abwärts Häuser, Terassen, Vieh, Menschen bei der Arbeit. Ich steige auch aus, Beine
vertreten, ein Photo schießen. Eine junge Frau spricht mich an, im blauen Überkleid, weiß
gemustert, mit blauen Hosen, unter dem Kleid getragen, blauer langer Schal, Brille.
Asiatische Gesichtszüge, aber nicht genauer einzuordnen. Sie wäre aus Bhutan, lebt aber
in Kathmandu. Sie seien Christen, bei einem Ausflug in die Berge. Ihre Kollegin, auch so
apart gekleidet, und der junge Bursche, in „bürgerlicher“ Montur, hören interessiert zu. Ein
gutes Omen: Sie werden für mich beten, sagen sie, als sie von meinem Vorhaben hören.
Die anderen Kollegen der christlichen Gruppe haben den Platz gewechselt, sind auf das
Dach des Busses gestiegen, singen zur Gitarre, einheimische Gesänge, die für meine Ohren
nicht schöner sein könnten. Ich fühle mich wohl...
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Wie ich erst später merke, ist Frank auch auf das Dach gestiegen, zu den jungen Leuten,
den Christen und anderen. Ich beneide ihn fast. Viel später, Frank ist schon längst wieder
im Bus, geht es einem Fahrgast auf dem Busdach nicht gut. Die Ergebnisse des
Unwohlseins platschen längere Zeit, in fast berechenbaren Abständen, dicht an meinem
Fenster vorbei. Das läßt sich nicht schließen und der Fahrtwind drängt die verlorene
Mahlzeit immer ziemlich dicht an den Spalt. Ich habe Glück, kriege nichts ab. Komme
aber zu dem Ergebnis, daß nicht jeder für die Fahrt auf dem Dach eines Busses geeignet
ist...
Wer hat es nicht gesehen, das vielleicht preisgekrönte Photo des kleinen vietnamesischen
Jungen, der auf dem Wasserbüffel reitet? Der Büffel bis an den Hals im schlammigen
Reisfeld? Ich habe ein ähnliches Bild vor Augen gehabt, aus dem Busfenster heraus. Noch
heute, beim Schreiben bin ich traurig, weil ich mich vor Aufregung mit dem Photoapparat
verhaspelte. Vielleicht hätte ich mit diesem Photo auch berühmt werden können: Neben
einem Bauernhäuschen in einem fast kreisrunden Wasserloch, eigentlich ein Tümpel, badet
ein junges Mädchen zwischen sechzehn und achtzehn in voller Bekleidung mit einem
Wasserbüffel. Der Büffel, ungefähr in der Mitte, auch hier bis zum Halse im Wasser. Das
Mädchen, weiter am Rande, steht anfangs in dem moddrigen Wasser, bis unter die
Achseln. Dann macht es ein paar schwimmende Bewegungen zum Tier hin, und ich sehe
nur den Kopf mit den schwarzen Haaren, der lange Zopf ist in die dunkle Schlammbrühe
eingetaucht, die Hände werden zeitweise bei den rudernden Bewegungen sichtbar. Und
schon ist das Bild weg, der Bus kämpft sich nach der Kurve die nächste Steigung hinauf....
In Jiri ist es kalt, ungemütlich, zum Frösteln. Die Cherdung Lodge führt vor, was uns in
den nächsten vierzehn Tagen an Komfort am Abend und in der Nacht erwarten wird. Ein
schlichter Aufenthalts- und Eßraum, bescheidene Toiletten und Waschmöglichkeiten, ein
völlig spartanischer Schlafraum mit zwei Holzpritschen ohne Schrank, Tisch und Stuhl,
eigentlich nur ein Bretterverschlag, schmal und kurz. Die Auflage ist hinreichend
gepolstert und ich nehme es vorweg: Ich werde immer guten Schlaf finden. Die zweite
Pritsche kann den Inhalt von Rucksack, Seesack und Tageskleidung aufnehmen.
Problematisch wird es nur, wenn die Bekleidung naß geworden ist. Trotzdem übernachte
ich im Luxus, denn Tamara und Frank müssen mit dem gleichen Platzangebot
zurechtkommen...
12.09. Di
7.30 Abmarsch nach Shivalaya, Mittagsrast in der Good Sherpa Lodge.
15.45 am Deurali-Paß im völligen Dunst.
17.15 in Bhandar, Unterkunft in Ang Dawa Lodge.
Der große Marsch beginnt – Buddhistische Nonnen – Lastenträger – Sherpa
Der Abmarsch aus Jiri erfolgt zügig. Wir sind ausgeruht und „heiß“ auf das, was uns
erwartet. Der erste Anstieg bremst die Euphorie, treibt den Schweiß aus allen Poren. Der
Pfad ist glitschig nach dem Regen. Viele Menschen kommen uns entgegen, mit und ohne
Lasten. Vielleicht zum Basar oder zum Überlandbus, oder zu Verwandten... Es geht über
einen beachtlichen Bergrücken. Dann steigen wir wieder ab zum Fluß Khimti Khola, an
dem Shivalaya liegt. Unterwegs erleben wir das Teilen und den Verkauf der Stücke einer
gerade geschlachteten Ziege. Wir begegnen großen Gruppen von Schulkindern in
Uniformen. Sie belagern uns, sind neugierig. Damit sie nicht den Schulbeginn verpassen,
müssen wir unsere Rast zeitiger beenden.
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Der Aufstieg zum Paß deutet an, was uns in den nächsten Tagen an Anstrengungen
erwartet. Am Deurali-Paß, in 2500 Metern Höhe, ist es kalt und ungemütlich. Die Wolken
liegen tief, dichter Nebel hüllt uns ein. Eine Stimmung wie an einem häßlichen
Novembertag zu Hause. Die zahlreichen Lodges wirken nicht einladend. Nur wenige
Menschen gehen vorbei. Egal, wie weit es noch bis Bhandar ist, wir gehen weiter runter ins
Tal, in das Licht, in die Wärme! Der zügige Schritt bringt uns schnell voran, nach unten.
Die uns Entgegenkommenden haben es hier besonders schwer, der Pfad ist sehr steil und
steinig.
Mitten auf dem hier sehr breiten, steinigen Pfad lagern, rasten junge Mädchen. Sie tragen
einheitlich die Kutten buddhistischer Nonnen in rot, rotbraun und gelb. Die Köpfe sind
kahl geschoren. Als wir ihnen entgegen kommen, geraten sie in helle Aufregung. Wir
gesellen uns zu ihnen, was ihnen offenbar sehr recht ist. Ich bin überrascht von der
Unbekümmertheit und Aufgeschlossenheit der jungen Mädchen. Schnell sind wir im
Gespräch über Woher und Wohin, wobei Kusang einige Hilfestellung gibt, wenn es mit der
Verständigung hapert. Die mir mehrfach unter Lachen kameradschaftlich auf die Schulter
klopft, heißt Tigmat Dolker, als Adresse gibt sie die Abitabn Society in Kathmandu an.
Dem Filmen und Photographieren stimmen sie begeistert zu. Zwei etwas müde Nonnen,
Nachzügler, eilen mit Gelächter und Geschrei zu unserer Gruppe herauf. Sie wollen
unbedingt mit auf das Bild. Der feste Vorsatz, ihnen die Photos zu schicken, erscheint nach
dem Adressenaustausch realistisch. Da sie offenbar in oder um Kathmandu ihren Sitz
haben, entfällt längerer Inlandweg.
Das Gelächter, Gestikulieren, unsere fröhliche Konversation, rufen Zuschauer auf den
Plan. Träger mit ihren schweren Lasten, die willkommene Gelegenheit der Abwechslung
auch zu einer Atempause nutzend. Als ich die Gruppe der jungen Nonnen photographiere,
steht plötzlich ein blutjunges Mädchen vor mir, eine Lastenträgerin. Ein sehr hübsches
Mädchen von etwa vierzehn Jahren. (Später werde ich die Erfahrung machen, daß man
meistens fünf Jahre drauflegen muß). Sie trägt ein dunkelgrünes Kopftuch, passend zu dem
grünlichen Shirt. Darüber eine dezent geblümte Bluse, cremefarben. Der Rock, bis unter
die Knie reichend, in bordeaux, mit größeren Mustern in grün. Die Füße stecken in
knöchellangen Gummistiefeln. Es ist ihre Arbeitskleidung, genutzt für Schwerstarbeit, und
doch harmonisch aufeinander abgestimmt. Zwischen ihren Beinen ist ein Stock zu sehen,
der Tragestock, mit dem auffälligen Knauf, auf dem jetzt der Lastenkorb ruht. Im
Lastenkorb, hinter der Bewehrung am Rückenteil, ragen drei Pappkartons weit über
Kopfhöhe hinaus. Diese sind mit Schnüren verzurrt, um ein Verrutschen oder Kippen zu
verhindern. Das Ganze ist mit einer blauen Plastefolie bespannt, Schutz gegen Feuchte und
Regen. Sie schaut mir ruhig in die Augen, freundlich, neugierig, fragend... Dann zieht sie
weiter.
Ich glaube, sie heute schon ein Mal gesehen zu haben. Korrigiere mich dann aber. Die
andere, ja, es war eine andere, trug ihre Last mit dem Stirnband. Diese hier hatte
Schulterriemen an ihrem Tragekorb. Ich hatte die andere zunächst nur von hinten gesehen,
wie sie, tief vornüber gebeugt, vorsichtig die Unebenheiten des Pfades wägend, aber
flinken Schrittes ihre schwere Last voran brachte. Kaum vorstellbar, daß diese kleinen
Beinchen in kurzen Gummistiefeln solche Lasten transportieren. Ich konnte nur sehen, daß
sie Shorts trug, die kaum bis an die Knie reichten. Hier eher selten getragen, vielleicht auch
ein Ausdruck ihrer Jugend. Im Vorbeigehen schaute ich in ihr Gesicht und war überrascht
von seiner Schönheit. Der Gesichtsausdruck war angespannt, konzentriert, aber nicht
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verkrampft oder grämlich. Ich verlangsamte meinen Schritt, konnte sie und ihre Gruppe bei
der nächsten Rast ein wenig beobachten. Da es leicht regnete, trat sie unter das Vordach
einer Teestube. Kaum von der Last befreit, wurde aus der konzentrierten, ernsten
Schwerstarbeitern ein ausgelassenes junges Ding, das unbeschwert lachte und sich die
kurze Pause der Rast auf seine Weise vertrieb. Sie hatte eine Luftballonfolie bei der Hand,
erzeugte durch Saugen und Verdrillen des Endes einen winzigen Ballon, der nach einer
Attacke mit ihrem Fingernagel immer lustig zerknallte. Dann schaute sie auf mich, straffte
ihren Körper, deutete mit der rechten Hand eine militärische Grußbewegung an, ahmte
einige Exerzierschritte nach und feixte. Ich mußte schmunzeln. Sie könnte in mir einen
Preußen erkannt haben...
Wenn ich ein Dichter wäre, würde ich eine Ode an die Träger im Himalaja schreiben! Über
die Männer und Frauen, Mädchen und Jungen, oft auch Kinder. Sie hätten es verdient: In
den Gebirgszonen ohne Straßen tragen sie die Waren über Pfade zwischen den
entlegensten Ansiedlungen. Im allgemeinen sind die Güter in einem Korb verstaut und
ragen oft weit darüber hinaus. Ich hab ein Mal einen solchen Korb anheben dürfen, um das
Gewicht abzuschätzen. So, mit beiden Händen über dem Bauch. Für mich waren das ohne
weiteres 50 kg. Dabei habe ich mich nicht getraut, den Korb, wie die Träger, mit dem
Stirnband anzuheben, befürchtete Zerrungen in der Halspartie. Das Stirnband ist an die 60
cm lang und hält die Last. Eine Hand ist beim Gehen frei, die andere trägt den Tragestock.
Der ist weniger ein Wanderstock als vielmehr eine Auflage für die Last bei der
kurzen Rast. (Die Last wird nicht abgestützt, sondern der Träger setzt sich auf den
Stock) Nicht immer verfügt das Gelände über einen Sims zum Aufsetzen, wie er an allen
Lodges vorhanden ist. Die Last ruht dann, während der Körper etwas entspannen kann,
oben auf dem Knauf in Form eines T - Stückes. Wer eine sehr schwere Last trägt, braucht
auch einen sehr dicken Stock, der meistens stärker ist als ein Sensenbaum. Die
schmierigen, rutschigen und steinigen Wegstrecken erfordern ein gewisses
Balancevermögen. Sie gehen, je nach Gelände, in kurzen, schnellen aber auch bedächtigen
Schritten. Meistens „trippeln“ sie. Das Schuhwerk ist in den seltensten Fällen den
schwierigen Bedingungen angepaßt. Trekkingschuhe sieht man kaum. Es wird in
Turnschuhen, kurzen Gummistiefeln, Badelatschen und auch barfuß gegangen. Auf dem
steinigen, matschigen Pfad bergaufwärts vor mir verlor eine Trägerin den Latschen von
ihrem rechten Fuß, nestelte mit dem barfüßigen Bein nach ihm, versuchte, im
Gleichgewicht zu bleiben (Umdrehen und Schauen unter der Last war nicht möglich). Ich
bückte mich und schob ihr den Latschen lautlos auf ihren Fuß. Sofort nach dem
Weitergehen setzte, von ihr ausgehend, über die ganze Trägergruppe hinweg ein
ausgiebiges Gekicher und Gelächter ein...
Die Ang Dawa Lodge ist direkt neben einer Gompa und zwei Stupas gelegen, etwas abseits
von den anderen Häusern von Bhandar. Hier finden wir Unterkunft nach der ersten
Tagesetappe. Nach Kleidung und Aussehen ist die Wirtin unverkennbar eine Sherpa, wie
auch ihre beiden hübschen und netten Töchter. Die freundliche Aufnahme, die saubere
Atmosphäre lassen auch für die nächsten Tage Gutes hoffen. Gleich hier werden wir in das
Bestellsystem für Mahlzeiten und Getränke eingeführt. Die aus einer schlichten Speiseund Getränkekarte ausgewählten Dinge muß man selbst in ein Bestellbuch eintragen, nach
dem auch nach dem Verlassen der Lodge abgerechnet wird. Der Abend wird noch lustig.
Uns wird das Familienalbum gezeigt. Noch eine hübsche Tochter ist im Bild, wohl die
schönste von den Dreien in wohlhabender Umgebung in Kathmandu und Vermont (USA).
Warnungen ignorierend koste ich ausgiebig, drei Gläser, von dem gelben („naturtrüben“)
Getränk, „Chang“ genannt. Ein Bier, aus Reis gegoren. Es hat mir nicht geschadet.
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13.09. Mi
8.00 Abmarsch ins Tal des Likhu Koshi.
10.45 Kinja (Checkpoint), Mittagsrast im New Everest Guest House.
15.45 in Sete, Unterkunft in Sherpa Guide Lodge.
Heißer Tagesbeginn – Hausbau am Hang – Babybetreuung – Leben am Hang
Der Marsch geht in der vormittäglichen Hitze bis Kinja. Nach der Überquerung eines
Flußzulaufes schlängelt sich der Pfad am Steilhang entlang, immer am Ufer des Likhu
Kosi. Der üppige Bewuchs, Bäume, Rhododendron, Sträucher, Gestrüpp, Gras, Blumen,
kaschiert die teilweise schwindelerregenden Abgründe. Je stärker die Hitze wird, um so
mehr entvölkert sich der Trail. Die Träger und Händler suchen den Schatten der einfachen
Teestuben, wo sie trinken, essen und rasten. Am Zusammenfluß zweier Flüsse, auf ebenen,
feuchten Flächen, sind noch Reisfelder. Dort liegt auch Kinja, dessen Häuser die ebenen
Zonen nutzen und sich dicht aneinanderschmiegen. Der Soldat am Checkpoint, offenbar
auch von der Hitze beeindruckt, ist einsilbig. Die Formalität ist uns nicht mehr neu und
schnell zu absolvieren. Die Zubereitung der Mittagsmahlzeit erfordert einige Zeit, weil auf
dem offenen Feuer. Daran werden wir uns gewöhnen müssen...
Beim weiteren Marsch verweilen wir an einer Baustelle. Wo sich der Pfad am steilen Hang
auf etwa zehn Schritte verbreitert, haben die Bauleute noch nachgeholfen. Dort wird ein
Haus, vielleicht eine Teestube oder eine kleine Lodge gebaut. Außer dem Holz werden die
Baumaterialien vor Ort gewonnen. Die Steine werden aus dem Hang herausgebuddelt. Die
ebene Fläche wird damit größer und der Hang an dieser Stelle steiler. In mühseliger und
geduldiger Arbeit werden sie mit Hämmern eckig und winklig geschlagen, die Form und
Größe der jeweiligen Position im Mauerwerk angepaßt. Der ältere Steinmetz, nach
Kleidung und Kopfbedeckung ein Newar, benutzt einen metallischen Winkel, mit dem er
mir mit Stolz den rechtwinklig gehauenen Stein vorführt. Als Mörtel wird das lehmige
Erdreich verwendet, aus dem die Steine entnommen wurden. Mit etwas Wasser vermischt
und mit einem breiten Brett in die tiefer gelegene Fußbodenfläche getragen, wird es in die
Fugen eingebracht. Das Holz für die Dachkonsruktion, für Fenster und Türen wird vor Ort
passend geschnitten. Ich zähle genau zehn Menschen, die am Bauen beteiligt sind. Sie
sagen, daß das Haus in 20 – 30 Tagen fertig sein soll.
Am Nachmittag regnet es. Auch das ist nicht so angenehm, der Pfad wird glitschig. Aber
immerhin besser als die Hitze. Ich schütze nur den Rucksack mit der knallroten Hülle, die
ich in Jiri gekauft habe. Der Regen wird dann aber zunehmend unangenehmer. Wir haben
inzwischen erheblich an Höhe gewonnen, und die Hitze des Tales ist einer feuchten Kühle
gewichen. Dreißig Minuten vor Sete, unserem Tagesziel, regnet es immer noch. Wir
machen eine kurze Teepause in einer einfachen Lodge für Träger. Der Tee wird von einer
jungen Frau bereitet, von normaler Größe, mit einem schmalen, ausdrucksvollen Gesicht,
die vom Schnupfen geplagt ist. Sie ist eine Mutti und trägt das Baby in einer Wiege auf
dem Rücken. Das ist ein rechteckiges Körbchen, nicht sehr lang. Das etwa zwei Monate
alte Baby paßt offenbar noch gut hinein. Da die Frau uns zugewandt steht, kann ich nicht
sehen, ob das Körbchen mit der Decke völlig zugedeckt ist. Ähnlich wie die Lastenträger
trägt sie es mit einem Stirnband. Der dünne Strick ist so um das Körbchen geschlungen
und verknotet, daß es trotz der schrägen Führung in der Waagerechten bleibt. Sie bewegt
Kopf und Körper ganz leicht von vorn nach hinten und zurück, und „wiegt“ das Baby in
seinem kleinen Bettchen. Als das Kleine ganz leise zu „meckern“ beginnt, intensiviert sie
die Bewegung ihres Körpers und bringt, ich weiß nicht wie, noch eine Rechts - Links –
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Bewegung mit hinein. Das Baby ahnt die Absicht und bleibt ruhig... Der Herd ist
halbkreisförmig in eine Ecke gesetzt, beigefarben, sauber aus Lehm geformt. Das Material
für Haus und Herd stammt aus dem Hang. In weniger als Kniehöhe ist in der Herdwand
eine Stufe eingebracht, so daß dort, rechts und links, bis zu vier Personen sitzen und sich
wärmen können. Im Winter kann es hier oben, in 2500 Metern Höhe, empfindlich kalt sein.
Minusgrade sollen keine Seltenheit sein.
Mit Sete, etwa zehn Häuser über und unter dem Pfad am steilen Hang, erreichen wir unser
heutiges Tagesziel. Der Regen wirkt noch nach. Alles ist dunstig diesig, wir sind
durchnäßt. Neben der Toilette eine fast komfortable Möglichkeit zum Waschen: Auf
steinernem Boden mit Abfluß, ein Eimer warme Wassers und eine Kelle, um auch den
Rücken erreichen zu können.
Nach oben im Gelände dichter Baumbestand, durchsetzt von Buschwerk. Nach unten, im
Umfeld der Häuser mehr oder weniger steile Hänge, die spätestens nach hundert Schritten
steil in die Schlucht abfallen. Die Häuser schmiegen sich an den Hang. Der Pfad nutzt die
schmale Enge und zwängt sich zwischen ihnen durch. Auf den sanfteren Hängen sind
kleine Felder und Gärten angelegt. Dort wachsen Weißkohl, Salat, Stangenbohnen... und
Mais. Dazwischen ein mit Bambusgeflecht überdachter Unterstand, auf den man vom Pfad
aus leicht springen kann. Darin steht bei schlechtem Wetter meistens eine Kuh. Die
Bewegungsfreiheit für das Vieh ist wegen der Absturzgefahr ziemlich eingeschränkt. Das
Futter wird ihr gebracht, Gras, Stauden, junge Zweige... Auf dem beengten Gelände neben
dem Haus sehe ich einige Hühner (die vegetarische Lebensweise verzichtet auf Eier nicht).
Ein ausgegrabener Wurzelballen einer Unkrautstaude liegt verkehrt herum. Die Hühner
picken im Erdballen nach Würmern...
14.09. Do
7.30 Abmarsch, 10.45 Lamjura Himalaja Lodge mit Mittagspause.
14.30 an Junbesi, in Sherpa Guide Lodge (19.00 Schlafen).
Marsch im Nebel – Eine „Lichtgestalt“ in der Lamjura Himalayan Lodge – Junbesi
Der Morgen erwartet uns mit harten Marschbedingungen: Nebel, tiefhängende Wolken,
steinige und matschige Pfade. Ich notiere die Namen der passierten Ansiedlungen, Dagchu,
Khatbisaune, Goyom. Die Lodges wirken in dieser morgendlich - feuchten Tristesse
unsauber, unansehnlich, ohne Anreiz für eine Rast. Wir ziehen weiter zum Lamjura La,
dem Paß, mit 3530 Metern die zwischenzeitlich höchste Erhebung bis Namche Bazar. Auf
dem Kamm in der bewaldeten Zone scheint die Feuchtigkeit herunterzufallen. Der
Regenwald besteht vorwiegend aus Rhododendron, dessen Stämme und Äste
flächendeckend oder büschelweise mit Moos belegt sind.
In der Lamjura Himalayan Lodge, kurz vor dem Paß, ist es warm und gemütlich. Draußen,
wo wir ursprünglich rasteten, nieselt es leicht. Links ein wuchtiger langer Tisch, daran
einfache Holzbänke. Gleich daneben, in einem Regal, die Verkaufsartikel. Mir fallen die in
Plaste verschweißten Topfreiniger aus Metall ins Auge, die neben den Waren aller Art
dicht gedrängt stehen. Mitten im Raum der Herd mit dem offenen Feuer, auf dem für uns
eine Riesenkanne Tee und Nudelsuppe bereitet wird. Wer sich wärmen möchte, kann sich
auf einen der winzigen Hocker neben die Herdstelle setzen. Tamara hat ihre Bluse zum
Trocknen in den Rauch gehängt. In der anderen Ecke, im Küchenbereich, stehen viele
Töpfe unterschiedlicher Größen im Regal. An der gegenüberliegenden Wand ist der
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Vorhang vor der Tür etwas „gelüftet“. Man kann einfache Liegen mit Decken und Fellen
sehen. Das scheint der Schlafraum für die Familie zu sein. Zehn Kinder gehören dazu. Sie
müssen nach Junbesi , unser heutiges Tagesziel, zur Schule. Bis dahin brauchen sie etwa
drei Stunden, zurück mehr, weil es ja bergauf geht.
Als Frank die Szenerie filmt, betritt ein Mann in einem weißen bis an die Knie reichenden
„Kaftan“, dazu ebenfalls weiße Beinkleider, den Raum. Ihm folgt eine Frau, ebenfalls in
einem langen weißen Kleid, auch mit weißen Beinkleidern. In einem Aufzug, den ich seit
Kathmandu nicht mehr gesehen habe. Ein ungewöhnlicher Anblick hier im Hochland.
Kusang bestätigt meine Vermutung, daß es sich um Leute aus dem Tiefland handeln
dürfte. Wohl aus dem Terai, der Ebene an der indischen Grenze, früher wegen seiner
Urwälder und der Malaria - Verseuchung die „Fieberhölle“ Nepals. Er könnte sich
vorstellen, daß sie im Khumbu arbeiten, bei der „Heimreise“ in mehreren Tagesmärschen
nach Jiri, von dort mit Bus oder Flugzeug nach Kathmandu und von dort wiederum mit
dem Bus ins Terai gelangen. Ich traue mich nicht, den „Weißen“, vom Typ her ein Inder,
anzusprechen, geschweige denn zu photographieren. Er macht einen stolzen, unnahbaren
Eindruck.
Noch ein kurzer moderater Aufstieg bis zum Paß, und die Leiden sind vorüber. Es geht im
wesentlichen nur noch bergab. Eine große feuchte Wiese, auf der Pferde weiden. Ein
Wanderer, der einen Halbwüchsigen als Träger engagiert hat. Er ist Lehrer. Weiter unten
größere Felder, auf Terrassen. Männer und Frauen bei der Kartoffelernte. In Thaktokbugh
setzt leichter Regen ein. Als wir um die Bergnase herumgehen, sehen wir unten Junbesi
vor uns.
Der kompakte, offenbar bedeutende Ort ist gut zu überschauen. Eine Schule, mehrere
Lodges, Stupa, Gompa, Mauern mit Mani - Inschriften, Maisfelder, Gärten, Obstbäume...
Auch das Monastir Thubten ist talaufwärts im Norden zu sehen.
Der kleine Junge in der Lodge, der uns das Essen aufträgt, den Tee bringt, soll bereits
vierzehn Jahre alt sein. Ich schätzte ihn auf etwa zehn Jahre. Er ist so freundlich und
liebenswürdig, schaut neugierig aus großen Augen. Nach einer Weile taut er auf, lacht
frohgestimmt, wenn man mit ihm scherzt. Als wir versorgt sind, kümmert er sich liebevoll
um seine kleine Schwester, trägt sie auf dem Rücken, was ihr großen Spaß bereitet...
15.09. Fr
6.30 Abmarsch zum Thubten Choling Monastir, an 7.45. 10.30 wieder an Junbesi,
12.30 Abmarsch nach Ringmo, an ca. 16.00 im Numbur View Cheese Factory Lodge.
„Stinkefinger“ im Kloster – Free Tibet – Kartoffelsuppe – Schwächeanfall –
Der Mount Everest versagt sich – Ein alter Schwätzer – Notdurft auf dem Lande
Der Rausschmiß eines Fußballspielers aus der Nationalmannschaft hatte etwas mit einem
„Stinkefinger“ zu tun. Damals habe ich mich belehren lassen, daß besagte Geste Haß und
Verachtung ausdrücken soll. Heute wird der aufwärts gestreckte Mittelfinger von einer
jungen buddhistischen Nonne einem ebenfalls jungen Mönch gezeigt, als dieser einen
angebissenen Apfel nach dem räudigen Hunde wirft. Vielleicht glaubte sie sich als
Zielscheibe, weil der Apfel in ihrer Nähe landet. Diese „obszöne“ Geste ist aber nicht von
einem bösen Gesichtsausdruck begleitet. Im Gegenteil: Es ist Schalk in ihren Augen. Es
könnte sogar auf den Versuch einer Annäherung, beiderseits, geschlossen werden, in
geziemender Entfernung und unauffällig natürlich.
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Auch sonst geht es bei den Jüngern Buddhas recht locker und gelöst zu, wobei aber der
Kontakt zwischen männlich und weiblich eher die Ausnahme darstellt. Niemand sieht uns
mißbilligend oder gar abweisend an. Viele suchen unseren Blick, haben nichts gegen ein
Photo einzuwenden. Im Gegenteil: Einer stellt sich in Positur vor mich hin, wünscht
photographiert zu werden. Dabei verdeckt er unbewußt mein Motiv, zwei junge Mönche,
die miteinander „herumalbern“. Nach dem Photo gibt er mir einen Kaugummi, den ich
nicht ablehnen kann. Erst danach folgt die Bitte, das Photo zugeschickt zu bekommen. Ich
verspreche es halbherzig, mit der Befürchtung, das Versprechen nicht halten zu können.
(P.s. Ich habe es gehalten: Hoffentlich erreicht ihn die Post an das Kloster Thubten
Choling). Auch die Älteren, weit über zwanzig, beteiligen sich an dem lustigen Spiel, bei
dem ein Plastestab mit einem „Propeller“ am Ende wie eine Rakete etwa drei Meter
davonschießt, wenn der Stab sehr schnell in den Händen gequirlt und losgelassen wird. Der
Spaß besteht darin, daß die Flugbahn unberechenbar ist und das Kleinspielzeug keine
Hemmungen vor Körperberührung hat. Ich fühle mich auf den Hof einer Schule versetzt.
Es ist Pause, Gebetspause. Mönche und Nonnen stehen in Gruppen umher, machen ihren
Spaß, suchen ihre Hütten auf, kommen von dort zurück. Aber wir sind nicht an einer
deutschen Schule: Obwohl alle älter als zehn oder zwölf Jahre sind, wird nicht geraucht:
Sicher mehr eine Frage der Einstellung als die des Geldbeutels, obwohl der diesen Luxus
sicher nicht verkraften würde. Ein junger Mönch hat sich einen Aufkleber „Free Tibet“ auf
die Stirn geklebt. Für einen Moment bezweifle ich, ob das der richtige Platz sei.
Die Belegung des Gebetsraumes ist wohl zeitlich gestaffelt. Im Moment sitzen die Nonnen
in dem halbdunklen Saal beim Gebet, aber auch wieder nicht so „verkniffen“ andächtig.
Als wir verstohlen durch den schmalen Türspalt hineinschauen, drehen sich alle in den
ersten Reihen Knienden zu uns um. Ein eigenartiger Anblick: Die kahlgeschorenen Frauen
und Mädchen in ihren rotbraun - gelben Gewändern, auf den Knien, den Oberkörper
vornüber gebeugt, den Kopf nach rechts und hinten gewendet, zu uns hochblickend.
Während der Betstunde wird eine Mahlzeit in Eimern gebracht, wie Kartoffelsuppe.
Gegessen wird aus Schalen, nicht allzu groß. Die gekochten Kartoffeln sind noch
ungepellt. Die Nonnen legen die Pellen neben sich. Ich bin ein wenig enttäuscht über das,
was wir normalerweise unter Ordnung und Sauberkeit verstehen. Besonders nach dem
Regen in der vergangenen Nacht wirken der innere und auch der äußere Hof nicht
einladend. Vielleicht sind bei Menschen, bei denen die geistige Erbauung Lebensziel ist,
die Prioritäten anders gesetzt.
Nur ein Älterer verzieht keine Miene, als wir an einer Gebetsmühle, noch im Bau,
vorbeigehen. Das ist der Mönch, der die dicken Lagen der Mani- Gebetsschriften weiht,
indem er sie mit einem Stab bespritzt, den er zwischendurch in ein volles Glas taucht. Die
anderen, jüngeren Mönche, mit dem Herstellen und Sortieren der Schriften beschäftigt,
keineswegs im Akkordlohn, dagegen sind albern, feixen und wollen unbedingt durch den
Sucher von Franks Kamera schauen.
Ich kenne meinen Körper wohl doch noch nicht so richtig: Heute sind wir sehr früh los,
ohne Frühstück – auch wegen der Gerüchte, es würde im Kloster etwas zu essen geben.
Das erschien uns zunächst verlockend, bis wir das Frühstück der Nonnen in Augenschein
nehmen konnten. Die Stunde Marsch aufwärts fiel schon schwer. Nun, beim Absteigen auf
dem Rückweg nach Junbesi, fühle ich mich etwas unwohl, lege mich dort sofort auf die
Pritsche, bis das Mittag fertig ist. Und merke dann deutlich, daß die Kräfte nach der
fleischlosen Nudelsuppe wieder kommen. Mir wird schnell klar, daß die vegetarische
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„Schmalkost“ auf dem Trekkingpfad wenig Kraftreserven aufbaut. Das heißt: Zukünftig
nicht losmarschieren, ohne etwas gegessen zu haben.
Der weitere Marsch nach Ringmo bringt die erste große Enttäuschung. Bei dem
einsetzenden Regen kann der Reiseführer sein Versprechen nicht einlösen: Am Hang von
Sallung keine Sicht auf den Mount Everest. Über dem Tragsindho Paß alles
wolkenverhangen. Zumindest können wir in aller Deutlichkeit den Flugplatz von Phablu
erkennen. Dort, noch weiter nach unten liegt Sallery, aus dessen Umgebung Kusang
stammt. Der Regen verstärkt sich so, daß es angeraten scheint, in Sallung zu bleiben. Das
Niveau der Lodges entspricht aber nicht unseren Mindestvorstellungen. Wir entschließen
uns deshalb, ungeachtet des stärker werdenden Regens weiter zu marschieren. Die
Regenumhänge schützen uns hinreichend. Angenehm sind die nächsten zwei Stunden dann
wirklich nicht, im Regenwald am Hang, auf glitschigem, steinigem Pfad. Da heißt es
schon, sich zu konzentrieren, um nicht auszurutschen oder zu stolpern. Als wir unten am
Beni Khola sind und die Brücke überquert haben, scheint das Schlimmste überstanden. Der
Aufstieg am Hang, zunächst noch durch Regenwald, dann auf einer glitschigen Wiese,
fordert nochmals alle Reserven. Dann endlich ist die Numbur View Cheese Factory Lodge
erreicht, die uns für diese Nacht in ihre Wärme aufnimmt.
In der Lodge fällt ein älterer Tourist auf, ein Australier, der mindestens zwei Gehilfen um
sich hat. Mein anfänglicher Respekt relativiert sich etwas, als ich sehe, daß er in
„Bürgerhose“ und Halbschuhen auf dem Trekkingpfad ist. Nicht geeignet hier oben im
Gebirge und schon gar nicht bei strömendem Regen, Matsch und glitschigen Steinen. Nun
scheint er aber ein „weltbefahrener“ Mann zu sein, der wohl keinen Zipfel der Erde
ausgelassen hat. Zumindest ist das aus den Gesprächsfetzen, er spricht sehr laut, zu
entnehmen. Da wirkt der hochgewachsene Japaner aus Tokyo angenehmer auf mich.
Schon beim Eintreten nickt er grüßend in die Runde und benimmt sich weiterhin
unauffällig. Er ist mit Seil und Steinschlaghelm ausgerüstet. Das deutet auf anspruchsvolle
Besteigungen hin. Tatsächlich, er hat den Pokalde (5806 m) in der Nähe von Dingboche
bestiegen. Die Besteigung des Kongma Tse ist ihm nicht gelungen. Nun ist er auf dem
Rückweg.
Wir alle haben Respekt vor Durchfall und anderen Magengeschichten. Meine beiden
nepalerfahrenen Partner sind sehr vorsichtig, mit der Ernährung und allem, was da so
hineinspielt. Ich versuche, es auch zu sein. Das hat mich aber nicht abgehalten, in Bhandar
die drei Gläser Chang nicht abzuschlagen. Wenn aber dann der „Stuhl“ etwas dünner wird,
fragt man gleich nach den Ursachen. Schließlich ist die Notdurft in Nepal auf dem Lande
kein Vergnügen, und es ist nicht erstrebenswert, ihn mehr als ein Mal täglich zu haben. Für
den hartgesottenen Leser will ich deshalb das Klosett in Ringmo etwas genauer
beschreiben: In dieser Lodge ist für das empfindsame Gemüt scheinbar der Höhepunkt der
Zumutbarkeit erreicht. (Dachten wir. Ich greife aber vor und informiere; das hier
Vorgefundene ist später meistens Standard). Äußerlich sieht das Häuschen fast attraktiv
aus, aus rohen Steinen, sauber in Mauern gefügt. Drinnen sind auf einer Fläche von zwei
Mal zwei Metern Bohlen derart auf zwei starke Balken genagelt, daß zwei fußbreite
Schlitze offenbleiben. Der pfiffige Leser wird erkannt haben, wozu die Schlitze gedacht
sind. Er wird sich auch denken können, daß sich zwei Personen gleichzeitig entlasten
könnten. Man muß aber nicht zu zweit, irgendwelche Möglichkeiten zum Blockieren der
Tür von innen sind immer vorhanden. Wer sich nicht zu ungeschickt anstellt, dürfte den
Schlitz treffen. Eine Belehrung für die Prozedur hat es nicht gegeben. Ich aber habe für
mich abgeleitet, daß man sich in Längsrichtung stellen sollte. Beim Stand in Querrichtung
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zu den Schlitzen müßte die Kniebeuge richtig nivelliert werden, um Treffsicherheit zu
gewährleisten. Die von mir favorisierte Methode ermöglicht es weiterhin, die Standfläche
über den Pfählen zu wählen und das Risiko eines Einbruches zu mindern. Die Grube ist
tief. Aber es wird von Zeit zu Zeit Stroh, Heu oder Laub nachgelegt, ein desodorierender
Nebeneffekt könnte beabsichtigt sein. (Ehrlicherweise muß ich noch nachfügen, daß ich
auch später niemals morsche Abdeckungen vorgefunden habe.)
16.09. Sa
7.50 Abmarsch, Besichtigung Tragsindho Monastir,
10.30 an Manidingma (Nuntala) Mittagsrast, 16.15 an (Ober) Kharikhola.
Auch Mönche brauchen „Ausgang“– Babu Chiri Sherpa – Post aus Manidingma –
Hängebrücke über den Dudh Kosi – Babysitting - Parasiten
Am Morgen. Der weitgereiste Australier wieder in Straßenschuhen, bei Damen würde man
sie „Trittchen“ nennen, ignoriert mein „Good Morning“. Unhöflich ist er auch noch.
Vielleicht aber auch nur schwerhörig. Die Lautstärke von gestern könnte damit erklärt
werden.
Der Marsch hinauf zum Paß, Tragsindho La, ist schweißtreibend. Dazu trägt die feuchte
Schwüle bei. Nach einer Stunde sind wir oben. Auch dort ist nach dem nächtlichen Regen
alles feucht, eine Waschküche, keine Sicht. Alles dampft, auch unsere Sachen, der Atem,
die Schornsteine der Lodges. Hoffentlich verfehlen wir nicht das Kloster Tragsindho. Aber
Kusang führt uns sicher durch den Nebel... Das Kloster Tragsindho wirkt verlassen. Heute,
am Samstag, ist „freier Tag“. Es ist nur ein älterer Mönch da, dazu einige Halbwüchsige.
Das Alter zu schätzen, habe ich mir abgewöhnt. Das Ganze macht hier einen sauberen,
gepflegten Eindruck, ein Gegensatz zum Thubten Choling Monastir. Der Innenhof ist mit
Platten ausgelegt. Der Gebetsraum gibt Platz für etwa dreißig Mönche. Auch hier dürfen
wir photographieren. Einen kleinen Obulus haben wir selbstverständlich entrichtet, in die
Kiste mit dem schmalen Schlitz und der Inschrift „donation“.
Unterhalb des Klosters gehen wir respektvoll an einem zweistöckigen Haus vorbei, das
einen wohlhabenderen Eindruck macht, im Moment aber nicht bewohnt scheint. Es ist das
Haus des berühmten Bergsteigers Babu Chiri Sherpa, der den Aufstieg zum Mount Everest
in 16 Stunden geschafft hat (gerechnet ist dabei die Zeit des Aufstiegs vom Basislager).
(tödlich verunglückt)
Dann aber geht es im strömenden Regen durch den Regenwald bis Manidingma (Nuntala),
einem Hauptort. Dort machen wir eine längere Rast. Ich wähle eine Rara Noodle Soup. Die
Zubereitung der Speisen auf offenem Feuer erfordert immer viel Zeit. Die Idee, einen
Apfelstrudel zu essen, kostet weitere dreißig Minuten. Dann erst wird das Essen für Guide
und Träger bereitet. Ich habe den Namen des braunen Breis vergessen, mehr ein Teig, den
beide erhalten. Sie kneten einen Teigballen etwas zusammen und schieben ihn mit der
linken Hand in den Mund. Die linke Hand deshalb, weil die rechte zur Reinigung nach
dem Stuhlgang genutzt wird. Sie kommen immer zuletzt dran. Gestern, in Ringmo, war
ihre Wartezeit wegen der vielen Durchtrekkenden besonders lang. Sie tun mir leid. Das ist
aber so, und ich habe mich inzwischen daran gewöhnt. Tamara und Frank versenden
Ansichtskarten. Der Briefkasten, in den sie einwerfen, ist altersschwach und wenig
vertrauenerweckend.
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Weiter geht es zum Dudh Kosi, dem Milchbach, abwärts. Der Ort zieht sich weit den Hang
hinunter, von bestellten Feldern gesäumt. Der Regen hat tiefe Erosionsspuren hinterlassen.
An einer Stelle müssen wir durch die tiefe Rinne steigen, über Stein, Geröll und rutschiges
Erdreich. Dann sind wir unten am Fluß. Nicht richtig unten, denn die Brücke spannt sich in
Höhe eines mehrstöckigen Hauses über den brausenden Fluß. An der bisher größten
Hängebrücke begegnen wir einem Amerikaner mit Texashut. Schon weit vor dem Betreten
werden wir von seinen mindestens drei Helfern durch dringliche Gesten gewarnt, oder
besser, aufgefordert, die Brücke nicht zu betreten. Was ist da los? Sie kommen mit einem
größeren Hund an der Leine, mit Maulkorb versehen. Vielleicht fürchteten sie, daß wir
dem Hund auf der schwankenden Brücke auf die Zehen treten könnten. Trotzdem es
eigentlich nicht besonders warm ist, wird der Hund von einem der Gehilfen aus einer
Spritzflasche mit Wasser gekühlt...
In einer ganz bescheidenen Teestube verweilen wir kurz. Die junge Nepali, die Stube und
Shop betreibt, strahlt, wenn man sie anschaut. Ich habe das Gefühl, daß ausländische Gäste
bei ihr selten sind. Sie gefällt mir, und ich bitte sie um ein Photo. Als ob sie darauf
gewartet hätte, stellt sie sich sofort in Positur, zusammen mit ihrem Knaben, den ich dazu
bitte. Sie rückt den Schal des Sari so hin, daß Bauchnabel und Hüfte bloßgelegt sind... In
der nächsten Teestube eine junge Frau mit drei Kindern, das Jüngste wenige Monate alt.
Das wird von der etwa dreijährigen Schwester liebevoll betreut. Das Baby „meckert“ ein
bißchen. Die Schwester setzt sich mit ihm auf die Hausschwelle und wiegt es in seinen
Armen. Das zeigt Wirkung. Dabei rutscht die große Pudelmütze dem Baby tief ins
Gesicht...
In der Lodge auf dem Kamm haben sich auch die junge Israeli und die beiden Schweizer
einquartiert. Auch sie sind durch den Dauerregen völlig durchnäßt. Ich bedauere das
Mädel wegen der blutenden Füße. Die blutverschmutzten Strümpfe wirft sie in den Abfall.
Als ich anfange, mich auszuziehen, sehe ich meine Strümpfe auch blutverschmiert. Dann
erkenne ich auch die Ursache des Übels: Schwarze „Blutegel“, die sich in großer Zahl an
den Beinen und Waden festgesetzt haben. Ich blute „wie ein Schwein“, an mehreren Stellen, bis zu den Knien herauf. Später ist die Trainingshose, die ich nach einer vermeintlich
gründlichen Reinigung anziehe, innen blutgetränkt... Das mindert mein Mitleid mit der
Israelin, zumal es nach der „Nachtruhe“ im Nebenzimmer mit den beiden Schweizern
doch recht laut zugeht.
17.09. So
9.30 Abmarsch über Kharikhola (Hauptort) nach Bubsa,
an 11.15 in Sherpa Guide Lodge
Regen in Bubsa – Wasserversorgung – Nima Dawa Sherpa wartet und erzählt –
Raj Kapoor und Charly Chaplin – KALSON – Armer Länder Preise
Wegen Franks Erkrankung, die nun voll durchdrückt, marschieren wir später los. Trotzdem
in der Hoffnung, wenigstes eine halbe Tagesstrecke zu schaffen, vielleicht bis Bubsa. Das
schaffen wir tatsächlich, nachdem wir nach Kharikhola herunter zum Fluß, über die
Hängebrücke und den Hang hinauf marschieren. Die zwei absolvierten Stunden und der
Standortwechsel sind für uns psychisch sehr wichtig und zeugen von Franks Energie.
Man sollte meinen, es müßte ausreichend Wasser im Gebirge geben. Denn es kommt
sintflutartig von oben, läuft in Sturzbächen die ausgekerbten Rinnen am Berg hinunter,
sickert aus Boden und Gestein. Um diese Zeit, im auslaufenden Monsun, täglich für
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Stunden. Als ich an der Wasserstelle draußen den Wasserhahn etwas weiter aufdrehe und
kaum mehr Fluß erreiche, kommt das kleine Nepali - Mädchen flink aus der Küche
gelaufen und drosselt den Hahn wieder, mit einem Lächeln und entschuldigenden Worten,
die ich natürlich nicht verstehe. Erst dann schaue ich mir die Wasserzufuhr genauer an:
Über einen daumenstarken Schlauch kommt das Wasser vom Hang herunter, weit über
uns. Der Schlauch hat drei weitere Abnehmerschläuche, die zur Küche, und etwas tiefer
zur Toilette (hier recht komfortabel) führen. Den Endpunkt des dritten Schlauches kann ich
nicht erkennen. Der Hahn in der Toilette ist undicht. Der Abgang mit dem stärksten
Gefälle hat somit ständigen Verbrauch. Damit ist klar, daß bei einer zusätzlichen Abnahme
draußen, beispielsweise zum Spülen, das Wasser in der Küche knapp wird, selbst wenn es
in Strömen vom Himmel kommt.
Es regnet, regnet und regnet in Bubsa. Auch ohne Franks Erkrankung wären wir hier wohl
hängengeblieben. Bei dem Wetter wäre ein Weitermarsch nicht angeraten gewesen.
Ansprechende Lodges in Zielrichtung sind erst nach mehreren Stunden erreichbar. Ich
habe nun den Ganzen Nachmittag Zeit. Und Nima Dawa Sherpa auch. Er wartet auf
Touristen, die ihn als Guide engagieren. Auf dem Marsch nach Bubsa haben wir ihn
überholt. Er war in Begleitung eines gehbehinderten Nepali. Dieser beaufsichtigt die
winzige alte Gompa am Rande des Steilhanges und ist sein Freund. Fast würde ich ihm die
Fähigkeiten für den Guide nicht abnehmen, weil er so klein und schmächtig ist. Er legt
aber Photos vor, die ihn mit Leuten aus Kanada am Kala Patthar zeigen. Die junge Sherpa,
die die Lodge führt, ist seine Schwester. Deren Mann ist ein Händler in Namche Bazar.
Nima Dawa Sherpa wurde in Darjeeling, in Indien geboren. Warum dort, habe ich nicht
aufklären können. Wir sprechen über alles mögliche, nachdem ich sein Nepali - Englisch
einigermaßen verstehe. Und über den Drang vieler Nepali, im Ausland, in Übersee, ihr
Glück zu versuchen. Ein Beispiel dafür sind Kinder seines Onkels aus Manidingma
(Nunthala), die in alle Welt verstreut wurden. Angkami Sherpa, der Onkel, ist Inhaber der
Naulekh View Lodge und auch Politker, sicher im Kommunalbereich. Nima Dawa Sherpa
erzählt mir von ihnen:
Die älteste Tochter (55 Jahre) ist unverheiratet und lebt in Manidingma.
Der älteste Sohn (52) lebt in Kanada (Calgary), ist verheiratet mit Carol, einer Kanadierin.
Es hat „gefunkt“ beim Trekking.
Der nächste Sohn (45) ist in Australien (Sydney) verheiratet. Die australische Frau hat ihn
nach dem Trekking mitgenommen.
Die jüngere Tochter (40) lebt in Schottland (Glasgow), ist verheiratet mit einem Schotten,
der zur Zeit mit ihr in Afrika weilt und dort mit Trinkwasseraufbereitung befaßt ist.
Der nächste Sohn (36) lebt in Kalifornien, arbeitet als Babysitter (domestic service) bei einem Richter, der mehrfach in Manidingma war und ihn mitgenommen hat.
Der letzte Sohn (32) ist unverheiratet und lebt beim Onkel in Manidingma. Dieser hat die
Sache mit der Schwester und dem Schotten eingefädelt. Der Schotte hatte sich um eine
Nepali bemüht. Nima Dawa Sherpa möchte ja auch heiraten. Ich verstehe nicht, warum er
es noch nicht ist, bei so vielen schönen Mädchen. Es sind ja nicht alle ins Ausland
verbracht worden! Ja, das ist das eigentliche Problem. Welche soll er nehmen? Er kann
sich nicht entscheiden.
Warum ist der Sohn seiner Schwester Kima Sherpa eigentlich ein Tamang, wenn sie eine
Sherpa ist? Ganz einfach: Der Vater, der Händler aus Namche Bazar, ist ein Tamang. Der
kleine Sohn, Chuldim Tamang, ist fünfzehn Monate alt, wohlgenährt und kann schon
laufen. Aber er kriecht noch gern, und das sehr schnell. Dann krabbelt er die Treppe
hinauf, mit Pausen, kontrolliert, ob er beobachtete wird. Die Mutter treibt ihn voran, mit
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einem Klaps auf den Po. Etwas später räumt er mit Bedacht und großer Sorgfalt die
Tischdecke ab. Mein Bier hatte ich vorher in Sicherheit gebracht.
Auf einem Poster an der Wand ist ein indischer Filmstar zu sehen. Ich frage im Scherz, ob
das Raj Kapoor sei. Er verneint natürlich, denn der ist wohl schon tot. Er kennt ihn aber
und vergleicht ihn mit einem Schauspieler, dessen Namen er so undeutlich ausspricht, daß
ich ihn nicht verstehe. Er versucht es anders, um sich verständlich zu machen. Dabei
entpuppt er sich selbst als Schauspieler: Stellt sich hin und ahmt in verblüffender
Deutlichkeit Charly Chaplin nach. Überzeugt mich damit, daß er vorhin auch wirklich Raj
Kapoor gemeint hat. Er ist überhaupt ein lustiger Kerl. Taut nun endgültig auf und erzählt
allerlei lustige Geschichten und Erlebnisse. Im Überschwang wird sein Englisch für mich
immer unverständlicher. Und so finde ich einen Vorwand, um unsere nun schon sehr lange
Unterhaltung abbrechen zu können.
Den Vorwand liefern Kusang und Chung mit ihrem Spielchen, das sie auf meinen Wunsch
auf mich übertragen: Die Vornamen der Ehepartner werden mit dem Zauberwort
KALSON verglichen. Beiden Vornamen, Manfred und Irma, streicht man die
übereinstimmenden Buchstaben, so daß nur noch NFEDI verbleiben. In KALSON
bedeuten L = Love (Liebe), S = Sure (richtig), O = O.k. (in Ordnung) und N = No (nein).
Sie haben das O in meinem Beispiel unterstrichen und bedeuten mir damit, daß ich vor fast
36 Jahren die richtige Wahl getroffen hätte.
Ich finde es desorientierend, wenn Journalisten bei Reportagen über ärmere Länder die
Verdienste der Einheimischen in deutscher Währung angeben. Nehmen wir an, ein Träger
verdient im Monat 1000. - Rupies. Dann wären das etwa 33. - DM. Damit wird suggeriert,
daß man davon ja eigentlich nicht leben kann. Natürlich kann man davon in Deutschland
nicht leben, nicht die Miete, das Auto, die Zeitschriften, die Müllabfuhr... bezahlen...
Solche Zahlenangaben sagen nichts aus. Sie sind mißverständlich, wenn man nicht den
Lebensstandard, das Preisniveau, die Bedürfnisse der Menschen, die Art der Abgaben an
den Staat, berücksichtigt. Außerdem sind diese Menschen in hohem Maße Eigenversorger,
vor allem in den ländlichen Gebieten. Der Verzicht auf Fleisch, wie hier in den
Bergregionen, teilweise auch aus religiösen Gründen, ist letzten Endes auch kostensparend.
Es ist aus unserer Sicht zweifellos ein schweres Leben, das die Völker in der HimalajaRegion führen. Kälte im Winter, Hitze im Sommer, unendliche Nässe und Feuchte in der
Monsun- Zeit, die Arbeit auf den terrassierten Feldern an steilen Berghängen, die steilen,
steinigen oder glitschigen Pfade, über die alle Güter und Waren transportiert werden
müssen, verlangen dem Körper alles ab. Und nicht nur den Männern. Frauen, Jugendliche
und Kinder sind an den schweren Arbeiten meist beteiligt. Aber sie haben zu essen, zu
trinken, selten im Überfluß und oft unter Entbehrungen und in Armut. Aber ob sie unser
Wohlstand, unsere Art zu leben glücklich machen würde? Sie leben ihr Leben, unter
anderen, schwierigeren Bedingungen und ihnen sind keine menschlichen Regungen fremd.
Sie strahlen mehr Fröhlichkeit, Lebensfreude aus als die meisten Mitbürger aus der
sogenannten Zivilisation.
Eine Flasche Bier, „Tuborg“ 1 l, kostet 200. - Rupies, ein Flasche Mineralwasser etwa 80. Rupies. Ein „Sherpa Stew“ (Kartoffeln in einer Suppe mit Bohnen) oder gebratene
Kartoffeln, mit einem Ei verrührt, dazu etwas geriebener Käse kosten auch 80. - Rupies.
Solche Mahlzeit (allerdings fleischlos), von der man satt wird, kostet viel weniger als ein
Bier. Die Relation wird klar, wenn man weiß, daß die Mahlzeiten aus dem bereitet werden,
was das unmittelbare Umfeld bietet. Natürlich muß auch der Sack Kartoffeln
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herangetragen werden, vom Hang über oder unter dem Haus, auch der Mais oder die Hirse,
der Reis. Aber diese Wege verlangen höchstens Stunden. Die Kräuter, die Stangenbohnen
wachsen in dem winzigen Garten neben dem Haus. Viele halten noch Hühner, so daß auch
die Eier keine weiten Transportwege haben. Das Bier kommt aus Kathmandu, wird in
vielen Tagesmärschen von den Endstellen der Straße in die Bergregionen getragen, auf
dem Rücken schmächtiger Körper. Das macht es teurer. Das Päckchen Nudeln, sicher auch
aus Kathmandu, ist aber billiger als das Bier, auch wegen des geringeren
Transportgewichtes. Wenn ich mir also eine Flasche Bier leiste, nach beschwerlichem
Marsch, kostet das gemäß der Journalistenrechnung 6.70 DM. Für den Preis bekommt man
es in Deutschland sogar schon in einem Restaurant auf Sylt. Hier kann ich dafür zwei
Male zu Abend essen. Also verkneifen! Sagt der Sparsame. Dafür hast Du am Essen
gespart, also kannst du dir ein teueres Bier leisten! Sagt der Berechnende. Wenn das Bier
keiner kauft, dann verdienen die Händler und Träger nichts! Sagt der sozial Denkende.
Also trinke ich hin und wieder ein Bier „gegen“ den Durst und „für“ die Händler und
Träger.
18.09. Mo
8.00 Abmarsch nach Phuiyan (Chutok), Mittagsrast.
über Chutok La nach Shurke, an 14.00 in Tramserku Lodge.
„Hunger Ghandi“ – Aussteiger „Leo Tolstoi“
Als er gestern im strömenden Regen den steinigen Pfad bergauf an unserer Lodge
vorbeiging, traute ich zunächst meinen Augen nicht: Eine ungewöhnliche Gestalt, hier
oben im Himalaja. Er sah aus wie der „Ritter von der traurigen Gestalt“, mit seiner zu
großen Pudelmütze, weit über die Ohren gezogen, dem flatternden Anorak, der pludrigen,
geblümten, knielangen Strandhose, darunter lange, weiße Männerunterhosen. Die Schuhe
aber gut, für das Himalaja - Trecken geeignet. Als ich in sein Gesicht sah, glaubte ich
zunächst in ihm Johann Cruiff, den begnadeten holländischen Fußballspieler, zu erkennen.
Er war es natürlich nicht. Das verrieten die dunklen Haare, die unter der Mütze
hervorlugten. Die vorstehenden Augen schauten eindringlich. Er kehrte weiter oben um
und steuerte unsere Lodge an. Seinen Wunsch nach einer Übernachtung vermittelte er
zunächst in einem schlechten Deutsch, mit einigen japanischen Brocken vermischt. Dann
war er den ganzen Nachmittag und Abend verschwunden. Ich sah ihn erst wieder, als ich
neugierig auf den Dachboden stieg, wo die acht Pritschen stehen und auch Kusang und
Chung ihr Lager hatten. Er saß mit dem Rücken zu mir, schaute auf seine Hände, die mit
irgendetwas hantierten, vielleicht mit einem Rosenkranz. Ich nahm an, er betete, und zog
mich zurück. Das war gestern.
Heute ganz früh, bei meiner „Kontrolle“, ist er wieder beim Beten oder Meditieren. Glaube
ich jedenfalls. Meine Neugier zwingt mich, nun nochmals Chung auf den Dachboden zu
folgen, mit betont lauten Schritten. Er sieht sich um und antwortet auf mein „Good
morning“ mit „Ohayo gozaimazu“, was auf japanisch „Guten Morgen“ bedeutet. Ich bin
verblüfft, kann nun Kusang zustimmen, der in ihm einen „Wahljapaner“ vermutet. Er zieht
vor uns los, ohne Frühstück. Vorher, vor der Haustür, gibt er mir bereitwillig Auskunft:
Aus Jugoslawien, vor dreißig Jahren nach Kanada gegangen, dann in Japan gelandet, lebt
er auf der Insel Kyushu, arbeitet als Englisch-Lehrer und zieht nun mal eben so durch den
Himalaja... Eine Stunde später treffen wir ihn am Khari-La wieder, auf den Rucksack die
Schlafmatte gebunden. Er rastet, hat wohl weniger Kondition als wir, holt uns auch nicht
mehr ein.
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Am Abend in Shurke, wieder in unserer Lodge, wieder kein Abendbrot (am nächsten
morgen kein Frühstück). Da, mehr aus Versehen, kann ich es beim Vorbeigehen durch die
geöffnete Tür sehen: Er meditiert nicht, er betet auch nicht. Nein, er schält einen dieser
harten Äpfel mit der Schale einer Kiwi, die hier oben gerade noch so wachsen und wenig
kosten. Er ist sehr sparsam, offenbar „knapp bei Kasse“, lebt wohl nur von diesen Äpfeln.
„Hunger-Ghandi“ nannten wir boshaften Dorfjungen damals einen hoch aufgeschossenen,
schlanken Einwohner. Jetzt weiß ich endlich, an wen mich dieser Mann erinnert! Etwas
später, als er kurz nach unten kommt, wieder ein kleines Gespräch. Bei dem ich in ihm
einen recht intelligenten Menschen, in mancherlei Beziehung etwas „entrückt“, erkenne...
Dieser Tag ist der Tag der „Aussteiger“: Der junge Tscheche, ganz allein... Der bärtige
Arbeitslose aus Sachsen, der sich beim Arbeitsamt abgemeldet, das Auto verkauft und sich
mit einem unbefristeten Rückflugticket versehen hat. Das wird er vielleicht im Mai
einlösen. Er will wieder nach Indien zurück, dort ist alles billiger als hier in Nepal... Der
Russe, zweiundsechzig Jahre alt, der aussieht wie Leo Tolstoi, nur eben schmächtiger und
doch schon ein bißchen wacklig auf den Beinen. Für Tamara Gelegenheit, in der
Muttersprache zu reden. Der steile Pfad am Chutok La fällt ihm schwer, er hatte geglaubt,
auf dem Rückweg, nach Namche Bazar, würde es nur noch bergab gehen. Nach China will
er auch noch...
19.09. Di
8.30 Abmarsch über Nangbug und Chaurikharka.
10.30 an Cheplung und Mittagsrast,
13.45 an Phakding, International Trekkers Guest House.
Flugtickets nach Lukla - Kusang über sich Heute müssen wir einen Teil der Strecke allein marschieren. Nur kurz nach unserer Lodge,
einige Schritte aufwärts, um die Ecke des Hanges herum, über den kleinen Springbach
hinweg, verschwindet Kusang in dem scheinbar undurchdringlichen Dickicht des
Bergwaldes. Er macht einen Abstecher, einen kleinen Umweg, nach Lukla, um unsere
Tickets für den Rückflug nach Kathmandu am Flugplatz abzuliefern. Wir passieren
Chaurikharka, ein wohlhabendes Dorf. Dort ist die „Dorfstraße“ gepflastert, allerdings in
der Art der alten Römer, und von schulterhohen Steinmauern eingepaßt, dahinter
fruchtbare Feldflächen. In Chapling stößt Kusang dann wieder auf uns zu. Nach zwei
Stunden Marsch erreichen wir Phakding und nehmen gleich die erste Lodge am Eingang
der Ortschaft für unser Nachtquartier.
Am Nachmittag, in der Lodge, erzählt Kusang über sich: Er ist 21 Jahre, Student in
Kathmandu am Pashupati Multipal Collage Chabahil (Chabahil ist ein Stadtteil von
Kathmandu). Er kann mir keine übergreifende, für mich verständliche Bezeichnung für das
Studienfach liefern. Er zählt stattdessen die Inhalte auf, wie English, Account, Nepali,
Buisiness, Economics. Nepali teacher (Lehrer für Nepali) ist „major subject“ (Hauptfach).
Mit sechs Jahren hat er eine Primary School, mit zwölf Jahren die Secondary School
besucht.
Seine Eltern, 63 und 64 Jahre alt, leben im Raum Salleri allein in einem Haus. Alle Kinder,
seine Geschwister, sind verheiratet und aus dem Haus:
Eine Tochter, 42 Jahre, der Ehemann ist Händler, lebt im Ramechap.
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Ein Sohn, (38), ist ein Trekking Guide bei „Asian Trekking Office“ seit 17 Jahren. Zur Zeit
in Tibet mit einer Expedition, die die Besteigung des Cho Oyu und des Sisa Pangma
vorhat. Er hatte Kusang bei „Asian Trekking....“ untergebracht.
Eine Tochter, (29), verheiratet in Kathmandu. Der Ehemann arbeitet im Bauwesen.
Eine Tochter, (27), Ehemann ist Trekking Guide und Bergsteiger, lebt in Kathmandu. Er
hat den Mount Everst 1995 von Tibet aus mit einer neuseeländischen Expedition bestiegen.
Weiterhin war er auf dem Island Peak (6189 m) und auf dem Mera (6654 m).
Eine Tochter, (23), lebt in Kathmandu, ihr Mann ist Trekkingkoch beim „Highlander“.
Der jüngste Sohn, (21), das ist Kusang selbst. Warum er noch nicht verheiratet ist? Nun,
das werden wir auch noch erfahren... Ich frage nach dem Alter von Chung, dem Träger. Er
ist 22 Jahre alt, sieht aber wesentlich jünger aus. Im Scherz hinterfrage ich, warum denn
dann nicht Chung der Chef von beiden sei. Kusang wehrt entrüstet ab: „Nein, das geht
nicht, der hat ja nichts gelernt...“ Chung ist niemals in die Schule gegangen, gegen den
Willen seiner Eltern. Der Weg war ihm zu weit. Hat sich damit durchgesetzt und dann nur
bei den Eltern auf dem Feld gearbeitet. Manchmal hilft er auch den Eltern von Kusang,
manchmal erhält er einen Job als Träger, wie im Moment bei uns. Dazu hat ihm aber
Kusang verholfen, bei dem er meistens in Kathmandu „unterschlüpft“. Chung spricht
nahezu kein Wort.
20.09. Mi
7.40 Abmarsch, 10. 45 an Monju und Eingang Sagarmatha National Park.
11.15 an Jorsale mit Mittagsrast.
12.15 nach Namche Bazar (mit Kusang), an 14.35 in Panorama Lodge.
Verhaltensnormen – Kein Photo in Waffen – Kurze Trennung –
Gefährliche Hörner - Euphorie in Namche Bazar Heute wollen wir Namche Bazar erreichen, eine wichtige Zwischenetappe auf dem Weg in
Richtung Mount Everest. Wichtig dabei, daß wir damit eine Höhe von über 3000 Meter
erreichen und dann weiter in höhere Regionen steigen. Wie wird Frank diese Strapaze
verkraften, den Steilhang nach Namche Bazar hinauf, von Jorsale mehr als 600
Höhenmeter? Er ist immer noch angeschlagen und quält sich tapfer über den Trekkingpfad.
Trozdem geht es am Anfang recht zügig in dem Auf und Ab immer nahe und über dem
reißenden Dudh Kosi Fluß. Kurz nach acht Uhr passieren wir Gomila, kurz vor neun
Benkar. Dann gehen Kusang und ich voraus, bis Jorsale, um die Eintrittsformalitäten für
den Sagarmatha Nationalpark am Ausgang des Ortes Monju zu erkunden, Chung bleibt bei
den beiden. Sie sind aber bald wieder bei uns.
An der Wand neben dem Abfertigungstisch lese ich folgendes:
„When you in the park...
/ („Bist du im Park, sollst du...
take nothing
but photograph / nichts mitnehmen, außer Photos
leave nothing
but foot print
/ nichts hinterlassen, außer Fußspuren
kill nothing
but time“
/ nichts totschlagen, außer die Zeit“)
„That´s true“ („wie wahr...“) möchte ich fortsetzen, nachdem ich die mahnenden Zeilen
gelesen habe. Die tausend Rupies tun mir nicht leid für den Eintritt. Die sechs Soldaten,
mit Gewehren bewaffnet, sind freundlich. Ich setze mich demonstrativ zwischen sie, auf
die harte Holzbank. Zettle ein belangloses Gespräch an, mit dem hinterhältigen Gedanken,
die Erlaubnis für ein gemeinsames Photo zu erschwindeln. Das mißlingt. Die Absage wird
mit dem Tragen der Waffen begründet.
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In Jorsale trennen wir uns, nach der Mittagsrast. Frank ist einfach noch zu erschöpft von
der Angina. Die mehr als drei Stunden bis hierher müssen eine Qual für ihn gewesen sein.
Der Marsch nach Namche B., ab hier kann man ihn vielleicht schon als Aufstieg
bezeichnen, wird als sehr anstrengend eingeschätzt und mit mindestens drei Stunden
veranschlagt. Tamara und Chung werden bei ihm bleiben. Morgen früh, mit frischen
Kräften, wollen sie nachkommen. Ich breche mit Kusang zügig auf, um sicher vor Anbruch
der Dunkelheit in Namche B. anzukommen. Wir gehen voraus, weil mein Rucksack
beschädigt ist und die Bergschuhe an mehreren Stellen arg auseinander klaffen. Mein
Hosengürtel braucht neue Löcher, hält die Hose nicht mehr richtig. Ich muß stark
abgenommen haben. Hoffentlich finden wir dort einen Schuster oder Sattler. Ich möchte
auch nach Hause telefonieren. Nach acht Tagesmärschen wieder das erste Telefon in
Aussicht.
Der Pfad längs dem brausenden Dudh Koshi ist noch moderat, die Natur faszinierend.
Dann aber, nach der Hängebrücke, die hoch oben über der Schlucht baumelt, wird es ernst.
In kurzen Serpentinen geht es den mit Nadelholz bewaldeten Hang zwischen Dudh Koshi
und Bhote Koshi steil hinauf, ohne Pause, mit nur wenigen Passagen mit sanfterem
Anstieg, äußerst schweißtreibend. Dann setzt, wie fast jeden Nachmittag, der Regen ein, es
wird äußerst ungemütlich. Der Monsun in seinen letzten Zuckungen, zeitweise, an
unbewaldeten Stellen, von kaltem Wind begleitet. Der Reiseführer mahnt, kein Wettrennen
mit den Einheimischen, den Sherpas, zu versuchen. Sie würden ohnehin gewinnen. Ich tue
es natürlich nicht, schaffe aber mitzuhalten, bemühe mich auch um Tempo, um aus dem
naßkalten Wind in die warme Lodge zu kommen.
Uns kommen Lasttiere entgegen, mit ihren Treibern. Das sind aber noch keine Yaks, wie
ich sofort erkenne. Kusang klärt auf, daß es sich um eine Kreuzung von Yak und Rind
handelte, die auch als Lasttiere, aber nicht so weit oben, eingesetzt werden. Später finde
ich für sie die Bezeichnung Dzos. Kusang erzählt von dem Franzosen, der vor zwei Jahren,
eben an dieser Stelle, von einem Dzo mit dem spitzen, langen Horn, wohl mehr aus
Versehen, aufgespießt wurde und an Ort und Stelle verstarb. Offenbar hatte ihm niemand
das Verhalten bei entgegenkommenden Lasttieren beigebracht. Diese gehen zwar ruhig
und bedächtig, an schwierigen Stellen jeden Schritt abwägend, und immer nahe am
Abgrund. Sie brauchen aber wegen der seitlich festgezurrten Last einfach mehr Platz.
Darauf muß man sich einstellen und rechtzeitig einen sicheren Stand im Hang suchen.
Ziemlich durchnäßt, auch etwas erschöpft, erreichen wir nach weniger als zwei Stunden
unsere Lodge in Namche Bazar, das, in die Wolken, in tiefen Nebel, eingetaucht ist. Zuerst
„hot shower“ (eine warme Dusche) ordern, das dauert immer mindestens eine halbe
Stunde. Dann das lang ersehnte Telefongespräch in die Heimat, eine liebe Stimme, die
frischen Mut gibt (der Preis hier oben für das Telefonieren entspricht fast dem Zehnfachen
dessen, was ich in Kathmandu bezahlte!).
Die Dusche nehme ich aus ökologischen Gründen so wenig wie möglich in Anspruch.
Wenn man täglich sieht, unter welchen Anstrengungen das Holz von weither geholt, auf
dem Rücken getragen wird, wenn man um den Baumbestand im Himalaja weiß, der hier in
den oberen Lagen doch schon recht dürftig ist, insbesondere durch die Touristen mit ihren
Ansprüchen, kommen zwiespältige Gefühle auf. Denn auch Lebensunterhalt ist ja damit
verbunden.
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Der Blick aus dem Fenster der Lodge, ihr Name „Panorama Lodge“ ist treffend, gibt kurzzeitig den Blick auf Namche Bazar frei. Ein gütiger Wind hat die Wolken verjagt. Unter
mir liegt der Ort, den ich von einem einzigen Photo seit vielen Jahren vor Augen habe, der
auch mein Traum und Ziel war. Der Hauptort im Solo Khumbu, dessen Häuser sich in
halbrunden Reihen wie ein Amphitheater an den Hang schmiegen. Der eine wichtige
Etappe ist auf dem Marsch weiter nach oben, bis dahin, wo die Welt eigentlich zu Ende ist,
wo es höher hinauf nicht mehr geht. „Ich war in Timbuktu (Tombouctou)“ triumphierte
Rene Callier, als er vor fast zweihundert Jahren auf abenteuerliche Weise die Sahara
durchquerte und die sagenumwobene Stadt erreichte. „Ich war in Namche Bazar“ höre ich
mich in einem tiefen Wohlgefühl sagen, nach nur zwei Büchsen „Tuborg“ ziemlich
berauscht. Hoffentlich kann ich nach weiteren vier Tagesmärschen sagen: “Ich war in
Gorak Shep“. Dort ist dann wirklich das Ende. Wer weiter hinauf will, muß sich auf
anstrengende und entbehrungsreiche Wochen und Monate einstellen, in Zelten, in Eis und
Schnee, in Geröll, unter Lawinengefahr, in eiskalten Nächten... Dort halten sich nur noch
ein paar ganz „Verrückte“ auf, aber auch „nur“ Wochen oder Monate, um einen
Achttausender zu besteigen. Und weil es Mode ist, möglichst den Allerhöchsten, den
Mount Everst. Dort will ich auch hin, aber nicht hinauf, sondern in seine Nähe, um seinen
Hauch zu spüren, ihm ins Auge zu sehen. Das kann ich von dem besagten Gorak Shep,
dem letzten Punkt, wo noch zwei Lodges stehen, wo noch Menschen leben, die für den
Bergwanderer eine Suppe bereiten, einen Tee kochen oder eine Rolle Toilettenpapier
verkaufen, alles nur noch von Yaks hinaufgetragen. Dort will ich hin und dann noch auf
den „Aussichtspunkt“, den Kala Patthar... Ich habe eine wichtige Etappe des langen Weges
geschafft, ich bin in Namche Bazar...
21.09. Do
Namche Bazar, Besorgungen und Abholung Tamara und Frank 10.15 in der Lodge.
Nachmittags langer Rundgang: National Park Head Quarter, oberer Terassenweg
zum Pfad nach Thame, Umgebung Sunshine Lodge...
Kartoffelanbau im Khumbu – „Unser“ Schuster – Der lange Weg einer Postkarte –
Wieder beisammen – In den Wolken über Namche Bazar - Hahnenkampf
Immer, wenn in Nepal der Morgen graut, vor halb sechs, wache ich auf. Das ist auch in
Namche Bazar so. Durch das Fenster sehe ich nichts. Erst als ich die Scheiben abwische,
erkenne ich die drei Schritt entfernte Hofmauer aus Naturstein im Nebel, sonst nichts... .
Eine Stunde später, beim Frühstück, brechen die Wolken teilweise auf. Die typische
Ortslage im Halbkreis gibt sich wieder zu erkennen, weit unter mir, hinter und zwischen
den Häusern, auf den schmalen Terrassen werden Kartoffeln geerntet. Das muntere
Geschwatze und das Lachen ist nun zuzuordnen, jetzt, nachdem der Nebel schwindet: Den
winzigen Feldern, kleiner als bei uns die Kleingärten. Natürlich ist da kein
vollautomatisches Gerät am Wirken, auch keine Kartoffelmaschine, von Pferden gezogen,
wie bei uns in der Nachkriegszeit, als wir die ausgebuddelten Kartoffeln hinter der
Maschine auflesen mußten. Wenn der Vater mit den Pferden zurückkam, um die nächste
Reihe aufzuschälen und die Kartoffeln in hohem Bogen zur Seite zu schleudern, mußte die
Fläche leer gesammelt sein. Nein, hier geht das beschaulicher zu, mit der Kartoffelhacke,
mit der jede einzelne Staude ausgebuddelt wird. Eingesammelt in Körbe, werden sie dann
in Säcke entleert. Wie damals bei den Neubauern auf dem Bodenreformland, die noch
keine Pferde besaßen oder verlustärmer ernten wollten. Hier oben im Solo Khumbu ist die
Kartoffel ein Hauptnahrungsmittel. Sie wächst hier, während der Reis aus dem
Kathmandutal und aus der Ebene hoch getragen werden muß. Als Pellkartoffel, nur mit
Salz genossen, ist sie eine Delikatesse für die einfachen Menschen. Ich kann es bezeugen.
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Sie wird nicht in Reihen gepflanzt und später, nach dem sie ins „Kraut schießt“,
angehäufelt, sondern beim Pflanzen scheinbar regellos in die Erde gebracht. Vor der Ernte
muß das Kraut und auch reichliches Unkraut entfernt werden, das den Rindern vor- oder
untergelegt wird. Ich denke an die Kartoffelernte in meiner Kindheit und Jugend, die viele
Tage andauerte, auch bei Nebel, Regen, kaltem Wind, schlechter Kleidung. Wir waren oft
nicht so fröhlich und unbeschwert wie diese Menschen...
Es ist Zeit, die Besorgungen zu erledigen, ehe wir uns abwärts an den Ortseingang
bewegen, um Tamara, Frank und Chung abzufangen, sie zur Lodge zu geleiten. Kusang
geht zielsicher auf den Schuster auf der Basarfläche zu, einen indischen Typ, allein und
frierend im Morgennebel, der sich hier noch an den Boden klammert, die aufkommende
Sonne negiert. Der Handwerker hat eine warme Jacke an, um den Kopf einen dicken Schal
gewickelt, sitzt mit gekreuzten Beinen, diese in eine Decke eingehüllt, auf dem Boden,
unter sich eine blaue Folie von der Größe eines kleinen Tisches. Sein Werkzeug, Bürsten,
Nadeln, Dorn, ein winziger Hammer, Garn und anderes sind noch in einer Decke
verborgen, zu einem Sack zusammengebunden. Den Auftrag muß Kusang in der
Landessprache übermitteln. Die Art der Schäden an Rucksack und Schuhen ist aber leicht
zu erkennen, die Zahl der zusätzlich in den Gürtel zu schlagenden Löcher gebe ihm mit
Fingersprache vor. Das macht er gleich, und die Hose sitzt wieder straff am Körper. 250
Rupies will er insgesamt haben, was ich für angemessen halte. Als wir mittags
zurückkommen, ist der Auftrag erledigt. In Anbetracht der Primitivität von Werkzeug und
Werkstatt ist das Ergebnis bei den Schuhen erstaunlich. Er vergewissert sich noch, ob die
Schuhsohlen seitlich mit der schwarzen Paste eingeschmiert werden sollen, was das
Nähgarn wasserabweisender machen dürfte. Natürlich will ich. Schließlich habe ich als
Kind unseren Dorfschuster bei der Arbeit beobachtet und noch einige Dinge im
Gedächtnis behalten. Ich will es vorwegnehmen. Die Schuhe halten bis zum Ziel, von der
wiederum gelösten unteren Sohle abgesehen.
Schnell noch die Ansichtskarte bei der Post abgeben, die sich im inneren Kranz ziemlich
weit unten befindet, im Bereich der zusammenhängenden einstöckigen Häuser. Der
Eingang führt nicht direkt in die Post. Unten, im Erdgeschoß, ist nach Sherpasitte nur ein
Lagerraum, vielleicht war es früher auch ein Stall. Dann geht es, links in der Ecke, eine
sehr bescheidene Treppe hinauf, in den Postraum. Der ist genauso schlicht, ohne Fenster,
das Haus offenbar auch im ersten Stock noch in den Hang gebaut. Ehe der junge
„Postbeamte“, nicht uniformiert und im Moment untätig, meine Ansichtskarte an sich
nehmen kann, wird sie von einem hinter mir auftauchenden Burschen mit hastiger Geste
ergriffen und nach einem flüchtigen Blick, wohl auf die Adresse, an ihn zurückgegeben.
Der hatte vorher unscheinbar und auch untätig vor dem Hause „herumgelungert“.
Vielleicht ist der im Rang höher. Dann bekommt die Karte mit einem kräftigen Hieb ihren
Stempel und landet sanft, mit einem leichten Drall, auf dem Fußboden in der Ecke des
Raumes, wo auch schon einige Postsachen liegen. Ich merke mir den 20. September und
bin schon jetzt neugierig, ob und wann sie zu Hause in Schwedt ankommen wird. Kusang
schätzt vier Wochen, kaum zu glauben. Als er mir nachher erklärt, wie diese Karte ihren
Weg nimmt, verstehe ich es:
Natürlich geht sie den gleichen Weg mit Trägern zurück, den ich gekommen bin. Wann die
Karte in ein Flugzeug nach Kathmandu wechselt, in Lukla oder in Phaplu, hängt vom Wetter ab. Wir verfolgen ihren Weg von Namche Bazar, wie Kusang ihn schildert: Von dort
geht sie wahrscheinlich auch nicht täglich weiter, vielleicht in Abhängigkeit von der
Menge, die in der Ecke auf dem Haufen liegt. Aber so genau weiß Kusang es auch nicht.
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Am 1. Tag bringt ein Träger die Post nach Phakding. Ich habe dazu (mit Mittagsrast) 6 Std.
gebraucht. Abwärts geht es schneller.
Am 2. Tag trägt sie der nächste Träger, nicht derselbe, nach Kharikhola. Das ist ein sehr
strammer Marsch. Wir brauchten dazu (aufwärts) zwei Tage (vielleicht übernachtet er auch
unterwegs). Wenn Flugwetter ist, würde er den „Postsack“ in Lukla am Flugplatz abliefern.
Damit wäre der Weg kürzer.
Am 3.Tag marschiert der nächste Träger westwärts bis Manidingma. Das ist nicht so weit.
Ich würde 4-5 Stunden veranschlagen.
Am 4. Tag geht der nächste Träger bis Tragsindho. Auch das ist in 4 Stunden zu machen.
Am 5. Tag muß der nächste Träger bis Salleri. Das dürfte etwa 6 Stunden dauern. Salleri
ist ein Hauptort in diesem Gebiet, dort ist auch das Hauptpostamt und die Verteilung.
Danach, am 6. oder 7.Tag, marschiert der nächste Träger den kurzen Weg, etwa 1 Stunde,
zum Flugzeug nach Phaplu, wo die Post mindestens einen Tag liegt. Dann erst geht sie in
weniger als einer Stunde mit einem Flieger nach Kathmandu.
In Kathmandu wird dann nochmals sortiert, und irgendwann geht es ab nach Europa zum
Zielflughafen. So kommen von Namche Bazar schon mindestens zehn Tage zusammen,
ehe es überhaupt (in Kathmandu) richtig losgeht. Lassen wir uns überraschen! Kommt sie
überhaupt an? (Ja, sie ist angekommen! Am 4. November lag sie in Schwedt um 14 Uhr im
Briefkasten. Der Knick in der Mitte stammt noch von mir, in Namche Bazar beim
unvorsichtigen Tragen in meiner Brusttasche verursacht.)
Im Eiltempo gehen wir abwärts, zum Ortsausgang, warten im Schutz der letzten Teestube.
Es nieselt. Nicht lange, und sie kommen, kommen wirklich, Tamara an der Spitze. Die
Freude ist groß. Zumindest ist Franks Verfassung so, daß er den beschwerlichen Aufstieg
nach Namche in ziemlich kurzer Zeit schaffen konnte. Alle Achtung! Trotzdem ist klar,
daß morgen noch ein Ruhetag eingelegt werden muß, auch der Höhenanpassung wegen,
denn wir befinden uns nun weit über 3000 Meter.
Tamara und Frank ruhen etwas und machen eine kleine „Dorfrunde“. Ich entschließe mich
trotz des dichten Nebels zu einer größeren Runde: Zum Sherpa - Museum, das wegen der
Pflasterarbeiten kaum zugänglich ist, zur Nationalparkverwaltung mit Ausstellung, an das
Tor zum Armeeposten, der zwar kurz mit mir spricht, dem ich aber wohl doch nicht recht
geheuer bin, dann den oberen Terrassenweg aus dem Ort heraus in Richtung Thame. Der
Hang oberhalb von Namche ist an mehreren Stellen aufgeforstet. Eine Freude, das zu
sehen. Die wohl fünfjährigen Nadelgehölze sind gut im Wuchs und versprechen, den Ort in
mehreren Jahren auch von oben einzurahmen. Der Pfad führt, nachdem er den Ort verläßt,
steil nach oben bis an eine Bergnase. Ab dort kann ich ihn, sich leicht hoch schlängelnd,
bis zur nächsten Ansiedlung, sicherlich Phurte, verfolgen, als der hier oben böige Wind
den Nebel auseinanderreißt. Tief unten, in die Schlucht eingegraben, braust der Bhote
Koshi, ein Zufluß des Dudh Kosi, der viele Tage unser Wegbegleiter war.
Auf dem Rückweg begegnet mir ein Mann mittleren Alters, Bürgerhose, Anorak, Brille,
mit dem milden Gesichtsausdruck des Dalai Lama. In der linken Hand einen Gebetskranz,
den er zwischen den Fingern durchgleiten läßt, in der rechten eine Gebetsmühle in
Drehbewegung. Er lächelt mich freundlich an und gibt das „Namaste“ zurück.
Weit oben im Hang, eine halbe Stunde aufwärts, dort wo Sonne und Wind die Wolken und
den Nebel heute gar nicht vertreiben können, kommt mir auf schmalem Pfad ein Sherpa
mit drei Dzos entgegen. Ich weiche in eine Nische aus. Sie sind schwer beladen, jedes auf
28
beiden Seiten mit einem Sack Kartoffeln, ich nehme an, einen Zentner schwer. Ein
ungewöhnlicher Anblick, wie sie aus dem milchigen Nichts daherkommen, das sich beim
Weitergehen in eine Orgie von Felsbrocken und gewaltigen Steinen, Bausteine für
Hünengräber, verwandelt. Steine, wie Spielbälle von Titanen. Und dann dazwischen, in
dieser Waschküche unwirklich, unheimlich, und scheinbar unbewohnt, bescheidene
Behausungen und winzige Äcker mit Kartoffeln, von brusthohen Steinmauern befriedet.
Und ich gehe, nein, ich schleiche, lautlos, wie in einem Irrgarten, zwischen den Anwesen
herum. Übersteige Mauerdurchbrüche, verirre mich fast, fühle mich wie ein Eindringling.
Wie können hier Menschen leben? Dann höre ich Stimmen aus einem Haus, auch von
Kindern, keineswegs klagend oder gedrückt. Ich schleiche eilig weiter. Dann stehe ich
neben einem Kartoffelfeld, auf dem ein Mädchen, allein, erntet. Das nimmt mich kaum
wahr, ist nicht erstaunt, daß hier oben, im Nebel, ein „Bleichgesicht“ umherirrt... .
Nachher, wieder etwas weiter unten, liegt Namche Bazar ganz tief, direkt unter mir,
schmiegt sich hufeisenförmig in die Hangeinbuchtung, als suche es Schutz vor dem, was
da von oben kommen könnte.
Unten, bei den ersten Häusern eine Ansammlung von Kindern. „cock hite“ ruft mir eines
zu, erregt. Mein Gehirn übersetzt erst, als ich die Lage überschaue. Zwei Zwerghähne
stehen sich gegenüber, Auge in Auge, bereit zum „Hahnenkampf“. Das heißt, sie kämpfen
bereits, das eben war nur eine kleine Pause. Sie hacken mit den Schnäbeln aufeinander los,
springen senkrecht hoch, versuchen, den Gegner mit den Spornen zu treffen und zu
verletzen. Ich kann mich nicht recht amüsieren. Die Kinder schauen gespannt zu, feuern
an, immer darauf bedacht, daß keines der Tiere an der Mauerkante in die Tiefe
herunterstürzt... Ein Soldat von der nahen Garnison auf dem Hügel kommt des Weges und
macht dem Treiben ein Ende.
22.09. Fr
Namche Bazar, 8.30 Marsch mit zum Everst View Hotel (3800 m),
dann zurück über Khumjung, Khunde und Syangboche.
Der König der Berge zeigt sich gnädig – Khumjung und Sir Edmund Hillary –
Vorteile der Kampfsportler – Markt in Namche Bazar - Computerspiele
Erstmals zeigen sich Namche Bazar und Umgebung dem Betrachter im
Morgensonnenschein. Über dem gegenüberliegenden Hang des Dudh Kosi ist das
imposante Massiv des Kongdi Ri zu sehen. Wir aber, Tamara, Kusang und ich, wollen in
die andere Richtung zum Everest View Hotel, das die Sicht auf den Mount Everest
verheißt. Frank soll noch ruhen, Chung bekommt frei.
Der Aufstieg zum Syangboche Airport ist steil und schweißtreibend. Nach einer halben
Stunde haben wir aber die Höhe im wesentlichen erreicht und marschieren auf moderatem
Pfad über Bergwiesen mit einigem Nadelbaumbestand zum Hotel mit der bestechenden
Aussicht. Dabei immer eine Etage, sehr hoch bemessen, über dem Pfad nach Thiangboche,
der wie ein geschlängeltes Band den Hang entlang läuft... In das teure Hotel gehen wir
ohne Scheu, in der Erwartung, daß die reichen Japaner das Personal um diese Zeit noch
schlafen lassen. Wir finden auch sofort die Aussichtsterrasse, scheinen zunächst ungestört
zu sein. Natürlich entdeckt uns dann aber doch der Kellner und legt die Karte vor. Der
preiswerteste Tee hat immerhin noch den dreifachen Preis dessen, was wir gewöhnt sind.
Um das „Eintrittsgeld“ tut es uns dann aber nicht leid, als die Wolken verfliegen und eine
atemberaubende Szenerie freigeben: Der Mount Everest ist nun wirklich vor unseren
Augen. Sehr weit entfernt zwar, aber unverkennbar in seinen Konturen, atemberaubend
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und schön. Majestät laden ein zu einem kurzen Phototermin und dulden nur die engsten
Vertrauten neben sich, den Lhotse und, vor ihm kniend, den Nuptse. In der Ferne, für uns
aber näher, zu seiner Linken die Fürsten Tramserku und Kang Taiga sowie Fürstin Ama
Dablam. Den Würdenträgern zu seiner Rechten ist es heute nicht gelungen, seine Huld zu
erheischen. Sie bleiben hinter dem Wolkenvorhang, wie auch die anderen von Adel.
Majestät geruhen sogar, ein wenig mit uns zu kokettieren, zieht hin und wieder seinen
weißen Schal um Haupt und Schultern... Dann aber: „Genug geglotzt...“, und er zieht sich
in seine Wolkeneinsamkeit zurück und mit ihm sein Gefolge.
Da wir nun schon die Höhe haben, wäre es dumm, nicht noch nach Khumjung zu
marschieren. Das war früher der Hauptort des Khumbu, bis Namche Bazar ihm den Rang
ablief. Hier hat der berühmte Sir Edmund Hillary, der Erstbesteiger des Mount Everest
(gemeinsam mit Tensing Norgay Sherpa), Schulen bauen lassen, die die Kinder kostenlos
besuchen dürfen. Auf abschüssigem Weg in den Ort begegnen wir australischen
Jugendlichen, die uns den engen, geschlungenen Pfad im „Gänsemarsch“
entgegenkommen. Im Scherz ordne ich jedem eine australisch Großstadt zu. Doch bald
erschöpft sich mein geographisches Wissen, und ich zähle nur noch. Die drei völlig
erschöpften Nachzügler, ein Junge und zwei Mädchen, erhalten die Nummern 23 – 25.
Danach müht sich ein älteres Ehepaar aus Schweden den Hang sehr langsam hinauf. Am
Nachmittag, in der Lodge, steht die Frau mit freiem Oberkörper ungeniert auf dem
Korridor am Waschbecken.
Als wir in Khumjung den Menschen bei der Kartoffelernte zuschauen, immerhin in 3800
Metern Höhe, gesellt sich der Guide der Chinesen aus Hongkong zu uns und erzählt uns
sein Erlebnis von gestern abend in Namche: Er wurde überfallen, etwa gegen 20 Uhr, von
drei jungen Leuten, die ihn mit Messern bedrohten, schlugen und 10.000 Rupies
wegnahmen. Er hat noch Schmerzen am Jochbein. Ich bin ein wenig schockiert, kann es
kaum glauben... Kusang schiebt sein eigenes Erlebnis vom Vorjahr in Pokhara nach: Auch
er ist von drei Jugendlichen angegriffen worden, konnte sich aber mit seinen
Anfangskenntnissen im Kickboxen erfolgreich wehren und dann weglaufen. Seine Jacke
ist aber am Tatort verblieben. Als wir dann Khunde, den nächsten Ort verlassen, den Hang
hinaufgehen, in eine ziemlich einsame Zone, kommt das Thema von vorhin nochmals zur
Sprache. Kusang beruhigt uns mit der Auffassung, zu dritt wären wir stärker. Er nimmt
sich aber vor, in Kathmandu eine Fortbildung im Kickboxing zu besuchen.
Heute, am Freitag, beginnen die Vorbereitungen für den berühmten Markt in Namche
Bazar. Der findet immer sonnabends statt. Hier kommen die Händler aus Tibet und aus den
anderen Landesteilen zusammen. Die Männer aus dem Terai, vom Aussehen her Inder, die
wir unterwegs trafen, sind mit ihren Töpfen und Schüsseln in Monju umgekehrt. Kusang
meint, daß Namche Bazar für sie ein zu „teueres Pflaster“ wäre. Sie müssen ja ihren
Lebensunterhalt unterwegs sichern. Eine interessant verzierte Schale aus hellem Metall für
den Hausgebrauch hatte die Lodge - Besitzerin in Phakding für 180. - Rupies erstanden
und sich beglückt gezeigt. Die Anfänge am Freitagabend lassen erahnen, was sich morgen
hier abspielen wird. Bei allem Sinn für das Exotische kann ich nicht verhehlen, daß mich
fehlende Sauberkeit und Hygiene stören. Der Müll, durchnäßte Verpackungen und
sonstiger Unrat werden nicht weggeräumt. Mehrmals bin ich in „Kuhfladen“ getreten. An
einer etwas abseitigen und erhöhten Stelle wird Fleisch verkauft. Die Religion entscheidet
über den Kauf. Nach dem noch existierenden Kastenwesen müßten die Fleischhändler
„Unreine“ sein. Als mir einer mit einem großen Stück auf der Schulter entgegenkommt,
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weiche ich nur so weit aus, daß er vorbeikann. Ich erwarte üblen Geruch, rieche aber
nichts.
Die tibetanischen Händler, die wegen des niedrigeren Preisniveaus in China gerne nach
Nepal kommen, bereichern das Geschehen in Namche Bazar in jeder Hinsicht. Sie werden
aber erst im Oktober erwartet. Erst dann ist der Paß an der Grenze zu Tibet, der Khumbu
La oder Nangta La (5716 m), von Yaks mit den schweren Lasten passierbar. Der Pfad am
Paß ist sehr steil, und die Schneeverhältnisse müssen stabil sein, um ausgetretene, feste
Spuren zu haben. Kusang meint, daß sie vom Paß bis Thame, etwa einen halben
Tagesmarsch von Namche entfernt, einen vollen Tag brauchen. Er erzählt auch, daß sie in
einer Felsenhöhle in der Nähe des Passes nächtigen. Nur in der Winterzeit, so ab Oktober,
weitet sich das Marktgelände auf einige Feldparzellen im inneren Halbkreis aus. Dann sind
die Kartoffeln geerntet, der Boden hat sich einigermaßen gesetzt und ist begehbar.
Am späten Nachmittag sitzt der Wirt der Lodge an seinem Computer, da, wo ich
telephonierte. Spielt Karten, wie ich durch die Scheibe sehe. Auf meine Frage, wer denn
gewinnen würde, räumt er grinsend ein: „ Immer der Computer...“
23.09. Sa
7.00 Abmarsch, 9.30 Phunki Tenga mit Teepause.
11.45 an Thiangboche, Mittagsrast in Gompa Lodge.
13.15 an in Rhododendron Lodge in Deboche.
Nachmittags beim Gebet im Kloster.
Jagd mit der Steinschleuder – Klostergetuschel - Der Yak, das Haustier Auf dem recht breiten Pfad, der aus dem Ort herausführt, begegnen uns viele Menschen.
Heute ist Markttag in Namche Bazar. Nicht alle tragen Lasten. Manche machen den
Eindruck, als würden sie einen Spaziergang, allerdings mit schnellerem Schritt, „in die
Stadt“ machen... Lange Zeit marschieren wir im Dunst. Es ist ein ständiges Auf und Ab,
aber doch moderat. Nach einer Stunde, immer noch im dichten Nebel, machen wir
Teepause in Khangsuma. Nach einer halben Stunde sind wir an der „Ecke“ in Sanasa, da
wo sich die Bergpfade trennen: Nach Pheriche und Dingboche, in die Region von Mount
Everest und Lhotse oder nach Gokyo in Richtung des Achttausenders Cho Oyu. Von hier
aus haben wir plötzlich die Ama Dablam in Sicht. Ein streunender Hund läßt sich nicht
abschütteln. Ich merke gar nicht, wann wir ihn wieder verlieren... Dann geht es noch ein
Mal recht weit nach unten, etwa 500 Meter, nach Phunki Tenga. Dort führt der Pfad über
eine Hängebrücke über den Dudh Kosi und weiter etwa 600 Meter auf einem bewaldeten
Hang hoch nach Thiangboche. Bei der Teepause in einer bescheidenen Lodge mit
liebenswerten Besitzern sehen wir zum ersten (und einzigen) Mal wilde Steinböcke. Diese
kommen in der Größe unseren Hirschen nahe. Der halbwüchsige Sohn des Wirts hat
derzeitig Schulferien und übt mit der Steinschleuder. Die Steinböcke sind nicht ernsthaft
gefährdet. Aber wehe ihnen, wenn er es zur Meisterschaft gebracht hat... Den Aufstieg
nach Thiangboche bewältige ich mit Kusang in eineinhalb Stunden, ohne mich sehr
anzustrengen.
Im Kloster Thyiangboche (Tengboche) ist Hochbetrieb. Nicht nur, daß fleißig gebaut wird,
um auch die letzten Spuren des Brandes von 1989 auszulöschen. Nein, es sind zahlreiche
Bergwanderer, die das Kloster besichtigen und einer Betstunde beiwohnen wollen. Nur
zehn Mönche sind zum Gebet versammelt, dazu einige Mönche im Kindesalter, die Tee
reichen und andere Hilfsdienste verrichten. Die Zahl der Besucher, die das Geschehen vom
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Rande des Saales aus verfolgen, ist wohl doppelt so groß. Inbegriffen einige Mitglieder der
russischen Lhotse – Expedition, von denen wir noch hören werden. Nach einer halben
Stunde hat sich die Zahl der Besucher drastisch verringert. Nach einer Stunde, so lange
dauert der Gebetsakt, sind nur noch Kusang und ich da sowie zwei Russen, die später
gekommen sind. Allerdings ist es auch recht kalt in dem großen Raum. Frank hat
unaufdringlich einige Szenen mit der Filmkamera eingefangen, und so erspare ich es mir,
das Erlebte mit voller Konzentration in mein Gedächtnis einzuspeichern. Lasse mich von
der Stimmung, die im Raume schwebt, einfangen... Monotone Gebete in unterschiedlicher
Tonlage, vergleichsweise im Baß, Bariton und Tenor, von jung und alt, begleitet und
unterbrochen von einer Pauke und einer Schelle, untermalt von zwei Blasinstrumenten.
Eines in hoher Tonlage, das andere mit kehligen, röhrenden Lauten. Ich fühle mich nach
Tibet versetzt. Aber hier ist auch Tibet. In Kultur, Religion und Lebensweise, kaum 20
Kilometer von der Grenze entfernt. Die Mönche wirken keineswegs wie religiöse Fanatiker
oder Eiferer. Sie sind locker, wiegen den Oberkörper, neigen sich zum Nachbarn herüber,
sprechen leise miteinander, tuscheln... Im Halbdunkel kann ich nicht erkennen, wo der
vierundzwanzigjährige Mönch sitzt, den ich vor zwei Stunden an der Portaltreppe
gesprochen habe. Der seit zehn Jahren im Kloster ist und aus Phortse stammt. Phortse,
eigentlich ein Katzensprung, hier vom Hang über den brausenden Imja Khola hinweg auf
den gegenüberliegenden Hang. Nun wird im Himalaja niemand den Heimatort so erreichen
können, wie eben angedeutet. Dazu sind die Hänge zu steil und der Fluß ganz tief unten, in
ein felsiges Bett gegraben. Der besagte Mönch muß also hoch nach Deboche, über die
Hängebrücke und dann den steilen Pfad nach Phortse wählen. Etwa drei Stunden würde der
Marsch dauern.
Ab Thiangboche sind die Dzos weitestgehend von Yaks als Lasttiere abgelöst. Die Yaks
mit ihrem zottigen Fell und dem struppigen Schwanz sind wichtigstes Nutztier im
Hochgebirge. Sie dienen den tibetischen Völkern als Last-, Reit-, Milch- und Zugtier. Es
gibt nichts, was von ihnen nicht in irgendeiner Form verwendet werden könnte. Sie sind
nicht nur der Transporteur des Himalaja, sondern liefern auch Milch zum Buttern, für Käse
und Yoghurt, für Kerzenfett, ferner Fleisch, Wolle und Leder. Ihr Dung dient als
Brennstoff und Dünger. Aus den Hufen wird Klebstoff, aus dem buschigen Schwanz ein
Staubwedel hergestellt. Während die Dzos auch tiefer als 3000 Meter leben können, ist es
den Yaks „dort unten“ zu warm. Es ist beeindruckend, wie die klugen und geduldigen
Tieren trittsicher ihren Weg auf den Hochgebirgspfaden nehmen.
Ein älterer Mann treibt seine schwer beladenen vier Yaks bedächtig vor sich her, aufwärts
in Richtung Basislager. Seine Frau trägt auf ihrem Rücken ein Riesenpaket Heu. Die Yaks
tragen die Lasten, die Frau deren Futter. Nach meinem „Namaste“ bleibt er stehen. Sie sind
auf dem Wege von Namche nach Gorak Shep, wo sie nach Kusangs Aussage eine Lodge
betreiben. Die Waren sind für das Basislager des Mount Everest bestimmt. Es sind also
Bergsteiger dort. Er lehnt ein Photo nicht ab. Markante Gesichter des Himalaja, geprägt
von harter Arbeit, Entbehrungen und rauher Gebirgswelt. Sie ziert sich ein wenig. Sie sei
nicht gerade chic angezogen. Mein Hinweis, daß ich auch nicht gut angezogen wäre, hilft
beim Überreden. Für meinen Zusatz, daß sie ja eigentlich auch meine Eltern sein könnten,
schäme ich mich später ein bißchen. Denn damit habe ich sie altersmäßig eingegrenzt oder
älter gemacht.
24.09. So
8.45 Abmarsch, 10.00 an Pangboche, Rast an Shree Dewa Lodge.
11.45 Ankunft Shomare mit Mittagsrast.
14.30 Ankunft in Dingboche (4410 m) im Himalayan Hotel
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Den Imja Khola aufwärts – Starker Wind am Lhotse – Der Tod am Berg – Wärme
durch Yakmist
Ein schöner Trekkingtag deutet sich an. Bis zur nächsten Brücke, an einer engen Schlucht
aufgehängt, ist es nur eine halbe Stunde. Dann geht es weiter, immer hoch über dem Imja
Khola. Noch sind die Uferzonen auf der anderen Seite des Flusses dicht bewaldet. Der
Pfad führt auf der linken Hangseite, diese nur mit Gras und niederem Gehölz bewachsen,
bis Pangboche. Auf kleinen Feldern, von Steinmauern umgeben, wecken Erdhaufen meine
Neugier. Erst als ich sehe, daß in tiefe Löcher daneben Kartoffeln eingefüllt werden,
erkenne ich, daß hier Winterbevorratung, frostsicher, betrieben wird. Danach wird die
Vegetation trister. Nur noch kriechende Wacholder und dürre Gräser. Auf den Hängen
weiden Yaks. Die dort auf dem imposanten Steilabschnitt grasen, kann Frank wegen der
Entfernung nach oben und fehlenden Kontrastes nicht filmen, schade... An der Stelle, wo
wir den Fluß wieder überqueren und auf der ansteigenden Talseite nach Dingboche
vordringen, bietet sich ein schaurig -schönes Bild. In zwei Zonen ist der gesamte Hang
abgerutscht, und das darunterliegende Kalkgestein, Marmor, ist freigelegt. Auch auf
unserer Seite sind viele Erdrutsche und steinschlaggefährdete Zonen. In der Monsunzeit
sollte man hier sehr vorsichtig gehen. Dingboche, im Angesicht von Taboche und Lhotse,
die immer wieder verstohlen den Wolkenvorhang beiseite schieben, offenbart sich als ein
typisches Sherpadorf. Brusthohe Steinmauern frieden Häuser und Felder ein, wie in Irland,
allerdings von imposanter Bergkulisse umrahmt.
„Am Gipfel des Lhotse ist starker Wind...“ sagt Kusang. Woher weiß er das? Ich schaue
genauer hin und erkenne, daß das Weiße am Gipfel keine Wolkenfetzen sondern
Schneewirbel sind. Der Blick auf den Gipfel läßt die Gedanken wandern. Warum müssen
beim Besteigen der hohen Berge in Nepal meistens Sherpa sterben? Früher dachte ich, das
läge im wesentlichen an der schlechteren Ausrüstung. Man nimmt zwar gern ihre Hilfe,
Ausdauer und Ortskenntnis in Anspruch, sparte jedoch oft, wenn es galt, sie
ausrüstungsmäßig gleichzustellen. Am Cho Oyu, einem Achttausender westlich des Mount
Everest, sind gegenwärtig zwei Gruppen, Spanier und Koreaner, aktiv. Vor einer Woche
sind drei Nepali - Bergsteiger ums Leben gekommen. Ob sie zu den Spaniern oder zu den
Koreanern gehörten, wußte Kusang nicht. Er wußte aber, daß sie „gespurt“ haben, das
heißt, die Route im Schnee vorgegangen sind. Als die Lawine über sie hereinbrach, hatten
sie im Firn an der steilen Flanke keine Chance... Auch mit Helicoptereinsatz sind sie bis
zum heutigen Tage nicht gefunden worden. Ja, die Sherpa gehen voran, treten die Spur im
Schnee, damit es die ausländischen Bergsteiger leichter zum Gipfel haben. Sie bezahlen ja
dafür... An der Ama Dablam bereiten drei Japaner und ein Nepali den Aufstieg vor, nicht
zu vergessen den einheimischen Koch. Alle Materialien und Lebensmittel wurden von
Yaks zum Basislager hochgebracht. Das geschah sicherlich auf dem Pfad, der auf der
östlichen Hangseite nach Mingbo und an der Zunge des Mingbo - Gletschers vorbei in die
unberührte Bergwelt führt. Oberhalb des Basislagers werden keine Träger eingesetzt, sagt
Kusang.
Ein naher Verwandter von Kusang ist auch am Berg umgekommen. Der Sohn der
Schwester seiner Mutter, Ang Dawa Tamang, war einer der berühmtesten Bergsteiger
Nepals. Er bestieg den Mount Everest über die Südwest – Wand. Das ist eine extrem
schwere Route und wurde nur von etwa zehn Prozent der Everest - Bezwinger gewählt. Er
absolvierte noch drei weitere, „normale“ Besteigungen des Mount Everest. Drei Male
bestieg er die Kanchenjunga, die Annapurna I sowie des K II im Karakorum im indisch –
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pakistanischen Grenzgebiet. Im Frühling des Jahres 1999 war er mit einer koreanischen
Expedition wieder am Kanchenjunga. Es war beim Einrichten des Lagers IV in 7500
Metern Höhe, als ihn ein herabfallender Eisbrocken am Kopf traf und so schwer verletzte,
daß er sofort verstarb. Er war erst 40 Jahre alt. Sein Leichnam wurde mit dem
Hubschrauber nach Kathmandu gebracht und nach buddhistischer Sitte im Budha Tample
verbrannt. Die Koreaner unterstützten die Hinterbliebenen. Kusang ist über diesen
Unglücksfall besonders traurig, weil der Vetter ihn bei zukünftigen Expeditionen
mitnehmen wollte. Ich kann ihn verstehen, auch wegen der entgangenen finanziellen
Möglichkeiten. Versuche ihn aber damit zu trösten, daß sein gegenwärtiger Job zumindest
weniger gefährlich ist. Diese Argumentation sagt ihm zu. Er hofft weiterhin auf Trekking Touristen, um seinen Lebensstandard halten und seine Eltern, einige Tagesmärsche
abwärts, unterstützen zu können. Denn sie haben keine Verdienstmöglichkeiten...
In der Lodge, etwas hochtrabend Himalayan Hotel genannt, wird, seitdem wir die höheren
Lagen erreicht haben, zum zweiten Mal geheizt. Im Aufenthaltsraum, mit dem eisernen
Ofen. Wir sind schließlich auf 4400 Meter Höhe. Es wird Yak - Mist genutzt, unter
Zuhilfenahme von Kerosin beim Anheizen. Keine Gerüche, wie befürchtet. Hier oben gibt
es keinen Baum und keinen Strauch, also kein Holz. Ab Pangboche, wo sich der
Baumbestand endgültig verliert, sieht man allerorten, „der Sonne entgegen“, die „Fladen“
der Yaks zum Trocknen abgelegt. Auf großen Steinen, an Wänden, aber auch auf
Grasflächen, wie Fladenbrote, abgerundet und abgeflacht. Das Kartoffelfeld neben der
Lodge, auch mit brusthohen Steinmauern umgeben, hat an einer Seite eine drei Schritt
breite Grasfläche. Darauf sind die woanders vorgetrockneten Fladen, immer zwei,
gegeneinander aufgestellt, wie Pyramiden... Kurz vor Pangboche waren uns zwei
Halbwüchsige entgegengekommen, ihre Körbe mit trocknen Fladen gefüllt – Yakmist als
Handelsware.
25.09. Mo
8.45 Abmarsch zur Höhenakklimatisierung.
10.55 an Chukhung (4734 m) mit Mittagsrast.
11.50 Abmarsch zum Lhotse Base Camp, an 13.30.
Begegnung mit der russischen Expedition.
15.30 Rückmarsch, 17.45 an Dingboche.
„No photo, no picture“ – Ruhestand eines Bergsteigers – Russische Gastlichkeit –
Eilmarsch nach Dingboche
Auch der etwa vierjährige Junge ist an diesem morgen bereits auf den Beinen. Er weist alle
Versuche, ihn zu photographieren, kategorisch ab. Wie eingeübt, mit streng abwehrender
Geste: „No photo, no picture!“ („Keine Photos!“). Es funktioniert. Dabei hätte ich den
niedlichen Sherpa mit der Rotznase gerne aufs Bild gebannt. Aber der Grundsatz, niemals
ohne Einwilligung, gilt für mich auch bei Kindern. Bisher hat mir nur ein Lastträger, ein
stolzer junger Mann, die Bitte um ein Photo mit einem brüsken „No“ abgeschlagen. Nur
Frank wird den kleinen Mann später ein Mal mit der Kamera überlisten.
Wir brechen auf, als die Sonne anfängt, ein wenig zu wärmen. Heraus aus dem Ort, über
den kopfsteingepflasterten Weg, etwa zwei Meter breit, mit der Regen- und Abwasserrinne
auf der einen und den brusthohen Steinmauern auf beiden Seiten. Vorbei an Wohnhäusern,
Lodges, Feldflächen. Menschen beim Aufbruch, beim Füttern und Beladen der Yaks.
Bleiben immer auf der linken Hangseite des Imja Khola. Nach einer Stunde haben wir
Bibre erreicht. Hinter dem Namen verbirgt sich eine einzelne Teestube.
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Der Betreiber der kleinen Teestube in Bibre ist 44 Jahre alt, seine Frau führt in Chukhung
eine komfortable Lodge. Als ehemaliger Bergsteiger hat er den Mount Everest zwar nicht
bezwungen, zumindest aber den Südsattel in 8000 Meter Höhe erreicht. Auf dem Lhotse
war er aber, hat ihn vom Everest Basislager aus bestiegen. Seine Eltern haben ihm
dringend nahegelegt, mit dem Bergsteigen aufzuhören. Am 25. Dezember gehen er und
seine Frau nach Khumjung, wo die Eltern leben. Dort ist es warm, am Herd in der Küche,
über den Rindern im Erdgeschoß... Im Winter ist Chukhung fast leergefegt. Nur noch drei
bis vier Familien harren dort aus.
Er erzählt von einem Unglück bei den Russen im Basislager des Lhotse, zu denen wir
heute noch wollen, wenn Wetter und körperliche Verfassung mitmachen: Einer der Leiter
der russischen Expedition ist vor drei Tagen ums Leben gekommen. Beim Einrichten von
Lager III ist er beim seitlichen Queren in der Flanke von einer Lawine erfaßt und begraben
worden. Er wurde noch nicht gefunden, vielleicht niemals...
Nach einer kurzen Teepause geht es weiter, aufwärts in das Hochgebirgstal. Spärliche
Vegetation, nur noch Kriechwacholder, dornige „Decker“, dürres Gras, „Kälberkraut“,
massenhaft Edelweiß. Immer bessere Sicht auf Ama Dablam, Island Peak, Peak 38,
Lhotse, Nuptse, Tabuche... Gegen elf Uhr sind wir in Chhukhung, in genau 4734 Metern
Höhe. Nach dem Essen und einem Gespräch mit einem Russen von der Expedition beim
„Ausgang“ entscheiden sich auch Tamara und Frank für den Aufstieg zum Basislager des
Lhotse.
Ich, ohnehin fest entschlossen dazu, ziehe bereits gegen 12 Uhr mit Kusang los. Beide
folgen mit dem Dresdener Studenten nach. Wir kennen die Route nicht. Auch Kusang ist
unsicher. Hinweise des Studenten, die Karte und das Gefühl lasen uns den richtigen Weg
finden. Der Moräne zu folgen und im Zusammentreffen zweier Gletscher den des Lhotse
zu nehmen, den ausgetretenen Pfad zum Umfeld des Island Peak rechts zu ignorieren,
erweist sich als richtig. Nach eineinhalb Stunden Marsch sind wir im Basislager. Etwas
später folgt Frank mit Chung.
Eine herzliche Begegnung! Natürlich stark gefördert durch Tamara, die Russin, und Frank,
der sich sofort zu einer Schachpartie mit Sergej zur Verfügung stellt. Ich mache mich mit
dem Dresdner bekannt. Die anderen Russen freuen sich über das Gespräch mit Tamara in
der Muttersprache und verfolgen das Schachduell... Wir werden bewirtet: Frites,
Rohkostsalat und Fleisch. Wieder Fleisch nach sechzehn Tagen, wie das schmeckt! Auch
wenn es „nur“ aus der Büchse ist. (Tamara meint es war frisches Fleisch) Ich fühle mich
wohl, aber die Zeit vergeht zu schnell... So erlaube ich mir als „Ältester“ das Machtwort
für den Aufbruch. Gruppenphoto, Adressentausch, Erfolgswünsche... und wir ziehen los,
um halb vier. Im Eilmarsch erreichen wir nach einer Stunde Chukhung, verschnaufen bei
einem Tee, ziehen weiter und sind, gerade vor dem Dunkelwerden, viertel vor sechs, in
unserer Lodge in Dingboche.
26.09. Di
Getrennter Abmarsch,
Kusang und ich:
8.30 Abmarsch über Dhugla nach Lobuche, an 11.50
Tamara, Frank, Chung: Nach Namche Bazar
Trennung – Bergsteigerfriedhof – Ein Koreaner aus Kalifornien –
Steinklopfer in 5000 Meter Höhe – Die Nacht mit einer Australierin
35
Ab heute trennen sich unsere Wege: Für fünf Tage, wenn unser Plan aufgeht. Der sieht vor,
daß Tamara, Frank und Chung heute nach Namche und morgen nach Lukla „absteigen“
und übermorgen nach Kathmandu fliegen. Kusang und ich wollen heute bis Lobuche,
morgen nach Gorak Shep, auf den Kala Patthar und bis Pheriche zurück. Am nächsten Tag
bis Namche, danach bis Lukla und am darauffolgenden Tag mit Yeti Air Lines nach
Kathmandu. Mit zwei Tagen Differenz, am 30. September, würden wir uns in Kathmandu,
Pilgrims Hotel, treffen. Ein anspruchsvolles Vorhaben, für beide Gruppen, bei dem Chung
noch einen kleinen Teil meines Gepäcks bis Namche mitnehmen muß, wo wir schon etwas
hinterlegt haben.
Franks Zustand hat sich nicht entscheidend verbessert. Nun ist auch noch Tamara erkrankt.
Sie hat in der Nacht viel gehustet. Ich konnte es, drei Zellen weiter, durch die Bretterwände
deutlich hören. Ich akzeptiere ihre Entscheidung, zurückzugehen, freue mich aber auch
über ihren Vorschlag, daß Kusang und ich allein das „offizielle“ Ziel, den Kala Patthar, in
Angriff nehmen sollen. Tamara und Frank sind trotzdem zufrieden. Sie haben mit dem
Lhotse Base Camp, etwa auf gleicher Höhe wie das des Mount Everest, das sportliche Ziel
erreicht. Die Begegnung mit den Russen im Lager war ein ausgleichendes Erlebnis...
Dann ziehe ich zügigen Schrittes allein mit Kusang los. Zunächst geht es den steilen Hang
hinauf auf die Hochfläche. Links und rechts auf der Bergkante Stupas mit flatternden
Gebetsfahnen. Viele der vor uns gestarteten Trekker rasten schon hier, auch die Gruppe
aus Malaysia. Bald haben wir auch den Rest der Trekker in Richtung Lobuche hinter uns
gelassen. Die einsamen oder die in Zweiergruppen haben allerdings mehr Gepäck. Neben
der Route auf dem nun sanften Hang liegt Pheriche im Tal des Lobuche Khola bereits
hinter uns. Unten im Tal noch saftige Weiden und Kartoffelparzellen. Die letzten Felder,
wie ich vermute, und was sich später bestätigen wird, in etwa 4400 Metern Höhe. Dhugla,
in 4620 Metern Höhe, gleich nach der Brücke über den wilden Bach, besteht aus zwei
Häusern, Teestuben. Kusang steuert zielbewußt auf die obere zu. Nach kurzer Rast und
Flüssigkeitsnachschub geht es weiter, nun den langen steilen Hang hinauf, vor dem Kusang
gewarnt hatte. Dieser hat es wirklich in sich! Und es dauert wohl eine halbe Stunde, ehe
wir uns hinaufgequält haben. Oben befinden sich „tombstones“, also ein
Bergsteigerfriedhof. Kusang erläutert, daß die Körper der Verstorbenen in ein kleines
Erdloch eingelassen werden, über das ein quadratisches Steingebilde, ein Schritt in der
Länge und mannshoch, ähnlich einer Stupa, errichtet ist. Die meisten Inschriften betreffen
den Tod von Sherpas am Berg. Auch einige Ausländer sind dabei... Ich stelle mir den
Totensonntag bei uns vor und rechne die Tagesmärsche, die ein Angehöriger vom
jeweiligen Wohnsitz bis zur Grabstätte bräuchte.
Der weitere Abschnitt bis Lobuche ist nur noch reine Ausdauerleistung. Der Pfad in einem
trockenen Tal längs der Moräne steigt nur noch geringfügig an. Ein junger Mann kommt
mir entgegen, ein Nepali. Er betet, laut Mani - Sprüche vor sich hersagend. Mein
„Namaste“ erwidert er, ohne die Miene zu verziehen, um dann weiter laut zu beten.
Kaum an der Lodge angekommen, werde ich von einem Koreaner angesprochen,
hochgewachsen, selbstbewußt und forsch, aber freundlich. Er ist in China geboren worden,
irgendwie nach Taiwan gekommen und vor 20 Jahren in die USA ausgewandert, lebt jetzt
im sonnigen Kalifornien. Ich als Flachländer aus der Uckermark in Deutschland dürfte
seiner Meinung nach eigentlich keine Bergerfahrungen haben. Als ich, ein wenig eitel, auf
die Besteigung des Mont Blanc und des Kilimanjaro hinweise, vermutet er richtig, daß ich
das wohl erst nach der Vereinigung vollbracht haben könnte...
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Dann schaue ich den Männern zu, die Felsen und größere Steine spalten, zu Bausteinen
verarbeiten. Ich biedere mich an, und sie erlauben mir, den schweren Hammer zu führen.
Der muß die Steinaxt, einen Keil, gehalten von einem Arbeiter mit einer Zange, genau
treffen. Von einem dritten Arbeiter wird die „wunde“ Stelle des Steines mit einer
Spritzflasche befeuchtet. Das Wunder geschieht tatsächlich: Nach zehn Schlägen, mit
großer Wucht ausgeführt, den Vorschlaghammer weit über Kopf und Schulter, vom
Vorgänger abgeschaut, zeigt sich ein Riß an besagter Stelle. Obwohl ich vor Erschöpfung
eigentlich aufhören müßte, mache ich weiter („drei Schläge noch...“) und sehe zu meiner
Überraschung den Felsbrocken auseinander springen. Mir geht es fast wie dem Stein,
nehme mich aber zusammen und falle nicht um. Erst nach langem und tiefem Atmen
normalisiert sich mein Kreislauf wieder. Ich hatte bei meinem Imponiergehabe nicht mehr
an die Höhe, 4900 Meter, gedacht. Nun weiß ich gar nicht so richtig, ob ich das verhaltene
und etwas verlegene Lachen der Steinklopfer als Spott oder mehr als Anerkennung werten
soll...
Nach der Rückkehr sehe ich, daß die Gruppe aus Malaysia im Schlafsaal meinen Ruckund Schlafsack einige Positionen weiterbefördert hat. Mit der von einem Grinsen
begleiteten Bemerkung, das würde ja wohl für mich kein Problem sein. Etwas verärgert
sage ich ihnen, daß ich eine vorherige Abstimmung für höflicher gehalten hätte. Aber
wirklich kein Problem, denn nun liege ich neben der interessanten, einsamen Frau aus
Adelaide in Australien...
27.09. Mi
5.25 ab Lobuche (4930 m) mit Notgepäck,
6.50 an Gorak Shep (5140 m) mit Frühstückspause.
7.20 ab und 9.05 auf dem Gipfel des Kala Patthar.
Unruhige Nacht – Pfade im Geröll – Gorak Shep – Auf dem Kala Patthar, am Ziel,
Auge in Auge mit dem Höchsten – Höhenkrankheit – Noch ein Bergsteigerfriedhof –
Gewissensprobleme
Die Nacht war nicht gut. Allgemeine Unruhe im Schlafsaal mit den Doppelstockpritschen
und die junge Frau aus Adelaide neben mir. Den Vorschlag, meinen Rucksack als
„Bettritze“ zu nutzen, hatte sie akzeptiert. Ging auch nicht anders, da sie die gemeinsame
Ablage auf ihrer Seite komplett belegt hatte.
Abmarsch um halb sechs in der Morgenkühle, wenig über „Null“, bei fahlem Mondlicht,
das die Stirnlampe nach dem Überqueren des qirlenden Baches überflüssig macht. Dann
geht es längs der Moräne, die den großen Gletscher begrenzt, immer sachte bergan. Die
gewählte „Kleiderordnung“, mit zusätzlich langer Unterhose, Anorak mit Fließ, Mütze,
Handschuhe, ist dem Vorhaben angemessen. Alles Überflüssige, auch die Skistöcke, habe
ich in Lobuche gelassen. Im Rucksack sind nur noch Verbandszeug, Trinkflasche mit Tee,
eine Keksrolle und etwas Traubenzucker (von Tamara). Die Sonnenbrille ist an sicherer
Stelle, der Photoapparat am Hosengürtel. Die Panne am Mont Blanc, als ich bei strengem
Frost und heftigem Wind nicht an den Photoapparat herankam, soll sich nicht wiederholen.
Alles bedacht, das Wetter gut. Es müßte eigentlich alles klappen. Trotzdem anfangs triste
Stimmung, die aber mit dem Morgengrauen weicht. Es ist nicht besonders anstrengend.
Obwohl wir uns um einen moderaten Schritt bemühen, sind wir beide dem „Feld“,
Gruppen und Grüppchen von Trekkern, bald enteilt. Als der steile Anstieg in das
Geröllfeld der beiden Gletscher Changri-Nup und Changri Lar beginnt, haben wir schon
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einen beachtlichen Vorsprung. Der Anstieg hat es dann aber auch wirklich in sich, fordert
bereits Reserven heraus. Kein Wunder, wir sind ja bereits über 5000 Meter! In dieser Höhe
ist das ebene Gehen erträglich, beim Steigen wird die Luft knapp.
Im Geröllmassiv wird der Tritt wieder leichter, auch wenn uns einiges Auf und Ab nicht
erspart bleibt. Kein Strauch, kein Grashalm, nur Geröll und Steine auf dem steinigen Pfad,
den viele Bergsteiger, so auch Hillary, der Erstbesteiger des Mount Everest, und Messner
bereits lange vor uns gegangen sind, wie auch namenlose Sherpa und die Yaks mit ihren
schweren Lasten. Viele sind diesen Weg nicht mehr zurückgekommen, haben im
Tiefschnee, in einer Gletscherspalte oder unter den zahlreichen Stupas aus Felsgestein ihre
letzte Ruhe gefunden. So auch Yasuko Namba aus Japan und Rob Hall aus Neuseeland, am
11. Mai 1996. In den Gefahrenbereich der großen Höhen mit Eisbruch, Eisspalten,
Lawinen und Schneestürmen, in die „Todeszone“ aber will ich nicht. Ich will nur auf den
Kala Patthar, mit seien 5550 Metern hoch genug, um aus sicherer Entfernung dem König
der Bergriesen sehr nahe zu sein.
Es sieht so aus, als wollte das Geröllfeld kein Ende nehmen. Gut, daß die Anstiege nicht so
steil sind. Dann aber, etwas weiter abwärts, am Rande einer größeren Sandfläche, eines
ausgetrockneten Sees, steht die Lodge. Fünfzig Schritt weiter noch eine und das ist alles,
das ist Gorak Shep, in 5148 Metern Höhe, unmittelbar vor dem höchsten Berg der Welt,
dem Mount Everest. Ein Flecken, nach dem nichts mehr kommt, außer Geröll, Felsgestein,
Gletscher, ewiger Schnee und Bergriesen, vielleicht der höchste Ort der Welt, wo noch
Menschen leben. Wobei er sich mit der Bezeichnung Vorposten besser ausdrücken würde.
Ich schaue auf die Uhr, wir haben nur eineinhalb Stunden gebraucht. Sehr schnell, aber
eigentlich nicht beabsichtigt.
Die Wirtin, eine Sherpa, ist überrascht von den frühen Gästen. Eben hatte sie noch auf
einer der Bänke im Aufenthaltsraum geruht. Nun muß sie sich schlaftrunken in ihre
Überkleider wickeln. Das kleine Frühstück, Toast und Ei sowie Milchtee bringt die
Lebensgeister wieder in Gang. Es ist kalt im Raum. Ein Fenster, dort wo die Frau geruht
hatte, ist halb geöffnet. Ein Blickkontakt zu Kusang bestätigt den gemeinsamen Gedanken.
„Los geht’s!“. Beim Gehen fällt mein Blick auf eine Plastekiste in der Ecke mit der
Aufschrift „Norwegean Mt. Everst Expedition 85“ – Strandgut aus vergangenen Jahren.
Es ist immer noch empfindlich kühl. Die Bewegung bringt wirklich Wärme. Mit den
nächsten Schritten durchqueren wir die Sandfläche, den ausgetrockneten See von der
dreifachen Größe eines Fußballfeldes, der sich zum Gletscher und Moräne, in Richtung
Basislager diskret zurückgezogen hat und nur noch dort in Form einer Niere eine flache
Wasserfläche bildet. Das erste Mal in Nepal, daß ich auf Strandsand gehe, eben, wie
glattgeschoben. Ein Wispern von Vögeln, wie Perlhühner, reißt mich aus den Gedanken.
Unvorstellbar, wie hier noch Vögel dieser Größe leben können. Sie zeigen es mir beim
Picken nach den dürren Grashalmen. Bald ist es aus mit dem gemütlichen Morgenschritt.
Der Berg, der Kala Patthar, in Nepali „schwarzer Felsen“, lädt ein zum Aufstieg. Nicht mit
alpinen Schwierigkeiten. Aber der Anstieg auf den Berg, der eigentlich von seiner Form
her und angesichts der ihn umgebenden weißen Bergriesen eher wie ein Hügel wirkt, hat es
in sich. Auch wieder nicht wegen der Steilheit des teilweise gefurchten Pfades in spärlicher
Vegetation, die im Kontrast zu dem Weiß und Grau der Gletscher und dem ewigen Schnee
in der Höhe kleine Zonen mit leuchtendem Rotbraun bereithält. Nein, es ist die Höhe,
deutlich über fünftausend Meter, die den Schritt langsamer, immer langsamer und den
Atem schwerer werden läßt. Ich versuche, mich zu disziplinieren: Hundert Schritte, ehrlich
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gezählt, dann Verschnaufen bei dreißig tiefen Atemzügen, auch gezählt. Das geht ganz gut
so, wobei das Ausruhen hin und wieder durch einen ausführlichen Rundblick verlängert
und verschönt wird: Vor mir der wohlgestaltete Pumori mit dem weißen Schneeumhang,
rechts neben mir die Wand das Nuptse-Massivs, das den Mount Everest und auch den
Lhotse immer noch vor neugierigen Blicken schützt, darunter der Kumbu-Gletscher, weit
hinter mir in der Flucht von Gletscher und Moräne die Ama Dablam, die Schönste unter
den Großen. Eine „sie“, weil man sie mit der weißen Bluse der Sherpafrau vergleicht und
so benannte. Bei einer Atempause gleißen unvermittelt die Strahlen der aufgehenden
Sonne über die oberen Felsspitzen des Nuptse. Ich schaue genauer hin und erkenne jetzt
den Gipfel des Mount Everest deutlich über dem Nuptse, seine Konturen bis zum
Südgipfel. Hat er mich doch schon minutenlang beobachtet, ohne daß ich es merkte. Das
gibt Auftrieb. Der Blick nach oben und nach unten zeigt mir, daß wir den größeren Teil des
Aufstiegs geschafft haben.
Das mit dürrem, nur millimeterlangem Hartgras bewachsene Erdreich weiter unten weicht
langsam steinigem Untergrund und Felsbrocken. Ich habe das Gefühl, daß es trotz Sonne
kälter wird. Kusang war anfangs einige Längen hinter mir. Er hatte noch etwas in der
anderen Lodge abzugeben und riet mir, schon voranzugehen. Nun ist er inzwischen vor
mir, bestimmt das Tempo. Gehört sich auch so für den Guide, einundzwanzig Jahre jung.
Unsere Schritte werden noch langsamer, kürzer, kaum wie eine Schuhlänge. Wir trinken
noch ein Mal, aus meiner Flasche. Damit braucht nur einer zu hantieren. Nach dem
Weitergehen schaue ich nicht mehr um mich, konzentriere mich nur auf meine Schritte,
immer noch hundert und auf die Atempause, dreißig Züge lang. Kusang fällt etwas zurück.
Sollte er Probleme haben? Das darf uns aber nicht aufhalten, denn der Gipfel ist dicht vor
uns, über uns. Ich muß im Rhythmus bleiben. Nach einem weiteren Blick nach oben
kalkuliere ich noch zwei bis drei „Etappen“. Die werden dann noch lang und mühsam.
Aber dann bin ich oben. Die letzten Meter muß ich klettern, auch die Hände einsetzen,
denn der Gipfel besteht aus einem riesigen, glatten Felsbrocken.
Der Gipfelpunkt, wie ein Königsthron, drei Körperlängen über mir, ist bereits besetzt.
Dieser bietet nur Platz für einen Bergsteiger. Dort thront, nein steht, in stattlicher
Mannesgröße, wie ein Feldherr, der Amerikaner koreanischer Herkunft, in China
aufgewachsen, der mich am Vortag in Lobuche angesprochen hatte. Er ist schon oben, weil
er in Gorap Shep übernachtet hat und von dort aufgebrochen ist. Mit imponierenden
Gesten, die Kamera mit riesigem Teleobjektiv in den Händen, wie Admiral Nelson mit
dem Fernglas. Einige Felsen weiter unter ihm, seine Ordonnanzen, drei Nepali, sicher
Guide und Täger, in der Kühle zitternd und zu ihm aufblickend.
Als er den „Feldherrnhügel“ freigibt, meine Gratulation gnädig akzeptiert, kann ich den
Posten einnehmen. Ich setze mich aber, denn die Standfläche ist ziemlich klein und ich bin
kein Hasardeur. Kusang, nun auch da, photographiert mich in Pose, aber wie gesagt
sitzend, neben den flatternden Gebetsfahnen und dem imposanten Pumori im Hintergrund.
Dann darf er posieren. Erst danach gesteht mir Kusang seine schrecklichen Kopfschmerzen
und, daß er schnell nach unten möchte. Ich weiß aus seinem Erzählen, daß er am Island
Peak (6100 m) Problem hatte. Hier hatte ich das nicht erwartet. Klar, daß er bei den
Anzeichen von Höhenkrankheit schnell nach unten muß, erst ein Mal bis zur Lodge. Das
kann er unter den gegebenen Umständen allein. Ich schaue ihm eine Weile nach, wie er
leichtfüßig nach unten eilt. Erst danach kann ich den Augenblick genießen.
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Nun bin ich am Ziel. Erreicht nach elfstündiger Busfahrt bis Jiri, nach sechzehn
anstrengenden Tagesmärschen bis Lobuche und heute nach mehrstündigem Marsch und
Steigen. Stolz und Glücksgefühl beherrschen mich einige Augenblicke. Ich genieße es still
und allein. So wie der Engländer, der inzwischen auch den Gipfel erreicht und den
„Hochsitz“ eingenommen hat und mir nun nach längerem Schweigen durch den Wind
zuruft, das dies der schönste Sitzplatz auf Erden sei.
Unterdessen schaut der Größte unter den Riesen milde auf mich herab, zeigt sich
unverhüllt in seiner ganzen Größe und Wucht. Die Wolken sind weggeblasen. Um sein
eisiges Haupt bläst ein kräftiger Wind, der die Schneewirbel wie Nebelschwaden
erscheinen läßt. Der Südostgrat, die klassische Aufstiegsroute zum Gipfel, ist deutlich zu
erkennen. Über dem Südgipfel eine markante Rippe. Sollte das der berüchtigte „Hillary
step“ sein, kurz vor dem Gipfel? Der Südsattel, im Schnee, der Ansatz des „Genfer
Sporns“, im unteren Teil berührt von der steilen „Lhotse-Flanke“, alles deutlich zu
erkennen. Der mittlere Abschnitt, das „Western Cwm“, bleibt meinen Blicken verborgen,
verdeckt vom firnbedeckten Nordwestgrat des Nuptse. Aber auch vom Basislager, mehr
als zweihundert Meter unter mir, die Zelte als kleine gelbe, blaue und grüne Punkte
erkennbar, hätte ich das „Tal des Schweigens“ nicht sehen können. Der mächtige Khumbu
Eisbruch hat sich davor aufgebaut, turmhohe Eisbarrieren, die schwierigste Passage in der
gesamten Aufstiegsroute. Diese „Todesfalle“, kühles Grab vieler Bergsteiger, sieht von
hier, aus der Höhe, nicht so dramatisch, eher wie ein verbeultes Waschbrett, aus. Der
Gletscher ist auf der Höhe des Basislagers noch wie aus Eis und Schnee, von
türkisfarbenen Spalten und Löchern durchsetzt. Nach der Kurve in Richtung Süden,
insbesondere nach dem Passieren des riesigen Gletschersees, nimmt er immer mehr eine
schmutziggraue Farbe an, von Steinen, Geröll und Schutt, die sich auf ihm abgelagert
haben. In seiner Laufrichtung nach Süden beherrschen einige imposante Sechstausender,
wie Thamserku, Kangtega und die schöne Ama Dablam den Horizont...
Aus dieser Richtung, von unten, nähert sich nun der Nächste, der junge Arzt Baden. Er ist
glücklich. Der Engländer, noch auf dem Thron, vermeldet nun, auch im Überschwang der
Gefühle, daß er heute Fünfzig geworden sei. Spontan schmettert der Badener ein „Happy
Birthday“ in den klaren Himmel, ich stimme ein. Der Engländer ist gerührt, wir sind es
auch. Dann erreicht uns die Freundin des Arztes. Ich nehme den Auftrag, ein besonders
schönes Photo von ihrer innigen Umarmung zu „schießen“, sehr ernst, kann beide in ihrer
gemeinsamen Freude gut verstehen... Genug geschaut (und gefroren – hier oben weht ein
eisiger Wind), ich muß wieder nach unten, schauen, wie es Kusang geht...
Es geht ihm nicht gut. Er muß noch ruhen. Wir verschieben den Abstieg nach Lobuche. Ich
nutze die Zeit, um noch in Richtung Mount Everest Basislager zu steigen. Dabei mache
ich den Fehler, in das Auf und Ab der grasbewachsenen Moränenhügel am Rande des Kala
Patthar einzusteigen. In der Erwartung, aus höherem Blickwinkel in Sichtweite an das
Basislager heranzukommen. Aber immer wieder sind mir andere Hügel oder Bergnasen im
Wege. Ich spüre die Erschöpfung vom vorangegangenen Aufstieg und entschließe mich
zum Rückzug, da ich ja wieder nach Kusang schauen muß. Wir wollen ja eigentlich noch
nach Lobuche zurück.
Ich entdecke aber noch den Stupa - Grabstein der Bergsteiger aus der Adventure
Consultants Expedition, die 1996 bei der Tragödie am Mount Everest ums Leben
gekommen sind (von Jon Krakauer in seinem Buch „In eisige Höhen – Into Thin Air“
eindrucksvoll beschrieben): Yasuko Namba, JAP, 11.5.96; Andy Harris, NZ, 10.5.96;
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Doug Hansen, US, 10.5.96; Rob Hall. NZ, 11.5.96. Nicht weit davon das Steingebilde für
vier Slowaken mit der Inschrift: SUMMIT 17.10.88  18.10.88 SW FACE HARD WAY
(Sie haben am 18. Oktober den Gipfel über die schwierige Südwest Flanke erreicht und
sind am nächsten Tag tödlich verunglückt). Ich werde sehr nachdenklich und setze mich
ein wenig in das dürre Gras, mit dem Rücken an einen der von der Sonne angewärmten
Steine...
In der benachbarten Lodge treffe ich Arzt und Freundin. Er ist der Meinung, ich könnte
allein nach Lobuche absteigen. Denn der Guide sei für mich verantwortlich, nicht ich für
ihn. Hier müßten sich, wenn sich sein Zustand verschlechtern sollte, Nepali um ihn
kümmern. Das bestärkt mich in meinem Gedanken, morgen allein weiterzuziehen, wenn es
ihm dann noch nicht besser geht. Menschlich fühle ich mich aber für ihn verantwortlich,
werde mindestens eine Nacht bei ihm bleiben, falls er noch nicht marschfähig ist.
Wir versuchen den Abmarsch. Nach zehn Schritten muß er sich auf einen Stein setzen. Er
fällt zur Seite und in sich zusammen, erbricht... Ich kaufe für ihn zur Reinigung eine Rolle
Toilettenpapier bei der Wirtin (hier so teuer wie ein Abendessen), kläre die Übernachtung
bei ihr. Sie weist mir eine beklemmend schmale „Einzelzelle“, einen Holzverschlag, mit
einer kuschelig warmen Decke zu. Ich schlafe noch zwei Stunden bis etwa siebzehn Uhr,
esse Abendbrot, trinke (auch „für“ die Träger) ein Bier und lege mich ab achtzehn Uhr zur
Ruhe. Ein Malaysier und zwei Australierinnen (eine erinnert mich an meine Orthopädin)
„hängen wie ein Schluck Wasser herum“ – ebenfalls Symptome von Höhenkrankheit. Ich
bin froh, daß wir eine lange Akklimatisierungsphase hatten. Die Nacht wird erholsam,
obwohl ich wohl aller halbe Stunde aufwache und mehrfach tief durchatmen muß – die
Höhe, immerhin deutlich über 5000 Meter.
28.09. Do
6.15 Abmarsch, in Lobuche 7.45, Frühstück und Gepäckübernahme.
8.15 weiter nach Pheriche, an 10.00 (Tee).
Pangboche an 11.45 mit Mittagsrast, Thyiangboche an 14.00.
15.00 an Phunki Tenga, 17.05 Ankunft Namche Bazar.
Kusang wieder im Leben – Frauengeschichten – Pellkartoffeln mit Salz –
Namche Bazar
Um fünf Uhr bin ich wach und sofort im Schlafraum von Kusang. Er liegt regungslos, tief
unter mehreren Decken begraben. Als ich ihn vorsichtig wecke, ist er sofort hellwach. Es
gehe ihm ausgezeichnet. Wir können unverzüglich aufbrechen.
Abwärts, hinter Pheriche, dort, wo die Gebirgsflüsse Imja Khola und Lobuche Khola, wie
Liebende rasend vor Begierde, aufeinander zustürzen und sich vereinen, dort, auf der
Brücke, überfällt mich plötzlich Angst: Verursacht von einem Yak, der sich schnaufend
und grunzend aus der friedlich grasenden Gruppe löst und nicht schneller als ich, aber auch
nicht langsamer, die Brücke nach mir überquert und mir folgt. Hier oben in baumloser
Zone ist kein Knüppel für die Verteidigung zu finden. Er wäre ohnehin für Brennholz
mitgenommen worden. Nach der Brücke geht es ein Stückchen hinauf, und der Leser weiß
inzwischen: Bei über viertausend Metern ist die Luft immer noch dünn... Ich schreite zügig
voran, so, wie es nach bereits vierstündigem Marsch noch möglich ist. Der Abstand
vergrößert sich, und aus sicherer Entfernung sehe ich, wie die übrigen Yaks dem
„Vorgänger“, vielleicht auch Leitbullen, gemächlich folgen...
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Wo war eigentlich Kusang zu diesem Zeitpunkt, vor oder hinter mir? Ich weiß es jetzt
nicht mehr. Er hätte mir meine wohl unbegründete Angst nehmen können. Danach aber
eine ähnliche Situation, eine halbe Stunde später. Ich bin vorne. Im Hang, etwas unter uns,
grasen wiederum Yaks, betont friedlich – bis auch Kusang auf ihrer Höhe ist. Dann ein
ähnliches Ritual: Ein Yak löst sich aus der Gruppe und bewegt sich schnaufend auf Kusang
zu. Der schnappt sich einen Stein und noch einen, schert vom Pfad nach oben in den Hang
aus und entfernt sich zügigen Schrittes aus der Gefahrenzone. Aus sicherer Entfernung,
fast bei mir, wirft er wütend mit dem kleineren Stein nach dem (Schein-?)Angreifer. Den
anderen läßt er fallen...
„Hat er sie nun, oder hat er sie nicht ...?“ Ich könnte die Frage nicht zweifelsfrei
beantworten. Es ist eigentlich auch nicht so wichtig für mich. Mancher Leser möchte das
vielleicht aber wissen. Dem möchte ich mein Wissen nicht vorenthalten, denn ich berichte
ja aus dem Leben. Sollte es an den schönen und wohlgeformten Studentinnen aus
Kalifornien gelegen haben, die uns entgegen kamen und sich ein Weilchen kokett mit uns
unterhielten? Jedenfalls fängt Kusang unaufgefordert an, von seinen „Frauengeschichten“
zu erzählen. Der Pfad von Thyiangboche abwärts ist breit, die Luft auf
dreitausendfünfhundert Metern Höhe nicht mehr so dünn. Außerdem vergeht die Zeit
schneller... Soll er nun die Hübsche aus Kathmandu heiraten, die mit den besseren
beruflichen Möglichkeiten oder das „Mädchen vom Lande“, aus seinem Heimatumfeld
Salleri, das auch in der Hauptstadt eine Ausbildung begonnen hat? Sollte er die aus
Kathmandu nehmen, würde das Mädel aus dem Nachbarort nicht mehr das Haus seiner
Eltern betreten. Eine Konfliktsituation für ihn. Ich beantworte die Frage, die im Raume
schwebt, mit der Empfehlung, das Herz sprechen zu lassen. Klingt pathetisch, aber irgend
ein Kriterium muß doch die Entscheidung herbeiführen. Die Sache wird aber noch
komplizierter. Was sollte er mit der Rothaarigen aus Dänemark machen, die ihn bei der
letzten Tour ins Herz geschlossen hat und demnächst wiederkommen will? Während wir
diese heiklen Fragen erörtern, lächelt er, gar nicht so, als ob er sich in Not fühlte. Ich kann
mir schon vorstellen, daß er, der Tamang, mit dem exotischen Ausehen, besonders den
Frauen aus Äquatorferne gefällt. Und wenn er dann noch lächelt... Warum nimmt er
eigentlich keine aus der Everest-Region, dem Khumbu? Auch hier haben wir einige
Hübsche gesehen. Er grinst. Nein, die wären ihm zu schmutzig. Aber, und das sagt er
ernster, sie haben hier oben auch wenig Ausbildungsmöglichkeiten, damit auch kaum
berufliche Chancen. Hat er sie nun..., die ledige Französin, die im Annapurna - Gebiet
beim Überqueren eines Passes einen Schwächeanfall erlitt, herunter getragen werden
mußte, sich abends mit letzter Kraft in sein Zimmer schleppte, die Bitte um Einlaß und
Bettwärme nur noch mit schwacher Stimme hauchen konnte? Er hat wohl... , denn fortan
war sie die nächsten siebzehn (oder waren es achtzehn?) Nächte Gast in seinem SingleRaum. Daß sie schon über die Fünfzig hinweg war, ist ihm heute noch suspekt. Denn
diesen Fakt betont er mehrfach.
In Phunki Tenga, an der Hängebrücke über den Imja Khola, erreichen wir wieder den
tiefsten Punkt. Obwohl sie eigentlich noch nicht dran ist, verlangt es Kusang nach einer
Teepause. Er verspricht sich Pellkartoffeln, gratis natürlich, denn er ist überall gut Freund,
bringt er doch die Trekker in die Lodges. In der dunklen Küche, wo es am gemütlichsten
ist, verbringen wir einige Zeit, um die es mir nicht leid tut. Die Pellkartoffeln, eine riesige
Portion, zu der mich Kusang einlädt, schmecken mit Salz richtig lecker, dazu Milchtee,
den ich inzwischen sehr gerne trinke. Ich fühle mich wohl, lehne mich an die Wand und
höre den Gesprächen zu, von denen ich nichts verstehe.
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Danach geht es lange und steil aufwärts, und dann wieder im steten Auf und Ab.
Kurz nach fünf Uhr, gerade noch vor dem Dunkelwerden, erreichen wir Namche Bazar,
etwas müde, aber keineswegs erschöpft. Für den Gewaltmarsch über elf Stunden von
Gorak Shep heimsen wir Bewunderung bei den Belgiern aus Brüssel und Brügge ein, die
auch nach oben wollen. Auch der Wirt der Lodge, ein Sherpa, weiß das zu würdigen.
29.09. Fr
7.45 Abmarsch, über Jorsale, Monju, Benkar (Teepause).
11.00 an Phakding, Mittagsrast in International Trekkers Guest House. 12.45
Abmarsch, 14.15 in Lukla (2840 m)
Buddhistische Bestattung – „Teshi Dele“ – „Khumbu Highway“ – Kusangs
Freundinnen -„Rotznasen“ – Regen in Lukla - Eine sichere Methode zum
Schlankwerden
Die Nacht war gut, obwohl es anfangs mit dem Einschlafen nicht so klappen wollte. Das
Problem mit dem zusätzlichen Gepäck löst sich schnell. Kusang ist kein Träger aus
Leidenschaft, aber Pragmatiker. Er wird zwei Rucksäcke tragen, ich einen, das ist
handlicher, dafür etwas gewichtiger.
Beim Frühstück, aus dem Fenster der „Panorama Lodge“, von einem erhöhten Standort
eine beeindruckende Zeremonie im Blickfeld, die „unten“, im „Amphitheater“ Namche
Bazar ihren Anfang nimmt: „What´s happened (was geht da vor sich)?“. Die Antwort
lautet kurz und bündig „Dead person (jemand ist gestorben)!“ Der Zug, eine Prozession,
zieht im Moment an der Gompa im westlichen Ausgang von Namche vorbei. An der Spitze
mehrere buddhistische Mönche mit ihren rotbraunen Gewändern, von Gelb unterlegt.
Danach die Gebetsfahnen, in stattlicher Größe, weiß, grün, von fünf Trägern getragen.
Dann der Zug der Trauernden, eine große Anzahl von Menschen. Ziemlich an seinem
Ende, in ein großes, weißes Tuch gehüllt und in Schulterhöhe getragen, der Leichnam.
Weitere Details kann ich aus dieser Entfernung nicht erkennen. Wo sich die Bläser
befinden, die den Zug mit monotonen, aber einprägsamen Klängen begleiten, kann ich
ebenfalls nicht ausmachen. Der Klang erinnert mich an das Blasen im Kloster Thubten
Choling im Anschluß an das Gebet. Der ganze Zug bewegt sich wie ein Lindwurm
langsam, in Serpentinen, den steilen Hang hinauf. Dem Pfad folgend, der zu den Anwesen
auf dem Hang und zu den Stupas führt. Ein Bild von „entsetzlicher Schönheit“, dessen
Erhabenheit und Würde kaum zu übertreffen sein dürfte. Es könnte von dem genialen
Sergej Eisenstein inszeniert worden sein. Ich bin gebannt, kann mich nicht abwenden.
Hoffe aber insgeheim, daß sich die Prozession bald in den Wolkennebeln verlieren wird.
Denn wir wollen los, haben noch einen anstrengenden, langen Tag vor uns. Aber mit dem
Zug der Trauernden steigt auch der Nebel, wie von einer unsichtbaren Hand geschoben,
langsam höher. Wir brechen auf, als der Letzte der Prozession hinter der Felswand
verschwunden, der letzte Ton der Bläser verklungen ist...
Bald haben wir den bewaldeten Steilhang von Namche geschafft. Kurz vor der imposanten
Hängebrücke über den Dudh Koshi lagert eine Gruppe von Trägern. Der erste reagiert auf
mein „Namaste“ mit „Teshi Dele“, dem Grußwort in Tibet, der zweite auch. Ich
wiederhole das „Namaste“, wiederum schallt mir genauso freundlich das „Teshi Dele“
entgegen. Das erste und einzige Mal in Nepal. Allerdings sind diese Händler und Träger
ohne Yaks. Damit ist Kusangs Aussage, die Tibeter kommen erst Mitte Oktober, nicht
widerlegt.
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Das Scherzwort vom „Khumbu-Highway“ findet sich heute bestätigt. Viele Träger, mit
und ohne Lasttiere, aber auch viele, viele Trekkingtouristen kommen uns entgegen. Das ist
die Ladung von nicht wenigen Kleinflugzeugen, in Lukla ausgesetzt. Auf den schmalen
Passagen ist es recht schwierig, den Yaks und Dzos auszuweichen. Ich habe Mühe, Kusang
zu folgen. Er ist wieder gut in Form und auch geschickter beim „Durchschlängeln“. Dann
habe ich ihn, am Ausgang von Monshu, tatsächlich verloren, weiß nicht mehr, ob er vor
oder hinter mir ist. Ich bin verunsichert und leicht verärgert. Nach dem Reglement hat er ja
eigentlich auf mich aufzupassen. Natürlich finde ich den Weg nach Lukla auch allein...
Aber ich habe keine Lust, die nächsten vier Stunden allein zu marschieren, ohne zu wissen,
wo er ist. Eine Pause, in der er mich, falls hinter mir, erreichen müßte, bringt keine
Klarheit. Nur der Blick in die Karte sagt mir, daß ich mich auf der Höhe von Benkar
befinde. Also weiter! Soll er sehen, wie er mich in Lukla findet. Aber wie finde ich notfalls
ihn? Ich habe den Namen der Lodge vergessen. wo das Ticket für den Flieger hinterlegt
ist. Fragen, die ich zunächst nicht beantworten kann, also weiter...
Nach der besonders heftig schaukelnden Brücke, hoch über dem tosenden, schäumenden
Dudh Koshi, geht es den Hang sehr steil hinauf, bis dahin, wo der Pfad nach den wenigen
Häusern wieder tiefer zum Fluß führt. Aus dem Fenster des ersten Teehauses wird mein
Name gerufen und Kusang lächelt unschuldig herunter. Ich kann ihm nicht böse sein,
besonders nicht mehr, nachdem ich genüßlich meinen Milchtee schlürfe. Kusangs
Vorprellen erklärt sich bald nach seiner Information, daß die junge Wirtin in Jeans, was
hier sehr selten zu sehen ist, auch eine Freundin von ihm sei. Also hat er doch nichts gegen
die Mädels aus dem Khumbu, nur heiraten will er sie nicht! Dieses hat er bei einem seiner
Märsche zum Fuß des Mount Everest in Khumjung bei einem Volleyballturnier
kennengelernt...
Der kleine Junge mit der „Rotznase“, von dem ich glaube, daß er ein Sohn der Wirtin ist,
eine echte „Rotznase“, wie ich später feststellen werde, bettelt mich um einen „pen“, um
einen Stift an. Ich werde erstmals weich, wegen der Wirtin und weil ich morgen die
Gebirgszone verlasse. Gebe ihm einen von meinen zwei Reservekugelschreibern. Nach
wenigen Minuten ist eine zweite, grinsende „Rotznase“ da. „Rotznase“ 1 fordert nun für
„Rotznase“ 2 (seinen Bruder, wie er sagt) – Familiensinn – auch einen „pen“. Deutet dabei
auf die Seitentasche meines Rucksacks, in der er offenbar ein Arsenal von Kugelschreibern
vermutet. Ich versuche, ihm klarzumachen, daß er mit einem zufrieden sein soll. Den
anderen brauche ich selbst, was er erkennen müßte, denn ich mache mir gerade Notizen. Er
gibt nicht auf, geht aufs Ganze, fuchtelt mit dem bereits erhaltenen „pen“ vor mir herum,
deutet auf meinen mit dem „PCK“- Emblem. Aber mit einem Tausch ist er auch nicht
zufrieden. Nun bricht der Ärger bei mir durch: Ich deute seine Gesten, gewiß nicht in
seinem Sinne, so, daß er „nur“ einen „pen“ auch nicht haben möchte. Nehme ihm den mir
laufend entgegengestreckten Schreiber ab, zu seiner restlosen Verblüffung. Und ich werde
auch dann nicht mehr weich, als er nun intensiv um den einen bettelt... Manchmal erntet
der, der alles will – nichts. Ich bin nun etwas verunsichert. Geht man so mit Kindern um,
und noch mit denen von Kusangs Freundin? „Sie hat noch keine Kinder. Das waren kleine
`Wegelagerer` aus dem Dorf“, sagt mir Kusang.
Die Mittagspause möchte Kusang in einer bestimmten Lodge in Phakding machen. Auf
dem Hinweg haben wir dort genächtigt. Alles klar: Hashbrown (Katoffelplinsen) gratis, so
viele, daß er nicht mehr kann und ich ein wenig helfen muß, trotz der Eggs drop soup
(Eiersuppe), die ich bereits gelöffelt habe. Dann müssen wir uns heftig wehren, weil der
Rest, den uns die junge, liebenswerte Sherpa unbedingt aufdrängen möchte, nicht mehr zu
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schaffen ist. Langsam gefallen Kusangs Freundinnen auch mir. Aber sie scherzen nur mit
ihm, nur selten ernte ich einen nicht unfreundlichen Blick. Ich unterdrücke den Neid
gegenüber Kusang, dem jungen Burschen. Aber gut, daß wir das Gebirge verlassen...
Der letzte Part wird sehr unschön, aus Niesel wird Dauerregen. Es wird glibberig und
glitschig auf dem steinigen Pfad. Der Abschnitt nach Lukla hoch, am steilen Hang, wird
richtig anstrengend, unangenehm. Kusang bestimmt das Tempo, ich kann ihm nur mit
Mühe folgen. Am frühen Nachmittag, durchnäßt und erschöpft, marschieren wir in
strömendem Regen in Lukla ein. Ein Wetter, geeignet, die aufkommende Erkältung zu
fördern. In der Lodge ein sehr großes Zimmer für mich, eigentlich für zwei gedacht. Nur
dadurch komme ich mit dem Sortieren und Umpacken der nassen Sachen und
Ausrüstungsgegenstände klar. Nach dem Rasieren (erstmals nach drei Wochen) und
Duschen stelle ich eine bemerkenswerte Gewichtsabnahme fest. Der Blick in den Spiegel
und am Körper herunter zeigt es. Ich dürfte jetzt 7-8 Kilo weniger am Leibe haben, was
sich später in der Größenordnung bestätigt. Nicht verwunderlich bei der fleischlosen Kost
und gleichzeitiger körperlicher Anstrengung. Nun kann ich gute Ratschläge an Leute
verteilen, die abnehmen möchten...
30.09. Sa
7.00 Uhr Airport Lukla.
7.45 Abflug mit Yeti Air Lines nach Kathmandu, an 8.30.
Schnee in Lukla – „Maikäfer“ in der Luft – Hoch über Tälern und Höhen –
Kathmandu – Schutzfunktion des Magens
Das Fenster der Lodge zeigt nach Westen und nach unten. Nach dem gestrigen Dauerregen
ist alles feucht, die Schlucht des Dudh Kosi vom Nebel zugedeckt. Beim Frühstück drängt
der Lodge- Inhaber, der auch gleichzeitig die Flugverbindung organisiert, auf Tempo. Wir
sollen wirklich um sieben Uhr am Flugplatz sein. Eilen los, mit Kusang befreundete
Guides fassen beim Gepäck mit an. Der Seesack ist nun wieder praller gefüllt. Aber es sind
ja kaum hundert Schritt bis zum Abfertigungsgebäude. Dort ist reger Betrieb. Es sind also
doch einige Passagiere, vor allem Touristen, die nach Kathmandu zurück wollen. Erst dort
stelle ich überrascht fest, daß die umliegenden Berge im Norden und Osten schneebedeckt
sind, Folge des gestrigen Regens. Der Ort liegt in 2900 Metern Höhe, die Berge um einiges
darüber. Offenbar muß es sich empfindlich abgekühlt haben. Ich merke es. Besonders
deutlich aber einige Touristen, die, schlecht beraten, in kurzen Hosen und T-Shirt aus dem
Flugzeug steigen...
Die kleinen Flugzeuge kommen wie Maikäfer über die bewaldeten Höhen des Shanunam
Ragpa herangesurrt, schweben über die tiefe Schlucht des Dudh Kosi ein und scheinen
herunter auf die Piste zu fallen. Wenige Meter über der Landebahn, kurz vor dem
Aufsetzen, wird der Bug hochgerissen und es erfolgt ein leichtes Aufrichten in die
Horizontale. Ein Scheppern und Knirschen verkündet auch akustisch die Bodenberührung
und die Fahrt auf der mit Sand und Lehm verdichteten Schotterpiste, wo sie aufwärts rollen
und am Ende nach einer kurzen Schleife zum Stehen kommen. Flugs sind die maximal
zwanzig Fahrgäste ausgestiegen, ist das Gepäck ausgeladen und den Piloten eine neue,
schriftliche Order durch die Luke hineingereicht, sind die berggesättigten Passagiere nach
Kathmandu eingestiegen, das Gepäck verstaut. Dann rollt und schlingert der kleine Flieger
die ächzende Piste hinunter, hebt kurz vor dem Abgrund ab und schwebt, langsam Höhe
gewinnend, über die Schlucht hinweg, steigt weiter über die gegenüberliegenden
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bewaldeten Hänge und verschwindet als kleiner Punkt am Horizont... Das geschieht im
regellosen Wechsel zwischen Landen und Starten, wobei die Maschinen immer nach
Kathmandu zurück müssen. Bei gutem Flugwetter und in der Hochsaison sollen wohl
täglich an die vierzig Maschinen Kathmandu verlassen und anfliegen. Die Yeti Air Lines
2, mein Flug, meine Maschine, startet erst an Position 6. Auch gut. So kann ich das
Treiben auf dem kleinen Flugfeld auf der Bergterrasse ausgiebig beobachten.
Meine Erwartungen an diesen Inlandflug erfüllen sich. Es ist beeindruckend, den
Routenverlauf aufwärts nun aus der Vogelperspektive verfolgen zu können. Was beim
Marschieren manchmal gar nicht so dramatisch aussah, erhält aus der Höhe eine ganz
andere, durch-aus reale, Dimension. Schwer vorstellbar, daß wir diese Pfade über
Bergrücken, durch Täler, an Steilhängen und Abgründen, auf Hängebrücken über reißende
Flüsse in tiefen Schluchten über viele Tage gegangen sind. Und die Anstiege sind ja
wirklich so steil und lang, so daß sie manchmal Stunden erfordern... Und wieder sind,
während wir hier weit über ihnen auf sie herabschauen, zahllose Träger und auch Trekker
auf diesen Pfaden unterwegs, die dem einen oder anderen alles abverlangen... . Mir tut
Kusang leid, der auch im Kleinflugzeug Probleme hat, den Kopf tief in seine Arme
vergraben hat. Der Steward schaut besorgt nach ihm, erkennt aber, daß kein akuter
Handlungsbedarf besteht.
In Kathmandu ist es sehr warm. Ich bereue aber meine nun zu warme Bekleidung nicht.
Das ist besser zu überstehen als Lukla in Shorts... Beim Beladen hatte ich gesehen, daß die
Kontrollmarke meines Seesacks durch die robuste Behandlung wegflog. Nun gibt es ein
Problem mit der Identifikation: Daß ich warten muß, bis das gesamte Gepäck, außer dem
grünen Sack, seine Besitzer gefunden hat, ist kein Problem für mich. Wir sind nicht im
hektischen Mitteleuropa, und ich habe Zeit. Ich feixe innerlich ein wenig. Mal sehen, wie
sie mit mir, dem letzten Passagier, und dem letzten Gepäckstück zurecht kommen. Daß der
Kontrollzettel abgerissen ist, lag nicht an mir, sondern an der Flugabfertigung in Lukla. Ein
Passagier noch und ein Gepäckstück, das müßte logischerweise schon als Indiz reichen.
Doch weiter Ratlosigkeit, wie die Korrektheit der Abfertigung in Kathmandu unter Beweis
gestellt werden kann. Die Idee der Abfertiger, mich das Schloß am Seesack öffnen zu
lassen, bringt mich nur kurz in Verlegenheit. Ich finde den Schlüssel bald...
Ein Taxi ist schnell gefunden, das uns zum „Pilgrims Hotel" bringt. Der Fahrer macht aus
unserer Sicht lange Umwege, um Kilometer zu „schinden“. Kusang befragt ihn nach der
Notwendigkeit der großen Schleife, und ich erkundige mich ironisch, ob wir nun bald in
Pokhara seien. Der Fahrer verteidigt sich mit dem Argument des dichten Verkehrs in den
Straßen, durch die wir sonst fahren. Am Ende aber mit 150 Rupies ein guter Preis. Ich
treffe Tamara und Frank auf dem Wege zum Frühstück, erholt und guter Dinge. Erfreulich,
es hat auch bei ihnen alles geklappt. Ich bekomme das gleiche, für mich ausreichende
Zimmer, mein Koffer mit dem „Sommergepäck“ ist schnell ausgehändigt. Daß nun die
Erkältung auch bei mir vehement durchbricht, mich in den nächsten Tagen mit Schnupfen,
Heiserkeit plagen wird, nehme ich gelassen. Ich bin wieder „daheim“ in der Sonne, in der
Wärme des Kathmandutales...
Ein gemeinsamer ausgiebiger Rundgang im Zentrum, ein Abendrundgang in Thamel
führen mich wieder in das pulsierende Leben der Hauptstadt ein. Am Abend will ich
endlich mal wieder richtig üppig Fleisch essen. Der Fleischtopf ist nach dem vegetarischen
Hochgebirgstrekking eine Nummer zu groß für mich. Obwohl von Tamara dieses Mal
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tapfer unterstützt, schaffe ich keine zwei Flaschen Bier. Der Magen hat eine
Schutzfunktion gegen plötzliche Überfüllung aufgebaut ...
01.10. So
9.30 Abschließende Besprechung beim „Highlander“ (mit Kusang).
10.30 mit Taxi nach Pashupatinath (Totenverbrennung).
13.30 nach Bodnath (Lama –Geburtstag an der Großen Stupa).
Gute Kunden – Hindus in Pashupathinath – Buddhisten in Bodnath - Buddhisten aus
Europa
Wir tun Kusang den Gefallen und gehen nochmals gemeinsam mit ihm zum „Highlander“,
um die korrekte Abwicklung des Vertrages formell zu bestätigen. Eigentlich mehr, um
Kusang eine gute Referenz zu geben, ihn zu noch besserem Ansehen bei seiner „Firma“ zu
verhelfen. Frank informiert auch darüber, daß er im Internet mit einem Bericht in Deutsch,
Englisch und Russisch über unsere Tour Werbung für den „Highländer“ machen wird,
führt ihnen auch den Einstieg in seine homepage vor. Das wird dankend angenommen und
verfehlt seine Wirkung nicht. Neben einem schönen Werbe -T Shirt sehen wir uns
unerwartet mit einer Einladung des Chefs zu einem Essen am nächsten Tag konfrontiert,
die wir natürlich nicht ablehnen können...
Wieder mit einem Taxi durch das Verkehrsgewimmel, dieses Mal nach Pashupathinath. Es
fällt mir schwer, das hier Gesehene und Erlebte niederzuschreiben. Ich habe Achtung vor
allen Kulturen und Religionen, verhehle aber auch nicht, daß mir die hier vorgeführte
Lebensweise nach der hinduistischen Religion nicht zusagt. Das betrifft am wenigsten den
Akt der Leichenverbrennung, sondern vielmehr das gesamte Umfeld, die Sauberkeit und
Hygiene, das Verhalten der Asketen und anderes mehr... (Auch nach dem Anschauen
unseres Videos, mit Abstand, in der Heimat, kann ich eine Aversion nicht ablegen. Man
möge mir verzeihen, wenn ich über diesen Stadtteil von Kathmandu nicht weiter berichte).
Der Nachmittag in Bodnath an der großen buddhistischen Stupa vermittelt ein völlig
anderes Bild, ein Bild religiösen Friedens, von Weisheit und Würde, wenn auch
architektonisch einfacher, schlichter. Die im Rund um die Stupa angeordneten Läden, alle
ordentlich und sauber, passen sich dem Ensemble sinnvoll an. Die Stupa ist das
bedeutendste buddhistische Heiligtum des Kathmandu – Tales. Mit dem dreigeschossigen,
quadratischen Unterbau, über den sich die Halbkugel mit dem Turm mit 13 Schirmen
erhebt, haben die Erbauer versucht, zwei kosmologische Ideale zu vereinigen: Den
Stufenberg und die Halbkugel.
Am Turm das gemalte Augenpaar, die alles sehenden Augen des Buddha.
Unmassen von Mönchen bevölkern die Plätze rund um die Stupa. Der Geburtstag eines
bedeutenden Lama ist die Ursache. Sie wandern frohgestimmt, in Gruppen immer links
herum um die große Stupa, endlos oft, ohne Hast. Der eine oder andere gönnt sich eine
Cola, schließlich ist es sehr warm. Den Rundgang um die Stupa wiederholen wir ein
zweites Mal bewußt „im Gegenverkehr“, also rechts herum, um den Menschen länger ins
Gesicht schauen zu können. Nachdem wir uns satt gesehen haben, ziehen wir uns in den
dritten Stock eines anliegenden Restaurants zurück, von wo wir den Platz voll im Auge
haben. Nun fluten das Leben und das religiöse Fest unter uns und an uns vorbei...
Auf den einzelnen Stufen der Stupa wird begonnen, Kerzen aufzustellen und anzuzünden,
nicht nur von Mönchen. Dann kommt er, der Lama, wird in einem Rollstuhl auf die linke
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Frontseite geschoben. Dort spielt sich eine kurze Zeremonie ab, die ich von hier oben nicht
sehen kann. Langsam wird es dunkel, und die Zahl der brennenden Kerzen wird immer
größer. Bald sind alle Seitenlinien der Stupa von Kerzen in Dreierreihen erleuchtet. Ein
faszinierendes Bild. Wie könnte das erst aus der Luft aussehen, wenn damit die Form der
Stupa noch durch Feuerlinien hervorgehoben wird. Später mischen wir uns unter die
Buddhisten, Mönche, Männer, Frauen, Kinder, die auf den einzelnen Etagen
einherwandeln oder, völlig vertieft in ihre Aufgabe, letzte Kerzen anzuzünden. An
manchen Stellen ist der Talg das leichte Gefälle herunter gelaufen und erzeugt rutschige
Flächen. Zwei Male habe ich erhebliche Mühe, nicht zu stürzen. Ich kann mich nicht satt
sehen an den Menschen in ihrer religiösen Vertiefung.
Was hat das junge Paar aus Dänemark zu ihrem Schritt bewogen? Es hatte genau wie ich
das Geschehen auf der Stupa gespannt verfolgt. Dann wollten sie meine Informationen
zum Everest - Treck, der später auch ihr Ziel sein sollte. Vorher würden sie für vier
Wochen in ein buddhistisches Kloster gehen, am Rande von Kathmandu, von unserem
Ausguck mit bloßem Auge sichtbar. Auf meine verwunderte Frage, wie sie das organisiert
hätten, antworteten sie, daß sie dem Buddhismus beigetreten wären. Ich versuchte, meine
Verblüffung mit allgemeinen Bemerkungen zur religiösen Toleranz zu überspielen.
02.10. Mo
Vormittags beim Straßenfriseur.
13.00 Lunch im Hotel „Marshangdi“ mit „Highlander“ - Management.
Haareschneiden auf der Straße – Lunch mit dem Chef – Wer arm ist, muß früher
sterben – Der weiße Schal des Dalai Lama
Eine flapsige Bemerkung meinerseits reichte Tamara, mich „festzunageln“. Bei der ersten
Thamel - Runde vor drei Wochen hatte ich keine Bedenken geäußert, die Haare beim
Straßenfriseur in der Nähe von „Pilgrims Hotel“ schneiden zu lassen. Frank, von der Idee
begeistert, würde die Aktion filmen... Nun sind wir schon mehrere Male vorbeigegangen,
und Tamara erinnert mich wiederholt an meine Aussage.
Die damalige Kühnheit ist nun rationellen Überlegungen gewichen. Könnte ich mir nicht
Ungeziefer einfangen? Was ist, wenn er mich mit der vielfach benutzten Rasierklinge
verletzt? Tamaras parallele Überlegungen und Vorschläge zur Kompensation
vermeintlicher unhygienischer Bedingungen können mein Unbehagen keineswegs
mindern. Schließlich ist das kein gewöhnlicher Friseur. Hier wird dem Mann von der
Straße auf der Straße wieder ein seriöses Aussehen verpaßt: Auf einem hölzernen Hocker
ohne Lehne, unter einem abgestorbenen Baum, neben einer Gebetsstätte, an der Gläubige
Geschenke ablegen... Gesagt, getan - ein Mann, ein Wort. Ich übermanne mich,
unterdrücke meine Skrupel, ignoriere wohlmeinende Vorschläge, erbitte eine „Auszeit“. Es
ist ja schließlich keine Hinrichtung. Im Hotel ziehe ich mich komplett aus, steige in Sachen
aus dem Schmutzwäschebeutel, kurze Hosen, T-Shirt, Sandalen. Nach dem Akt würde ich
ausgiebig duschen und in frische Sachen schlüpfen. Gefaßt und ruhig schreite ich dann,
flankiert von den „Leibwächtern“ Tamara und Frank, zur Stätte der Ungewißheit. Ich habe
sogar noch die Nerven, mit Frank einen kleinen Ulk beim Filmen zu besprechen und
Tamara in die Verantwortung für mein späteres Aussehen und Wohlbefinden zu nehmen...
Es geht los: Frank stellt reichlich Drehzeit zur Verfügung, Tamara ist rührend um mich
bemüht, verfolgt die Prozedur in jeder Fortschrittsphase. Der Friseur erweist sich als
wirklicher Meister seines Faches, verpaßt mir den besten Kurzschnitt, den ich je hatte,
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benutzt für mich eine frische Klinge, erweitert seinen Arbeitsumfang um diverse Extras,
wie Haare aus Ohr und Nase, Reste vom Kinn und macht mich im zugänglichen Bereich
glatt wie ein Spanferkel, wischt, putzt, bürstet... Viele Zuschauer verfolgen das Spektakel.
Eine italienische Touristin nimmt mich mit ihrer monströsen Kamera voll ins Visier. Von
meinem „No photo, no Picture...“ (halb im Scherz) läßt sie sich in die Flucht schlagen. Das
Ganze würde mich nach meinen vorhergehenden Beobachtungen umgerechnet eine DM
kosten, ich erhöhe auf das Dreifache, also hundert Rupies. Ich bin zufrieden, Tamara und
Frank auch, der Friseur strahlt über das ganze Gesicht. Er hatte seine Show, wohl noch
mehr als ich...
Zwei Herren vom „Highlander“, wohl der Leiter der Filiale in Thamel und der dänische
Juniorpartner, führen uns drei, auch Kusang ist dabei, zum noblen Hotel „Marshangdi“.
Dort werden wir vom Chef bereits erwartet. Vom Typ her ordne ich ihn den weiter im
Süden, in Richtung Indien, lebenden ethnischen Gruppen zu. Seine beiden Kinder, ein
Mädchen von sechzehn und ein Junge von vierzehn Jahren, dürfen am „Geschäftsessen“
teilnehmen. Ein Privileg des Chefs, der wohl seinen Kindern die Leute von der
Nordhalbkugel zeigen möchte. Sie sind aber richtig lieb und gut erzogen und lassen sich,
etwas verlegen, auch ins Gespräch ziehen. Das Mädchen hatte eine schwere
Magenkrankheit, wurde viele Monate über Schlauchinfusion ernährt. Auf Geheiß des
Vaters zeigt sie die Stelle in der Nähe des Bauchnabels, wo noch jetzt ein tiefer Krater,
verheilt, die Schlauchposition markiert. Ein Kind weniger wohlhabender Eltern hätte diese
Krankheit wohl nicht überlebt. Die Familie lebt in einem Vorortviertel von Kathmandu.
Der Vater ist ganz locker, jünger als ich, vielleicht im Alter von Tamara und Frank. Neben
den ernsten Tönen kann er herzhaft über alle Scherze lachen, auch wenn sie auf seine
Kosten gehen. Nachdem er sein Besteck zu Boden wirft, aus Versehen, macht es ihm sein
Sohn bald nach. Daraufhin aber kein strafender Blick oder mahnende Worte, sondern seine
Bemerkung, daß das ja sein Sohn sei - verwandte Ungeschicklichkeit. Als der Kellner gar
den Teller zu Boden fallen läßt, stelle ich die (gewagte) Frage, ob der vielleicht sein
Bruder sei. Darauf kann er sich vor Lachen kaum beruhigen... Während wir mit ihm, dem
Dänen und den Kindern diskutieren und scherzen, halten sich der „kleinere“ Chef und
Kusang artig im Hintergrund. In einem günstigen Augenblick gelingt es uns im kollektiven
Angriff, die Vorzüge von Kusang herauszustellen und ihn besonders zu empfehlen. Der
Chef tut aber so, als ob ihm das bereits voll bewußt sei...
Wer hat es nicht in der „Tagesschau“ gesehen, das Gerangel des damaligen
Außenministers mit dem Dalai Lama, als dieser ihm den weißen Schal als Zeichen von
Freundschaft um den Hals legen wollte. Als wir uns von Kusang verabschieden, tut er es
mit einer Geste, die mich zutiefst rührt. Auch er überreicht jedem von uns einen weißen
Schal aus dünner Seide, aber wesentlich kürzer und mit Sicherheit weniger wertvoll als der
des Dalai Lama. Trotzdem ist mir der Schal von Kusang sehr, sehr viel wert, und er wird
zu Hause einen Ehrenplatz bekommen.
03.10. Di
8.30 Abfahrt mit Taxi,
Rafting im Trisuli Kosi, 18.30 an Kathmandu.
Schlange im Boot - Rafting und ein „Reinfall“
Wie der Gedanke vor zwei Tagen beim „Highlander“ aufkam, oder wer ihn zuerst äußerte,
weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall war meine Reaktion positiv: Das muß man auch
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probiert haben. Solch eine günstige Gelegenheit, das so ganz nebenbei auch noch zu
erleben, kommt nicht so schnell wieder. Nun sitzen wir in einem Taxi, das uns nach
Westen, an den Trisuli River bringt. Fast drei Stunden benötigen wir bis zum
Ausgangspunkt der Rafting Strecke. Von Kathmandu ist der Paß bald erreicht, dann aber
dauert es geraume Zeit, bis wir in langen Serpentinen um Berghang und Taleinschnitt
herum bis zum Fluß hinunter gelangen. Zunächst ein unbedeutender Bach in einem
steinigen Bett an flachen Ufern mutiert er zum breiten Fluß, der gemächlich dahinzieht und
später, eingezwängt in steile, felsige Ufer und umrahmt von bewaldeten Hängen, zum
brausenden Gebirgsfluß mit Stromschnellen und felsigen Barrieren wird.
Die großen Schlauchboote liegen dort, wo der Fluß noch friedlich und träge ist, auf dem
Rücken im Ufersand. Mit den drei nepalesischen Begleitern und Bootsführern und dem
holländischen Paar sind wir eine Achter - Crew. Die „Vergatterung“ zum Verhalten „an
Bord“ ist durchaus ernst zu nehmen. Was uns erwartet, ist noch gar nicht vorauszusehen.
Bisher kenne ich diesen Modesport nur vom Fernsehen. Und die junge Holländerin vor mir
ist ängstlich, weil eine Freundin vor nicht langer Zeit beim Rafting umgekommen ist. Das
erfahre ich aber erst später. Als wir die Boote wenden, plötzlich große Aufregung: Eine
Schlange an Bord, die in dem im Schlauchboot verbliebenen Wasser schwimmt und
vergeblich versucht, über die pralle Seitenwand ins Freie zu gelangen. Aus der ängstlichen
Reaktion der einheimischen Begleiter schließe ich, daß diese giftig sein könnte. Für diese
Situation, „Schlange an Bord“, haben sie kein Krisenmanagement, reagieren hektisch und
hilflos. Für den „Schlangenbeschwörer“ auf der Freifläche neben unserem Hotel in Thamel
wäre der Weg zu weit. Umlegen des Bootes zur Hälfte im Wasser und kräftiges Lärmen
erscheint mir die beste Lösung zu sein. Irgendwie, nach einer kleinen Ewigkeit, überwindet
sie die „Bordwand“ auch ohne den von mir favorisierten Kraftakt und schwimmt, ohne
Hast, in Schlängelbewegungen flußabwärts. Dorthin wollen wir auch.
Ich kannte Rafting bisher auch nur wie die meisten Mitbürger aus den bewegten Bildern im
Fernsehen: Schreiende, jauchzende Menschen mit Helm und Schwimmweste, mit einem
Paddel in der Hand, in einem größeren Schlauchboot, einer Nußschale ähnlich, auf
tobenden, tosenden Wassermassen daher schaukelnd. Jederzeit vor Augen, an Steine und
Felsen geschleudert zu werden, umzukippen, und von den Wellen und Schnellen überrollt
zu werden. Nun weiß ich endlich, wie es möglich ist, bei den starken Bewegungen nicht
aus dem Boot zu fallen: Ein Fuß wird unter die Wulst des Quersteges geschoben, der
andere steckt in einer Lasche. Natürlich muß man die Füße fest in diese Führungen
hineinpressen und auch sonst in jeder Situation konzentriert sein. Wenn die Gruppe auch
noch die Kommandos ordentlich umsetzt, kann man sich einigermaßen sicher fühlen.
Dumme Fragen nach der Tiefe des Wassers werden von den Begleitern wegen des
Nervenkitzels mit zweistelligen Zahlen beantwortet. Ich könnte mir auch den Nervenkitzel
bei Zaungästen vorstellen. Oft genug bleiben Autos an der dem Flußlauf folgenden Straße
stehen, steigen die Leute aus und schauen nach den Verrückten da unten auf dem
Wildwasser. Lange Zeit bleibt die Besatzung ungeschoren im Boot. Nur die beiden Damen
vor und schräg vor mir finden sich nach einer besonders heftigen Attacke des Flusses
nacheinander in voller Länge vor meinen Füßen wieder. Die Nepali nehmen hin und
wieder ein freiwilliges Bad in den sanfteren Flußabschnitten, ein tolles Vergnügen. Ich
verkneife es mir, warum weiß ich nicht so recht. Schließlich sind wir alle von den
Brechern völlig durchnäßt.
Dann aber taucht Frank ab, unvermittelt und ohne Vorwarnung. Kein Problem, er wird
sofort wieder hineingezogen, hier ist die Strömung auch weniger stark. Die Brille ist auch
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am Mann geblieben, offenbar vom Helm angepreßt... Mir kommt der Verdacht, daß Frank
uns einen Spaß breiten wollte, sich dafür opferte, weil ein „Reinfaller“ das
Raftingvergnügen steigern könnte. Dann hole ich mir aber nochmals seinen
Gesichtsausdruck vor Augen, in dem Moment, als der Kopf wieder über Wasser war. Darin
war zwar keine Furcht, aber grenzenlose Verblüffung und kein Schalk zu lesen. Also doch
kein gespielter, sondern ein echter „Reinfall“.
Am schattigen Ufer, im feuchten Sand, wie ein Tortenstück geschnitten, improvisieren die
Nepali einen kleinen Imbiß, schmackhaft und sättigend. Sie greifen nicht zu, verweisen
darauf, vor Abfahrt kräftig gegessen zu haben, Dalbat. In ziemlicher Menge, wie ich mich
erinnern kann. Drei jüngere Burschen, die vom nahen Ort zum Fluß heruntergestiegen sind
und in unserer Nähe verharren, nutznießen von deren Verzicht. Ich sehe mit Achtung, wie
ritterlich sie die schmackhaften Reste unter sich aufteilen...
04.10. Mi
10.00 Abfahrt mit Taxi nach Bhaktapur, 15.30 an Kathmandu.
Bhaktapur – Taj Mohamad
Bhaktapur ist ein Museum, in dem Menschen leben... . Dem Namen nach ist sie die „Stadt
der Gläubigen“. Wir haben uns zum Mittagessen in ein pagodenähnliches Restaurant auf
dem Durbar Square zurückgezogen und beobachten von oben das Treiben auf dem Markt:
Die über ihn hinweg strömenden Menschen in orientalischer Gelassenheit, eine ethnische
Vielfalt, die seinesgleichen sucht, der Newar mit dem Wasserbüffel am Strick, die blinden
Musikanten, die Geflügelhändler, schöne Frauen im farbeprächtigen Sari mit dem roten
Punkt auf der Stirn bei der Anprobe von preiswertem Modeschmuck, der Landmann mit
den Getreidegarben an beiden Seiten des Tragegestells über der Schulter, der
Obstverkäufer mit seinem „Laden“ auf dem Fahrrad, das kleine Zicklein, scheinbar
verloren, Kinder im Spiel, Frauen auf dem Terrassendach ihrer Häuser, einheimische und
ausländische Touristen auf den Stufen des Bhairavnath Tempels, seine Architektur, und die
der umliegenden Gebäude mit ihren filigranen Verzierungen im Holz... . Das Auge kann
sich nicht satt sehen an dieser exotischen Vielfalt, das Hirn kann nicht alles speichern. Gut,
daß es dazu mit der Kamera ein Hilfsmittel gibt.
Spät abends noch, eigentlich schon meine Schlafenszeit, gehe ich nochmals zum
Musikverkäufer schräg gegenüber, um die CD zum „OM MANI PEME HUM“ zu kaufen.
Der kleine, richtig dunkle Junge bei ihm, mit dem schönen, verträumten Gesicht, heißt Taj
Mohamad. Er stammt aus der Gorkha Region im Westen, ist bereits sechzehn Jahre alt und
arbeitet in einem Fleischladen. Er lächelt mich an und sagt etwas in schwer verständlichem
Englisch. Ich deute es mit: „Nimm mich mit in dein Land...“ Das kann ich nicht. Schenke
ihm aber meinen besten, den grünen Kugelschreiber...
05.10. Do
Vormittags nochmals Durbar Square.
15.15 Abfahrt zum Airport mit Taxi.
19.25 (OZ) Abflug mit Gulf Air (GF 2007)
Abschied am Durbar Square – Nachtflug nach Bahrain
Durbar Square zum zweiten... Auf dem Hinweg nutzen wir eine Rikscha. Wollte ich auch
probiert haben. Bin dann etwas verärgert, weil der Fahrer/Läufer Nachforderungen
gegenüber dem ausgemachten Preis erhebt. Ich steige die Stufen zum Taleju Tempel
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hinauf, setze mich und beobachte das Treiben längere Zeit von oben... Abschied von
Kathmandu, Abschied von Nepal. Die Reise hat sich gelohnt. Unvergeßliche Eindrücke
werden mich begleiten.
Warten auf dem Airport, Zeit zur Beobachtung der Menschen aus aller Welt, aus allen
Teilen von Nepal... Ein streng und wichtig aussehender Mann mit kahlem Kopf wird beim
Vorbeigehen mehrfach mit äußerster Akkuratesse von einem jungen Soldaten in Uniform
gegrüßt. Irgendwie habe ich das Gefühl, sie würden das üben, und der Strenge könnte das
zur Selbstbestätigung brauchen... Einige Zeit später sitzen wir bereits im Saal vor dem
Flugsteig. Rechts eine Tür mit Vollglasscheibe. Der Strenge und Wichtige kommt mit
militärischem Gang daher geschritten und... knallt mit seinem Kopf gegen die Glasscheibe.
Verblüffung, Schmerz und Ärger sprechen aus seinem Gesicht. Hat ihn die Ehrerbietung
des Soldaten blind gemacht? Er kommt nicht wieder. Sicher hatte er nichts wichtiges vor,
als er durch die Glastür wollte...
06.10 Fr
1.45 (OZ) Abflug Bahrain (GF017)
6.30 (OZ) Ankunft Frankfurt.
„Tagesschau“ auf arabisch – Die nächste Reise nach Damaskus?
Nach viereinhalb Stunden Ende der erste Etappe des Rückfluges. Mitternacht am
Persischen Golf – Airport Bahrain. Wieder beherrscht der weiße Burnus, das
Arabergewand, das Bild. Auch um diese Zeit kräftiger Personenumschlag. Ich entdecke
noch drei Dollar in meinem Portemonnaie. Nicht geeignet als Mitbringsel. Das ist Geld.
Ich gehe durch die Einkaufsmeile mit den Luxuswaren zum Selbstbedienungsrestaurant
mit dem vorzüglichen Blick auf Start- und Landebahn, umsäumt von weißen Häusern,
Palmen und Meer. Für die Büchse Tuborg will der Kassierer genau meine drei Dollar
haben. Das Flughafeninnere ist klimatisiert. Das dänische Bier schmeckt, und ich fühle
mich gut, obwohl es nach Nepal - Zeit inzwischen schon weit nach Mitternacht ist und wir
noch zwei Stunden zu warten haben. Nachrichten in einer Art Tagesschau am Bildschirm.
Clinton und der Nahostkonflikt, die kehligen Laute des Arabischen beeindrucken mich, ich
kann aber nichts verstehen. Daß Milosewitsch in Jugoslawien vor dem Sturz ist, reime ich
mir zusammen. Europa und die Weltkonflikte sind wieder nahe. Erstaunlich, daß man aber
auch über Wochen ohne jegliche Informationen solcher Art auskommen kann...
Dann noch langes Warten. Viel Muße, das Geschehen um mich herum zu beobachten.
Warum tragen einige Männer einen weißen, andere einen gelben Burnus, warum tragen
einige die hinten herabhängende Kopfbedeckung mit dem schwarzen Doppelring und
einige ohne? Wie ist das bei den Frauen, warum bei einigen schwarze Gewänder und
Tücher, bei anderen alles in Weiß? Geheimnisvolle arabische Welt... Was gäbe es dort
nicht noch alles zu erkunden? Sollte ich nicht auch ein Mal in ein arabisches Land reisen?
Aber die reichen Ölstaaten sind für mich zu teuer, bestimmte Nahostgebiete zu
konfliktreich, Mesopotamien und Persien noch zu diktatorisch oder fundamentalistisch. Ich
werde über Syrien nachdenken, Damaskus, Aleppo, Palmyra... touristisch noch nicht
überlaufen, ursprünglich...
Verzeichnis der Eigennamen
Burnus
Dalbat
weites oder farbiges arabisches Gewand
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Dzo
Gompa
La
Makkah (Mekka)
Mani
„om mani peme hum“
Monastir
Namaste
Ri
Sagarmatha
Shakya
hinduistische kaste Kumari
Sherpa
Trail
Tse
Stupa
Tamang,
Newar
Ghorka
Yak
Rückseite innen
Manfred Lange ist aus Schwedt/O.
Er wurde am 29. Januar 1941 in der Nähe von Posen, im heutigen Polen, geboren.
Seine Kindheit und Jugend verlebte er in Vorpommern. Nach dem Studium an der
Technischen Hochschule für Chemie in Merseburg war er von 1964 bis 1998 in der PCK
GmbH Schwedt, vorwiegend als Betriebsleiter, tätig. Nach den „Begegnungen in Afrika“
legt er mit der “Visite am Mount Everest“ seine zweite Reportage in Buchform vor.
Rückseite
Nach Bergtouren und Besteigungen in der Tatra, in Bulgarien und Rumänien, in den
Schweizer und französischen Alpen und des Kilimanjaro wollte der Autor auch die
Bergwelt des Himalaja erleben. Der Traum, in die Nähe des Mount Everest in Nepal zu
gelangen, erfüllte sich, weil Gleichgesinnte das Abenteuer bereits planten und ihn
mitnahmen. Die Reportage berichtet von dem beschwerlichen Marsch an den Fuß des
Mount Everest und läßt den Leser teilhaben an der faszinierenden Welt des kleinen
Königreiches zwischen Indien und China.
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