R E C H T S K U N D E

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1
RECHTSKUNDE
EINFÜHRUNG IN DAS RECHT
DER
BUNDESREPUBLIK
DEUTSCHLAND
Ein Leitfaden nach Zeitungsmeldungen (Textsammlung)
von
Hans-Uwe Scharnweber
Ein garstig Buch! Pfui! Ein politisch Buch!
(In Rechtsanalogie zu »Faust«)
Allen, denen Gerechtigkeit noch und immer wieder ein Problem
ist, sowie denjenigen, die unter ungerechten Gesetzen oder
Urteilen leiden.
Und Dorothea, die viele Stunden auf meine Gesellschaft verzichten
musste, um mir die Zeit zu lassen, an meinen Büchern zu arbeiten die sie nicht mehr lesen kann.
2
Inhaltsübersicht
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
I. TEIL: Das Verhältnis von »Recht« und »Gesetz«
1. Das »Grundgesetz« (GG) als unsere »Verfassung«
2. »Gesetz« und »Recht«
II. TEIL: Die Funktion im Recht des NS-Herrschaftssystems
1. Rechtsprechung als Terrorinstrument
2. Grundrechte zur Disposition der Staatsmacht
3. „Furchtbare Juristen“ als Steigbügelhalter der braunen Diktatur
4. Wiederholte Straffreistellung für jeden, der bei politischen Morden ein braunes Hemd getragen hatte
5. Das „Ermächtigungsgesetz“ vom 24.03.33 als „Verfassungsurkunde des Dritten Reiches“ und seine
Auswirkungen
III. TEIL: Die Funktion des Rechts im SED-Herrschaftssystem der DDR
1. „Recht darf sich nie wieder mit dem zum Gesetz erhobenen Willen einer Klasse und ihrer Partei
identifizieren.“
2. Organisiertes Verbrechen als Herrschaftssystem
3. Unrechtsregime wie die DDR unter SED-Herrschaft negieren Menschenrechte, Verfassung und
eingegangene internationale Verpflichtungen
4. Ideologiebedingtes Geschichts-, Gesellschafts- und Rechtsverständnis
5. Volksdemokratien mangelt es an Rechtsstaatlichkeit als Fundament einer echten Demokratie
6. „Amnesty international“ zur Lage der Menschenrechte in der DDR
7. Staatlicher Terror bis zur physischen Vernichtung
8. Staatliches Kidnapping durch „Zwangsadoptionen“
9. Faktisch bestehende Abhängigkeit der Richter trotz anders lautender Verfassungsbestimmungen
10. Justiz in Diktaturen als wichtiges Instrument zur Durchsetzung der Staatsideologie
IV. TEIL: Das Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland
1. Privatrecht und öffentliches Recht
2. Erste Einblicke in das Privatrecht
3. Öffentliches Recht
4. Das Bundesverfassungsgericht als Hüter und Wächter des GG durch Urteil mit
Gesetzesverwerfungskompetenz und durch mahnende Existenz
5. Überprüfung von Urteilen durch das BVerfG hinsichtlich möglicher Grundrechtsverletzungen
6. Mahnende Existenz und Rechtsprechung des BVerfGs
Abgrenzung gegenüber den Aufgaben der Politik an einem Beispielsfall
7. In bewusster Abkehr von den Bestimmungen der Weimarer Verfassung getroffene
staatsorganisatorische Bestimmungen im Grundgesetz
8. Reform-Ideen zur Umgestaltung unserer durch Verschmelzung in der EU und
Globalisierungsherausforderungen neuen Erfordernissen anzupassenden Verfassung
V. TEIL: Das Gesetz zum Schutz der Jugend in der Öffentlichkeit (JÖSCHG) als Beispiel für die
Schwierigkeiten konkreter Gesetzesabfassung, -anwendung und möglicher –verbesserung
VI. TEIL: Tabellarischer Überblick über die wichtigsten Rechtlichen Entwicklungsstufen
(Recht und Lebensalter)
Index
3
INHALTSVERZEICHNIS
Abkürzungsverzeichnis .................................................................................................................................................... 8
Einführung........................................................................................................................................................................ 9
I. TEIL ....................................................................................................................................................................... 39
DAS VERHÄLTNIS VON »RECHT« UND »GESETZ« ..................................................................................... 39
1 Das »Grundgesetz« (GG) als unsere »Verfassung« ............................................................................................. 39
1.1 Präambel....................................................................................................................................................... 40
1.1.1 Gott als in der Präambel herausgehobener Bezugspunkt staatlichen Handelns ..................................... 41
1.1.2 Text der Präambel als Auslegungsregel für das GG .............................................................................. 46
1.2 »Grundgesetz« oder »Verfassung«? ............................................................................................................. 46
1.2.1 Der räumliche Geltungsbereich des GG ................................................................................................ 48
1.2.2 GG und Länderneugliederung ............................................................................................................... 48
1.3 Das GG als oberste rechtliche Norm unseres Staates für insbesondere staatliches, eingeschränkt aber auch
privates Handeln................................................................................................................................................. 54
1.3.1 GG und Zivilrecht ................................................................................................................................. 55
1.3.1.1 Grundsätzliche Vertragsfreiheit im Bereich des Zivilrechts und (meist nur) eingeschränkte
»mittelbare Drittwirkung« der Grundrechte ............................................................................................... 55
1.3.1.2 Privates Hausrecht überwindet das Diskriminierungsverbot des (speziellen) Gleichheitssatzes aus
Art. 3 III GG............................................................................................................................................... 56
1.3.2 Grundrechte und ihre Bedeutung am Beispiel des allgemeinen und des speziellen Gleichheitssatzes
von Art. 3 GG ................................................................................................................................................. 60
1.3.2.1 Allgemeiner Gleichheitssatz des Art. 3 I GG ................................................................................. 60
1.3.2.1.1 Gleichheitssatz des Art. 3 GG als »Willkürverbot« ................................................................. 61
1.3.2.1.2 Unterschiedliche Geltung des Gleichheitssatzes im öffentlich-rechtlichen Bereich von Kirche
und Staat ................................................................................................................................................. 90
1.3.2.1.3 Art. 33 GG als den Staat verpflichtende spezielle Ausgestaltung des allgemeinen
Gleichheitsgrundsatzes ........................................................................................................................... 90
1.3.2.2 Gleichberechtigungsproblematik .................................................................................................. 115
1.3.2.2.1 Die in Art. 3 II GG angeordnete Gleichberechtigung von Frau und Mann als Konkretisierung
des allgemeinen Gleichheitssatzes ........................................................................................................ 115
1.3.2.2.2 Benachteiligung von Frauen unter der Geltung des GG seit 1949 im niederrangigeren Recht
trotz Art. 3 II GG und allmähliche rechtliche Angleichung .................................................................. 121
1.3.2.2.3 Art. 3 II GG und Ehenamensrecht ......................................................................................... 125
1.3.2.2.4 »Schwangerschaftsurlaub« und die Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes in Art.
3 II GG ................................................................................................................................................. 135
1.3.2.2.5 Erziehungsurlaub und die Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatz in Art. 3 II GG135
1.3.2.2.6 »Mittelbare Drittwirkung« der Grundrechte, insbesondere des Gleichheitssatzes, im
Arbeitsrecht .......................................................................................................................................... 135
1.3.2.2.7 Art. 3 II GG schützt auch die Männer ................................................................................... 138
1.3.2.2.8 Beispiele für den Kampf um Gleichberechtigung in einigen anderen Ländern ..................... 148
1.3.3 Art. 3 III GG und Asylrecht ................................................................................................................ 151
1.3.4 »Wesensgehaltssperre« bei Grundrechtseinschränkungen und Asylrecht............................................ 152
1.3.5 Auslegung von Grundrechtsbestimmungen am Beispiel von Art. 6 GG Ehe und Familie und Art. 16
GG Asylrecht................................................................................................................................................ 153
2 »Gesetz« und »Recht« ....................................................................................................................................... 162
2.1 »Gesetz« und »Recht« in Art. 20 III GG .................................................................................................... 165
2.2 »Gesetz«, »Recht« und »Gerechtigkeit« ..................................................................................................... 167
2.3 Gesellschaftliche Befriedungsfunktion des Rechts ..................................................................................... 169
2.4 Das »Brett des Karneades« und die Frage nach »Gesetz«, »Recht« und »Gerechtigkeit« .......................... 171
2.5 Strafrechtliche Prüfung des Falles „Brett des Karneades“ ......................................................................... 173
2.6 Annäherung an die »Idee des Rechts« ........................................................................................................ 176
2.6.1. Widerstreit zwischen menschlichem und göttlichem Gesetz und Recht ............................................. 177
2.6.2 »Gesetz« und »Recht« in griechischen Tragödien ............................................................................... 177
2.7 »Gesetz« ..................................................................................................................................................... 181
2.7.1 Die Notwendigkeit exakter Abfassung von Gesetzen .......................................................................... 182
4
2.7.2 Kampf um gesetzliche Neuregelungen auf Grund geänderter gesellschaftlicher Verhältnisse am
Beispiel der Feiertagsruhe ............................................................................................................................ 186
2.7.3 Juristisches Konfliktfeld Organ»spende« ............................................................................................ 193
2.7.4 Das GG als lebender (Rechts-)Organismus ......................................................................................... 215
2.7.5 Regelungen der Gesetzgebungskompetenz zwischen Bund und Ländern im GG................................ 215
2.7.6 Technische Neuerungen bewirken oft einen juristischen Regelungsbedarf ......................................... 216
2.7.7 BVerfG als "juristische Notbremse" unterlegener Politiker ................................................................ 217
2.7.8 Beispiele für juristischen Regelungsbedarf aus dem Bereich der Biomedizin .................................... 217
2.7.9 Notwendigkeit der ständigen Anpassung und Korrektur von Gesetzen am Beispiel möglicher
Organentnahme bei anenzephalen Föten ...................................................................................................... 253
2.7.10 Wertungswidersprüche durch verschiedene - eventuell ungenau formulierte - Gesetze möglich ...... 256
2.7.11 Gesetzesinterpretationen durch Auslegung oder Analogiebildungen zur Ermöglichung juristisch
gewollter Ergebnisse ohne Gesetzesänderungen .......................................................................................... 259
2.7.12 »Einzelfall«-Gesetze trotz »abstrakt« (für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen) gehaltenen
Wortlauts ...................................................................................................................................................... 261
2.7.13 Auch unsinnig erscheinende Gesetze haben oder hatten meistens – aber nicht immer - einen nicht
unbedingt billigenswerten, aber von der Intention des Gesetzgebers her nachvollziehbaren, zwischenzeitlich
eventuell verschütteten Sinn ......................................................................................................................... 261
2.7.14 Gesetze können legalisiertes Unrecht sein......................................................................................... 274
2.8 »Recht«....................................................................................................................................................... 275
2.8.1 »Recht« und subjektives Rechts-/Gerechtigkeitsempfinden ................................................................ 276
2.8.2 »Recht« als Definition einer Machtelite .............................................................................................. 278
2.8.3 »Recht« zur Absicherung der Herrschaft einer staatlichen Machtelite ................................................ 278
2.8.4 In einer Demokratie steht der Staat unter der Herrschaft des Rechts und nicht das Recht unter der
Willkür der Exekutive .................................................................................................................................. 279
2.8.5 Wer soll über die Auslegung von »Recht« entscheiden? ..................................................................... 280
2.8.6 Medien sind als publizistisches Wächteramt der kritischen Öffentlichkeit gegenüber richterlichen
Entscheidungen die »vierte Gewalt« im Staate ............................................................................................. 283
2.8.7 Willfährige und/oder dogmatisierte Richter als Büttel der Staatsmacht setz(t)en legalisiertes Unrecht
durch............................................................................................................................................................. 284
2.8.8 Rechtsanalogien in der Hand fanatisierter Richter im Strafrecht ......................................................... 286
2.8.9 Zivilrichter sorgten in der NS-Zeit für den "bürgerlichen Tod", Strafrichter schickten den Henker
hinterher ....................................................................................................................................................... 288
2.8.10 Die neuere deutsche Rechtsgeschichte in der NS- und der SED-Diktatur ist eine Geschichte der
Gesinnungsjustiz .......................................................................................................................................... 289
2.8.11 "Kein Verbrechen, keine Strafe ohne entsprechendes Gesetz".......................................................... 290
2.8.12 Problemfeld: Hinreichende Bestimmtheit einer Strafbestimmung und "offene Rechtsbegriffe" ....... 290
2.8.13 Rechtsfragen sind oft Machtfragen .................................................................................................... 293
2.8.14 Juristerei ist keine Mathematik, darum sind Rechtsfragen oft Wertungsfragen ................................. 293
2.8.15 Was ist dann „Recht«?....................................................................................................................... 294
2.8.16 Vorstellungen von »Recht« in anderen Kulturkreisen anhand von Zeitungsmeldungen .................... 311
2.8.17 Unterschiedliche Ansichten über das »Recht« und den Rechtsgüterschutz innerhalb selbst einer
kulturell einheitlich geprägten Gesellschaft.................................................................................................. 327
2.8.18 Was »Recht« sein soll, ist in einer sich verändernden Gesellschaft ständig im Fluss, ständig
umkämpft ..................................................................................................................................................... 328
2.8.19 Notwendigkeit der Anpassung gesetzlicher Regelungen an geänderte gesellschaftliche Verhältnisse
wegen sich wandelnden Rechtsbewusstseins in der Bevölkerung ................................................................ 341
2.8.19.1 Wertewandel - eventuell durch wissenschaftlichen Fortschritt verursacht - bedingt Rechtswandel
.................................................................................................................................................................. 341
2.8.19.2 Gesellschaftliche Umbrüche sind immer auch gravierende Umbrüche im Rechtssystem ........... 358
2.8.19.3 Aus u.a. Gerechtigkeitsstreben heraus entstandene Revolutionen installieren oft ein neues
Unrechtssystem ........................................................................................................................................ 360
2.8.19.4 Das Mehrheitsprinzip - unter rechtlich abgesicherter Achtung von Minderheitenrechten - ist der
Königsweg demokratischer Willensbildung ............................................................................................. 360
2.8.19.5 Ständige Kämpfe um »das Recht« auch in unserer demokratisch verfassten und damit auf
ständigen Wandel angelegten Gesellschaft............................................................................................... 363
2.8.19.6 Beispiel Umweltschutz und Recht .............................................................................................. 363
2.8.19.7 Vorzüge der demokratischen Staatsform aus ihren rechtlichen Grundentscheidungen heraus ... 365
5
2.8.20 Rechtsunterworfenheit in Sonderbereichen nur durch Beitritt ........................................................... 381
2.8.20.1 Verbandsgerichtsbarkeit im Bereich des Sports ......................................................................... 382
2.8.20.2 Rechtsunterworfenheit durch Kirchenbeitritt ............................................................................. 387
2.8.20.3 Allgemeinverbindliche Rechtsetzung im Bereich des Arbeitsrechts auch durch Übernahme
privatrechtlicher Vereinbarungen ............................................................................................................. 398
2.8.21 »Vor-Rechtsnischen« Begnadigungen und Ordensverleihungen ....................................................... 403
2.8.22 Wächteramt der Presse gegenüber der öffentlichen Gewalt als "vierte Gewalt" im Staate ............... 405
2.8.23 Rechtsprechung hat leider nicht zwangsläufig etwas mit Gerechtigkeit zu tun - und Verwaltung erst
recht nicht! ................................................................................................................................................... 406
2.8.24 Opposition als demokratieunabdingbares »institutionalisiertes Misstrauen« und widerstehende
Bürger u.a. zur Abwehr staatlichen Unrechts ............................................................................................... 406
2.8.25 Recht und Moralvorstellungen .......................................................................................................... 406
2.8.25.1 Die Gesetze müssen den sich ständig wandelnden gesellschaftlichen Vorstellungen und
Verhältnissen in einem ständigen Rückkopplungsprozess behutsam angepasst werden, weil sich die
Vorstellungen über »das Recht« ändern. .................................................................................................. 406
2.8.25.2 »Wilde Ehe« als Beispiel für die Notwendigkeit rechtlicher Anpassung an geänderte
gesellschaftliche Verhältnisse................................................................................................................... 422
2.8.25.3 Rechtlich umkämpfte »Schwulen- und Lesben-Ehen«................................................................ 430
2.8.25.4 Der Kampf um § 218 StGB als Beispiel für den Kampf um die Anpassung des Rechts an
gewandelte gesellschaftliche Vorstellungen ............................................................................................. 455
2.8.26 Die Menschenrechte als Beschwörungsformel der neuzeitlichen Menschheitsgeschichte ................ 461
2.9 »Gesetz« und »Recht« ................................................................................................................................ 506
2.10 Recht und Rechtssicherheit ...................................................................................................................... 507
2.10.1 Rechtssicherheit will durch die damit bezweckte rechtliche Stabilität der Zukunftsplanung und der
Gerechtigkeit dienen..................................................................................................................................... 510
2.10.2 Rechtssicherheit und ungerechte Urteile ........................................................................................... 511
2.10.3 Rechtssicherheit durch Urteil vor Gerechtigkeit? .............................................................................. 511
2.10.4 Wiederaufnahmeverfahren zur Durchbrechung der durch Urteil geschaffenen Rechtssicherheit für
die Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit ................................................................................................. 513
2.10.5 Wiederaufnahmeverfahren zur Durchsetzung der Gerechtigkeit gegenüber der durch Urteil
geschaffenen Rechtssicherheit in Strafsachen auch nach dem Tode eines Verurteilten durchführbar .......... 515
2.10.6 Das Problem verstärkter Rechtssicherheit, selbst zu Lasten der Wahrheit und Gerechtigkeit, im
englischen »Fall-Recht« in Strafsachen ........................................................................................................ 520
2.10.7 Das Problem verstärkter Rechtssicherheit, selbst zu Lasten der Wahrheit und Gerechtigkeit, im
Kirchenrecht der katholischen Kirche am Beispiel des Falles Kurie gegen Galilei...................................... 524
2.10.8 Rechtssicherheit durch Fristablauf im deutschen Strafrecht .............................................................. 532
2.10.9 Deliktbezogener Verjährungsbeginn bei sexuellem Missbrauch von Kindern .................................. 532
2.10.10 Rechtssicherheit durch Fristablauf im Zivilrecht ............................................................................. 535
2.10.11 Rechtssicherheit durch Fristablauf allgemein .................................................................................. 537
2.11 Abschließende Betrachtungen zum Wesen des Rechts............................................................................. 539
2.11.1 »Recht an sich« gibt es nicht ............................................................................................................. 539
2.11.2 »Recht« ist oft nur eine Antwort einer Machtelite auf eine historische Situation .............................. 540
2.11.3 Historische Bedingtheit des »Rechts« ............................................................................................... 541
II. TEIL .................................................................................................................................................................... 542
DIE FUNKTION DES RECHTS IM NS-HERRSCHAFTSSYSTEM ................................................................ 542
1 Rechtsprechung als Terrorinstrument ................................................................................................................ 545
1.1 Der Volksgerichtshof als Terrorinstrument zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Willkürherrschaft
......................................................................................................................................................................... 546
1.2 Durchsetzung des Naziterrors u.a. durch Juristenterror .............................................................................. 550
1.3 Die Richter machten das Volk wehrlos ...................................................................................................... 552
1.4 Charakterlose Juristen als Blutrichter ......................................................................................................... 553
1.5 Die "Polenstrafrechtsverordnung" als Beispiel gesetzlichen Unrechts und ein Beispiel ihrer darüber
hinausgehend exzessiv gnadenlosen Anwendung ............................................................................................. 553
1.6 Sondergerichte als "Standgerichte der inneren Front" ................................................................................ 556
1.7 Offene Rechtsbegriffe als Henkersstricke .................................................................................................. 557
1.8 Die Deutschen: "Volk der Dichter und Denker" wie auch der NS-Richter und Henker ............................. 558
1.9 Erschießungen ohne Gerichtsverfahren ...................................................................................................... 559
2 Grundrechte zur Disposition der Staatsmacht ................................................................................................... 559
6
2.1 Art. 48 II WV als trojanisches Pferd der braunen Diktatur ........................................................................ 560
2.2 "Verfassungsfestes Minimum" des Art. 79 GG als Antwort des Verfassungsgesetzgebers auf diese
historische Erfahrung ....................................................................................................................................... 561
3 "Furchtbare Juristen" als Steigbügelhalter der braunen Diktatur ...................................................................... 562
4 Wiederholte Straffreistellung für jeden, der bei politischen Morden ein braunes Hemd getragen hatte ........... 566
5 Das Ermächtigungsgesetz vom 24.03.33 als "Verfassungsurkunde des Dritten Reiches" und seine Auswirkungen
............................................................................................................................................................................. 569
5.1 Das »Ermächtigungsgesetz« als Schlussstein in der gesetzlichen Pervertierung der Weimarer Verfassung572
5.2 Die Bedeutung des Ermächtigungsgesetzes ............................................................................................... 575
5.3 Der "Führer" als oberster Gerichtsherr ....................................................................................................... 576
5.4 »Recht« als Mittel zur Ausrottung weltanschaulicher Gegner .................................................................... 577
5.5 § 2 StGB von 1935 als archimedischer Punkt für die Bestrafung jedes Missliebigen durch Beseitigung der
Garantiefunktion der Straftatbestände .............................................................................................................. 577
5.6 Völlige Pervertierung des Rechts durch das Reichsgericht ........................................................................ 579
5.7 Die Fallbeiljustiz der "Mörder in den Roben" blieb in der Bundesrepublik durch gewollte Versäumnisse
ungeahndet ....................................................................................................................................................... 580
5.8 Die Geschichte der Justiz im Dritten Reich beweist, dass Juristen zu allem fähig sein können ................. 583
5.9 Weder die Einhaltung des vorgeschriebenen Rechtsweges noch die Autorität der wissenschaftlichen
Rechtslehre gewährleisten einen automatischen Schutz vor der moralischen Entwurzelung einer der Form nach
intakten Rechtsordnung und Rechtswissenschaft ............................................................................................. 583
5.10 Euthanasie: Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ ................................................................................. 585
III. TEIL ................................................................................................................................................................... 590
DIE FUNKTION DES RECHTS IM SED-HERRSCHAFTSSYSTEM DER DDR ........................................... 590
1 "Recht darf sich nie wieder mit dem zum Gesetz erhobenen Willen einer Klasse und ihrer Partei identifizieren."
............................................................................................................................................................................. 590
2 Organisiertes Verbrechen als Herrschaftssystem............................................................................................... 596
3 Unrechtsregime wie die DDR unter SED-Herrschaft negieren Menschenrechte, Verfassung und eingegangene
internationale Verpflichtungen ............................................................................................................................. 598
4 Ideologiebedingtes Geschichts-, Gesellschafts- und Rechtsverständnis ............................................................ 601
4.1 Aus der Verfassung der DDR ersichtliches kommunistisches Gesellschaftsverständnis ............................ 601
4.2 Untersuchung ausgewählter Artikel der DDR-Verfassung ......................................................................... 602
4.2.1 Führungsanspruch der SED mit Verfassungsrang festgeschrieben; keine Chance zum Machtwechsel602
4.2.2 Wahlen nach demokratischem und nach "volksdemokratischem" Verständnis ................................... 603
4.2.3 Trotz offenen Wortlauts Grundrechte nur in den engen Grenzen kommunistischer Ideologie ............ 605
4.2.4 Meinungs-, Versammlungs- und Redefreiheit in der DDR als Verfassungstheorie und in der
Verfassungswirklichkeit ............................................................................................................................... 605
4.2.5 Verfassungsrechtliches System als Unterdrückungsinstrument gegen Oppositionelle ........................ 607
5 Volksdemokratien mangelt es an Rechtsstaatlichkeit als Fundament einer echten Demokratie ........................ 609
6 „Amnesty international“ zur Lage der Menschenrechte in der DDR ................................................................. 610
7 Staatlicher Terror bis zur physischen Vernichtung............................................................................................ 610
8 Staatliches Kidnapping durch "Zwangsadoptionen" ......................................................................................... 612
9 Faktisch bestehende Abhängigkeit der Richter trotz anders lautender Verfassungsbestimmungen ................... 613
10 Justiz in Diktaturen als wichtiges Instrument zur Durchsetzung der Staatsideologie ...................................... 615
IV. TEIL................................................................................................................................................................... 622
DAS RECHTSSYSTEM DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND .......................................................... 622
1 Privatrecht und öffentliches Recht .................................................................................................................... 622
2 Erste Einblicke in das Privatrecht ..................................................................................................................... 627
2.1 »Leihmutterschaft« und Zivilrecht.............................................................................................................. 636
2.2 »Offene« Rechtsbegriffe als Einfallstore für die Wertordnung des GG ..................................................... 640
3 Öffentliches Recht ............................................................................................................................................. 647
3.1 Verzahnung von zivilem und öffentlichem Recht in ein und demselben Lebenssachverhalt ..................... 652
3.2 Der Rechtsweg ist nicht immer eindeutig ................................................................................................... 653
3.3 Rangordnung unter den Rechtsnormen im öffentlichen Recht ................................................................... 653
4 Das Bundesverfassungsgericht als Hüter und Wächter des GG durch Urteil mit Gesetzesverwerfungskompetenz
und durch mahnende Existenz .............................................................................................................................. 657
5 Überprüfung von Urteilen durch das BVerfG hinsichtlich möglicher Grundrechtsverletzungen ...................... 660
5.1 Staatliche Macht beschränkende Funktion der Grundrechte ...................................................................... 660
5.2 »Bluttransfusionsfall« und die in Art. 4 I GG geregelte Glaubensfreiheit .................................................. 666
7
5.3 Glücksspiel Rechtsprechung ...................................................................................................................... 671
5.4 Grundrechtsabwägung bei Zielkonflikt zwischen gleichzeitig betroffenen, widerstreitenden gleichen oder
unterschiedlichen Grundrechten (Grundrechtskollision) .................................................................................. 672
5.5 Justizielle Grundrechte der Art. 101 bis 104 GG ....................................................................................... 683
5.6 Die Rechtsprechung des BVerfGs zur Kriegsdienstverweigerung aus individuellen Gewissensgründen (Art.
4 III GG) und zur Wehr- und Dienstpflicht (Art. 12 a GG) als Beispielsfälle für notwendige Abwägungen bei
widerstreitenden grundgesetzlichen Regelungen .............................................................................................. 686
6 Mahnende Existenz und Rechtsprechung des BVerfGs; Abgrenzung gegenüber den Aufgaben der Politik an
einem Beispielsfall ............................................................................................................................................... 713
7 In bewusster Abkehr von den Bestimmungen der Weimarer Verfassung getroffene staatsorganisatorische
Bestimmungen im Grundgesetz ............................................................................................................................ 717
7.1 "Grundgesetz" contra "Verfassung" ........................................................................................................... 718
7.2 Grundrechte vorrangig vor Gesetzen als jederzeit gerichtlich einklagbare Rechte .................................... 718
7.3 Grundrechte als Abwehrrechte ................................................................................................................... 720
7.4 Weiterentwicklung einiger Grundrechte von Abwehr- in Teilhaberechte .................................................. 721
7.5 Weiterentwicklung einiger Grundrechte von Abwehr- über Teilhabe- in Leistungsrechte......................... 721
7.6 Verfassungsgerichtsbarkeit zum Schutz der Grundrechte; Verwirkung von Grundrechten ........................ 722
7.7 »Parteienprivileg« mit »Parteienirrtumsprivileg«; Parteienverbotsmonopol beim BVerfG; Widerstandsrecht
......................................................................................................................................................................... 724
7.8 »Ewigkeitsgarantie« für ein »verfassungsfestes Minimum« ....................................................................... 732
7.9 Wahlsystem der Bundesrepublik ................................................................................................................ 732
7.10 Konstruktives Misstrauensvotum ............................................................................................................. 735
7.11 Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung.................................................................. 736
7.12 »Notstandsverfassung« statt Notverordnungen......................................................................................... 737
7.13 Föderaler Bundesstaat statt eines zentralistischen Einheitsstaates............................................................ 737
7.14 Abschaffung der Todesstrafe .................................................................................................................... 741
7.15 Äußerst eingeschränktes Selbstauflösungsrecht des Bundestages ............................................................ 742
7.16 Gerichtswesen .......................................................................................................................................... 743
7.17 Volksbegehren, Volksentscheid ............................................................................................................... 751
8 Reform-Ideen zur Umgestaltung unserer durch Verschmelzung in der EU und Globalisierungsherausforderungen
neuen Erfordernissen anzupassenden Verfassung ................................................................................................ 757
V. TEIL .................................................................................................................................................................... 758
DAS GESETZ ZUM SCHUTZ DER JUGEND IN DER ÖFFENTLICHKEIT (JÖSCHG) ALS BEISPIEL FÜR
DIE SCHWIERIGKEITEN KONKRETER GESETZESABFASSUNG, -ANWENDUNG UND MÖGLICHER VERBESSERUNG .............................................................................................................................................. 758
Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit (Artikel 1 des Gesetzes zur Neuregelung des Jugendschutzes in
der Öffentlichkeit) ........................................................................................................................................................ 766
Stand: Änderung durch Art. 16 Abs. 2 G v. 28.10.1994 I 3186 ................................................................................... 766
Jugendschutzgesetz (JuSchG) vom 23.Juli 2002 ...................................................................................................... 771
VI. TEIL................................................................................................................................................................... 784
TABELLARISCHER ÜBERBLICK ÜBER DIE WICHTIGSTEN RECHTLICHEN ENTWICKLUNGSSTUFEN
(RECHT UND LEBENSALTER)........................................................................................................................ 784
Index ............................................................................................................................................................................ 789
8
A BKÜRZUNGSVERZEICHNIS
a.F.
AG
ArbG
Art.
Az.
BAG
BGB
BGH
BGHSt
BVerfG
BVerfGE
BVerfGG
BVerwG
BWG
DLF
EheG
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EuGH
FR
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GVG
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i.V.m.
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KDV
LAG
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n.F.
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alter Fassung
Amtsgericht
Arbeitsgericht
Artikel
Aktenzeichen
Bundesarbeitsgericht
Bürgerliches Gesetzbuch
Bundesgerichtshof
Entscheidungssammlung des BGH in Strafsachen
Bundesverfassungsgericht
Entscheidungssammlung des BVerfGs
Bundesverfassungsgerichtsgesetz
Bundesverwaltungsgericht (auch BVG)
Bundeswahlgesetz
Deutschlandfunk
Ehegesetz
Embryonenschutzgesetz
Europäischer Gerichtshof
Frankfurter Rundschau
Grundgesetz
Gerichtsverfassungsgesetz
Hamburger Abendblatt
in Verbindung mit (Paragraph ...)
Jugendgerichtsgesetz
Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit
Kriegsdienstverweigerer
Landesarbeitsgericht
Landgericht
neuer Fassung
Neue Juristische Wochenschrift (verbreitetste juristische Fachzeitschrift)
Entscheidungssammlung des Obersten Gerichtshofes in Strafsachen für die brit. Zone
Oberlandesgericht
Oberverwaltungsgericht
Gesetz über Ordnungswidrigkeiten
Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen
Randnummer
Strafgesetzbuch
Strafgesetzbuch der DDR
Strafprozessordnung
Straßenverkehrsgesetz
Straßenverkehrsordnung
Süddeutsche Zeitung
Tierschutzgesetz
Transplantationsgesetz
Verwaltungsakt
Verfassung der DDR von 1974
Verwaltungsgericht
Verwaltungsverfahrensgesetz
Verordnung
Weimarer Verfassung
Ziffer
Zivilprozessordnung
9
E INFÜHRUNG
Viele Normalbürger und auch Juristen klagen über die Verrechtlichung des Lebens in einer immer komplizierter
werdenden industriellen Massengesellschaft, in der u.a. der Bereich des Rechts - zwangsläufig - immer weiter
ausufert: Es müssen immer mehr Problemfelder anders oder neu geregelt werden. Und die Juristen verteidigen
ihr Revier wie alte Silberrückengorillas, die denken, einem ihrer Weibchen gehe es ans oder - schlimmer noch ins Fell. Unternehmer klagen über die Flut immer neuer Reglementierungen, die sie davon abhielten, das zu tun,
was sie als ihren Lebenszweck ansehen: etwas zu unternehmen. Es ist nicht unbedingt die einzelne Verordnung,
von der sie sich gegängelt fühlen, obwohl das – wie z.B. im Fall der Pfandregelung auf Einweggetränkebehälter
– auch der Fall sein kann. Aber die Flut der Verordnungen - und in deren Gefolge der Formulare - ist es, was
bewirkt, dass sie sich wie Gulliver in Liliput fühlen. Sie fühlen sich von den Fangarmen der »Hydra bürocratica«
so umschlungen und gefesselt wie Gulliver, als die Zwerge ihn, den »Riesen«, mit vielen kleinen Tauen
gebunden hatten.
Aber wenn wieder einmal ein Umwelt- oder die Menschen und ihre Lebensgrundlagen sonst wie näher
berührender Skandal aufgedeckt wird, dann wird in diesem Zusammenhang nicht nur über so behauptet zu laxe
staatliche Kontrollen zur Durchsetzung von den Schutz der Bürger bezweckenden Eingriffsgesetzen, sondern
öfters auch darüber geklagt, dass die staatliche Lebensvorsorge in Form von die Bürger und ihre
Lebensgrundlagen schützenden Gesetzen offensichtlich nicht weit genug gehe. Auch aus einem legitimen
Sicherheitsbedürfnis heraus entsteht Nachfrage nach Bürokratie. Und damit die gesetzestreu arbeiten kann,
müssen die dazu erforderlichen Gesetze und Verordnungen erlassen werden.
Um notwendige staatliche Kontrollen vornehmen zu können, müssen zu einem großen Teil Lebensvorgänge erst
einmal erfasst und dokumentiert werden, um sie dann gegebenenfalls analysieren zu können, damit möglichen
Gefährdungen vorbeugende Gesetze und Verordnungen erlassen werden können: Gefahrenabwehr als ein
vorrangiges Ziel juristischer Regelungen als Eingriffsgrundlage für die Exekutive. Man muss wissen, was auf
welcher sachlichen Grundlage juristisch möglichst sinnvoll zu regeln ansteht, denn sonst wird die Gesetzgebung
zu einem Ritt auf einer Rasierklinge. Und so benötigt man von der Wiege bis zur Bahre: Formulare, Formulare!
Aber da wird bestimmt auch des Guten zu viel getan; das zeigen in manchen Bundesländern sehr erfolgreich
durchgeführte »Gesetzesentrümpelungsaktionen«, als deren Auswirkungen ein Drittel und mehr der
Landesgesetze und der auf ihnen gründenden Verordnungen ersatzlos gestrichen worden sind. Trotzdem gilt,
trotz sich immer wieder einstellender Resignation relativ unverdrossen weiterzumachen. Wir können aus dem
Regelungsgeflecht, das unser Leben gegen große Risiken absichernd mitgestaltet, nicht millionenfach
ausbrechen.
Aber Vorschriften sollten auf ihre Notwendigkeit hin durchforstet werden. So hat der saarländische
Ministerpräsident Müller seit seinem Regierungsantritt zwei Drittel aller saarländischen Vorschriften
abgeschafft! Müllers im Wortsinne fragwürdiges und nicht ganz unproblematisches Prinzip ist die Umkehr des
„Verbots mit Erlaubnisvorbehalt“ in eine „Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt“. Das kann aber nicht in allen
Bereichen funktionieren. Beim nächsten Umweltskandal wird der Schädiger vorbringen, dass sein Verhalten ja
nicht verboten gewesen war!
Und wenn die Leute sich nicht mit Formularen herumschlagen müssen, dann entdecken sie vielleicht andere
»Probleme«: 1999 klagten zwanzig ostdeutsche bildende Künstler, weil ihre Bilder in der Weimarer Ausstellung
»Aufstieg und Fall der Moderne« auf grauem Wandhintergrund aus Platzgründen dicht an dicht und übereinander
mit Hunderten anderer DDR-Werke gezeigt wurden. Durch die ihrer Meinung nach „herabsetzende Art der
Hängung“ der Bilder fühlten sie sich in ihrem „Urheberpersönlichkeitsrecht“ zutiefst verletzt und „diffamiert“. In
der ersten Instanz vor dem Landgericht Erfurt obsiegte eine Künstlerin in dem ersten dieserhalb entschiedenen
Verfahren wegen des auch nach Meinung des erstinstanzlichen Gerichts angeblich nicht mehr hinzunehmenden
Eingriffs durch die Ausstellungsleitung in ihr Urheberpersönlichkeitsrecht. Daraufhin legte die Kunstsammlung
Weimar Berufung bei dem Oberlandesgericht Jena ein, weil sie in dem Urteil nun ihrerseits einen unerlaubten
Eingriff in ihre Meinungsfreiheit und wohl auch ihr eigenes Urheberpersönlichkeitsrecht von
Ausstellungsmachern sah. Somit stand Künstler-Persönlichkeitsrecht gegen Aussteller-Persönlichkeitsrecht.
Hätte die erstinstanzliche Entscheidung Bestand gehabt, hätte sie katastrophale Auswirkungen für Galerien und
Museen nach sich gezogen, weil jeder (exaltierte, egomanisch-spinnerte) Künstler mit Hinweis auf sein von ihm
so gesehenes »Urheberpersönlichkeitsrecht« wohl so ziemlich jede Ausstellung nachträglich entwerten oder
vielleicht sogar kippen könnte. Was machen manche Menschen nicht alles, um ins Gerede zu kommen! Das
streichelt das nach Anerkennung lechzende, oft überspannte Ego und kann in der überdrehten Schicki-MickiKunstszene den Marktwert der eigenen Produktion immens erhöhen! Das ist einem Künstler dann schon einmal
eine gerichtliche Auseinandersetzung wert. So klagte z.B. (der damals aber schon bekannte) Beuys, weil eine
10
Reinmachefrau, mit nur »natürlichem« und zu wenig beuysschem Kunstverständnis geschlagen, dafür aber mit
ausgeprägtem natürlichem Reinigungsbedürfnis gesegnet, in einem Museum das von ihm auf einem
Badewannenrand platzierte halbe Pfund Butter weggeworfen hatte, nachdem es ranzig geworden war. Streitwert:
ein sechsstelliger Betrag wegen der Zerstörung seines ausgestellten »Kunstwerkes« »Badewanne mit Butter(?)« –
anstatt, wenn es denn sein musste, durch die Museumsleitung einfach ein neues Paket hinlegen zu lassen. Das sei
nicht mehr sein »Kunstwerk«. Darüber hatte dann das von Beuys angerufene Gericht zu entscheiden – und
schmetterte den von ihm erhobenen spinnerten Schadensersatzanspruch ab. Wir sind ja schließlich nicht in den
USA mit seinen teilweise mit dem gesunden Menschenverstand nicht nachvollziehbaren Gerichtsentscheidungen
– ohne dass ich damit allen in Deutschland gefällten Gerichtsentscheidungen Nachvollziehbarkeit attestieren
möchte: davon bin ich sehr weit entfernt; aber es scheint in Deutschland mit mehr gesundem Menschenverstand
geurteilt zu werden, als in den USA. In Deutschland werden nicht so viele hanebüchene »Ausreißer«
insbesondere in Schmerzensgeldprozessen produziert, die dann die Presse beschäftigen: Ein eiliger Autofahrer
hatte sich bei einem Drive-in-Imbiss einen Becher mit heißem Kaffee gekauft, sich zwischen die Beine geklemmt
und war dann losgefahren. Als er bremsen musste, schwappte heißer Kaffe auf eine seiner empfindlichsten
Körperregionen, wofür er über eine Million Dollar Schmerzensgeld erhalten hat! Auswirkung der in diesem
Punkt nicht mehr nachvollziehbaren us-amerikanischen Rechtsprechung sind die ausufernden blödsinnig
anmutenden Warnhinweise auf Produkten, mit denen die Hersteller ihr unwägbar gewordenes Haftungsrisiko zu
minimieren trachten.
Letztlich wird in solchen Prozessen wie dem der in dem Museeum »falsch« aufgehägten Bilder, in denen sich
von jeder Prozesspartei als verletzt behauptete gleichlautende Persönlichkeitsrechte sich gegenseitig
ausschließend gegenüberstehen, eventuell das Bundesverfassungsgericht entscheiden müssen, was »für Recht
erkannt« werden soll, weil sich jede Seite auf ihr vom Grundgesetz garantiertes gleichlautendes Grundrecht
berufen wird, wie sie es nun einmal von persönlichem Interesse geleitet - anders als die Gegenpartei - versteht.
Der Normalbürger steht dem Bereich des Rechts völlig überfordert gegenüber. Und der Bereich des Rechts
überfordert nicht nur Herrn Otto Normalverbraucher oder seine Freundin Frau Lieschen Müller, sondern auch die
Juristen – einschließlich der Richter, obwohl »das Gericht das Gesetz zu kennen hat«. Auch den Juristen geht es
wie z.B. den Ingenieuren oder den Medizinern: Jeder versucht, über (s)einen Teilbereich möglichst weitgehend
informiert zu bleiben, aber einen Überblick über den gesamten Bereich kann keiner mehr erreichen.
„Durch unser Wissen unterscheiden wir uns nur wenig, in unserer grenzenlosen Unwissenheit aber
sind wir alle gleich.“ (Karl Popper)
Das ist bei rund 2197 bundesdeutschen Gesetzen, 3131 Verordnungen mit mehr als 86.500 in Paragraphen oder
Artikel gefassten Einzelbestimmungen, die unser Zusammenleben regeln und oft auch noch geändert werden, gar
nicht mehr möglich!1 Der Deutsche Bundestag erließ in der 12. Wahlperiode 507 Gesetzesbeschlüsse
(Änderungen bestehender oder Schaffung neuer Gesetze), in der 13. Wahlperiode 565 und in der 14.
Wahlperiode 558! Hinzu kommen die vielen Verordnungen aus »Berlin« und die von der EU vorgegebenen, die
in Berlin dann in nationales Recht umgesetzt werden müssen.
Und selbst im »eigenen« Bereich, den zu überblicken man sich müht, sind Fehlbeurteilungen nicht nur möglich,
sondern auch gang und gäbe - auch von Gerichten! Der Rechtsstreit um die Einführung der zum 01.08.98
endgültig in Kraft getretenen Rechtschreibreform mit seinen divergierenden Entscheidungen lieferte ein
bundesweit beachtetes Beispiel.
Wie jeder andere Staatsbürger erfahren auch Juristen im Bereich des Rechts die Unvollkommenheit
menschlichen Bemühens! Das gilt sogar für unser oberstes Gericht: Ende 1997 entschied der Erste Senat des
BVerfGs, dass Mediziner schadenersatzpflichtig seien, wenn auf Grund eines Behandlungsfehlers bei einer
Sterilisation eine ungewollte Schwangerschaft entstehe oder auf Grund einer falschen genetischen Beratung ein
missgebildetes Kind zur Welt komme. Zusätzlich zu den von den Ärzten oder ihren Versicherungen zu tragenden
Unterhaltskosten wurde den Eltern ein eigener Schmerzensgeldanspruch zugestanden. Das empörte den Zweiten
Senat, der 1993 bei der von ihm vorgenommenen Überprüfung der damals mittels eines
Normenkontrollverfahrens angegriffenen Abtreibungsregelung außer den »ratio decidendi« (den eine
Entscheidung tragenden Gründen, ohne die eine Entscheidung nicht hinreichend schlüssig begründet wäre) in
1
Die Zahlen gehen - wohl je nach juristischer Vorbildung des jeweiligen Journalisten oder seines Informanten oder dessen
Quellenlage - fast beliebig auseinander, teilweise wird von „rund 100.000 deutschen Gesetze und Verordnungen“
gesprochen. Vielleicht hat das Statistische Bundesamt einen mengenmäßigen Überblick.
11
einem »obiter dictum« ganz nebenbei in einem eigentlich gar nicht zur Sache gehörenden Statement außerhalb
seines Zuständigkeitsbereiches hatte verlauten lassen, dass ein Kind niemals als ein »Schaden«, sondern immer
als ein Gottesgeschenk anzusehen sei. Der Erste Senat hatte dieses damalige »obiter dictum« des Zweiten Senats
wohl als einen Eingriff in seinen eigenen Kompetenzbereich empfunden und ihn nun 1997 bei nächstpassender
Gelegenheit - in einem bisher einmaligen Vorgang(!) - zurückgewiesen. Solch eine juristische Ohrfeige schmerzt;
insbesondere dann, wenn man selber Verfassungsrichter ist und in seinem eigenen Zuständigkeitsbereich bei
(teils behauptetem) Vorliegen der dafür erforderlichen Voraussetzungen die gesamte Gesetzgebung unseres
Landes, alle Urteile aller anderen Gerichte und jegliches Verwaltungshandeln »mit (mehr als) einem Federstrich«
kippen kann. Da hatte der aufjaulende Senat das Bewusstsein für seine eigenen, ihm vom Gesetzgeber gesetzten
(Zuständigkeits-)Grenzen verloren, denn sonst hätte er sich nicht über den Spruch der Kollegen öffentlich, aber
machtlos empört – und so seine ungedeckte Flanke geöffnet. Manche als solche empfundene Kränkung muss man
im Leben ohne lautes Klagen hinnehmen können. Das gehört zu den psychischen Wachstumsschmerzen.
Auf Grund ihres Fachstudiums können sich Juristen aber natürlich besser in rechtliche Sachverhalte
hineinarbeiten und dort mitdenken, aber adäquat lösen können sie sie auch längst nicht immer! Als Beispiel sei
erinnernd auf die Berliner Justizposse verwiesen, der zufolge der Prozess gegen Honecker - eine der wenigen von
Gerichten zugelassenen, von der PDS als „Siegerjustiz“ diffamierten Anklagen als Ergebnis ungefähr 13.000
eingeleiteter Ermittlungsverfahren - mit Rücksicht auf seine bei weiterer Inhaftierung durch "Leberkrebs im
letzten Stadium" gesundheitlich gefährdete Menschenwürde - die er den seiner Parteidiktatur Unterworfenen stets
verweigert hatte - vorzeitig beendet, Honecker aus der Haft ent- und mit einem Pass nach Chile gelassen wurde,
und ihm hinterher ein Bote des Gerichts mit einer neuerlichen Ladung zu einem erneuten Verhandlungstermin in
Berlin nach Chile nachgeschickt wurde. Er solle doch bitte erneut noch ein paar weitere Verhandlungstage auf
der ihm nun schon vertrauten Anklagebank Platz nehmen, um das Verfahren mit einem Urteil statt des erlassenen
Beschlusses beenden zu können. Und es wurde die rechtliche Belehrung oder Drohung ausgesprochen, dass
notfalls auch ohne ihn verhandelt würde! Bei seiner von zwei deutschen Gutachtern angenommenen angeblich
geringen Belastbarkeit und Lebenserwartung von nur noch wenigen Monaten, die dann aber von chilenischen
Ärzten gleich nach seiner Ankunft anders beurteilt wurde ("Der Gesundheitszustand ist ernst, aber nicht
lebensbedrohlich, der Leberkrebs ist nicht im letzten Stadium."; Honecker lebte noch 16 Monate), wird er sich
das letzte Jahr seines Lebens vielleicht über das Ansinnen der Berliner Richter totgelacht haben!
Übrigens: Chile scheint für Diktatoren ein hervorragendes Heilklima zu haben, denn der in Großbritannien nur
noch im Rollstuhl bewegte, nach Befund britischer Ärzte völlig gebrechliche, demente und deswegen aus
humanitär-rechtlichen Gründen wegen seiner zu großen Gebrechen aus britischer »Auslieferungsverwahrung«
entlassene Ex-Diktator Pinochet konnte gleich nach seiner Heimkehr nach Chile sofort wieder auf seinen eigenen
Füßen gehen und die Front der angetretenen Ehrenkompanie abschreiten!
Aber wie sollten Richter ohne - ausreichende - eigene Sachkenntnis über medizinische Detailfragen urteilen
können? Das kann ihnen niemand vorwerfen, denn da sind sie auf das Untersuchungsergebnis hoffentlich
sachverständiger Gutachter angewiesen.
Doch zurück zu den sowieso bestehenden, gerade angesprochenen Schwierigkeiten der Juristen mit der Juristerei:
Noch schlimmer kann es werden, wenn Richter ihren Paragraphen-Dschungel verlassen und außerhalb der reinen
Paragraphenanwendung Angeklagte beurteilen. Ein schon mehr als unappetitliches, abschreckend
verdeutlichendes Beispiel: Die »Fast-Seligsprechung« eines früheren NPD-Vorsitzenden durch Richter einer
Mannheimer Strafkammer in der Urteilsbegründung zu einem wegen der »Auschwitz-Lüge« angestrengten
Verfahren.
Bei dieser grundsätzlichen Schwierigkeit der Materie des Rechts nützt es darum auch längst nicht immer etwas,
mit einem Rechtsanwalt, Richter, Staatsanwalt, Verwaltungs- oder in der Privatwirtschaft tätigen Juristen
verheiratet zu sein, aber in manchen Situationen hilft es, einen Juristen oder eine Juristin geheiratet zu haben.
Doch wegen des Numerus-clausus auch in diesem Studienfach lässt sich die Lebensplanung nicht verlässlich
darauf einstellen. Was bleibt, ist daher, sich selber ein bisschen um ein Anfangsverständnis gegenüber dem
Bereich des Rechts zu mühen. Dabei zu helfen - und sicher auch manchmal subjektiv gefärbte Führung zu geben
-, ist das Anliegen dieses Buches. Vielleicht machen Sie dann ja auch eine Entdeckung, die der Jurist Goethe an
sich selber festgestellt hat: „Es ist mit der Jurisprudenz wie mit dem Bier: das erste Mal schaudert man, doch hat
man’s einmal getrunken, kann man’s nicht mehr lassen.“ Mir geht es mit dem Strafrecht so, obwohl ich schon
lange wieder in meinen ursprünglichen Beruf als Lehrer zurückgekehrt bin.
Wer nicht auf Grund seiner Ausbildung einen gewissen erleichternden Zugang zu dem Bereich des Rechts
gefunden hat, der steht dieser Materie zunächst völlig hilflos gegenüber. Seine eigene Hilflosigkeit erfährt man
12
als Nicht-Jurist sehr schmerzhaft, wenn es einmal »darauf ankommt«, und man nicht weiß, wie man sich in einer
konkreten Situation am geschicktesten verhalten sollte, ohne später Rechtsnachteile zu erleiden. Noch
schmerzhafter ist es, wenn es schon darauf angekommen war, und der Richter einem hinterher erklärt, wie man
sich - seiner Meinung nach - anders hätte verhalten müssen, um sein angestrebtes Ziel ohne den nun
eingetretenen rechtlichen Nachteil zu erreichen.
In der nächsten Instanz erzählen einem deren Richter dann vielleicht etwas ganz anderes! „Auf See und vor
Gericht ist man nur noch in Gottes Hand!“ Das habe auch ich als Rechtsanwalt in eigener Sache in einem für
mich existenziellen Rechtsfall am eigenen Leibe schmerzlichst erfahren. Ich weiß deshalb ganz genau, wovon ich
rede! Wenn Sie kein Geld mehr haben, einen langjährigen Rechtsstreit finanziell durchzustehen, dann rettet Sie
auch nicht Ihre (vielleicht nur eingebildete) überlegene Rechtskenntnis vor den Folgen, die Ihnen die Richter der
Unterinstanz zumuten. Darum kann eine Rechtsschutzversicherung (= Rechtsverfolgungskostenversicherung) so
hilfreich sein wie eine private Haftpflichtversicherung, auf deren Abschluss auch keiner verzichten sollte.
Um dem juristisch unverbildeten Laien einen Blick über die Mauern der Paragraphen hinweg in den Irrgarten des
Rechts - in dem man sich nicht nur verirren, sondern manchmal sogar an seinem gesunden Menschenverstand irre
werden kann - zu ermöglichen, soll ihm mit diesem Buch eine Leiter gereicht werden. Dabei wird nur ein kurzer
Blick in den Irrgarten des Rechts angestrebt. Es wäre ein völliges Missverständnis, wenn der Leser hoffte, nach
der Lektüre dieses Buches ohne weiteren sachkundigen Rat gegen die Fallstricke des Rechts hinreichend
gewappnet und in der Lage zu sein, das Skalpell »Recht« in den ihn bedrängenden Fällen hinreichend sicher
benutzen zu können!
Erreicht werden soll aber auf jeden Fall - durch einen interdisziplinären Ansatz mit Rückgriff auf Geschichte,
Politik und Recht - die Vermittlung eines Gespürs dafür, dass »Recht und Gesetz« nicht - wie man früher oft
glaubte oder die Leute Glauben machte - gottgegeben vom Himmel gefallen sind; dass sie grundsätzlich zwar
befolgt werden müssen, so lange sie gültig sind, dass sie aber in einer Demokratie trotzdem nicht gottergeben
hingenommen werden müssen, sondern bei nicht sachgerechter Regelung eines Lebenssachverhaltes durch zu
organisierende Mehrheitsentscheidung des jeweiligen Gesetzgebungsorgans auch geändert werden können. Es
soll ein Gefühl dafür geweckt werden zu erahnen, was »Recht und Gesetz« für ein Gemeinwesen bedeuten und zu
leisten vermögen.
Damit soll auch der sich möglicherweise einstellenden Ehrfurcht vor dem den Einzelnen und seine Gelüste
bezwingenden »Recht« und dessen Durchsetzung bezweckenden (gerade geltenden!) Gesetzen vorgebeugt
werden: Was in einer Gesellschaft unter »Recht« und mehr noch unter einem von seiner (angeblichen) Intention
her Rechtsfrieden stiftenden »Gesetz« verstanden wird, ist oft interessengebunden. »Recht« und »Gesetz« sind
beileibe nichts »Heiliges«! Zum Beweis nur zwei Aussprüche: „Recht ist, was der proletarischen Klasse nützt“
(Lenin) und „Das Recht und der Wille des Führers sind eins“ (Göring). Und selbst die als höchstes
anzustrebendes gesellschaftliches Ziel vielbeschworene »Gerechtigkeit« ist auch von unterschiedlichen
Vorverständnissen abhängig und keine allerorts geltende verlässliche Elle! Wie schon früher vor der Einführung
des Meters allein in Deutschland die Elle als Maßsystem unterschiedlichste Ausprägungsformen kannte, so ist
auch heutzutage die Elle der Gerechtigkeit, an der alles gemessen werden soll, und erst recht die des Rechts, in
der Welt sehr unterschiedlich definiert.
Als endlich 2004 im Rahmen der Agenda 2010 zur Rettung unserer angeknacksten sozialen Sicherungssysteme
die ersten behutsamen Einschnitte in den nur noch verbliebenen »Rest-Kuchen« vorgenommen wurden,
begehrten die Betroffenen auf: es sei ihrer Meinung nach bei der Neuverteilung der zu tragenden Lasten nicht
sozial »gerecht« zugegangen. Abgenötigter sozialer Verzicht wird - menschlich durchaus verständlich - meistens
als »ungerecht« empfunden. Und Forderungen nach mehr »Gerechtigkeit« dienen oft dazu, Eigeninteressen
moralisch zu überhöhen.
Wenn Gerechtigkeitstheoretiker in akademischen Gedankenspielen fordern, der auszuhandelnde
Gesellschaftsvertrag sollte von Leuten gemacht werden, die nicht wissen, ob sie unter diesem Vertrag als Reiche
oder Arme, Starke oder Schwache leben müssen, dann ist das eine illusionistische Glasperlenspielerei, denn jeder
ist in unsere Gesellschaft irgendwie eingebunden, und wenn er an verantwortlicher Stelle ein Gesetz schafft, dann
hat er zu wissen, was die Folgen seines Tuns sein werden, dann weiß er genau, wo er seinen Platz in dem
Koordinatensystem hat, ob er »stark« oder »schwach« ist.
Im Zusammenhang der Hartz-IV-Auseinandersetzung druckte der STERN (01.04.04) Antworten auf die
Umfrage, was sozial »gerecht« sei. Die Antworten von Parteiführern, Kirchen und Verbänden waren vielfältig:
Der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering definierte »soziale Gerechtigkeit« mit den Worten:
13
„Zur sozialen Gerechtigkeit gehört Chancengleichheit. Vor allem gleiche Bildungschancen für alle.
Auch gleiche Berufschancen für Frauen und Männer. Verteilungsgerechtigkeit gehört dazu; sie muss
Leistungswilligkeit berücksichtigen, aber auch Leistungsfähigkeit. Die Stärkeren müssen mehr leisten
als die Schwächeren. Und gerecht ist Politik nur, wenn sie auch für morgen gut ist, die
Verantwortung für die kommende Zeit ernst nimmt. Ohne Freiheit und Solidarität ist Gerechtigkeit
unvollkommen. Deshalb bestimmen diese drei Grundwerte unsere Politik.“
Der Parteichef der Grünen, Reinhard Bütikofer, sekundierte:
„Gerechtigkeit meint Parteinahme für die Schwächsten. Sie will mehr als Verteilungsgerechtigkeit. Es
geht darum, den Menschen zu ermöglichen, ihr eigenes Leben zu leben. Gerechtigkeit zielt auf
Teilhabe für alle an Arbeit und Bildung. Generationengerechtigkeit soll das Verhältnis von Alt und
Jung bestimmen. Gerechtigkeit fordert, die ökologischen Probleme zu lösen, um Lebensbedingungen
und Lebensqualität zu sichern. Gerechtigkeit verlangt, die Globalisierung fairer zu gestalten und die
Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann durchzusetzen.“
Als Vorsitzende der größten Oppositionspartei gab die CDU-Vorsitzende Angelika Merkel ihre Sicht sozialer
Gerechtigkeit zu Protokoll:
„Sozial gerecht ist, was Menschen befähigt, für sich selbst sorgen zu können, und dort zum Ausgleich
verpflichtet, wo diese Fähigkeit unzureichend ist. Viele Menschen haben heute das Gefühl, dass diese
Grundsätze aus den Fugen geraten sind. Es fehlt an verlässlicher Politik, die dem Einzelnen deutlich
macht, dass seine Leistung und die Gegenleistung des Staates in einem gesunden Verhältnis stehen.
Wir brauchen einen klaren Vertrag: Wohlstand und Sicherheit für Leistung und
Veränderungsbereitschaft.“
Der sich mit ihr in der Opposition befindende Parteivorsitzende der FDP definierte aus seiner Sicht als
Wirtschaftsliberaler soziale Gerechtigkeit mit den Worten:
„Sozial gerecht ist, wenn sich Politik vor dem Verteilen um das Erwirtschaften kümmert. Eine
Neidkultur, die Fleiß und Anstrengung bestraft, ist sozial ungerecht, denn sie treibt eine Gesellschaft
in die kollektive Pleite. Sozial gerecht ist eine Anerkennungskultur, die Leistung befördert und
belohnt, damit den Schwächeren geholfen werden kann. Sozial gerecht ist Hilfe für die sozial
Bedürftigen, nicht die Findigen, denn es gibt kein Recht auf staatlich bezahlte Faulheit. Wir sitzen
alle in einem Boot, aber einige müssen auch rudern, sonst kann man niemals soziale Gerechtigkeit in
Deutschland finanzieren.“
Der Vorsitzende der größten Gewerkschaft der Welt, der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske, erklärte sichtlich um
Volkstümlichkeit bemüht:
„Die 70-jährige Oma wird nicht den schweren Koffer schleppen müssen, wenn sie mit ihrer Familie
in den Urlaub fährt. Das Tragen übernimmt der Enkel, während sich die Oma um die Wegzehrung für
alle kümmert. Das heißt: Jeder übernimmt die Leistung, die seinen oder ihren Kräften und
Fähigkeiten entspricht. Ich verstehe unter sozialer Gerechtigkeit: Alle leisten ihren Beitrag
entsprechend ihren Möglichkeiten, soziale Risiken, die uns alle jederzeit treffen können, werden
abgefedert. Dann funktioniert das Ganze, im Großen wie im Kleinen.“
Sein verbandspolitischer Gegenspieler, der Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, steuerte den folgenden
Diskussionsbeitrag bei:
„Gerechtigkeit bedeutet für mich die Gleichheit aller Menschen in ihrer Würde und Freiheit sowie
vor dem Gesetz. Sozial gerecht ist es, allen Menschen gleichermaßen die Teilhabe an Staat,
Gesellschaft und Wirtschaft zu ermöglichen. Dazu gehört untrennbar, sie auch für ihr Handeln in die
Pflicht zu nehmen: Eigenverantwortung und Solidarität mit den Schwachen sind die zwei Seiten
derselben Medaille. Sozial gerecht ist, mehr Arbeitsplätze zu schaffen und nachhaltig für
Generationengerechtigkeit in der Sozialpolitik zu sorgen.“
Das Mitglied des Attac-Koordinierungskreises Sven Giegold stellte als seine - teilweise stark idealistische - Sicht
14
heraus:
„Sozial gerecht ist, wenn alle Menschen gleiche soziale Rechte, gleiche Chancen und einen
angemessenen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum bekommen. Jeder Mensch hat ein Recht auf
Nahrung, Wohnung, Gesundheit, sauberes Wasser, Bildung, eine intakte Umwelt sowie ein
Einkommen, das die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglicht. Soziale Gerechtigkeit ist in
Deutschland sowie zwischen den reichen und den armen Ländern massiv verletzt. Jede Politik, die
soziale Ungerechtigkeit verstärkt, erfordert unseren Widerstand.“
Eine krasse Gegenposition nahm der verstorbene, gleichwohl zitierte liberale Ökonom Friedrich August Hayek
ein:
„Womit wir im Falle der ‚sozialen Gerechtigkeit’ zu tun haben, ist einfach ein quasi religiöser
Aberglaube von der Art, dass wir ihn respektvoll in Frieden lassen sollten, solange er lediglich seine
Anhänger glücklich macht, den wir aber bekämpfen müssen, wenn er zum Vorwand wird, gegen
Menschen Zwang auszuüben.“
Der PDS-Vorsitzende Lothar Bisky definierte ohne jede klassenkämpferische Attitüde:
„Soziale Gerechtigkeit ist modern. Sie ist das Gerüst der Demokratie. Armut macht es morsch.
Gleiche Bildungschancen, Gesundheitsversorgung nicht nach dem Geldbeutel, Zugang zur Kultur für
jedermann,
menschenwürdige
Alterssicherung,
existenzsichernde
Arbeit
ermöglichen
gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft. Damit das geht, müssen starke Schultern mehr tragen
als schwache. Soziale Wohlfahrt ist auch das einzige Mittel, um den internationalen Terrorismus
weltweit dauerhaft den Boden zu entziehen.“
Für die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) definierte ihr Ratsvorsitzender Bischof Wolfgang Huber:
„Wie gerecht eine Gesellschaft ist, kann man daran sehen, wie sie mit ihren Schwächsten umgeht. Es
zeigt sich ebenso daran, wie sie für die nächsten Generationen Sorge trägt. Denn alle Menschen sind
Gottes Kinder – mit gleicher Würde und mit gleichen Rechten. Weil nach uns nicht die Sintflut
kommt, müssen wir zukunftsfest handeln und fair mit dem umgehen, was uns anvertraut ist. Die
Weitergabe des Lebens, die Freude am Aufwachsen von Kindern, die Förderung von Familien und
Geschlechtergerechtigkeit sind hohe Güter. Sie sollten nicht vergessen werden, wenn es um die
Gestaltung einer gerechten Gesellschaft geht.“
Beschlossen wurden die vorstehend teilweise widergegebenen Stellungnahmen mit der Sicht des Vorsitzenden
der Deutschen Bischofskonferenz Kardinal Karl Lehmann:
„Soziale Gerechtigkeit ist nichts Statisches. Eine Gesellschaft muss sich vielmehr immer wieder
vergewissern, was hier und jetzt gerecht ist. Grundsätzlich gilt: Sozial gerecht ist ein Gemeinwesen,
wenn es allen Bürgerinnen und Bürgern hilft beziehungsweise ermöglicht, durch eigenes Handeln ihr
Wohl zu erreichen. Sozial gerecht handeln Menschen, wenn sie bereit sind, in das Gemeinwesen all
das einzubringen, was um des Gemeinwohls willen notwendig ist, ob es gesetzlich vorgeschrieben ist
oder darüber hinaus geht.“
In der zuletzt zitierten Stellungnahme kommt schon zum Ausdruck: In jeder Gesellschaft ist das System von
Recht und Gesetz ein lebender Organismus, der - wie es lebenden Organismen eigen ist - ständigen
Veränderungen unterworfen ist. Dieser Organismus muss laufend der Lebenswirklichkeit angepasst werden, um
nicht irgendwann als drückendes Unrecht empfunden zu werden. Das gilt nicht nur für offene demokratischdynamische, sondern auch für konservativ-restaurativ ausgerichtete, dann oft ideologisch oder theokratisch
geprägte Gesellschaften.
Um diese kritische Sichtweise auf das gerade geltende Recht und die jeweiligen Gesetze als oft durchaus
fragwürdige rechtliche Regelungen deutlich zu machen, werden in diesem Buch an manchen Stellen alte
Schlachten nachgezeichnet, auch wenn die Entwicklung von Recht und Gesetz inzwischen darüber
hinweggegangen ist:
15
o
o
o
Wer würde z.B. heute noch das Zusammenschlafen von Verlobten als strafwürdiges Kriminalunrecht
ansehen und die Eltern, in deren Wohnung das geschieht, wegen Kuppelei bestrafen? Aber das war der
Stand der Rechtsprechung in den frühen Jahren der Bundesrepublik.
1969 hatte Touropa in Rheinland-Pfalz ein Gerichtsverfahren wegen Verbreitung pornographischer Schriften
zu bestehen, weil diese Firma es als erste gewagt hatte, einen - nur unter dem Verkaufstresen
weitergereichten - bebilderten Katalog über FKK-Reisen bereithalten zu lassen.
Wer würde heute noch durch ein Gesetz erzwingen wollen, dass eine Frau mit ihrer Heirat zwangsweise auf
ihren bisherigen Namen verzichten müsste? (Anfang des 20. Jahrhunderts unterfiel sogar ihr Privatvermögen
durch den Akt der Eheschließung automatisch der Zwangsverwaltung des ihr nun vorangestellten
Ehemannes!) Wieso galt die bei uns bis noch vor kurzem allein zulässige und wegen (schließlich
erfolgreicher) Änderungsbestrebungen lange Jahre heftig umkämpfte Ehenamensgebungsregelung in vielen
Ländern Europas schon lange nicht mehr, ohne dass dort das gesellschaftliche System kollabierte, was von
Reformgegnern bei uns als Folge einer diesbezüglichen gesetzlichen Regelung als Schreckgespenst an die
Wand gemalt worden war? Bei uns wurde von konservativster Seite trotz des seit dem 23.05.49 mit all
seinen anderen Bestimmungen geltenden Artikels 3 Grundgesetz: „Männer und Frauen sind
gleichberechtigt. Niemand darf wegen seines Geschlechtes ... benachteiligt oder bevorzugt werden“, noch
Jahrzehnte verbissen an der alten, die heiratenden Frauen benachteiligenden und somit dem Gleichheitssatz
widersprechenden Regelung festgehalten! Es wurde fast der Untergang des Abendlandes beschworen, wenn
unser Ehenamensrecht geändert würde! Und dann wurde es - in mehreren klitzekleinen einzelnen Schritten –
doch geändert. Der erste Schritt bestand darin, dass heiratende Frauen zwar weiterhin unverzichtbar den
Namen des Ehemannes anzunehmen hatten, zusätzlich aber, dem etwas geläuterten neuen Rechtsgefühl der
Männer entsprechend, ihren Geburtsnamen als Appendix daran anhängen und so einen Teil ihrer bis dahin
eigenständigen und oft sogar im Vergleich zu der des Mannes erfolgreicheren Biographie retten durften.
Doch warum musste der Name des Ehemannes dem der Ehefrau vorangestellt sein. Woher das Recht zu der
Macho-Dominanz? Darum wurde als nächster Schritt gesetzlich die Möglichkeit eröffnet, dass eine
heiratende Frau zwar immer noch den Namen des Mannes anzunehmen hätte, dem aber ihren bisherigen
Namen voranstellen dürfe. Inzwischen dürfen die Eheschließenden nicht nur wählen, welchen der beiden
Geburtsnamen sie als Ehenamen führen wollen, sondern sogar, ob sie einen der beiden Geburtsnamen als
gemeinsamen Ehenamen wählen oder weiterhin so heißen wollen, wie sie bisher in ihrem sozialen Umfeld
oder sonst wie einem größeren Kreis mehr oder weniger bekannt waren.
Und der deutsche Teil des christlichen Abendlandes steht immer noch!
Nur durch das Bewusstmachen der Relativität von dem, was sich oft hinter der Floskel von »Recht und Gesetz«
verbirgt, nur wenn man sich auch die Geschichtlichkeit von »Recht und Gesetz« in ihren sozialen Bezügen und
das Fundament des Rechts letztlich in der Religion vergegenwärtigt, erhält man die geistige Freiheit, diesen
Problemkreis (je nach Sachlage ständig) zu hinterfragen und zeit- und damit sachgerechte(re) Lösungen für
Probleme des Zusammenlebens in einer Gesellschaft zu erarbeiten.
Dazu sind wir als Staatsbürger alle aufgerufen. Wir müssen uns manchmal rechtzeitig empören können! Das
Aufkommen des Nationalsozialismus hätte sich vielleicht verhindern lassen, wenn die Menschen sich in Massen
gegen dessen durch ungerechte Gesetze verfolgte Ziele empört hätten, als noch gefahrlos Zeit dazu da war. Die
von der »Heldenstadt Leipzig« ausgegangene, in den Montagsdemonstrationen zu Zehntausenden und damit für
den Einzelnen gefahrloser öffentlich geäußerte Empörung brachte ja auch die rote Diktatur des Arbeiter- und
Bauernstaates zum Einsturz!
Ein solches Engagement verlangt aber - neben Zivilcourage - auch ein etwas fundiertes Problembewusstsein und
nicht nur ein dumpfes Unmutsgefühl im Oberbauch. Darum müssen wir uns um Fragen von Recht und Gesetz
kümmern - was zur Voraussetzung hat, dass wir zumindest ein Gefühl für diesen Aspekt des gesellschaftlichen
Zusammenlebens entwickeln. An dieser Elle müssen wir dann die uns durch die Massenmedien ins Haus
gebrachten Tagesmeldungen über Regierungshandeln messen - und eventuell aktiv werden.
Wenn man dem zuzustimmen vermag, dann ist dieses Buch sogar ein Stück praktische Lebenshilfe.
Darum wurde dieses Buch bewusst um viele seit mehr als zwei Jahrzehnten hauptsächlich an den Schwerpunkten
der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung orientiert gesammelte Zeitungsmeldungen herum aufgebaut,
die in ihrem rechtlichen Zusammenhang betrachtet werden: Gleichberechtigung, Freiheit der Person in ihren
verschiedensten Facetten bis hin zur bedarfsmäßig neu geschaffenen informationellen Selbstbestimmung und der
Versammlungs- und Pressefreiheit als Wesenselemente eines freiheitlichen Staates. Die Demonstrationsfreiheit
als Teil der Versammlungsfreiheit, die „Pressefreiheit des kleinen Mannes“, ist dabei größeren Gefahren der
Einschränkung durch die Exekutive ausgesetzt als die in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nur
einmal ernsthaft in Frage gestellte Pressefreiheit, als der CSU-Verteidigungsminister Strauß SPIEGEL-Redakteure wegen eines regierungskritischen Artikels über die Bundeswehr – „Bedingt abwehrbereit“ – wegen
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angeblichen Geheimnisverrats durch bei Gerichten erwirkte Haftbefehle vorübergehend einsperren ließ, wobei
auch das Franco-Regime eingeschaltet wurde, um einen in Spanien urlaubenden SPIEGEL-Redakteur dort für die
beantragte Auslieferung festsetzen zu lassen.
Aber Demonstrationen werden ständig mit einschränkenden Auflagen versehen; schon alleine, um die
Kampfhähne bei den Demonstranten und den Gegendemonstranten auseinander zu halten, damit die sich nicht
gegenseitig an die Gurgel gehen können, was manche von ihnen am liebsten täten: „Kein Mord fürs freie Wort!“
Manche Demonstrationen würde die Exekutive am liebsten an die Stadtränder verbannen, um sie dort
wirkungslos verpuffen lassen zu können. Aber dann fallen die Gerichte den Polizeibehörden in die Arme: das in
Art. 8 Grundgesetz (GG) gewährte Recht der Versammlungsfreiheit als Möglichkeit der kollektiven
Meinungskundgabe
(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen
zu versammeln.
(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines
Gesetzes beschränkt werden.
sei so konstitutiv für eine Demokratie, dass auch den Schmuddelkindern der Demokratie die Gelegenheit
gegeben werden müsse, durch das Erregen von Aufsehen (und Ärgernis) auf ihr Anliegen aufmerksam machen zu
können, wenn sie sich denn (relativ) friedlich und nicht offensichtlich mit Waffen versammeln.
Die vorstehend zitierte Formulierung des Art. 8 GG gibt Anlass, schon gleich zu Anfang des Buches auf einen
Teilaspekt der Technik juristischen Arbeitens aufmerksam zu machen. Die besteht nämlich u.a. auch im Bilden
von Rückschlüssen, die zur Begründung juristischer Argumentationen gebildet werden, wenn der Wortlaut eines
Gesetzes, einer Verordnung oder Satzung nicht an jeder Stelle zweifelsfrei formuliert ist. Dann kommen oft
nichtjuristische »Freunde des gespaltenen Haares«, wollen etwas für sich herausschlagen und die Richter,
ebenfalls oft und gerne dem gleichen Freundeskreis angehörig, versuchen, ihnen zu weit gehende
Gesetzesauslegungen zu unterbinden. Das kann sich bis zum Bundesverfassungsgericht (BVerfG) durch viele
Instanzen ziehen, weil sich Richter auch sehr gerne Argumente um die Ohren hauen: Wie konnte die
Unterinstanz bloß so blöde sein! Das muss doch genau andersherum entschieden werden, meinen dann die
jeweils zuständigen Berufungsrichter. In der Revisionsinstanz kann das Problem wieder anders gesehen werden,
und letztlich entscheidet das BVerfG, was „für Recht erkannt“ wird.
Manchmal ist eine Interpretationsschwierigkeit aber auch gleich in der ersten Instanz erledigt. Lesen Sie bitte
noch einmal den vorstehenden Art. 8 I GG und Sie werden erkennen, dass das Demonstrationsrecht zunächst
uneingeschränkt gewährt wird; eine Einschränkungsmöglichkeit erfolgt erst in Art. 8 II GG für „Versammlungen
unter freiem Himmel“. Rückschluss: Für Versammlungen, die nicht unter freiem Himmel stattfinden, bestehen
keine Einschränkungen. Als 1949 der Parlamentarische Rat das Grundgesetz konzipierte und verfasste, dachte er
natürlich »offline«. Konrad Zuse hatte zwar schon 1941 die erste programmgesteuerte Rechenanlage der Welt
geschaffen, aber in meinen älteren Lexika bis 1975 wird er, werden Computer überhaupt nicht erwähnt. Wie
sollten da die Mütter und Väter des Grundgesetztes die sich nur für einige wenige Insider unter den Physikern in
der Morgendämmerung des Computerzeitalters am Horizont schemenhaft andeuteten technischen Möglichkeiten
bei der Formulierung des Grundgesetzes mitbedenken? Technische Neuerungen fordern Juristen halt erst dann
heraus, wenn ihre Relevanz absehbar ist. Und dann müssen sie sich den Anforderungen stellen, jedenfalls wenn
sie Richter sind und ihnen ein solches Problem auf den Tisch kommt; und notfalls auch »online« denken. Warum
dieser lange Vorspruch im Zusammenhang mit dem Demonstrations- und Versammlungsrecht? Lesen Sie die
Zeitungsmeldung, die mich dazu veranlasst hat, diesen Aspekt in mein für juristisch Interesierte konzipiertes
Lehrbuch aufzunehmen:
GERI CHTSENTSCHEI DUNG
Aufruf zur Online-Demo ist strafbar
Von Martin Brust
Online ist nicht mit Offline vergleichbar, entschied das Amtsgericht Frankfurt, und wertete
die Blockade der Lufthansa-Website im Juni 2001 als Nötigung. Die Organisatoren wollten mit
der Blockade gegen das Abschiebegeschäft protestieren und beriefen sich auf das Recht auf
Versammlungsfreiheit.
Das Betätigen der Computer-Maus kann eine Form von physischer Gewalt sein, ausgeübt mittels der
elektrischen Impulse, die der Mausklick bewirkt und die wiederum eine Aktion eines
Computerprogramms auslösen. Das entschied jedenfalls das Amtsgericht Frankfurt/Main unter
Richterin Bettina Wild im Prozess gegen den Inhaber der Domain www.libertad.de.
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Der arbeitslose Schreiner Andreas-Thomas V. war angeklagt, im Jahr 2001 als Mitglied der Initiative
"Libertad!" durch Texte auf der Webseite und in gedruckter Form zur Beteiligung an einer OnlineDemo und damit zur Nötigung aufgerufen zu haben.
Am Tag der Hauptversammlung des Konzerns sollte zwischen zehn und zwölf Uhr massenhaft die
URL www.lufthansa.com aufgerufen werden mit dem Ziel, die Zugriffszeiten deutlich zu
verlangsamen. Die Initiative "Libertad!" warf der Lufthansa vor, von der Abschiebung von
Flüchtlingen zu profitieren, die mit Maschinen der Airline nach Hause geschickt werden.
Im besten Fall erhofften sich die Aktivisten, dass die Webseite nicht mehr zugänglich sei - was, wie
sich im Laufe des Prozesses herausstellte, für acht bis zehn Minuten auch tatsächlich der Fall war.
Auf einer weiteren Webseite wurde von anderen Protestierenden eine Software bereitgestellt, die
diese Aufrufe automatisierte, beschleunigte und vor allem verhinderte, dass die Seite nach dem
ersten Aufruf nur noch aus dem lokalen Cache geladen wurde. Von Libertad.de wurde zu dieser Seite
verlinkt.
Nun wurde der Domaininhaber von libertad.de zu einer Strafe von 900 Euro verurteilt. Der
Angeklagte und sein Anwalt kündigten noch im Gerichtssaal Revision an. In ihrem Urteil betonte die
Richterin - wie bereits zuvor die Staatsanwältin -, dass es nicht um die Verurteilung der politischen
Aktivität des Angeklagten gehe. Verurteilt werde auch nicht ein Aufruf zu einer Demonstration,
sondern die öffentliche Aufforderung zu Straftaten. Denn die Blockade der Lufthansa-Webseite sei
ebenso Gewalt mittels elektrischer Energie wie beispielsweise die Anwendung eines ElektroSchockers, so die Richterin.
Dadurch seien User, die im fraglichen Zeitraum auf der Webseite beispielsweise Tickets hätten
buchen wollen, genötigt worden. Und zwar unbeschadet von den Ausweichmöglichkeiten und
ungeachtet der Tatsache, dass zwei Lufthansa-Zeugen keine konkreten Angaben zu
Buchungsausfällen machen konnten.
In seinem Schlusswort sagte der Angeklagte, die Fluglinie versuche einen Spagat: Die Wirkung der
Online-Demo werde geleugnet und zugleich Strafanzeige eingereicht. Der Konzern behaupte einen
immensen Schaden, könne dazu aber keine Zahlen über die gut 42.000 Euro für technische
Abwehrmaßnahmen hinaus vorlegen.
Die Airline trage auch selbst Schuld: "Die Blockier-Software sei lange nicht so effektiv gewesen wie
die Lufthansa-eigenen Maßnahmen, etwa die, zwischen Servern, die die Seite lufthansa.com bereit
hielten, hin und her zu switchen. Die "Demonstrierenden" hätten keinen Einfluss darauf gehabt, dass
bei diesem Umschalten die in den Speichern gehaltenen Kundendaten und Buchungen nicht
"mitgenommen" wurden, sagte der Angeklagte.
Der Anklageschrift zufolge gab es in den fraglichen zwei Stunden rund 1,2 Millionen Zugriffe von
gut 13.600 verschiedenen Rechnern, darunter waren fast 160 IP-Adressen mit einer auffällig hohen
Zahl von Zugriffen. Dies dürften vermutlich Rechner gewesen sein, die sich der Protestsoftware
bedienten. Aber wer kann letzten Endes unterscheiden, warum jemand am fraglichen Tag zur
fraglichen Zeit die Webseite aufrief? Der Klick der Kundin besteht wie der des Demonstranten aus
Einsen und Nullen - damit sieht ein Klick dem anderen nun mal zum Verwechseln ähnlich.
Dass die rechtliche Beurteilung schwierig ist, darauf deutet nicht nur die lange Verfahrensdauer hin.
Sondern auch, dass noch am Vorabend der Aktion das Bundesjustizministerium von
Terrorismusverdacht sprach. Das förmliche Ermittlungsverfahren wurde dann aber erst nach einer
Anzeige der Lufthansa aufgenommen und lautet auf "Verdacht auf Computersabotage und Eindringen
in Datennetze". Übrig blieb dann nur noch die Anstiftung zur Nötigung - und zahlreiche Versuche der
Staatsanwaltschaft, einen Prozess zu vermeiden.
"Wir wurden mit Kompromissangeboten geradezu überhäuft. So sollte das Verfahren wegen geringer
Schuld gegen eine Geldbuße von 50 Euro eingestellt werden" hatte der Anwalt des Angeklagten im
Vorfeld des Prozesses in einem Interview mit dem Onlinemagazin Telepolis gesagt.
SPIEGEL ONLINE 04.07.05
Zurück zum »Offline-Demonstrationsrecht«. Man war z.B. schon öfters bemüht, Aufmärsche von
Rechtsextremisten zu verhindern. Aber die Gerichte erlaubten die Demonstrationen meistens doch, wenn mittels
eines geringeren Eingriffs in das Versammlungsrecht als durch ein Verbot, nämlich durch die Erteilung von
Auflagen, Sicherungen für einen ordnungsgemäßen Ablauf eingebaut werden konnten. So durfte die NPD sogar
unter dem Motto "Deutschland ist größer als die Bundesrepublik" an der Grenze zu Polen demonstrieren. Immer
wieder erlaubten Oberlandesgerichte Auftritte, hob das Bundesverfassungsgericht Versammlungsverbote auf.
Begründung: Das Schutzgut der Versammlungs- und Meinungsfreiheit sei so wichtig, dass auch Extremisten ihre
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Ansichten in friedlichen Demonstrationen mitteilen dürften. „Demokratie ist nichts für ängstliche Menschen“,
sagte der niederländische EU-Kommissar Frits Bolkestein.
Und es ist mehr als ungewiss, ob die Richter von dieser Grundposition der Meinungsfreiheit auch für
Schmuddelkinder der Demokratie abgehen werden:
„Kein Aufstand der Richter
Der Präsident des Leipziger Bundesverwaltungsgerichtes lehnt es ab, gerichtlich NeonaziAufmärsche zu verhindern. Die Richter würden so ihre Unabhängigkeit verlieren
LEIPZIG epd Der Präsident des Bundesverwaltungsgerichtes, Eckart Hien, hat Forderungen nach
richterlicher Zivilcourage bei Entscheidungen über Neonazi-Aufmärsche zurückgewiesen. Ein
Richter gebe seine Unabhängigkeit auf, "wenn er politischen Mut in seine Entscheidungen legt",
sagte Hien bei einer Diskussionsveranstaltung in der Leipziger Thomaskirche.
Wenn Neonazis sich eine Stadt für Versammlungen aussuchten, zögen viele Bürgermeister vor die
Verwaltungsgerichte, "nur um den Richtern letztlich den schwarzen Peter zuschieben zu können",
kritisierte Hien. Zuletzt war es vor dem NPD-Bundesparteitag im thüringischen Leinefelde und
Neonazi-Aufmärschen in Leipzig zu rechtlichen Auseinandersetzungen gekommen.
Verwaltungsrichter seien an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes gebunden, "an denen
sie nicht ständig rütteln können", sagte Hien. Das NPD-Verbotsverfahren vor dem
Bundesverfassungsgericht habe allerdings "in einem Fiasko geendet", kritisierte der Präsident des
obersten deutschen Verwaltungsgerichtes. Gerichte könnten nur Aufmärsche von verbotene Parteien
oder Gruppierungen verbieten.
Der Leipziger Thomaspfarrer Christian Wolff warnte vor einer "zu positivistischen Rechtshaltung".
Leipzig war im Oktober vor dem Oberverwaltungsgericht Bautzen mit dem Vorschlag gescheitert,
die Route einer Neonazi-Demonstration zu verlegen. Gegendemonstranten hatten daraufhin am 3.
Oktober verhindert, dass Neonazis durch ein alternatives Stadtviertel ziehen konnten.“
(taz 10.11.04)
Der vorläufig letzte Versuch, den Wirkungsbereich der insbesondere in Ostdeutschland erstarkenden Neonazis
mit administrativen Mitteln zu beschränken, bestand darin, ein Verbot von Demonstrationen vorzusehen, wenn
"zu erwarten ist, dass in der Versammlung nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft verharmlost oder
verherrlicht wird." Verherrlichen, das ist ziemlich klar, aber ab wann wird die Strafbarkeitsschwelle des
„Verharmlosens“ überschritten? Man kann nicht jeden Unsinn unter eine Strafdrohung stellen. Das lässt schon
der fragmentarische Charakter des Strafrechts, der nur die schwerwiegendsten Verstöße gegen grundlegende
Normen des Zusammenlebens unter Strafe stellen will, gar nicht zu. Es bestehen Probleme mit der
Verfassungsmäßigkeit, wenn bereits die „Verharmlosung der NS-Gewaltherrschaft“ unter Strafe gestellt würde.
Das wäre ein zu weit gefasster „offener Rechtsbegriff“. Ähnliche juristische Schwierigkeiten ergäben sich bei
einer auf die Anhängerschaft der NPD zielenden Einschränkung des Demonstrations- und Versammlungsrechts.
Darum regte die CDU im Bundestag an, das demokratiekonstitutive Recht der Versammlungs- und
Demonstrationsfreiheit an ihr wichtigen Orten zu einem im Öffentlichen Recht häufig so geregelten „Verbot mit
Erlaubnisvorbehalt“ umzugestalten. Dieses juristische Konstrukt bedeutet, dass eine Sache grundsätzlich
verboten ist und nach Antragsprüfung ausnahmsweise erlaubt werden kann. Damit würde eines der wichtigsten
Rechte einer Demokratie oder eines der wichtigsten, unter Lebensgefahr in Anspruch genommenen Rechte eines
Volkes, das um Demokratie kämpft und mit Demonstrationen schon Diktaturen zum Einsturz gebracht hat –
siehe u.a. die Nelkenrevolution in Portugal, die Massenaufmärsche in Polen, der Ex-DDR und der Ukraine – zu
einem Gnadenakt heruntergestuft. Das hatten wir in der Ex-DDR so, als Art. 28 Verf-DDR regelte, dass die
Bürger sich ausschließlich „im Rahmen der Grundsätze und Ziele der Verfassung“ des laut Art. 1 Verf-DDR als
„sozialistisch“ definierten Staates versammeln durften – und damit Versammlungen der Willkür der SEDDiktatur anheimgegeben waren. (Dazu mehr im dritten Teil des Buches.)
Ein Verbot von Neonazi-Aufmärschen sollte an herausragenden Orten der Erinnerung gelten, die "an die Opfer
einer organisierten menschenunwürdigen Behandlung erinnern und als nationales Symbol für diese Behandlung
anzusehen sind." Die Absicht, etwas gegen die Neonazis zu tun, darf aber nicht zu einer generellen
Einschränkung des Versammlungsrechts führen und auch nicht zu einer partiellen in Berlin-Mitte.
Es ist schwer, unseren jüdischen Mitbürgern als Nachfahren von (fälschlich als „Holocaust“ bezeichneten) ShoaOpfern zu erklären, dass wir selbst an Orten der Erinnerung gegen die Gräuel des Nationalsozialismus wie dem
„Holocaust“-Mahnmal nur mit am Grundgesetz geeichten rechtsstaatlichen Mitteln gegen rechtsextreme
Provokationen vorgehen können. [Die durch Rechtsverordnung festzulegenden Orte waren unter den Parteien
strittig: In Berlin sollten unstrittig das „Holocaust“-Mahnmal und das mit oder wegen des internen Streites der
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Zigeunergruppen ohne Inschrift geplante „Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma“ – so der Wunsch des
Zentralrates der deutschen Sinti und Roma - oder allgemein „Mahnmal für die ermordeten Zigeuner“ – so die
Sinti-Allianz -, die sich teilweise selbst als „Zigeuner“ bezeichnen und auf jeden Fall mehr als die Gruppe der
Sinti und Roma umfassen2, dazugehören; als strittig galten das Brandenburger Tor und die Neue Wache.]
Die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des Deutschen Bundestages, Nickels, wandte sich gegen das
Demonstrations- und Versammlungsrecht einschränkend verschärfende gesetzliche Regelungen. Ihr Argument:
„Man kann eine Demokratie nicht schützen, indem man sie einschränkt.“ Der stellvertretende Chefredakteur des
STERN schrieb am 03.02.05 in seinem wöchentlichen Zwischenruf aus Berlin: „Ist die NPD verfassungswidrig,
muss sie nach sorgfältiger Prüfung verboten werden. Rasch. Solange das nicht geschehen ist, hat sie Anspruch
auf den Schutz des Grundgesetzes und die Wahrnehmung aller Freiheitsrechte. ’Freiheit ist immer nur Freiheit
des Andersdenkenden’: dieser Satz Rosa Luxemburgs ist nicht allein nach links gesprochen – in der Demokratie
sind alle Andersdenkende. Er gilt nur dann nicht, wenn die einen die Freiheit der anderen beseitigen wollen. Die
NPD aber zuzulassen und sie unterhalb eines Verbots durch Spezialgesetze als verfassungswidrig zu behandeln
ist in sich verfassungswidrig und macht die Demokratie unglaubwürdig – zum Nutzen der NPD. Alle bislang
präsentierten Vorschläge empfehlen solche Spezialgesetze und –regeln, die den Neonazis Argumente liefern, um
die Demokratie als undemokratisch verächtlich zu machen: Ausschluss aus der Parteienfinanzierung,
Einschränkung der parlamentarischen Immunität, Wortentzug im Landtag, Aufhebung der Versammlungsfreiheit
auf Verdacht, Verbot von Kundgebungen an Gedenkstätten. ... All das bestätigt NPD-Wähler und lockt neue.“
Mit der dann umgesetzten Gesetzesinitiative zur Verschärfung des Versammlungs- und Demonstrationsrechts
sollte der von der NPD angekündigte und angemeldete Marsch durch das Brandenburger Tor am 08.05.05, dem
60. Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation Nazi-Deutschlands, verhindert werden. Sollten die Neonazis am
Abend des 60. Jahrestages der bedingungslosen Kapitulation - eventuell mit einem Fackelzug - in Marschkolonne
durch das Brandenburger Tor ziehen, wie sie im Jahre 2000 dort schon marschiert sind, würde das fatal an den
Fackelzug der Nazis durch das Brandenburger Tor erinnern, mit dem sie die „Machtergreifung“ und dann an
jedem Jahrestag den Beginn der NS-Diktatur am 30.01.1933 gefeiert hatten. Das würde auch im Ausland obwohl sich in praktisch jeder freien Gesellschaft an beiden politischen Rändern Extremisten in nicht ganz
unerheblichen Prozentsätzen von in etwa 5-15 % tummeln - auf Grund der Belastung unserer Geschichte mit dem
unter der Naziführung begangenen größten Menschheitsverbrechen der in eigens dafür konstruierten
Hochleistungskrematorien industriell betriebenen Massenvergasung und anschließenden Verbrennung aller
europäischer Juden, derer man habhaft werden konnte, wenn man es nicht vorzog, die Kräftigsten durch
Schwerstarbeit unter Kalorienentzug durch Sklavenarbeit umzubringen, beklemmende Erinnerungen wecken!
Deswegen versuchten demokratische Kräfte im Vorfeld der parlamentarischen Arbeit, ihrerseits eine
Demonstration am Brandenburger Tor anzumelden, damit dann die Neonazis wegen der Vergabe des Platzes am
Jahrestag der Kapitulation Großdeutschlands keine Demonstrationserlaubnis erhalten könnten. Die NPD
scheiterte vor dem BVerfG mit ihrem Antrag, ihren Demonstrationszug gegen den "Schuldkult" und gegen die
"Befreiungslüge" am 60. Jahrestag der Kapitulation Nazi-Deutschlands durch das Brandenburger Tor hindurch
und am Mahnmal für die ermordeten Juden Europas entlang durchführen zu dürfen. Es wurde ihr nur eine nicht
so »geschichtsträchtige« Ersatzstrecke vom Alexanderplatz zum Bahnhof Friedrichstraße zugebilligt. Diese
Ersatzstrecke war dann zusätzlich von mindestens einer vierfachen Menge von Gegendemonstranten blockiert
worden.
Die Umstände der blockierten Demonstration ließ Juristen aus grundgesetzlichen Erwägungen heraus die
Einhaltung und Durchsetzung des Demonstrationsrechts fordern. Das Argument: Das Vorgehen der Polizei und
der Gegendemonstranten sei "klar rechtswidrig" gewesen. Eine Demonstration, die genehmigt ist, müsse
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Um den Bau des Mahnmals voranzubringen, hatten sich die Kulturpolitiker der Bundestagsfraktionen im November 2004
auf den Satz geeinigt: "Wir gedenken aller Kinder, Frauen und Männer, die von den Nationalsozialisten in ihrem
menschenverachtenden Rassenwahn als Zigeuner in Deutschland und Europa verfolgt und ermordet wurden."
"Der Begriff Zigeuner ist eine Beleidigung und Diffamierung für unsere Minderheit", argumentierte dagegen der
Vorsitzende des Zentralrates der Sinti und Roma, Rose, der das Problem wohl ähnlich sieht, wie die Inuits die Bezeichnung
„Eskimo“ als abwertend empfinden. "Der Rechtsstaat muss akzeptieren, dass wir uns als Sinti und Roma verstehen." Rose
betonte, das Denkmal erfülle nur dann einen Zweck, wenn man sich über die Inschrift einigen könne.
Rose beharrt weiter auf einem Zitat des früheren Bundespräsidenten Roman Herzog. Darin heißt es: "Der Völkermord an
Roma und Sinti ist aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz und dem gleichen Willen zur
planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden wie bei den Juden."
Die in Köln ansässige Sinti-Allianz sprach sich gegen das Herzog-Zitat und für den Begriff "Zigeuner" in der Inschrift aus,
weil der Begriff „Zigeuner“ umfassender sei und bei einer Verwendung von „Sinti und Roma“ Teile der Opfergruppe
Zigeuner unberechtigt ausgegrenzt würden. Dazu fiel Rose dann kein Gegenargument mehr ein!
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stattfinden können. Wegen des Gewaltmonopols des Staates unterliege die Polizei der Verpflichtung, alle
Hindernisse auf der vorgeschriebenen Strecke aus dem Weg zu räumen. "Ihr steht heute hier für die Nazis",
beschimpfte eine Frau aus dem Kreis der autonomen Gegendemonstranten am Hackeschen Markt die Polizisten:
"Haut einfach ab." Doch das Demonstrations- und Versammlungsrecht gilt nicht nur für »die Guten«. Es kann
nicht in das Belieben einer mehr oder minder zufälligen Mehrheit oder gewaltbereiten Minderheit gestellt
werden, ob das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit wahrgenommen werden kann! Und rechtlich äußerst
bedenklich ist es, wenn die Verbraucherschutzministerin Renate Künast (Grüne) als ausgebildete Juristin den
Festbesuchern zu einem "lockeren Spaziergang" zur Brücke neben dem Dom riet, um dort die Demo-Route der
NPD zu blockieren: "Wir sind viele, wir sind viel mehr, und wir sind stark", sagte Künast.
Die Polizei hätte mit Verweis auf die Rechtswidrigkeit der Demonstrationsbehinderung die Gegendemonstranten
zum Verlassen der Straße auffordern müssen, bei deren Weigerung die Personalien der behindernden
Gegendemonstranten aufnehmen, diese mit einer Polizeikette von der Straße drängen und notfalls sogar, wenn
das alles nicht geholfen hätte, als letztes Mittel Gewalt anwenden müssen. Sie hätte nicht den rechtswidrig
handelnden Gegendemonstranten von vornherein einen Freibrief ausstellen dürfen, indem sie vor
Demonstrationsbeginn verlauten ließ, bei einer friedlichen Blockade würde sie nicht mit Gewalt einschreiten.
Szenen wie eine Woche zuvor in Leipzig, wo linke Gegendemonstranten von der Straße gespritzt worden waren,
wollte die politische Führung Berlins unter den Augen der Weltöffentlichkeit am 8. Mai vermeiden.
Doch gut gemeinte Deeskalationsmaßnahmen dürfen nicht so weit gehen, dass durch sie das demokratierelevante
Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit außer Kraft gesetzt wird! Der Berliner Polizeipräsident liegt falsch mit
seiner Entschuldigung, wenn er vorbringt: "Das geltende Recht läßt nicht zu, dass wir einen Aufzug
durchprügeln." Wer weiß, ob es überhaupt dazu gekommen wäre, wenn die Polizei von vornherein klargestellt
hätte, dass sie – wie es ihres Amtes ist! - dem Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit Geltung verschaffen werde!
Das Verhalten der Berliner Polizeiführung provoziert geradezu die Frage nach dem umgekehrten Fall: "Wie
würde die Diskussion aussehen, wenn 2.000 NPD-Anhänger eine genehmigte Demonstration von friedlichen
Bürgern blockiert hätten und die Polizei nicht eingeschritten wäre?"
Es ist ein ständiges Katz-und-Maus-Spiel und zeigt, wenn man solcherart »Nadelstich-Demonstrationen« der
Rechtsextremisten nicht glaubt ertragen zu können, die Notwendigkeit auf, das Problem so grundsätzlich zu
regeln, dass demokratische Kräfte nicht für jeden Tag des Jahres und jede Stunde eine Demonstration am
Brandenburger Tor anmelden müssen, damit die Neonazis als Bewahrer des Gedankengutes der braunen
Faschisten nicht einen Fuß in das Tor stellen können; denn das Brandenburger Tor zu schließen geht ja auch
nicht, nachdem man jahrzehntelang unter der Parole: „Macht das Tor auf!“ gegen die roten Faschisten der SEDDiktatur und ihren Mauerbau demonstriert hatte und in dieser Forderung direkt vor dem Brandenburger Tor von
u.a. us-amerikanischen Präsidenten unterstützt worden war.
Würde das Problem durch ein Demonstrationsverbot am Brandenburger Tor durch z.B. die Ausweitung des um
das Reichstagsgebäude geltenden befriedeten Bezirks geregelt, würde die Funktionsfähigkeit des Parlamentes nur
zu dessen Sitzungszeiten geschützt; an sitzungsfreien Tagen könnte aber gleichwohl dort demonstriert werden.
Die Ausweitung des befriedeten Bezirks wäre nur eine Verlegenheitslösung, denn am vom Parlament schon
etwas entfernteren Brandenburger Tor schütze man nicht die Funktionsfähigkeit des Bundestages, was ja der
Sinn eines befriedeten Bezirkes ist. Au0erdem könnten demokratische Kräfte auch nicht mehr zu besonderem
Anlass dort demonstrieren, und das will man natürlich nicht unterbinden, denn kein Bauwerk symbolisiert die
wechselvolle insbesondere neuere deutsche Geschichte mehr als das von 1788-91 nach den Plänen von Langhans
erbaute, im Zuge der napoleonischen Kriege nach der Niederwerfung Preußens 1807 von den Franzosen
geraubte, nach dem Sieg über Napoleon 1814 dann wieder zurückgeholte, im Zweiten Weltkrieg durch die Rote
Armee eroberte und 1958 zur Beseitigung der Kriegsschäden nach erhalten gebliebenen Gipsabgüssen wiederhergestellte Brandenburger Tor.
Bleibt, wenn man es so will, rechtlich nur die inhaltliche Beschränkung der Demonstrationsfreiheit, wenn "zu
erwarten ist, dass in der Versammlung nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft verharmlost oder
verherrlicht (werden) wird." Auf die Schwierigkeit mit dem offenen Rechtsbegriff „verharmlosen“ war schon
eingegangen worden. Hinzu kommt, dass man das im Genehmigungsverfahren für die beantragte Demonstration
nicht im Vornherein zweifelsfrei prognostizieren kann.
Zur bestimmt nicht nur in Deutschland wahrgenommenen gesellschaftspolitischen Provokation unseres
politischen, bei den Neonazis „verhassten Systems“ durch »Nadelstich-Demonstrationen« genügt es außerdem ja
schon, dass NPDler unter mit NPD-Emblem versehenen nicht verbotenen schwarz-weiß-roten Fahnen durch das
Brandenburger Tor marschieren. Denn gleich nach der „Machtergreifung“ war auf Betreiben der Nazis vom
Reichspräsidenten von Hindenburg entgegen dem nicht misszuverstehenden Wortlaut des Art. 3 1 WV
„Die Reichsfarben sind schwarz-rot-gold.“
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durch die sogenannte Flaggenverordnung (zur Einbindung der republikfeindlichen kaiserlich-konservativen
Kräfte des gerade erst untergegangenen Kaiserreiches) neben die Hakenkreuzflagge (als Flagge der unter die
Herrschaft der Nazis geratenen Weimarer Republik) die schwarz-weiß-rote Flagge des untergegangenen
deutschen Kaiserreiches3 gesetzt worden. Bei offiziellen Anlässen der Nazis wurde nur noch die
Hakenkreuzflagge gehisst oder schwarz-weiß-rot geflaggt. Auf jeden Fall wurden aber nicht mehr die schwarzrot-goldenen Reichsfarben der von den Nazis so beschimpften „Judenrepublik“ gezeigt. Da muss heutigen Tages
nicht erst noch expressis verbis eine Verherrlichung verbalisiert werden, wenn NPDler mit schwarz-weiß-roten
Fahnen durchs Brandenburger Tor marschieren; es genügt, allein durch schwarz-weiß-rote Fahnen die NaziHerrschaft nur indirekt verherrlichend zu visualisieren! Die Gerichte werden, wenn die geistigen Nachfolger der
den Zweiten Weltkrieg entfacht habenden Nazis so tun, als wären sie keine Neonazis, wegen der
demokratiekonstitutiven Bedeutung des Versammlungsrechts den Demonstrationszug aus grundsätzlichen und
grundgesetzlichen Erwägungen heraus trotzdem genehmigen, ohne die mit dem NPD-Emblem versehenen
schwarz-weiß-roten Fahnen zu verbieten; höchstens die ähnlich gestaltet gewesene Vorlage der NPD-Fahnen, die
von den Neonazis gern verwandte „Reichs-Kriegsflagge“, wird als einschränkende Demonstrationsauflage
verboten werden.
Die NPD ist eine Partei, deren sich selbst als „nationalrevolutionär“ bezeichnender Vorsitzender u.a. gesagt hat:
„Das Holocaust-Denkmal in Berlin eignet sich vorzüglich als Fundament für einen Neubau der Reichskanzlei!“,
der im Zusammenschlagen von „Linken“ im schleswig-holsteinischen Landtagswahlkampf 2005 nicht mehr als
eine „Abwehrmaßnahme“ zu sehen vermochte. Der dortige Fraktionschef im sächsischen Landtag gab nach der
für die Neonazis triumphalen Wahl 2004 Äußerungen zum Schlechtesten wie: „Uns hat gewählt, wer noch
Deutscher bleiben will.“ Und über 90 % der Wahlberechtigten, die zu Hause geblieben sind oder andere Parteien
gewählt haben, wollen keine Deutschen mehr sein? Wie kommen solche Leute dazu, Mitbürgern deren Willen,
sich als Deutscher zu sehen und zu fühlen, abzusprechen? Er sprach im sächsischen Landtag in Dresden vom
„Bomben-Holocaust“ auf diese Stadt, als die Alliierten in einer auch heute noch und selbst in Großbritannien in
ihrer Notwendigkeit zumindest umstrittenen Kriegsmaßnahme4 das mit Flüchtlingen aus dem Osten völlig
überbelegte Dresden am 13./14.02.45 in Schutt und Asche gelegt hatten, wobei schätzungsweise 23.000-35.000
Menschen den Tod gefunden haben. Und legte damit geschickt den Finger in eine Wunde: Da es das vorrangige
Ziel der alliierten Bombenangriffe war, möglichst viele Deutsche zu töten und nicht so sehr, kriegswichtige
Anlagen außer Betrieb zu setzen oder gar hunderttausende Menschenleben zu retten, indem z.B. Auschwitz und
andere Vernichtungslager, über deren Funktion die Alliierten u.a. durch die Kurie genau unterrichtet gewesen
waren, und die dorthin führenden Eisenbahnstrecken bombardiert worden wären – die Bomber flogen über
Auschwitz hinweg, ohne es anzugreifen, was relativ gefahrlos möglich gewesen wäre, da dort keine deutsche
Flugabwehr zum Schutz kriegwichtiger Anlagen stationiert gewesen war -, ist der Angriff auf Dresden wohl eher
als kleines Hiroshima zur Brechung des Durchhaltewillens der Bevölkerung zu werten. Mit der sprachlichen
Gleichsetzung durch die Verwendung des Wortes „Holocaust“ versuchte er eine Gleichsetzung der von den
Alliierten als Mittel der Kriegsführung eingesetzten Flächenbombardierung in einem ihnen von der Nazi-Führung
Deutschlands aufgezwungenen Krieg mit einem von den Nazis als vorrangiges Ziel ihrer Herrschaft angesehenen
ideologischen Zweck zu erreichen – und versuchte so bewusst zu vernebeln, dass Dresden ein
(unverhältnismäßig eingesetztes?) Mittel der Verteidigung gewesen war, die Shoa aber ein ideologischer Zweck!
Das betont auch der britische Historiker Taylor, wenn er in einem im SPIEGEL vom 13.02.05 abgedruckten
Interview u.a. sagt: „Alle Seiten bombardierten im Krieg die Städte des anderen. Eine halbe Million
Sowjetbürger starben in den Bombenangriffen der Deutschen, während der Invasion und der Besetzung
Russlands. Das entspricht ungefähr der Anzahl der Deutschen, die bei den Angriffen der Alliierten umkamen.
Aber die Bombardierungen hingen mit militärischen Operationen zusammen und endeten, sobald diese
Operationen endeten. Der Holocaust und die Ermordung all dieser Millionen von Menschen, die die Nazis so
sehr hassten, dass sie sie umbringen wollten, hätten jedoch nicht geendet, wenn die Deutschen den Krieg
3
4
Hindenburg hatte nach der „Machtergreifung“ am 30.01.1933 am 12.03.1933 eine Flaggenverordnung erlassen, die
bestimmte, dass entgegen Art. 3 WV, der als alleinige Farben der Reichsflagge „schwarz-rot-gold“ angeordnet hatte, die
ihm vertrautere schwarz-weiß-rote des ehemaligen Kaiserreiches und – als politische Gegenleistung an die Nazis - die
Hakenkreuz-Flagge der Nazis als gleichberechtigte Reichsflaggen verwendet werden dürften. Damit war Art. 3 WV auf
dem Verordnungsweg praktisch abgeschafft.
Näheres über die Hintergründe hierzu im II. Teil des Buches unter dem Gliederungspunkt 5.1
Das britische Unwohlsein kommt zum Ausdruck in Churchills Memorandum vom 28. März 1945 an General Ismay, den
Vorsitzenden des britischen Generalstabs, in dem der Premier schrieb: "Der Moment scheint mir gekommen, wo die Frage
der Bombardierung deutscher Städte einfach zum Zwecke der Erhöhung des Terrors, auch wenn wir andere Vorwände
nennen, überprüft werden sollte. Die Zerstörung Dresdens bleibt eine ernste Frage an die alliierte Bombardierungspolitik."
(DIE WELT 12.02.05)
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gewonnen hätten. Bombenangriffe sind eine rücksichtslose Form der Kriegsführung, aber das Wort Holocaust zu
benutzen, um einen Krieg als unbarmherzig zu beschreiben, heißt zwei vollkommen verschiedene Dinge zu
verwechseln. ... Auf die eigene Opferrolle zu schauen und Deutschlands unprovozierten aggressiven Krieg gegen
den Rest Europas und die Aspekte des Völkermords dieses Kriegs auszublenden, kann überhaupt nichts Gutes
bewirken.“
Die Ziele der Rechtsradikalen werden deutlich, wenn sie »ungeschützt« vom Leder ziehen, wie ein als
ehemaliger(?) Rädelsführer der inzwischen verbotenen Schlägertruppe „Skinheads Sächsische Schweiz“ (SSS)
wegen schweren Landfriedensbruchs, Bildung einer kriminellen Vereinigung, gefährlicher Körperverletzung und
Nötigung durch u.a. Training seiner Gefolgsleute für Übergriffe auf Einzelpersonen und die Erstürmung von
Gebäuden, systematische Computererfassung der erkorenen politischen Feinde und maskierte brutale Überfälle
mit einer Bewährungsstrafe zu zwei Jahren Haft verurteiltes NPD-Mitglied – Kommentar zu dem Urteil: „Meine
Freunde und ich haben nur unsere Freizeit nach den eigenen Vorstellungen gestaltet!“ -, das mit seinem
Schlägertrupp auf NPD-Veranstaltungen als Saalschutz tätig gewesen war und sich in der Öffentlichkeit nicht so
zurückhaltend äußern muss, wie es die Parteiführung aus taktischen Gründen für angeraten erachtet, zum STERN
(27.01.05): „Die rechte Bewegung steht generell für eine andere Gesellschaftsform. Deshalb bringen auch
Gespräche mit anderen demokratischen Institutionen nichts. Es wird nie einen Konsens geben. Wenn man
nationaler Sozialist ist, dann ist die Gesinnung schlicht nicht zu vereinen mit der Demokratie. Ich kenne viele
NPDler seit Jahren, auch höhere wie den [Abgeordneten des Sächsischen Landtags und Parlamentarischen
Geschäftsführer seiner Fraktion; der Verf.] Leichsenring5. Die sind nicht weichgespült. Die denken genau wie
ich. Wir wollen ein anderes Land.“
Und was wollen wir Demokraten?
So hat sich die Pest des Nationalsozialismus schon einmal ausgebreitet, nach dessen Niederringung ca. 6
Millionen Menschen in Vernichtungslagern und anderweitig umgebracht worden waren, ca. 50 Millionen
Menschen im von den Nazis angezettelten Zweiten Weltkrieg ihr Leben hatten lassen müssen, Millionen andere
auf der ganzen Welt vertrieben worden waren und Deutschland mit den Ostgebieten von der Oder-Neiße-Linie
„bis an die Memel“ mehr als ein Viertel seines Staatsgebietes verloren hatte!
Wenn man die ständig Grenzen auslotenden Provokationen der Neonazis ertragen kann, sollte man sie besser leer
laufen lassen, indem man aufzeigt, dass sie außer „Ausländer raus!“ keine Lösungskompetenz zur Bewältigung
der notwendigen und sehr komplexen Umstrukturierungsmaßnahmen unserer Gesellschaft anzubieten haben,
anstatt in einen kurzatmigen gesetzgeberischen Aktionismus zu verfallen!
In den USA wird das Recht der Meinungs- und Versammlungsfreiheit als so konstitutiv für eine demokratische
Staatsform erachtet, dass die us-amerikanischen Nazis sich in Nazi-Uniformen und mit Hakenkreuzbinde am
Arm versammeln und demonstrieren dürfen! Und das bei der ungemein starken gesellschaftlichen Stellung, die
die jüdischen Interessensverbände in den USA traditionell innehaben! In den USA werden viel weniger
»Gesinnungsgesetze« erlassen, weil es einen verbreiteteren, als Kitt in der Gesellschaft wirkenden „common
sense“ darüber gibt, wie die gesellschaftlichen Bezüge organisiert sein müssen, damit die Gesellschaft
idealtypisch als Gesellschaft freier Bürger funktioniert: Ungehinderte Rede-, Versammlungs- und
Demonstrationsfreiheit gehören unabdingbar dazu; auch wenn sehr oft gegen diese Prämissen verstoßen wurde,
z.B. als selbst in dem Land der Demokratie, den USA, McCarthy seine hysterische Kommunistenhatz als
Teufelsaustreibungskampagnen inszeniert hatte oder Martin Luther King hauptsächlich in den Südstaaten, wo es
ging, Steine in den Weg gelegt worden waren, damit er nicht auf den Bürgerrechtsveranstaltungen sprechen
konnte, wo die Afro-Amerikaner von der Polizei niedergeknüppelt oder vom Ku Klux Klan gelyncht worden
waren, wenn sie auch für die Farbigen Menschen- und Bürgerrechte einforderten. So etwas miterleben zu
müssen, brachte den Satiriker Oscar Wild zu dem bitterbösen Satz: „Demokratie ist nichts anderes als das
Niederknüppeln des Volkes durch das Volk für das Volk.“
Die Wichtigkeit des Versammlungsrechts für jede Staatsform, insbesondere aber für eine (bürgerliche)
Demokratie, haben wir in unserer eigenen allerjüngsten Geschichte erfahren: Dass Demonstrationen selbst ein
diktatorisches, von Geheimdienst, Polizei und Millitär geschütztes Regime zum Einsturz bringen können, wenn
die Zeit reif dafür ist und die Massenkundgebungen so mächtig sind, dass nicht mehr Einzelne zur
5
Der Parlamentarische Geschäftsführer der NPD-Fraktion im sächsischen Landtag, NPD-Kreisgeschäftsführer und Stadtrat,
Uwe Leichsenring, hielt stets engen Kontakt zu den Skinheads Sächsisch Schweiz (SSS). Die Justiz leide seiner Meinung
nach unter Verfolgungswahn und drangsaliere Bürger "vielleicht nur deshalb, weil sie von ihrem Grundrecht auf
Versammlungsfreiheit Gebrauch gemacht haben".
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Einschüchterung der demonstrierenden Massen herausgegriffen werden können, haben wir 1989 erleben dürfen,
als die Ostdeutschen durch die Leipziger Montagsdemonstrationen ihre Freiheit von der SED-Diktatur
erkämpften, weil »der Große Bruder« UdSSR das Regime nicht mehr – wie bei der Niederschlagung des
Aufstandes vom 17. Juni 1953 – stützte.
Und in der Ukraine, um einen weiteren europäischen Staat zu nennen, war es nicht anders.
Natürlich sind Versammlungen unter freiem Himmel meist mit Belästigungen Dritter verbunden: Wenn sich ein
möglichst aufgebauschter und durch große Zwischenräume möglichst in die Länge gezogener Demonstrationszug
zu einem die Gesellschaft insgesamt nur marginal tangierenden Thema zur Rush-Hour durch die eine
innenstädtische Verkehrspulsader quält und durch diesen Stau die Autofahrer und die Teilnehmer am
Öffentlichen Nahverkehr gehindert werden, ihr Fahrtziel schnellst möglich zu erreichen, dann bekommt schon
mancher der in seiner Bewegungsfreiheit Eingeschränkten einen »dicken Hals«! Die mit der Ausübung des
körperlich wahrgenommenen Demonstrationsrechts meist einhergehenden Behinderungen müssen Dritte aber, so
lange keine unmittelbare Gefährdung anderer gleichwertiger Rechtsgüter gegeben ist, wegen dessen
überragender, demokratiekonstitutiver Bedeutung ertragen (lernen).
Dabei hat natürlich die Bundeshauptstadt Berlin die Hauptlast zu tragen: 3.000 Demonstrationen pro Jahr, im
Mittelwert neun pro Tag! Da entsteht auf der Seite der Exekutive das Bedürfnis, engere Grenzen ziehen zu
dürfen. In Zukunft sollen nach ihren Vorstellungen extremistische Versammlungen leichter verboten sowie
Aufmärsche von Extremisten vor Orten mit Symbolwirkung und nationaler Bedeutung verhindert werden, die
dort die menschenunwürdige Behandlung der Opfer billigen, leugnen oder verharmlosen: zum Beispiel vor dem
Mahnmal für die ermordeten Juden Europas. Zudem sollen Anhänger radikaler islamischer und arabischer
Organisationen nicht mehr offen im Stadtbild ihre Sympathie für Terroristen und terroristische Anschläge
bekunden dürfen, wie es z.B. ein Araber machte, der seine zweijährige Tochter als Selbstmordattentäterin mit
Bombengürtel verkleidet auf eine Demonstration mitgenommen hatte.
Schließlich will der Bundesminister des Inneren Demonstrationen auch dann einschränken und verbieten können,
wenn keine strafbare Verletzung der öffentlichen Sicherheit droht, aber die Gefahr einer Verunglimpfung besteht.
Der Berliner Innensenator geht noch weiter. Er will bei der Genehmigung auch Interessen von Anwohnern und
Geschäftsleuten stärker berücksichtigen. Es müssten seiner Meinung nach sowohl "die persönliche Freiheit des
Einzelnen, als auch die Interessen Dritter stärker in den Abwägungsprozess einbezogen werden." Ihm geht es
darum zu verhindern, dass bei Demonstrationen die Innenstadt lahm gelegt werden kann. Der Senator will
deshalb verfeinerte Möglichkeiten schaffen, Demonstrationen zu kanalisieren, nach dem Motto: "Ihr seid nur 30
Leute, Ihr dürft nur auf dem Bürgersteig demonstrieren".
Diese Arbeit des überschlägigen rechtlichen Bewertens von sich andeutenden gesellschaftlichen Entwicklungen
ist ständig, vielleicht sogar täglich zu leisten. Um es an einem aktuellen Beispiel deutlich zu machen: Am
21.03.2000 berichteten Nachrichten in Rundfunk und Zeitungen, dass die Regierung in Großbritannien den
Lebensversicherungen die Befugnis einräumen wolle, von den potenziellen Versicherungsnehmern - den
Bürgern, die das Todesfall- und eventuell auch das Berufsunfähigkeitsrisiko abgesichert haben möchten - einen
»vorhersagenden Gentest« zu verlangen. Am 12.03.01 wurde berichtet, Krankenkassen sei in Großbritannien der
Zugriff auf Gentests gestattet. Das ermöglicht den biologisch »gläsernen Menschen«! Insbesondere dann, wenn
Biochips, mit denen irgendwann einmal das gesamte menschliche Erbgut in einem Schritt analysiert werden
könnte, Realität werden sollten. Die technische Entwicklung wird so verlaufen, dass man mit sehr schnellen und
präzisen Methoden das gesamte Genom eines Menschen analysieren, auf eine CD pressen und mit sich
herumtragen können wird, so dass auf der Gesundheitskarte eines Chipkartenbesitzers sein gesamtes Genprofil
stehen wird – wenn man auf sein Recht auf Nichtwissen verzichtet.
Job in naher Zukunft nur noch nach Gentest? Zu unserem Glück sprachen sich in der Bundesrepublik
gesellschaftliche Gruppen, insbesondere die Ärztekammern, als Schutz vor dadurch möglicher »GenDiskriminierung« durch Selektion, wie sie in den USA schon anzutreffen ist und in der BRD die Erstellung der
ersten genetische Diskriminierungsstudie an der Universität Frankfurt veranlasste, gegen einen solchen tiefen
Einschnitt in unser Persönlichkeitsrecht aus. Als Ergebnis einer kurzen öffentlichen Diskussion verzichteten auf
Grund einer bis 2011 geltenden Selbstverpflichtung die deutschen Lebensversicherungsunternehmen auf die
Vorlage von Gentestzeugnissen. Bereits vorliegende Testergebnisse müssen allerdings bei sehr hohen
Lebensversicherungen mit Gesamtsummen von mehr als 250.000 Euro oder Jahreszahlungen über 30.000 Euro
mitgeteilt werden. Eine über 2011 hinausgehende Selbstverpflichtung, eine unbefristete gesetzliche Regulierung
oder gar ein gesetzliches Verbot der Forderung nach Vorlage eines Gentests vor Antragsannahme lehnen die
Versicherungen aber ab, weil sonst, so der Branchenverband GDV, die Gefahr bestünde, dass "zukünftig
zwischen Versicherungsnehmern und Versicherern keine Wissensgleichheit mehr besteht": wer um ein in
absehbarer Zeit sich tödlich auswirkendes Gen in seinem Körper weiß, könnte aus verständlicher Sorge für ihm
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nahestehende Personen zu deren Absicherung eine Lebensversicherung mit einer hohen Laufzeit und dadurch
sehr niedrigen Prämien abschließen, wohlwissend, dass er das Ende der vertraglich vereinbarten Laufzeit mit
Sicherheit nicht erleben werde und die Versicherung an die Begünstigten zahlen müsse.
Die Position »Kein Gentest zur Erlangung einer Tätigkeit« wird sich jedoch nicht bruchlos durchhalten lassen.
So kann z.B. die genetisch bedingte Rot-Grün-Blindheit getestet werden. Und das ist u.a. für die Ausbildung von
Piloten wichtig. Aber diese Wahrnehmungsbehinderung kann ja auch durch einen Farbtafeltest ermittelt werden;
wenn ein gefährdeter Pilot nicht die verdeckt dargestellten Zahlen auswendig lernt, um noch einmal glatt durch
den Gesundheitschek durchzurutschen und weiter fliegen zu können.
Wir hier mussten also zunächst nicht auf die Barrikaden gehen. Aber die Briten sollten es schleunigst tun, bevor
die Entscheidung gefallen ist, damit sie nicht auch solche Zustände erhalten, wie sie in den USA inzwischen
schon angebrochen sind, denn am 15.11.01 veröffentlichte der STERN ein Interview mit dem 96-jährigen
Biochemiker Erwin Chargaff, einem der »Väter der Gentechnologie«, in dessen Verlauf zur Sprache kam: „Vor
kurzem wurde eine Studentin an einer US-Elite-Universität abgelehnt. Sie hatte alle Aufnahmetests bestanden,
und sie war gesund. Der Gentest aber wies eine Veranlagung für eine tödliche Krankheit aus. Das aufwendige
Studium, meinte dann die Uni, lohne sich nicht für sie.“
Ähnlich erging es nach Aussage des hessischen Datenschutzbeauftragten Simitis in Deutschland Bewerbern um
eine Lehrstelle und in Hessen einer angehenden Lehrerin, die der hessische Staat nicht hatte verbeamten wollte:
Mit dem Hinweis auf die genetisch bedingte Erbkrankheit Chorea Huntington (= Veitstanz) in der Familie war
2004 dort die Verbeamtungen der damals 35-jährigen Lehrerin abgelehnt worden und es wurde von ihr verlangt,
durch einen differenzierten Gentest nachzuweisen, dass die Disposition für diese Erbschädigung bei ihr nicht
vorläge. Bei diesem auf einen einzigen Gendefekt zurückführbaren monogenen Nervenleiden - an einer
bestimmten Stelle des Chromosoms 4 wird die Buchstabensequenz CAG öfter als 40-mal wiederholt - bedeutet
schon eine einzige schadhafte Genkopie, dass die Krankheit mit absoluter Sicherheit ausbrechen und der Patient
vorzeitig sterben wird. Die Pädagogin klagte vor dem Verwaltungsgericht Darmstadt und gewann - allerdings mit
dem Hinweis, ihre Erkrankung sei mit einer Chance von 50 Prozent ja "nicht überwiegend wahrscheinlich".
[Bislang sind rund 5.000 monogene Krankheiten bekannt, bei denen aber, wie bei der Eisenspeicherkrankheit
(Hämochromatose), der Genfaktor nur ein Faktor unter mehreren ist und zum Ausbruch der Krankheit führen
kann. Von den bisher bekannten monogenen Krankheiten weisen rund 600 eine größere Verbreitung auf, unter
denen der Veitstanz besonders herausragt.]
Nicht jeder Betroffene weiß um seine irgendwie geartete Genschädigung. Doch jeder muss das Recht auf eigenes
Nichtwissen haben und sich darum nicht im Interesse einer Anstellung einer solchen Zumutung eines potentiellen
Arbeitgebers unterziehen müssen, um auf diesem Wege ungewollt das Wissen um eine bei ihm oder ihr
irgendwann ausbrechende Krankheit aufgedrängt zu bekommen. Das sind gravierende Verstöße gegen die
informationelle Selbstbestimmung. Darum wurde der hessische Staat im Fall einer 35-jährigen Lehrerin, die
wegen erblicher Genbelastung nicht verbeamtet werden sollte, durch Gerichtsurteil des Verwaltungsgerichts
Darmstadt zum Beidrehen gezwungen.
Solch eine gefährliche Entwicklung muss ganz dringlich gestoppt werden! Darin müssen wir uns alle einig sein!
Diese Bedeutung darf der Molekulargenetik nicht zugewiesen werden! Kein privater oder staatlicher Arbeitgeber
darf das potentielle genetische Risiko eines Bewerbers mit einem Gentest untersuchen lassen, sondern muss zur
Eignungsüberprüfung Verfahren verwenden, die ausschließlich eine tatsächlich vorliegende Funktionsstörung
feststellen können. Die neue Vorsitzende des Nationalen Ethikrates, Kristiane Weber-Hassemer, hat zu
Amtsantritt 2005 vor den Risiken einer Ausweitung der Gendiagnostik gewarnt: „Die Risiken einer Ausweitung
der Gendiagnostik liegen auf der Hand. Natürlich gibt es hier in der Wirtschaft enormen Appetit. Im Arbeitsrecht
hat aber die Gendiagnostik wie auch die übrige prädiktive Diagnostik im Zweifel nichts zu suchen. Diesem
Appetit also gilt es zu begegnen. Dabei sind gesetzliche Regelungen unerläßlich. Den gläsernen Menschen darf
es einfach nicht geben. Mit Forschungsfeindlichkeit hat das nichts zu tun“ (DIE WELT 28.06.05).
Nach dem vom Gesundheitsministerium erarbeiteten Entwurf des Gendiagnostikgesetzes sollen allerdings
Gentests "bei bestimmten gesundheitsgefährdenden Tätigkeiten" erlaubt werden. Auch soll der Arbeitgeber
fragen dürfen, ob bei einem vorhergehenden Gentest "die Eignung für die vorgesehene Tätigkeit festgestellt
worden ist".
Nach dem Amtsverzicht unserer vorherigen Gesundheitsministerin 2001 bestand auch für uns die Gefahr der
Gen-Ausforschung für Versicherungszwecke, denn deren Nachfolgerin kündigte an, die Frage der Eröffnung von
Gentests für Lebensversicherungen noch einmal überprüfen zu wollen! Aber was bedeutet das für den
möglicherweise Betroffenen? Zum Beispiel wird die genetisch bedingte Krankheit »Chorea Huntington« mit 50-
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prozentiger Wahrscheinlichkeit vererbt. Dieser dominant erbliche Veitstanz bricht üblicherweise zwischen dem
35. und 40. Lebensjahr aus. Wenn nun ein Elternteil an dieser Krankheit leidet oder gestorben ist, dürfen dann
Krankenkassen und andere Versicherungen die Nachkommen zu einem Gentest zwingen?
„Keine Gentests vor Verträgen
Berlin – Die deutschen Versicherer verzichten darauf, Gentests als Voraussetzung für einen
Vertragsabschluß durchzuführen. Der Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft (GDW)
legte jetzt nach eigenen Angaben eine entsprechende Selbstverpflichtung vor.
Gentests zur Diagnose bestehender Krankheiten sind in der Medizin selbstverständlich. Bei
sogenannten prädikativen Gentests, die Aussagen zum Ausbruch von Krankheiten noch gesunder
Menschen ermöglichen, hatte es im Zusammenhang mit Versicherungsverträgen jedoch
Befürchtungen gegeben, dass belastete Personen nicht mehr versichert würden. Die freiwillige
Selbstverpflichtung gilt zunächst bis zum 31. Dezember 2006.“ (HH A 08.11.01)
Und dann?
Der Staat geht da auf der Basis des Beamtenrechts mit seinen weitgehenden Verpflichtungen für sich selbst als
Dienstherrn schon radikaler vor:
„Geisel der eigenen Gene
Eine gesunde Lehrerin aus Hessen wird nicht verbeamtet, weil ihr Vater an der Erbkrankheit Chorea
Huntington leidet. Nun fühlt sich sie sich von den Behörden zu einem Gentest genötigt.
Sie wollte eine Anstellung auf Lebenszeit. Stattdessen bekam sie einen Brief, in dem ihr mitgeteilt
wurde, wie lange sie wohl noch zu leben hat.
’In den nächsten zehn Jahren’ werde die tödliche krankheit mit ’erhöhter Wahrscheinlichkeit’
ausbrechen, schrieb die Amtsärztin der jungen Frau: ’Sie werden voraussichtlich nicht bis zum 65.
Lebensjahr arbeiten können.’
...
Die Lehrerin ... trägt unbestreitbar ein hohes genetisches Risiko in sich. Ihr Vater ist an Chorea
Huntington erkrankt, einer Nervenkrankheit, die auch unter dem volkstümlichen Namen Veitstanz
bekannt ist. Der Verlauf ist grausam: Die Hirnmasse schwindet. Der Körper gehorcht nicht mehr dem
Willen, das Wesen des Erkrankten verändert sich. Viele Huntington-Patienten werden jähzornig, sind
geplagt von Angstzuständen, ehe sie in völlige geistige Umnachtung fallen. Am Ende steht immer ein
früher Tod.
Nicht nur die Symptome sind teuflisch, sondern auch die Vererbung: Mit einer Wahrscheinlichkeit
von 50 Prozent geht das defekte Gen von einem kranken Elternteil auf das Kind über – egal, ob es ein
Mädchen oder Junge ist. Hätte sie tatsächlich auf dem vierten Chromosom das schadhafte Gen, wäre
das Schicksal der jungen Lehrerin schon bei ihrer Zeugung besiegelt worden.
So ist sie zur Geisel ihrer eigenen Gene geworden. Gewissheit darüber, ob sie an Huntington
erkranken wird oder nicht, könnte ihr allenfalls ein Gentest verschaffen. Fällt er negativ aus, stünde
auch der Verbeamtung nichts mehr im Wege. Was aber, wenn das Ergebnis positiv ist?
Genau wegen dieses Dilemmas ist in der Biomedizin-Konvention des Europarats ein ’Recht auf
Nichtwissen’ über die eigene genetische Bestimmung festgeschrieben. Niemand darf zu einem
Gentest gezwungen werden.
Das ist auch im hessischen Fall nicht geschehen. Doch indirekt übt der Verwaltungsbescheid sehr
wohl Druck auf die Kandidatin aus, zur Erbgutanalyse zu schreiten. ... Niemand darf aber wegen der
eigenen DNS benachteiligt werden – sagt zumindest die Biomedizin-Konvention. Ein Gesetz, das
Fälle wie den der hessischen Lehrerin klar regelt, gibt es jedoch in Deutschland noch immer nicht. ...
Doch der Druck auf Huntington-Familien ist groß. Welcher Arbeitgeber möchte nicht gern wissen,
ob es sich lohnt, in den Angestellten zu investieren? Und welche Versicherung möchte sich nicht
vergewissern, dass ihr Kunde nicht schon bald ein Fall für die Berufsunfähigkeit wird?
...
In der Privatwirtschaft sind Fragen nach einem Gentest bislang nicht statthaft. So haben sich die
deutschen Versicherer einer Selbstverpflichtung unterworfen, wonach ’die Durchführung von
prädiktiven Gentests nicht zur Voraussetzung eines Vertragsabschlusses’ gemacht wird. Doch in der
Praxis wird schon längst das genetische Risiko mit in das Geschäft einbezogen. ...
In Zukunft könnte dieses Versteckspiel mehr als jene rund 8000 Menschen betreffen, die in
Deutschland an Huntington leiden. Denn die Zahl der Krankheiten, deren Spuren in den
Chromosomen nachgewiesen werden können, wächst ständig. ... Die Zahl der in Deutschland
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vorgenommenen Genuntersuchungen steigt folglich rapide an, es sind schon heute mehrere
zehntausend jährlich. ...
Wenn der Fortschritt in der Gentechnik so weitergehe, so der Datenschutzexperte aus Frankfurt,
’dauert es nicht mehr lange, und bei jedem Menschen wird man irgendeinen genetischen Fehler
feststellen’. (SPIEGEL 20.10.03)
Jeder sollte das Recht haben, seine genetische Disposition zu kennen. Ich bin jedoch der festen Überzeugung,
dass es ebenso ein strikt zu handhabendes »Recht auf Nichtwissen« geben muss! Dieses Recht muss zunächst für
jeden möglicherweise Betroffenen gelten, denn nicht jeder hat die starke Persönlichkeit, seine Gene untersuchen
zu lassen, um dann hinterher im Falle eines »positiven« Untersuchungsergebnisses mit festgestelltem
niederschmetternden Befund mit dem Wissen um einen ihm vorher nicht bekannten Gendefekt leben zu können,
der zum Ausbruch einer Krankheit führen kann, denn Hoffnungen auf Erfolge im Bereich einer vorbeugenden
genetischen Medizin, eine genetisch bedingte Krankheit schon vor ihrem Ausbruch erkennen und durch
Genreparatur verhindern zu können, werden noch einige Zeit unerfüllt bleiben. Die Gentherapie hinkt der
Gendiagnostik weit hinterher, aber Gendiagnostik ist der erste Schritt auf dem Weg zur Gentherapie.
Nach derzeitigem Wissensstand kann man erst ein Promille der rund 25.000 Gene des Menschen - ungefähr so
viele, wie z.B. die Maus und das heimische Unkraut Ackerschmalwand auch vorweisen können - bestimmten
Krankheiten zuordnen. Und das wird bestimmt noch mehr werden, wenn man die Wirkzusammenhänge besser zu
verstehen gelernt hat. Damit kann man die so erkannten Krankheiten aber noch längst nicht heilen; das ist nur in
einzelnen Fällen möglich. So kam es, dass nach einer seit Jahren gelaufenen Debatte die Kaufmännischen
Krankenkasse (KKH) 2004 ein Modellprojekt startete, gegen das die eingeschaltete Ethikkommission keinerlei
Bedenken hatte: In Kooperation mit der Medizinischen Hochschule Hannover waren 6.000 KKH-Versicherte auf
eine Erbkrankheit, die so genannte Eisenspeicherkrankheit, untersucht worden. Gegen diese
Stoffwechselerkrankung, die im Laufe der Jahre lebenswichtige Organe durch Eiseneinlagerung massiv schädigt,
gibt es bei rechtzeitigem Erkennen gute Therapiechancen. Entsprechend hoch war das Interesse der Versicherten
an einer Teilnahme gewesen.
Eine solche Testteilnahme darf aber grundsätzlich nur freiwillig sein und das Ergebnis des Tests sollte zunächst
nur dem von einem Fremdlabor zu Testenden bekannt gegeben werden dürfen! Das zu regeln ist, um Missbrauch
vorzubeugen, die Aufgabe eines seit 1998 angekündigten, schleunigst abzufassenden Gendiagnostikgesetzes,
denn Ende 2006 läuft die freiwillige Verpflichtung der privaten Versicherungswirtschaft aus, auf Gentests zu
verzichten. Sollte es bis dahin nicht zu einer rechtlichen Regelung gekommen sein, droht die zumindest abstrakte
Gefahr des Missbrauchs. Arbeitgeber und Kranken- sowie Lebensversicherer haben schließlich ein starkes
materielles Interesse an entsprechenden Untersuchungsergebnissen. "Vermeintlich freiwillige, faktisch jedoch
unfreiwillige Gentests könnten dann um sich greifen", warnte der Datenschutzbeauftragte des Bundes, Schaar. In
anderen Ländern gebe es derartige Entwicklungen und Ausgrenzungen im gesellschaftlichen Leben durch negativ
zu bewertende positive Ergebnisse von Genuntersuchungen.
Wie ist es aber, wenn spezielle Krankheiten nur an nicht-einwilligungsfähigen Kranken (Behinderten, psychisch
Kranken, Dementen oder Kindern) untersucht werden können, um die zu der Krankheit führenden
Wirkzusammenhänge verstehen zu lernen und mit fortschreitender Erkenntnis eventuell heilen oder gar durch
Genbehandlung verhindern zu können? Das wäre der Einstieg in die fremdnützige Forschung mit nichteinwilligungsfähigen Patienten. Eine vermittelnde Position zwischen strikter Ablehnung und bedenkenloser
Befürwortung wäre es, wenn Gentests an nicht-einwilligungsfähigen Patienten nur dann durchgeführt werden
dürften, wenn diesen ansonsten Leiden drohe und außerdem eine konkrete Aussicht auf Heilung bestünde.
Sprich, der Gentest darf nur im Eigeninteresse des Patienten gemacht werden. Fremdnützige Forschung, mit der
beispielsweise medizinische Erkenntnisse gewonnen oder ergänzt werden sollen, würde somit ausgeschlossen.
Kritiker begründen diese eine »freie« Forschung einschränkende Regelung mit dem aus Art. 1 GG abgeleiteten
"Instrumentalisierungsverbot", das verbietet, dass Menschen zum (Forschungs-)Objekt degradiert würden, heißt
es im Enquete-Bericht des Bundestags vom Mai 2004. Aus diesem Grund hat die Bundesrepublik Deutschland
bis heute die Bioethikkonvention des Europarates aus dem Jahre 1996 nicht unterzeichnet. Jetzt droht das
anstehende Gendiagnostikgesetz, diese Tür wieder aufzustoßen. Einigkeit besteht dagegen bei der Notwendigkeit
zum Test auf Kinderkrankheiten, für die es zwar keine Heilung, wohl aber eine Therapie gibt. So kann z.B.
Mukoviszidose zwar nicht geheilt, aber bis zum 50. Lebensjahr therapiert werden, wenn man mittels eines
Gentests früh eine präzise Diagnose stellen kann.
Immer mehr Menschen könnten nach Gentests – bisher ohne Heilungschance - als »genbedenklich« oder
»gengeschädigt« eingestuft werden! Sollen sie das wissen müssen? Sollen das andere wissen dürfen? Völlig offen
ist dabei außerdem, ob der »Gengeschädigte« diesen möglichen Ausbruch einer bisher unheilbaren schweren,
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schleichenden Krankheit überhaupt erleben wird, denn ein Unfall oder eine andere Krankheit als die in seinen
Genen erkennbar angelegte kann unvorhergesehen sein Leben beenden. Dann hat er ohne das ihm
möglicherweise wider seinen Willen aufgedrängte Wissen um einen krankheitsauslösenden Gendefekt die Zeit
davor angstfrei gelebt!
Ohne eine solche entlarvende Genuntersuchung ist mehr Raum für Hoffnung. Wenn diese Untersuchung nicht
vorgenommen und so kein positiver Befund festgestellt wird, hat der Betroffene nicht jeden Morgen, jeden Tag
und jede Nacht nach Erhalt des Untersuchungsergebnisses mit der Angst aufwachen, leben und einschlafen
müssen, wann diese auf Grund seines festgestellten Gendefektes ihm möglicherweise oder sehr wahrscheinlich
drohende schwere, schleichende Krankheit irgendwann bei ihm ausbrechende werde! Und dieses unbesorgte
Nichtwissen wiegt schwer!
Dieses »Recht auf Nichtwissen« muss meines Erachtens erst recht gegenüber neugierigen Dritten wie
insbesondere Krankenkassen und Arbeitgebern gelten. Haben Sie z.B. verfolgt, dass von interessierter Seite
schon seit einigen Jahren ins Gespräch gebracht worden ist, dass Bewerber um einen Arbeitsplatz dem
Arbeitgeber mit ihrer Bewerbung ihren Gentest vorweisen sollten? Selbstverständlich nur »zum Wohle der
Arbeitsuchenden, um gesundheitliche Gefährdungen an gefährlichen Arbeitsplätzen möglichst weitgehend
auszuschließen«!
Wir können aber absolut sicher sein, dass dann, sollten die Dämme erst einmal brechen, über eher kurz und
gewiss nicht lang nicht nur von Samenspendern ein generell vorzulegender Gentest verlangt werden wird! Was
glauben Sie, wie Ihre Chancen oder die ihrer Kinder trotz exzellenter Zeugnisse stehen würden, wenn einem
Arbeitgeber durch die vorgelegte Genanalyse bekannt würde, dass bei Ihnen oder Ihren Kindern eine erhöhte
Gefährdung durch eine möglicherweise oder sogar sicher in ungewiss naher Zukunft ausbrechende Epilepsie, ein
Krebsrisiko von 60:40, eine Frühdemenz, eine der schrecklichen Erbkrankheiten FOP, MLD, ..., die die
Menschen von innen heraus versteinern, erblinden und ertauben lässt, ... vorliegt, Suchtschädigungen oder durch
Umweltschäden erbliche Belastungen durch Ihre Eltern nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden können, das
Eintreten von Multipler Sklerose nicht ganz unwahrscheinlich ist, ... .
Wehret den Anfängen! »Safer lex«! Denn die Anfänge sind schon gemacht:
„Britische Gen-Elite
AFP London – Die britische Armee will einem Zeitungsbericht zufolge künftig ihre Elitesoldaten per
Gentest auswählen. Wie die ‘Sunday Times‘ unter Berufung auf Militärkreise berichtet, würden
derzeit an Rekruten Tests vorgenommen, mit denen die für die körperliche Leistungsfähigkeit
verantwortlichen Gene gefunden werden sollen. ...“ (HH A 06.10.97)
Krankenkassen sind Einrichtungen der Solidarität. Da muss man nicht vorher Risikoprämien auf sonst nicht
entdeckbare, sich aus einer bestimmten Genstruktur möglicherweise erst viel später im Verlauf von Jahren
ergebende Krankheiten erheben.
Und Arbeitgeber sind im Zweifelsfall mitleidloser als die eigene Solidargemeinschaft der bei einer Krankenkasse
Versicherten. Da hat dieses Wissen um Gendefekte erst recht nichts zu suchen!
In Deutschland wurde 2004 versucht, Kraftfahrer auf ihre Genstruktur hin untersuchen zu lassen.
Nach einer kurzen Phase des Nachdenkens meldeten die Medien im März 2001, dass sich die neue
Gesundheitsministerin Schmidt nunmehr zu der hier vertretenen Ansicht durchgerungen habe - die ich nach
gewissenhafter Abwägung des Für und Wider für die am Menschenbild des Grundgesetz gemessen einzig
vertretbare halte, sonst hätte ich nicht damals die Zeitungsmeldung von 1997 nach ihrem Erscheinen als Beweis
des Menetekels darüber eingearbeitet, was mit blutiger Schrift als Prophezeiung eines Ergebnisses des
Forscherwahns an die Wand geschrieben worden ist, aber offensichtlich nicht von allen in seiner Tragweite so
gesehen wurde.
Was aber für die Krankenkassen weiterhin gelten soll – keine »Gen-Spionage« -, scheint für die Lebensversicherer gelockert zu werden:
„Gentest für die Versicherung
Berlin – Die SPD will Versicherungsunternehmen das Recht einräumen, bei Lebensversicherungen
mit hohen Versicherungssummen auch die Ergebnisse von Gentests zu verwerten. In einem
Eckpunkte-Papier der SPD für ein Gentestgesetz heißt es, diese Ausnahme könne eingeführt werden,
um Missbrauch beim Abschluss von Lebensversicherungen zu verhindern. (rtr)” (HH A 30.04.02)
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Und wie lange bleibt ein - zunächst - den Lebensversicherungen »ausnahmsweise« erlaubter Zugriff auf
Gentestdaten eine Ausnahme, wenn die Dämme erst einmal brechen?
Außerdem: Wie soll man sich einen Missbrauch vorstellen, vor dem die Lebensversicherer durch einen
(angeblich) geschäftsnotwendigen Zugriff auf Gentestdaten (angeblich) geschützt werden müssten? Schließt
jemand, der eine Lebensversicherung mit einer hohen Versicherungssumme und den dementsprechend hohen
Prämien abschließen will, einen solchen Vertrag nur darum ab, weil er sich zuvor privat erst einen Gentest hat
erstellen lassen, der dann ungünstig ausgefallen ist und er nun für irgend jemanden etwas mit seinem kurzen
»Rest-Leben« »verdienen« will – oder wird ein solcher Vertrag nicht deshalb abgeschlossen, um ein bestimmtes
Risiko, z.B. eines Hauskaufes oder einer Geschäftsgründung, als Voraussetzung für den Erhalt eines
Bankkredites abzudecken?
Politik ist die Kunst der Zukunftsgestaltung. Und da das oft durch Gesetze geschieht, müssen wir bei uns im ganz
direkten Wortsinn »frag-würdig« erscheinenden Gesetzesvorhaben den demokratischen Widerstand organisieren,
damit wir uns nicht vorwerfen müssen, was die Großkirchen mit zurück gewandtem Blick auf das Entstehen des
Nationalsozialismus später als ihr Versagen reuevoll bekannt haben: „Wir haben zu wenig widerstanden!“
Darum muss die Tagespolitik hinsichtlich sich abzeichnender gravierender rechtlicher Neuerungen ständig wach
verfolgt werden - dabei hilft z.B. eine gute Tageszeitung -, und es muss notfalls möglichst rechtzeitig durch z.B.
lautes Protestgeschrei oder/und Besuche von Abgeordneten-Sprechstunden reagiert werden! Inzwischen scheint
die Bundesregierung auch in die hier vertretene Richtung zu tendieren, denn es wurde über die
Nachrichtenmedien verbreitet, dass man, ähnlich wie in Österreich, eine gesetzliche Regelung anstrebe, der
zufolge gesetzlich verboten werden solle, Gentests „zu verlangen, zu verbieten oder zu verbreiten“. Nur der
Betroffene dürfe für sich Gentests erstellen lassen.
Auch der Bundesdatenschutzbeauftragte scheint inzwischen in die hier vertretene Richtung gehen zu wollen:
„Datenschutz bei Gentests
Berlin – Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar fordert ein neues Gesetz für
Rechtssicherheit bei Gentests. Arbeitgeber dürften von Bewerbern oder Arbeitnehmern nicht
verlangen, dass sich diese einem Gentest unterziehen. Das neue Gentest-Gesetz müsse zudem
heimliche Genom-Analysen verbieten. (afp)” (HH A 14.04.04)
Nach einem der vielen Sexualverbrechen an einem Mädchen war dagegen von dem rechtspolitischen Sprecher
der CSU-Fraktion im Bundestag, Geis, die Forderung erhoben worden, in einer zentralen Datenbank die Daten
der zwangsweise vorzunehmenden Gentests aller männlichen Einwohner der BRD zu sammeln und ein Leben
lang aufzuheben, um im Falle eines erneuten Mädchenmordes den Täter durch einen Vergleich mit den an der
jeweiligen Mädchenleiche immer auffindbaren Spuren sofort dingfest machen zu können. Dieses Verbrechen der
Mädchen- und Frauenmorde wird mit Sicherheit nie aussterben. Wenn etwas gewiss ist, dann ist es das, denn der
Mensch ist auch durch seine Triebkraft Sexualität bestimmt, die nicht alle unter Kontrolle haben. Es wird immer
Männer mit Angst vor einer erwachsenen Frau als Partnerin und nicht ausreichender Selbstkontrolle geben, die
irgendwann mit Vorliebe Mädchen oder auch junge erwachsene Frauen überfallen, missbrauchen und
anschließend ermorden werden. Soll nun nach möglicher Erfassung aller schon lebenden Männer von jedem
männlichen Baby gleich nach der Geburt im Zuge der sowieso vorzunehmenden Untersuchungen ein Gentest
erstellt werden, weil einige von ihnen später irgendwann mit Sicherheit einmal Sexualverbrecher werden?
Diese Frage fällt weg, wenn, wie manche Evolutionsbiologen es kommen sehen, von jedem Neugeborenen und
seinen Eltern im Verlauf des 21. Jahrhunderts routinemäßig Gentests erstellt werden, damit zunächst einmal die
Verwandtschaftsverhältnisse zweifelsfrei geklärt sind und von jedem die auf ihn durch die Zeugung anfallende
Kindersteuer erhoben werden kann.6 Dann lägen die entsprechenden Daten ja vor, wenn nicht nur bestimmte
Abschnitte der Minisatelliten-DNA zum Abstammungsabgleich untersucht werden, die in ihrem nicht-codierten
Bereich, der 90 % des Genoms eines Menschen ausmacht, keinen Aufschluss über Genschäden ermöglichen.
2004 wurde von einer von der EU-Kommission eingesetzten Expertengruppe in einem Gentest-Memorandum
angeregt, europaweit an allen Neugeborenen nicht nur das bisher schon angewandte biochemische Verfahren als
Suchtest gegen bestimmte Krankheiten wie z.B. eine Schilddrüsenunterfunktion vornehmen zu lassen, sondern in
Erweiterung der Suchtests nach früh zu behandelnden Krankheiten ein genetisches „Screening“ vorzunehmen,
um die Kinder auf genetische Defekte hin untersuchen zu lassen. Die Mediziner erhoffen sich neue
Behandlungschancen. So gilt es etwa bei schweren Immundefizienzen als nachgewiesen, dass Gentherapien
helfen können. Ein erster Nachweis gelang Anfang der neunziger Jahre für die ADA-Defizienz. Bei dieser
6
U.a. Baker, R.: Sex im 21. Jahrhundert – Der Urtrieb und die moderne Technik, 2000, S. 34 ff
29
Krankheit ist das Immunsystem nicht funktionsfähig, weil ein einziges Gen fehlt, das für die Herstellung des
Enzyms Adenosin-Desaminase (ADA) entscheidend ist. Ähnlich verhält es sich bei der
Immunschwächekrankheit X1-SCID . Bei an dieser Krankheit Erkrankten fehlt ein Protein, das für die Bildung
körpereigener Abwehrzellen notwendig ist, so dass jeder an sich harmlose Keim im Körper der von dieser
Krankheit Betroffenen eine lebensbedrohliche Infektion auslöst. Betroffene müssen sich deshalb stets in einer
möglichst keimfreien Umgebung aufhalten. Die Kinder müssen von der Geburt an unter einem sterilen Plastikzelt
leben. (Der Fotobericht im STERN über die unsäglichen Lebensumstände einer betroffenen Frau, die auf Grund
ihrer Krankheit weder Besuch von Familienangehörigen noch Bekannten empfangen, noch die mit Folie
ausgekleidete Wohnung verlassen konnte, war äußerst eindrucksvoll!) Für u.a. diese seltenen Erkrankungen
erhoffen sich EU-Forscher nach ersten Gentherapie-Erfolgen bis spätestens 2010 entsprechende GentherapieZulassungen von den zuständigen US- und EU-Zulassungsbehörden, da bei vier an ADA-Defizienz erkrankten
Kindern, für die kein HLA-identischer Stammzellenspender zur Verfügung stand, mit einer Gentherapie der
ADA-Gendefekt in Blut-Stammzellen so weit korrigiert werden konnte, dass die Heranwachsenden ein normales
Leben ohne Medikamente führen können. Die Wissenschaftler aus staatlichen Forschungsinstituten, Industrie und
Medizin hatten in Brüssel nach einjähriger Arbeit 25 Empfehlungen zu den ethischen, rechtlichen und sozialen
Fragen von Gentests beim Menschen vorgelegt. Die Expertengruppe kam zu dem Schluss, dass Gentests einen
Fortschritt für das Gesundheitswesen darstellen und Chancen für neue Entwicklungen in der Präventivmedizin
und der Arzneimittelentwicklung eröffnen. Gentests müssten jedoch der freien Entscheidung der Betroffenen
vorbehalten bleiben. "Von hoher Bedeutung ist die Unterscheidung zwischen individuellen genetischen Tests und
genetischem Screening", betont Ludger Honnefelder von der Universität Bonn. So bedürfe es einer Definition
dessen, was Krankheit und Krankheitsdisposition und was bloße Disposition sei. Der Bonner Ethikprofessor
warnte vor einer Gleichsetzung genetischer und medizinischer Daten. Auch wenn ein genetisches Screening an
Freiwilligkeit gebunden werde, könne sie in der medizinischen Routine zur Aushöhlung der individuellen
Freiheit führen.
EU-Forschungskommissar Philippe Busquin soll sich die Forderung nach einem genetischen Screening zunächst
angeblich „uneingeschränkt zu Eigen“ gemacht haben. Er wurde in der Presse mit dem Satz zitiert: "Es ist
wichtig, dass die Empfehlung für Gentests an Babys in den Mitgliedsstaaten umgesetzt wird." In der EU werden
inzwischen jährlich über 700.000 Gentests durchgeführt, die mit Kosten von 500 Millionen Euro verbunden sind;
ein großer Markt für Pharmafirmen und Tester also. Allein in Deutschland werden bereits jährlich rund 90.000
Gentests durchgeführt. "Es muss dringend ein Validierungssystem für Gentests geschaffen und eine europäische
Gendatenbank aufgebaut werden", sprach sich Busquin für die Bildung eines Europäischen Netzwerkes für
Gentechnik im Rahmen des 6. EU-Forschungsrahmenprogramms aus. Er bestritt aber später seine Befürwortung,
als ihm wohl die Brisanz dieses Unterfangens aufgegangen war.
Sollte es zu einem solchen Massenscreening kommen, dann stellen sich einige Fragen. Auf der persönlichen
Ebene: Wer will von klein auf wissen, dass bei ihm mit etwa 40 Jahren die unheilbare, genetisch bedingte
Huntington-Krankheit ausbrechen könnte? Neben der psychischen Belastung könnten solche Personen auch bei
der Arbeitssuche und in Versicherungsfragen benachteiligt werden. So können genetische Daten zu großen
Belastungen für den Betroffenen führen und die Gefahr einer sozialen, ethischen oder eugenischen
Diskriminierung beinhalten. Darum wird vorgeschlagen, dass sich die angeregten Tests ausschließlich auf
therapierbare Krankheiten beziehen dürften.
Ungeklärte Fragen auf der gesellschaftlichen Ebene: Wer soll auf diesen Datenpool Zugriff haben? Konkret:
Auch die Polizei, wenn sie einen Sexualstraftäter sucht? Soll die männliche Hälfte der Bevölkerung unter
Generalverdacht gestellt werden?
Obwohl wegen der abartigen Natur mancher Männer durch Zwangsgentests Mädchen- und Frauenmorde als
»Erstmorde« nicht zu verhindern sein werden, hat der Gedanke der sofortigen Aufklärung zunächst etwas
Bestechendes für sich, weil Mädchen- und Frauenmörder oft Wiederholungstäter sind. Und diese nachfolgenden
Morde könnten verhindert werden, wenn ein solcher potentieller Wiederholungstäter nach dem ersten Mord
„lebenslang“ (bis ins Greisenalter) weggesperrt würde, denn das ist die sich daran anschließende ergänzende
Forderung, die von Befürwortern einer solchen Regelung erhoben wird. Es würde dann aber kommen, wie es
immer kommt: die Schraube würde bei nächst passend dünkender Gelegenheit weitergedreht werden. Das sahen
wir z.B. bei der Propagierung von Gewalt in der politischen Auseinandersetzung, wo zur Rechtfertigung von
Gewalt zunächst zwischen der gegen Sachen und der gegen Personen einzusetzenden unterschieden wurde, bis
sie dann auch gegen Personen angewandt wurde – bis hin zu deren Ermordung.
Beim Klonen wurde eine Zeit lang bei der Forderung nach Freigabe des Klonens zur politisch leichteren
Durchsetzbarkeit dieser Forderung semantisch zwischen therapeutischem und reproduktivem Klonen
unterschieden, obwohl die dazu angewandten Techniken größtenteils die gleichen sind: Immer wird eine
(Spender-)Eizelle und das komplette Erbgut des Lebewesens benötigt, das geklont werden soll. Weil sich Frauen
zum »Ernten« der von ihnen benötigten Eizellen bislang einer zu diesem Zweck ethisch umstrittenen und
30
physisch unangenehmen Hormonbehandlung unterziehen mussten, wird schon mit der Einpflanzung
menschlichen Erbgutes in tierische Eizellen experimentiert.
Unabhängig davon, woher die verwandte Eizelle stammt, wird ihr Genmaterial bei der Kerntransplantation im
nächsten Schritt unter dem Mikroskop entnommen und - mitunter Behinderungen verursachend - entweder nach
der Honolulu-Methode mittels einer Hohlnadel oder nach der Dolly-Methode mittels eines Stromstoßes von
3.000 Volt durch das Genmaterial aus der Körperzelle des Spenders ersetzt, für den, z.B. zur Gewinnung eines
körpereigenen Ersatzorgans, körpereigene Stammzellen gewonnen werden und so geklont werden soll, wie es mit
menschlichen Zellen zuerst in Korea und dann in Großbritannien gemacht worden ist. Nach der Fusion von
entkernter Eizelle und dem eingeschleusten Genmaterial muss der bedarfsgerecht konstruierte Embryo stimuliert
werden, sich wie ein von Mutter Natur geschaffener zu verhalten und sich zu teilen. Das gleiche gilt für das
Klonen in Form der Embryonenteilung. Dazu wurden in Tierversuchen bislang chemische und mechanische
Aktivierungen erprobt. Wenn das gelingt, entsteht aus dem zunächst amorphen Zellhaufen nach einigen
Teilungen die als Blastozyste bezeichnete Hohlkugel, in deren Innerem sich die pluripotenten Stammzellen für
den Aufbau des gesamten Körpers bilden. Verfolgte man das Ziel des »reproduktiven« Klonens – z.B. um nach
den abstrusen Vorstellungen der Raelianer mit woher auch immer besorgtem Chromosomensatz Hitler zu klonen
und den »Klon-Hitler«, der in seinem jungen Leben nichts Böses getan haben muss, nach Erreichen des
Erwachsenenalters für die Untaten seines Klon-Ursprungs vor Gericht zu stellen, eine Idee, die noch abstruser ist
als die von Papst Pius XII., der fest daran glaubte, dass Hitler vom Satan besessen sei und darum über FernExorzismus eines kirchlich zugelassenen Teufelsaustreibers versuchte, Hitler den Teufel austreiben zu lassen -,
würde der Klon in diesem Stadium einer »Leihmutter« zum Austragen der nicht eigenen Leibesfrucht binnen der
üblichen neun Monate Schwangerschaft eingepflanzt. Verfolgt man hingegen entsprechend den Geboten der
helfenden und heilenden Ethik als Ziel das »therapeutische« Klonen, so würde die konstruierte Blastozyste des
geplanten Embryos nach Bildung der Stammzellen im 64- bis 128-Zellstadium in einem von Gegnern des
therapeutischen Klonens als »Abtreibung in der Petrischale« bezeichneten Vorgang zerstört und es würden die so
gewonnenen Stammzellen in Stammzelllinien zur Bildung der begehrten Ersatzorgane angeregt.
„STAMMZELLEN-FORSCHUNG
Britische Forscher dürfen Embryonen klonen
In Großbritannien dürfen menschliche Embryonen erstmals zu Forschungszwecken geklont werden.
Die zuständige Behörde für Menschliche Fortpflanzung und Embryologie genehmigte einen
entsprechenden Antrag.
Wissenschaftler der Newcastle University wollen mit Hilfe von Stammzellen geklonter Embryonen
Behandlungsmöglichkeiten für Diabetes, Parkinson und Alzheimer erforschen. Für die Erzeugung der
Embryonen wollen sie die gleiche Methode verwenden, die benutzt wurde, um das Schaf ’Dolly’ zu
klonen.
Kritiker halten das so genannte therapeutische Klonen für unethisch. ’Diese Forschung überschreitet
zum ersten Mal eine wichtige ethische Grenze’, sagte der Molekularbiologe David King.
Großbritannien hatte das Klonen menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken 2001 legalisiert.
Das Klonen von Embryonen zur menschlichen Fortpflanzung ist weiterhin strafbar.
(Spiegel Online 11.08.04)
GENTECHNIK
"Dolly"-Schöpfer darf menschliche Embryos klonen
Der Schöpfer des Klonschafs "Dolly" darf jetzt auch menschliche Embryos zu Forschungszwecken
klonen. Die zuständige britische Aufsichtsbehörde erteilte dem Team um Ian Wilmut die
entsprechende Erlaubnis.
London - Es ist erst das zweite Mal, dass die britischen Behörden das Klonen menschlicher Embryos
zu Forschungszwecken gestatten. 2001 hatte Großbritannien die Prozedur als weltweit erster Staat
legalisiert und im August 2004 erstmals Forschern der University of Newcastle upon Tyne eine
Erlaubnis erteilt.
Jetzt hat die zuständige Behörde für Menschliche Fortpflanzung und Embryologie (Human
Fertilization and Embryology Authority) zum zweiten Mal das Klonen menschlicher Embryos
genehmigt. Die Profiteure sind keine Unbekannten: Ian Wilmut und sein Team gelangten 1996 zu
Weltruhm, als sie das weltweit erste lebensfähige Säugetier klonten. Das Schaf "Dolly" ist im Februar
2003 im Alter von sechs Jahren gestorben.
Beim therapeutischen Klonen wird einer menschlichen Eizelle der Kern entnommen und durch den
Kern der Körperzelle eines Patienten ersetzt. Das Ei wird künstlich stimuliert, sich zu einem Embryo
weiter zu entwickeln. Die Forscher wollen dann Stammzellen entnehmen, die die Fähigkeit besitzen,
31
sich in jeden Zelltyp des menschlichen Körpers zu verwandeln.
Wilmut vom Roslin Institute bei Edinburgh und Christopher Snow vom Institute of Psychiatry in
London wollen Zellen von Patienten mit der Nervenkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)
klonen, unter der beispielsweise der britische Physiker Stephen Hawking leidet. An den aus diesen
Zellen hergestellten Embryos will Wilmut erforschen, wie sich die Krankheit entwickelt.
SPIEGEL ONLINE 08.02.05
Der mühsam konstruierte, aber nur semantische Unterschied zwischen des »reproduktivem« und
»therapeutischen« Klonen wurde jedoch aufgehoben, als ein Reproduktionsmediziner erklärte, für ihn sei
reproduktives Klonen bei Unfruchtbarkeit eines Ehepaares ein therapeutisches Klonen. Zu befürchten ist nach
aller bisherigen Erfahrung mit zunächst einschränkenden Sicherheitsklauseln: Ist erst einmal eine Gendatenbank
für einen kleinen Personenkreis, wie es sie bereits seit 1998 mit bisher über 100.000 Einträgen von Tätern aus
Sexualdelikten, schwerer Körperverletzung, Raub und Erpressung gibt, erstellt, wird sie auch für einen größeren
Personenkreis gefordert und für andere Zwecke genutzt werden! In seinem Volkszählungsurteil hat das BVerfG
aus dieser Einsicht heraus das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verbalisiert und wegen der mit einer
umfangreichen Datenerfassung gesehenen Gefahren eines Orwell’schen Überwachungsstaates für die
Selbstbestimmung des Bürgers das Gesetz verboten: Das Menschenbild des Grundgesetzes wolle nicht den
»gläsernen Menschen«; ein Beispiel dafür, dass die Maßstäbe der jeweils in einer Gesellschaft geltenden Ethik
dem Recht vorgelagert sind, die Grundlagen des Rechts sich aus den in einer Gesellschaft geltenden ethischen
Normen ergeben. Der Datenschutz wurde vom BVerfG als ein so hochrangiges Prinzip beurteilt, dass die in
meinen Augen vergleichsweise harmlosen Fragen der Volksbefragung nach z.B. Alter, Geschlecht,
Familienstand, Wohnungsgröße, Eigenheim oder Mietobjekt, ... wegen ihrer in der Kombination der Antworten
gemutmaßten Ausforschungsmöglichkeiten nicht zugelassen wurden. Darum hat das BVerfG dem befürchteten
potenziellen Ausforschungsdrang von Anfang an einen Riegel vorgeschoben. Mich hätte es nicht gestört, wenn
die Volkszählungsdaten so erhoben worden wären, wie das Parlament es in dem Gesetz einstimmig beschlossen
hatte. Ich hatte da nichts zu verbergen und fühlte mich in meiner Blauäugigkeit von keiner der streng
vorgegebenen Fragen weder ausgeforscht noch in meiner persönlichen Freiheit eingeschränkt oder gar bedroht,
weil ich keine mich tangierende Missbrauchsmöglichkeit zu erkennen vermochte.
Aber wenn jetzt von allen (zunächst nur) männlichen Bürgern Daten über ihre Genstruktur und ihre möglichen
Gendefekte erfasst werden sollten, dann schaudert es mich doch vor den sich daraus ergebenden
Missbrauchsmöglichkeiten! Gläserner als durch das Erfassen seiner Genstruktur kann ein Mensch ja nicht
gemacht werden, solange Gedankenkontrolle à la (des echten) Big Brother(s) technisch nicht realisierbar ist. Bei
der Qualität, die dem Datenschutz beigemessen wird, ist es mir nicht denkbar, dass das BVerfG dem nach CSUArt wohl mehr aus populistischen Erwägungen heraus gemachten Vorschlag seinen verfassungsrechtlichen Segen
erteilen und eine solch einschneidende Datenerfassung ohne jeglichen Anfangsverdacht zulassen könnte. Das
verstieße auch gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dem jegliches staatliche Handeln unterliegt. Das
BVerfG müsste dazu die Prinzipien seiner gesamten bisherigen Rechtsprechung aufgeben! Das weiß der
rechtspolitische Sprecher der CSU-Fraktion als ausgebildeter Jurist aber auch selber; trotzdem brachte er diesen
Vorschlag in die politische Tagesdiskussion.
Die neueste Version einer von Kritikern so gesehenen alle Bürger betreffenden Ausforschungsmöglichkeit ist der
Medikamenten- oder Arzneimittel-Pass auf einer Chipkarte, dessen Einführung einen Monat nach dem LipobayDebakel im August 2001 in einer Vereinbarung zwischen der Gesundheitsministerin einerseits und
Krankenkassen-, Ärzte- und Apothekenvertretern andererseits grundsätzlich beschlossen wurde. Man hofft, durch
einen solchen Chipkarten-Pass, auf dem die durch welchen Arzt auch immer vorgenommene individuelle
Medikation des jeweiligen Passinhabers dokumentiert werden soll, zum Tode führende
Unverträglichkeitsreaktionen zwischen Wirkstoffen aus verschiedenen Medikamenten, die von verschiedenen
Ärzten ohne Wissen von der Anordnung des Kollegen vorgenommen wurde, weitgehender als bisher
ausschließen zu können, indem die fachkundigen Apotheker die dann auf der Chipkarte gespeicherten
Verordnungen aller den Patienten behandelt habenden Ärzte auf Unverträglichkeiten hin überprüft werden. Von
Seiten der Krankenkassenvertreter scheinen außerdem zunächst auch abrechnungstechnische
Wirtschaftlichkeitsüberlegungen eine Rolle zu spielen, bis die Krankenkassenvertreter dann umschwenkten. Der
Datenschutzbeauftragte des Bundes sprach sich sofort gegen einen solchen Arzneimittel-Pass aus: Durch die
Dokumentation der verordneten Arzneimittel sei immer ein Rückschluss auf den bisherigen Gesundheitsverlauf
möglich und Missbrauch dieser Information durch unbefugte Dritte nie auszuschließen. Diesem Argument hielt
die Gesundheitsministerin - mit sicher weniger Fachwissen um die Missbrauchsmöglichkeiten EDV-gestützter
Datenerfassung als sie der Datenschutzbeauftragte hat – entgegen, dass sich „... Daten so sichern lassen, dass
eine Missbrauchsmöglichkeit ausgeschlossen ist. Der Patient muss seinen Pass nur sicher verwahren.“ Warum
32
wird Frau Schmidt dann nicht zur Datenschutzbeauftragten des Bundes ernannt, wenn sie glaubt, sich anheischig
machen zu können, über größeres EDV-Fachwissen als der Datenschutzbeauftragte zu verfügen? Ist das nur der
Unterschied in der Bezahlung des Postens? Doch wohl eher fehlendes Sachwissen im EDV-Bereich! Davon
abgesehen sind durch das Zusammenwirken des den Cholesteringehalt des Blutes senkenden und allein verordnet
lebensrettenden Medikamentes Lipobay mit einem anderen Medikament aus einer bestimmten Wirkstoffgruppe
auf Grund der Unverträglichkeit der in dem jeweils anderen Medikament enthaltenen Hauptwirkstoffe weniger
als ein Hundertstel – letzte Schätzungen rechnen zurzeit mit rund 50 mit Lipobay in Zusammenhang bringbaren
Toten auf Grund von durch die Nebenwirkungen der beiden Mittel verursachter Muskelschwäche - so viele Leute
gestorben wie nach der Einnahme des Potenzmittels Viagra. Und das wird weiter rasend gekauft. Bei der
zunehmenden Vergreisung der westlichen Industriegesellschaften und den damit verbundenen Potenzproblemen
wird es mit Sicherheit auch weiterhin mindestens so zahlreich gekauft werden wie bisher, ohne dass irgend
jemand wegen der mit der Einnahme des Potenzmittels verbundenen wesentlich höheren Lebensgefahr eine
Schadensersatzklage angestrengt hätte. So wird letztlich das BVerfG die Gefahren aus möglichen
Medikamentenunverträglichkeiten mit der durch die Einführung eines Arzneimittel-Passes verbundenen Gefahr
für das aus Art. 1 GG abgeleitete - aber nicht schrankenlos - gewährleistete Recht auf informationelle
Selbstbestimmung abzuwägen haben. Einschränkungen des Individualrechts auf informationelle
Selbstbestimmung muss jeder Bürger dann hinnehmen, wenn Gründe des überwiegenden Allgemeininteresses als
diesem Recht entgegenstehend angesehen werden. Diese Gründe sind gesetzlich zu regeln. Aus dem
entsprechenden Gesetz müssen die Voraussetzungen für die Einschränkung des Rechts auf informationelle
Selbstbestimmung und ihr an dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messender Umfang klar erkennbar sein.
Das alles ist im zuständigen Senat des BVerfGs nach ganz individueller Sichtweise des einzelnen
Verfassungsrichters abzuwägen. Als (vorläufiges) Recht gilt dann immer, was das BVerfG – teilweise nur mit
Stimmengleichheit der acht Richter ablehnend – entscheidet.
Solange ein demokratisch zustande gekommenes Gesetz gilt, muss es von uns, auch wenn wir uns durch seine
Anwendung benachteiligt wähnen oder es tatsächlich auch sind, im Prinzip (eher mehr als minder) befolgt
werden, um der zwingenden Macht des ansonsten momentan gerade Stärkeren oder der sonstigen Willkür eines
gesetzlosen Zustandes vorzubeugen.
Nur ganz selten wird ein von der gesellschaftlichen Entwicklung als überholt angesehenes Gesetz vor seiner
Abschaffung ausnahmsweise nicht mehr angewandt. Im Falle der damals auslaufenden früheren rigorosen
Strafbarkeit der Abtreibung ging es teilweise so weit, dass sogar eine größere Anzahl von Strafrichtern die
damals noch nicht geänderten Bestimmungen über die Strafbarkeit der Abtreibung nicht mehr anwandten, weil
sie sie als nicht mehr dem »Recht« entsprechend empfanden. Das war ein einmaliger Vorgang!
Es bleibt denjenigen, die sich durch eine bestimmte gesetzliche Regelung über Gebühr belastet fühlen,
unbenommen, auf den nach den Spielregeln unserer Verfassung dafür vorgesehenen, oft mühseligen Wegen für
eine Änderung einer als ungerecht empfundenen gesetzlichen Regelung zu kämpfen - die für den Kämpfenden
selbst dann oft zu spät kommt!
»Recht« und »Gesetz« sind keine anbetungswürdigen Götzen, sondern Instrumente zur Gestaltung unseres
gesellschaftlichen Zusammenlebens mit teilweise (zu) starken Beharrungstendenzen. Dann muss notfalls
gekämpft werden.
Mit dem durch die Lektüre des Buches hoffentlich erworbenen Gespür für Recht und Gesetz werden nach der
Grundlegung Ausblicke auf einige künftig zu regelnde Bereiche vorgenommen, von denen mir einer der
wichtigsten der Bereich Recht und Biologie/Medizin zu sein scheint. Können Sie sich vorstellen, dass als bislang
»neuester Schrei« der biomedizinischen Forschung 2003 eine Möglichkeit entdeckt wurde, Kinder zu erzeugen,
deren Mütter nie geboren wurden? Damit Sie wegen dieser Andeutung nicht an Ihrem Verstand irrewerden,
bevor Sie das Kapitel Recht und Medizin lesen konnten, hier die Auflösung: Israelische Forscher entwickelten
eine Methode, Babys aus den Eizellen abgetriebener Embryos zu züchten. Die biologische Mutter so erzeugter
Babys ist nie geboren worden! So eine sich andeutende Entwicklung muss rechtliche Konsequenzen nach sich
ziehen!
Weil man Neues am besten einordnen kann, wenn man Bezugspunkte zu schon Bekanntem hat, wurden viele
Zeitungsartikel abgedruckt, die jeder Normalbürger so oder ähnlich in einer guten Tageszeitung hätte gelesen
haben können, wie sie mir als regionale Tageszeitung im »Hamburger Abendblatt« (HH A), dem die meisten
Meldungen entnommen sind, zur Verfügung stand. Dieses Vorgehen hat den Vorteil, als gutwilliger Leser dieses
Buches nicht gleich mit teilweise sehr unverständlich abgefassten Paragraphen und Fachartikeln konfrontiert
oder »erschlagen« zu werden. (Ohne Anführungszeichen wäre es eine im Buch „Einführung in das Strafrecht der
33
Bundesrepublik Deutschland anhand von Tötungsdelikten“ abzuhandelnde Straftat.) Dieses Buch soll ja
möglichst allgemeinverständlich bleiben. Es wurde nicht zum Weglegen geschrieben - dafür hat es wirklich zu
viel jahrelang aufgewandte Mühe gekostet, es zu schreiben und über die Jahre aktuell zu halten -, sondern zum
Lesen, Informieren und eventuell sogar ein bisschen zum Lernen.
Die meisten sozialen Phänomene können von verschiedenen Seiten gesehen werden. Die jeweilige Sichtweise
spiegelt sich dann natürlich auch in den Zeitungsmeldungen wider. Die verwendeten Zeitungsmeldungen sollen
darum u.a. auch die unterschiedlichen Argumente und Sichtweisen deutlich machen. Wer allerdings schon allein
ein sich informierendes Befassen mit dem Problem und der Bedeutung des »Rechts« für eine Gesellschaft für
genau so interessant hält, wie Farbe beim Trocknen zuzuschauen, wäre der falsche Leser.
Vielen Dank, dass Sie weiterlesen wollen. Vielleicht haben Sie ja auch einige der in diesem Buch
wiedergegebenen Meldungen »damals« mit einem Achselzucken überflogen, weil Sie sie nicht richtig einordnen
konnten. Das kann an dem manchmal verkürzenden und dann jeder Sachlogik widersprechenden oder juristisch
unqualifizierten Geschreibsel des Nachrichtenredakteurs gelegen haben. Der Sachlogik widerspricht z.B. die
Meldung:
„Kranken verloren
dpa Neapel – Ein 81 Jahre alter Italiener ist in Neapel auf dem Weg ins Krankenhaus aus einem
Ambulanzwagen gestürzt. Bei einem Bremsmanöver hatte sich die hintere Tür geöffnet. Der Patient
fiel samt Trage aufs Pflaster und starb.“ (HH A 14.12.00)
Nach meinen inzwischen sehr rudimentären Physikkenntnissen – meine Schulzeit liegt inzwischen mehr als 40
Jahre zurück - geht das gar nicht! Beim Bremsen drängt die abgebremste Masse nach vorne. Deshalb wurde ja
die Gurtpflicht eingeführt. Durch den angelegten Gurt werden die beim Abbremsen nach vorne schießenden
Insassen zurückgehalten, damit sie nicht z.B. mit Tonnengewicht durch die Scheibe geschleudert werden! Die
Physik gilt aber gleichermaßen für Autoinsassen auf Sitzen wie auf Tragen! Beim Bremsen kann sich somit gar
nicht eine hintere Tür geöffnet haben, der Verletzte kann gar nicht beim Bremsen nach hinten rausgefallen sein!
Einen solchen Fall könnte man darum auch nicht in der vorstehenden Form in das Buch »Einführung in das
Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland anhand von Tötungsdelikten« als Beispielsfall für eine fahrlässige
Tötung aufnehmen. Ich müsste in diesem Falle die Meldung dafür erst sachdienlich umschreiben in: „... Beim
Wiederanfahren nach einem Bremsmanöver ...“, verwende in meinen Büchern die Fälle aber nach Möglichkeit
gerne so, wie sie mitgeteilt wurden. Als studierter Historiker mache ich zu meiner diesbezüglichen Exkulpation
eine Anleihe bei dem „Relata refero“ meines Kollegen Herodot, der in seinem Geschichtswerk (7/152) schrieb:
„Ich bin darauf angewiesen, Berichtetes zu berichten; aber ich brauche es nicht in allem zu glauben.“
Neben sachlogischen Fehlern gibt es auch noch juristische Fehler in der Berichterstattung, die ein Verstehen
unmöglich machen, wenn man eine solche »Falschmeldung« für wahr nimmt:
„Bruder gerächt
afp ULM – Aus Rache für den Tod seines Bruders (21) hat ein Mann (22) einen Ulmer Staatsanwalt
(54) in seinem Büro zusammengeschlagen. Er erlitt Prellungen und Platzwunden. Hintergrund: Der
Staatsanwalt hatte den 21jährigen wegen Mordes verurteilt. Er nahm sich in der Zelle das Leben.“
(HH A 09.11.95)
Ähnlich juristisch falsch:
„Daniel Kübelböck: Anklage des Landshuter Gerichts zugelassen“
(Überschrift einer Meldung der sternshortnews vom 25.05.04)
Na, den juristischen Falschmeldungen aufgesessen oder die Fehler gleich gefunden?
Man überliest sie sehr leicht. Und damit Sie nicht aus diesem Grund erst mein anderes Buch »Einführung in das
Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland anhand von Tötungsdelikten« durcharbeiten müssen, hier die
Auflösung: Ein Mensch kann zwar u.a. auch durch die öffentliche Meinung »verurteilt« werden, und auch das
kann seelisch äußerst schmerzhaft sein, aber im juristischen Sinne verurteilen, d.h., mit einer Kriminalstrafe
belegen, das kann nur der (Straf-)Richter „im Namen des Volkes“ auf Grund der ihm von dem »das Volk«
34
repräsentierenden Staat dazu verliehenen Rechtsmacht.
Die Aufgabe des Strafverfolgungsorgans Staatsanwaltschaft hingegen ist es, einen ausermittelten
Lebenssachverhalt, wenn für den bearbeitenden Staatsanwalt darin strafwürdiges Verhalten, Kriminalunrecht,
enthalten zu sein scheint, bei einem Gericht zur Anklage zu bringen. Ein Staatsanwalt beurteilt einen zu
Aktenpapier geronnenen Lebenssachverhalt und reicht ihn bei Gericht in Form einer Anklageschrift zur
Aburteilung des von ihm so gesehenen Straftäters ein, aber nur ein Richter kann einen Menschen, der sich ihm vielleicht auch nur irrtumsbefangen - als Straftäter dargestellt hat, verurteilen.
Solche juristisch falschen Meldungen erschweren natürlich das aufkeimende Rechtsverständnis von
Nichtjuristen: Sei es, dass Sie den Fehler einer Meldung gar nicht erkannt haben, dass Sie intuitiv das eigentlich
Gemeinte richtig aufgenommen haben und sich nun beim Lesen der Meldung irritiert fühlen oder weil Sie mit
einer Zeitungsmeldung nichts anfangen konnten, da Ihnen das für die Einordnung der Zeitungsmeldung als
Fehler notwendige Sachwissen fehlte.
Mir fehlt z.B. die Sachkenntnis zu beurteilen, ob die nachfolgende Meldung stimmt:
„Siebenfacher Mord
afp Auxerre – Vor 20 Jahren verschwanden sieben junge Frauen in Frankreich. Jetzt hat der Fahrer
ihres Behindertenbusses gestanden, sie ermordet zu haben. Der Triebtäter (66) kann aber nur noch
wegen Freiheitsberaubung bestraft werden. Die Morde sind verjährt.“ (HH A 16.12.00)
Eine solche Meldung soll richtig sein? Da stutze ich: Mord soll in Frankreich schneller verjähren 7 als
Freiheitsberaubung? Das kann ich einfach nicht glauben! Ich glaube zunächst einmal lieber meinem kritischen
Verstand und verbuche diese Meldung bis zum Beweis des Gegenteils für mich darum in der Kategorie
»juristische Falschmeldung«.
Eine weitere Meldung juristischen Gehaltes, die für so bedeutend angesehen wurde, dass sie abgedruckt wurde,
die aber selbst ich als Jurist wegen ihrer verkürzten Darstellung nicht einordnen kann, ist die nachfolgende:
„Prostituierte muß Geld zurückzahlen
Karlsruhe – Eine Prostituierte, die von einem betrügerischen Beamten aus der Staatskasse bezahlt
wurde, muss 8200 Euro zurückzahlen. Der Bundesgerichtshof bestätigte ein Urteil des
Oberlandesgerichts Karlsruhe (Az.: III ZR 38/04). (dpa)“ (HH A 22.10.04)
Vor 50 Jahren musste ich als Schüler Aufsätze mit der Beantwortung u.a. der Standardfrage schreiben: „Was hat
der Autor uns damit sagen wollen?“ Diese Frage stellt sich bei dieser verkürzten Meldung wieder: Wegen
welchen juristischen Gehaltes ist die Meldung gedruckt worden? Das OLG antwortete nicht auf meine
diesbezügliche Nachfrage.
Natürlich ahne ich als Jurist die »juristische Ecke«, in die die Meldung zielt. Es wird § 935 II BGB sein. Doch
bevor ich mit meiner Erklärung ansetzen kann und Sie anschließend zum Mitdenken und Wundern auffordern
werde, müssen Sie zunächst einmal zur Kenntnis nehmen, dass der Gesetzgeber des BGB bei der Regelung des
Sachenrechts sehr genau zwischen „Eigentümer“ und „Besitzer“ unterscheidet. Das macht auch Sinn, denn wer
z.B. eine Wohnung mietet, wird damit längst nicht Eigentümer dieser Wohnung. Er ist »nur« Besitzer; allerdings
in einer so starken Rechtsposition, dass er den Eigentümer während der Zeit der vereinbarten Mietdauer vom
Gebrauch und der Nutzung der Mietsache ausschließen kann: der Eigentümer kann nicht nach Belieben einfach
kommen und das Bade- oder Schlafzimmer inspizieren – oder gar benutzen! Für eine aus sachlichen Gründen
angebrachte Inspektion muss er sich anmelden. Der Besitzer ist also berechtigter Nutzer der Mietsache auf Zeit,
aber er ist und wird durch den Abschluss des Mietvertrages nicht »Eigentümer auf Zeit«, denn dann brauchte er
ja anschließend keinen „Mietzins“, wie die Juristen die monatliche Mietpreiszahlung nennen, zu zahlen.
Das man von einem Eigentümer eine Sache erwerben kann, ist klar. Das macht man bei jedem Brötchen- oder
Autokauf. Brötchen sind meist nicht ganz so wichtig wie ein schickes Cabriolet. Darum ist ein Brötchenkauf
unproblematischer abgewickelt. Bein Autokauf hingegen gibt es einen Kfz-Brief – ich spreche nicht von dem
Kfz-Schein – in den der jeweilige Eigentümer eingetragen wird. Wenn z.B. ein Käufer den Wagen nicht aus
seinem Ersparten bezahlt, sondern zur Finanzierung des Traumwagens bei einer Bank einen Kredit aufnimmt, um
den Kauf mit Fremdmitteln zu finanzieren, dann behält die Bank für die Zeit der Darlehensgewährung den KfzBrief als Eigentumsnachweis des ihr zur Besicherung des Darlehens abgetretenen Kfzs ein. Der bei ihr zum Kauf
7
Siehe dazu auch die Zeitungsmeldung „Geständnis“ in Punkt „2.10.7 Rechtssicherheit und Verjährung im Strafrecht“, in
der mitgeteilt wird, dass die Verjährungsfrist für Mord in Frankreich von vormals 15 Jahren heraufgesetzt worden sei.
Auf eine »krumme« Jahreszahl unter 20, 16-19 Jahre? Das kann ich mir nicht vorstellen.
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des Wagens einen Kredit aufnehmende Kunde erhält nur den Kfz-Schein und hat damit die Vermutung auf seiner
Seite, dass er das Kfz berechtigterweise nutzt. Soweit zum Erwerb einer Sache vom Eigentümer.
In den §§ 929-934 BGB wird nun zunächst geregelt, dass ein gutgläubiger Erwerb einer Sache von einem
Dritten, der nicht Eigentümer ist, sondern die Sache nur in Besitz hat, grundsätzlich auch möglich sein soll. Ein
Beispiel für eine der im 3. Buch des BGB „Sachenrecht“ unter „Erwerb und Verlust des Eigentums an
beweglichen Sachen“ geregelten Konfliktfälle: Jemand leiht einem anderen etwas – und der Mistkerl verhökert
die Sache unerlaubterweise unter der Hand weiter. Soll der bisherige Eigentümer, ohne dass er es wollte, sein
Eigentum verlieren und ein gutgläubiger Käufer, der den Veräußerer für den rechtmäßigen Eigentümer hält und
halten durfte, die Sache behalten dürfen, oder muss der Käufer die Sache trotz seiner Gutgläubigkeit wieder
rausrücken und meist auch noch den Kaufpreis abschreiben, weil von solchen Leuten üblicherweise eh nichts zu
holen ist? Sinn der Regelung des grundsätzlich möglichen gutgläubigen Erwerbs: Man muss nicht bei allen
Sachen, die man von jemandem kauft, unbedingt nachforschen, ob der Verkäufer auch wirklich der Eigentümer
ist, muss sich nicht von allen Sachen, die man z.B. auf einem Flohmarkt kauft, den Kaufbeleg vorlegen lassen.
Das würde den Rechtsverkehr zu sehr erschweren. Diesen Konflikt des fraglichen gutgläubigen Erwerbs durch
den Käufer lösten die Verfasser des BGB dahingehend, dass sie überlegten: Wer ist in dieser Fallkonstellation
schutzbedürftiger, der Eigentümer, der ja denjenigen kennt, dem er eine Sache ausleiht oder der Käufer, der nur
die Ware sieht und den Charakter des Verkäufers nicht unbedingt einzuschätzen vermag. Sie kamen zu dem
Ergebnis, dass es in einer solchen Fallkonstellation am fairsten sei, wenn bei gutgläubigem Erwerb der Käufer in
seinem guten Glauben geschützt werde. Der gutgläubige Erwerb einer Sache wird darum rechtlich grundsätzlich
auch dann zugelassen, wenn der Kaufgegenstand nur in den Besitz des Verkäufers gelangt ist, z.B. durch
Übergabe vom Eigentümer an ihn, ohne dass der Besitzer auch Eigentümer wurde.
Und wenn nun die verkaufte Sache ungewollt aus dem Besitz des Eigentümers gelangt ist, wenn er sie nicht dem
Besitzer übergeben hat und gar nicht weiß, dass der die Sache in seinem Besitz hat? Wie soll dieser Konflikt
dann entschieden werden?
Klar ist die Sachlage natürlich, wenn man eine Sache nicht in einem staatlich konzessionierten Pfandhaus,
sondern bei einem Hehler kauft: da weiß man, dass die zum Erwerb lockende Sache geklaut worden und deshalb
unrechtmäßig in dessen Besitz gelangt ist. Ähnlich wurde die Konfliktsituation nach dem Motto: „Trau’ schau’
wem“ für den Fall gelöst, dass der Eigentümer die Sache freiwillig aus seinem Verfügungsbereich herausgegeben
hatte: selbst Schuld, wenn er seine Sachen einem unsicheren Kantonisten gibt!
Anders wird die Sachlage beurteilt, wenn ein Eigentümer eine Sache z.B. verloren hat, jemand sie findet und sie
dann unredlicherweise verkauft, anstatt sie zur Polizei oder zum Fundbüro zu bringen. Da wird die Konfliktlage
nach dem »Näher-dran-Prinzip« zu Gunsten des Eigentümers entschieden: der Eigentümer weiß bei Verlust nicht,
welcher dubiose Mensch sein Eigentum findet. Der einzige, der die Möglichkeit eines abschätzenden Blicks auf
den unrechtmäßigen Verkäufer hat, ist der Käufer; darum wird dem das juristische und damit letztlich das
finanzielle Risiko des vielleicht fraglichen Eigentumerwerbs aufgebürdet. War der (nicht immer dubios
auftretende) Verkäufer nicht der Eigentümer, muss selbst der gutgläubige Käufer dem Eigentümer die Sache
zurückgeben und ist sein Geld los; es ist seine Sache zu sehen, ob er es von dem unrechtmäßigen Verkäufer
zurückerlangen kann. Das Gesetz hält den Eigentümer für schutzwürdiger als selbst einen gutgläubigen
Erwerber!
Weil insbesondere ein bösgläubiger Käufer nicht geschützt werden muss, regelt § 935 I BGB, dass es keinen
gutgläubigen Erwerb von Sachen geben soll, „… wenn die Sache dem Eigentümer gestohlen worden,
verlorengegangen oder sonst abhanden gekommen war. …“ Ein gutgläubiger Käufer kann höchstens ein
gutgläubiger Besitzer auf Zeit werden! Soweit die »Ouvertüre«.
§ 935 II BGB führt nun noch ein anderes Motiv in das Kunstwerk „Recht“ ein. Die neue Melodie lautet: „Diese
[im Gesetz vorgenannten; der Verf.] Vorschriften finden keine Anwendung auf Geld, Inhaberpapiere sowie auf
Sachen, die im Wege öffentlicher Versteigerung veräußert werden.“ Das geschieht aus Gründen des
Verkehrsschutzes u.a. zur Erleichterung des Zahlungsverkehrs: Man soll z.B. bei den völlig identischen
Geldscheinen nicht prüfen müssen, wer der rechtmäßige Besitzer des jeweiligen Geldscheins mit der
Seriennummer XYZ ist! Da wird der Erwerber neuer Eigentümer.
Und nun lesen Sie noch einmal die meine vorstehenden luziden Ausführungen auslösende Zeitungsnotiz und
wundern sich mit mir:
„Prostituierte muß Geld zurückzahlen
Karlsruhe – Eine Prostituierte, die von einem betrügerischen Beamten aus der Staatskasse bezahlt
wurde, muss 8200 Euro zurückzahlen. Der Bundesgerichtshof bestätigte ein Urteil des
Oberlandesgerichts Karlsruhe (Az.: III ZR 38/04). (dpa)“ (HH A 22.10.04)
Da scheint der BGH ja geradezu »contra legem«, gegen den eindeutigen Wortlaut des Gesetzes entschieden zu
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haben! Zwar hatte schon das Reichsgericht, der Vorläufer des BGH, in der Sache RG 103/288 entschieden, dass
die Bestimmung des § 935 II BGB obsolet sei – damit meinen die Juristen, dass eine entscheidungserhebliche
Bestimmung in einer bestimmten Fallkonstellation nicht angewandt werden dürfe -, wenn auf Seiten des
Erwerbers Bösgläubigkeit vorliege; aber ich weiß im Moment des Tippens ohne eine Möglichkeit des
Nachschlagens in einer juristischen Bibliothek nicht, ob sich die Entscheidung damals vielleicht auf
„Inhaberpapiere oder auf Sachen, die im Wege öffentlicher Versteigerung veräußert werden“ bezog. Jedenfalls
verblüfft es, wenn jetzt das OLG Karlsruhe entschieden hat, dass eine »Gunstgewerblerin« - auch so ein schickes
juristisch um „political correctness“ bemühtes umständliches Wort – einen bestimmten (Teil-?)Betrag
zurückzahlen muss, die die Entlohnung für ihre hoffentlich schönen und erfolgreichen Bemühungen um
Kundennähe von einem „betrügerischen Beamten aus der Staatskasse“ erhalten hat: Wer geht denn zu einer
Dame des horizontalen Gewerbes und gibt ihr Geld – die Damen verlangen ja immer Vorkasse; damit kein
falsches Gerücht aufkommt: das weiß ich nur aus meiner Tätigkeit bei der Staatsanwaltschaft und als
Strafverteidiger(!) – und sagt ihr, bevor er sie auffordert, »die Beine breit zu machen« oder sich sonst wie um ihn
zu bemühen: „Das Geld, das du von mir erhalten hast, habe ich geklaut, um, notgeil wie ich bin, von dir eine
Triebabfuhr zu erhalten, weil ich einen Krampf in der Hand habe“ oder es mir aus sonst welchen anderen
Gründen nicht selbst machen will. Die Männer, die dorthin gehen, lassen doch eher den »großen Macker
raushängen« - selbst wenn der in Wirklichkeit recht klein geraten sein sollte! Da muss eine solche
Zeitungsmeldung erstaunen. Leider werden die zum Verständnis erforderlichen Hintergrundinformationen nicht
mitgeliefert.
Ohne den Hinweis auf den „betrügerischen“ Beamten hätte man vermuten müssen, dass es sich um eine vom
Gesetzgeber so genannte „Schlechtleistung“ gehandelt haben könnte, die zur Erstattung verpflichtet, weil die
Dame die ausgehandelte Leistung nicht „in mittlerer Art und Güte“ erbracht habe.
Ich kann also teilweise auch aus zu geringem juristischen Wissen heraus nicht alle mir interessant erscheinenden
Meldungen und Berichte aus Tageszeitungen oder anderen Publikationen, in den letzten Jahren darüber hinaus
verstärkt aus dem Internet, vor Ihnen ausbreiten, um Sie, wie ein routinierter Angler, mit einem guten Köder
anzufüttern, damit Sie bei der Lektüre Ihrer Zeitung auch bei Artikeln mit juristischem Hintergrund nach
Wissensbeute schnappen. Aber die Artikel, die ich ausgewählt habe, weil sie in den Kontext dessen passen, was
ich Ihnen durch dieses auf meinem PC ständig wachsende Buch nahe bringen möchte, sollten möglichst schon
etwas herausragend skurril sein, damit Sie sich die Problematik besser einprägen können. Natürlich hätte ich die
von mir verwandten Zeitungsmeldungen auch selbst umschreibend und nicht im Originalwortlaut mitteilen
können. Aber dann wäre der Stoff teilweise nicht so plastisch darzustellen gewesen und vor allen Dingen hätte
ich dann mein anderes vorrangiges Ziel nicht erreicht, Ihnen die Vorbehalte oder gar Angst gegenüber
Zeitungsartikeln mit juristischem Gehalt zu nehmen, wie es mir nach der Lektüre des Buches hoffentlich
gelungen ist! Zu tief dringe ich selbstverständlich auch nicht in die jeweilige juristische Materie ein. Sie sollen
beim Lesen des Buches ja kein Fernstudium in Juristerei absolvieren, sondern möglichst vergnüglich in die
Materie des Rechts eingeführt werden: nicht mehr, aber auch nicht weniger! Hoffentlich können auch Sie nach
der Lektüre dieses Buches freudig erleichtert ausrufen: „Mami, Mami, er hat gar nicht gebohrt!“
Um unterhaltsam zu sein und Sie auch mit Hintergründen, Entwicklungslinien und Auswirkungen bekannt zu
machen, die nur noch entfernt etwas mit der heutigen Juristerei zu tun haben, habe ich teilweise auch ein wenig
jenseits der manchmal trockenen Juristerei geplaudert. Wenn ich z.B. den historischen Hintergrund des Falles
Galilei ausführlich dargestellt habe, so geschah das nicht, weil der Historiker in mir mit mir durchgegangen wäre
– ich hätte mich durchparieren und streng an die Kandare nehmen können -, sondern um u.a. an diesem Beispiel
deutlich zu machen, welchen Einfluss »die Religion« mittels des Rechts auf die wissenschaftliche Erkenntnis und
die konkrete Ausgestaltung der Lebensumstände genommen hat – damit Sie dafür sensibilisiert werden, wie und
dass auch heute noch »die Religion« insbesondere in »letzten« Entscheidungen und deren juristischer Ausgestaltung bei z.B. der künstlichen Befruchtung, dem Klonen, in der Frage der Abtreibung, der Homo-Ehe, der
Sterbehilfe, … eine gewichtige Rolle spielt oder sie unangemessenerweise zu spielen versucht.
Nun werden in diesem Buch solche in Zeitungen gesammelten Meldungen und Berichte ein bisschen aufbereitet
und dadurch in einen juristischen Zusammenhang gestellt, der ihr Verstehen erleichtern soll. Allerdings birgt
meine Art des Vorgehens bei der Abfassung dieses Buches die grundsätzlich mögliche Fehlerquelle, dass ich das
Geschehen, über das in einer Meldung berichtet wird, für wahr unterstelle, unterstellen muss. Ich kann dabei aber
auch ohne weiteres einer »Ente« aufgesessen sein. Das sehen Sie mir dann bitte nach.
Ganz ohne Paragraphen und Gesetzesartikel - die in einem juristischen Text herumschwirren können wie die
Fliegen in einem Kuhstall: vielleicht ganz sinnvoll, aber für den nur erste Orientierung und maximal einen groben
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Überblick suchenden Leser sehr lästig – geht es nicht, wenn man sich in juristische Überlegungen einarbeiten
will. Weil es aber unzumutbar wäre, sich all die angesprochenen Gesetze als Begleitlektüre bereitzulegen,
wurden die jeweils einschlägigen Bestimmungen in den Text eingearbeitet; doch zusätzlich der Text unserer
Verfassung wäre schon ganz hilfreich.
Der Lehrer, der zunächst sich selber informieren und dann als »Multiplikator« anhand dieses Buches seine
Schüler in den Bereich des Rechts einführen möchte - und dabei Hilfestellung zu geben, ist ein weiteres
vordringliches Anliegen dieses Buches - sollte die mitabgedruckten Quellen als Materialsammlung ansehen. Sie
sind durchaus als Arbeitsmaterialien einsetzbar. Als Beispiel seien die "Erklärung der Menschenrechte" oder die
Zeitungsmeldungen über Vorstellungen von »Recht« in anderen Kulturkreisen genannt. Das manchmal
angegebene Fazit sollte bei Verwendung der Materialien im Unterricht durch von den Schülerinnen und Schülern
zu bearbeitende Fragen von ihnen selbst erarbeitet werden. Es weist auf wesentliche Grundeinsichten hin, deren
Anzahl ständig erweitert werden kann und muss.
Um aufzeigen zu können, dass viele Rechtsgedanken und viele Gedanken zum Recht teilweise Jahrtausende
altes, bis auf »die alten Griechen« zurückgehendes gemeinsames abendländisches Kulturerbe der sich in
länderübergreifender geistiger Auseinandersetzung gegenseitig angeregt habenden, vom »abendländischen Geist«
geprägten Philosophenschulen und Vertretern aller philosophischer Denkrichtungen sind, sozusagen zur
»europäischen Leitkultur« mit gemeinsamen Leitwerten gehören - gegen die dann in den vielen untereinander
ausgefochtenen Kriegen auf diesem und den anderen Kontinenten, in all den religiös oder ideologisch geprägten
Barbareien und all der Gier nach fremdem Land und fremdem Reichtum von den Kreuzzügen über die
Inquisition, in Glaubenskriegen, Eroberungen anderer Erdteile mit Zwangschristianisierung, Versklavung und
Ausrottung der dort zuvor ansässigen Bevölkerung in Amerika, Afrika und Australien bis zu den vielen
Judenpogromen über alle Länder Europas mit zuletzt der durch Nazi-Deutschland industriell betriebenen
Judenvernichtung permanent verstoßen wurde -, arbeitete ich aus einer Weltgeschichte der Philosophie in ComicForm die zentralen Aussagen der dort erfassten Denkschulen und einzelnen Philosophen hier mit ein.
Immer wenn nach Überwindung einer großen Barbarei ein geistig-kultureller Neuanfang gesucht wurde, griff
man auf diese teilweise schon seit Jahrtausenden gedachten und weiterentwickelten Gedanken zu den
Grundzügen des Rechts zurück.
Um die Lesbarkeit des juristischen Gehaltes dieses Buches - und hoffentlich damit die Freude an ihm - zu
erhöhen, wurden nicht nur über lange Jahre gesammelte Aussprüche, Zeitungsmeldungen und –artikel verwandt,
sondern ich kaufte mir zur Schlussüberarbeitung auch zwei Zitatenhandbücher, um dort nachschlagen zu können,
was (andere) kluge Menschen zu den hier behandelten grundsätzlichen juristischen Problemen durch gründliches,
tiefes Nachdenken an Einsichten gewonnen haben und welche schönen Formulierungen ihnen durch Geistesblitze
dazu eingefallen sind. So kann und so soll deutlich gemacht werden, dass die Entwicklung des Rechts eine
Jahrtausende alte, von vielen Generationen getragene und weiterentwickelte Kulturleistung ist, von der sich
niemand – auch nicht durch eine die bis dahin geltenden Werte umstürzende Revolution, und das heißt immer
auch von allen Werten der bis dahin geltenden Rechtsordnung - gänzlich abkoppeln kann.
Wenn mir etwas bedenkenswert oder zutreffend und darüber hinaus schön formuliert dünkte, flickte ich es – wie
auch alle während der Abfassung des Buches neu aufgetretenen und für erwähnenswert gehaltenen Fakten und
Problemstellungen, wie z.B. Medizin und Recht hinsichtlich der uns in ihrer Entwicklung überrollenden
Möglichkeiten der Gentechnologie - an der mir am passendsten dünkenden Stelle ein. Das kann hin und wieder
zu kleineren Verwerfungen geführt haben, hat aber hoffentlich zu keinem Bruch in der Darstellung des mit dem
Tagesgeschehen wachsenden Manuskriptes geführt. Neuere Vorkommnisse in ein lange fertiges Manuskript
einzuflicken, ist – wie jeder eingesetzte Flicken – immer etwas problematisch. Das Buch ist nicht mehr aus einem
Guss gefertigt, sondern in all den Jahren zu einem über Jahrzehnte gewachsenen »Organismus« der Gedanken zu
immer neuen Aspekten der menschlichen Kulturleistung »Recht« geworden.
Wenn Sie die Zitate des Gedankengutes längst verblichener Geistesgrößen stören sollten, dann bitte ich dafür um
Nachsicht, denn es sollten auch andere mit ihren Einsichten zu Worte kommen. Durch die Zitate wollte ich nicht
meine gegenüber den großen europäischen Philosophen dürftigeren eigenen Gedanken und Einsichten zu den
Phänomenen »Gesetz«, »Recht« und »Gerechtigkeit« unter dem schmückenden Mantel von Geistesheroen
verbergen und sozusagen mit einem Krönungsmantel umgeben.
Mit diesen Hinweisen bezüglich eines Teiles der Zitate möchte ich gleich zu Anfang dem unberechtigten
Eindruck vorbeugen, dass ich so umfassend belesen und gebildet sei, dass ich alle verwandten Zitate jederzeit
aus meinem »Lesewissen« hervorkramen könnte und daraus auch hervorgekramt hätte. Ich habe nur, ach, auf
Grund der Teilung Deutschlands 20 Semester u.a. Geschichte, Politik, Pädagogik und dann noch einmal Jura
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studiert mit durchaus heißem Bemühen und bin als Lehrer, Fachlehrer für Politik und Rechtsanwalt beruflich
tätig gewesen. Eine solche Doppelausbildung hilft zwar für die hier versuchte interdisziplinäre Zusammenschau
dieser Wissensgebiete, nicht aber für den Erwerb eines solchen, durch die relative Vielzahl der verwandten Zitate
vielleicht vermuteten Einzelfaktenwissens. Das ist pure Mimikry. Hilfreich ist da zuletzt die Website
„www.aphorismen.de“ gewesen, die ich im Internet entdeckt habe, als ich noch immer keinen Verlag zum
Publizieren gefunden hatte und in den Jahren des Suchens der zwischenzeitlich erreichte technische Fortschritt
auch an mir und meinen Arbeitsmöglichkeiten nicht mehr vorbei gegangen war. Auf dieser dankenswerterweise
nach einem sehr differenzierten Schlagwortkatalog gegliederten Website mit Suchfunktion können Sie einen Teil
der Bekannten wiedertreffen, die ich Ihnen hier vorstellen werde.
Eine mich als Lehrer-Referendar anleitende Schulleiterin fragte mich vor 35 Jahren einmal: „Hören Sie die
Vorlesungen von Prof. Wencke?“ „Ja.“ „Was fällt Ihnen daran auf?“ Weil ich im Unterrichten noch ziemlich
unbeleckt war, war mir gar nichts aufgefallen, außer, dass seine Vorlesungen für mich sehr interessant waren.
Aber die Schulleiterin klärte mich – pädagogisch – auf: „Sie werden, wenn Sie einmal darauf achten, feststellen,
dass irgendwo in der Mitte der Vorlesung immer eine Stelle zum Lachen ist. Und wenn man sich durch das
Lachen von der Anspannung des mitdenkenden Lernens etwas erholt hat, kann man dann viel besser
weitermachen.“ Dieses pädagogische Prinzip habe ich dann auch in dem von mir gegebenen Unterricht
anzuwenden versucht. Und ich gab den später von mir angeleiteten Referendarinnen mit auf den Weg: „Ein guter
Lehrer muss auch ein guter Kaspar sein: Die Bande kommt morgens in die Schule und will unterhalten sein!“
Bei der Gestaltung des Buches behielt ich das »Lach-Prinzip« bei. Darum ist die Auswahl der
Zeitungsmeldungen manchmal zusätzlich auch unter diesem Gesichtspunkt vorgenommen worden, denn etwas
ins Abstrusere Gehendes bleibt länger im Gedächtnis haften als etwas, das nicht zum Lachen oder Kopfschütteln
reicht. Wer mit meiner durch die getroffene Auswahl teilweise offenbar werdenden Art des Humors nichts
anzufangen weiß, den bitte ich im Voraus um Entschuldigung für die von ihr oder ihm so empfundene geistige
Belästigung.
Das wollte ich vorsichtshalber noch als »salvatorische Klausel« - ein im Buch näher erklärter juristischer
Fachbegriff – angeführt haben.
Es ist eine hohe Kunst, etwas Kompliziertes einfach darzustellen. Ich bin mir bewusst, an manchen Stellen in
diesem Vorhaben gescheitert zu sein, weil ich wiederholt der Gedanken Fülle nicht in einen kurzen Satz pressen
konnte. Durch den (jedenfalls zur Zeit meiner juristischen Ausbildung) in Anklageschriften obligatorisch zu
verwendenden wirklich seitenlangen, teilweise 15 und mehr Seiten langen »Indem-Satz«-Bau, durch den alles
über den oder die Angeklagten, die auf ihre Verletzung hin zu untersuchenden gesetzlichen Tatbestände und das
ermittelte, zur Anklageerhebung geführt habende Geschehen in einem einzigen Satz formuliert werden musste(!),
habe ich mir meinen früheren kurzen, knappen Schreibstil leider verdorben. Trotzdem viel Erfolg beim
informierenden, lernenden Lesen – und hoffentlich fühlen Sie sich auch noch gut unterhalten!
Wenn nicht, so hoffe ich, dass Sie nach der Lektüre dieses Buches wenigstens die Toleranz aufbringen, die von
Lessing in die Worte gefasst wurde: „Muss man, wenn man sich schwingt, stets adlermäßig schwingen? Soll nur
die Nachtigall in unsern Wäldern singen? Der nebelhafte Stern muss auch am Himmel stehn.“ Schließlich habe
ich mich bemüht, seine Mahnung zu beachten: „Nicht jeder, der den Pinsel in die Hand nimmt und Farben
vergeudet, ist ein Maler.“ Sein Fazit: „Es kommt wenig darauf an, wie wir schreiben, aber viel, wie wir denken.“
Die Freifrau Ebner-Eschenbach meinte, dass das aus einem guten Buch ersichtlich werde:
„In einem guten Buche stehen mehr Wahrheiten, als sein Verfasser hineinzuschreiben meint.“
Ich habe mich über viele Jahre ehrlich bemüht, ein solches Buch zu schreiben.
Falls Sie sich beim Lesen - wider Erwarten - nicht gut genug unterhalten gefühlt haben, dann können Sie den
Ausspruch von John Osborne auf meine jahrelangen schriftstellerischen Bemühungen beziehen:
„Auch das schlechteste Buch hat eine gute Seite: die letzte!“
Hans-Uwe Scharnweber
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I. TEIL
DAS VERHÄLTNIS VON »RECHT« UND »GESETZ«
»Recht«
und
„Gesetz«
Was ist »Recht«, was »Gesetz« zunächst einmal in einem vorjuristischen Verständnis? Sind diese Begriffe
deckungsgleich oder sinnlos verdoppelnde Redeweisen wie »runder Kreis«, »schwarzer Rabe«?
Ausgangspunkt der ersten Überlegungen zur Annäherung an diese zentralen Begriffe sei die gesetzliche
Regelung des Artikels 20, Absatz 3, Satz 1, 2. Halbsatz Grundgesetz (Kurzschreibweise: Art. 20 III 1, 2. HS
GG):
"... die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden."
Doch was ist zunächst einmal das »Grundgesetz«, dass eine so zentrale Bestimmung in ihm enthalten ist?
Bevor wir uns den nicht nur für unsere, sondern für jede Rechtsordnung zentralen Begriffen »Gesetz« und
»Recht« zu nähern versuchen, soll zunächst erst einmal klargestellt werden, was das Grundgesetz für die
Rechtsordnung unseres Staates und damit die rechtliche Organisation unseres eigenen Lebens bedeutet. Danach
soll versucht werden, die in dem Grundgesetz verwandten Begriffe »Gesetz« und »Recht« genauer zu fassen.
1 Das »Grundgesetz« (GG) als unsere »Verfassung«
Das
»GG«
als unsere
»Verfassu
ng"
Unsere Verfassung heißt nicht »Verfassung«, sondern »Grundgesetz«, ist aber trotz dieser z.B. im Gegensatz zur
»Verfassung der Frankfurter Nationalversammlung« von 1849 oder der »Weimarer Verfassung« von 1919
bewusst anders getroffenen Wortwahl unsere Verfassung. Die Weimarer Verfassung hatte offiziell bis zum
Zusammenbruch der Nazi-Diktatur 1945 bestanden. Weil sie als eine »Republik ohne Rechtsschutz«
(Schönhoven) auf Grund der in ihr enthaltenen juristischen Konstruktionen und Regelungen das scheinlegale
Hinübergleiten der ersten deutschen Republik, der Weimarer Republik, in die Nazi-Diktatur ermöglicht hatte,
wurde die Weimarer Verfassung nach 1945 nicht einfach in revidierter Form erneuert. Sie hatte ja schließlich
ermöglicht, dass in Deutschland und den von ihm während des Zweiten Weltkrieges zeitweilig beherrschten
Teilen Europas neben den »normalen« viele unmenschliche Gesetze galten oder gar ein gesetzloser Raum
entstehen konnte, dadurch letztlich »das Recht« als Richtschnur und Schutz des einzelnen aus dem Leben der
Deutschen und dem der später dem Nazi-Regime unterworfenen Ausländer verschwunden war - jedenfalls aus
dem Leben der politischen Gegner der Nazis, der Europäer jüdischen Glaubens, derer die Nazis habhaft werden
konnten, desgleichen der Zeugen Jehovas, der Sinti und Roma, und schließlich großer Teile der Slawen, um nur
die größten Gruppen derjenigen zu nennen, die teilweise gesetzlos, aber auf jeden Fall rechtlos bis hin zu ihrer
Ermordung staatlich verfolgt wurden. Darum schuf der Parlamentarische Rat 1949 nach diesen einschneidenden
Diktaturerfahrungen als Reaktion auf den nationalsozialistischen Unrechtsstaat unter dem Schock der
bedingungslosen Kapitulation und des totalen staatlichen Zusammenbruchs auf Grund des Erlebnisses einer
abwehrschwachen Demokratie, die in ihrer zu großen Liberalität ihren „legalen Mördern auch noch das Schwert
zur Beseitigung dieses Staates in die Hand gedrückt hatte“ (Haffner), für den westlichen Teil Rest-Deutschlands
ein weitgehend neues Verfassungswerk. Dabei wurde dann die Bezeichnung „Grundgesetz“ bewusst gewählt, um
den vorläufigen Charakter dieser Verfassung, in der die philosophische und juristische Weisheit von
Generationen verarbeitet ist, für die Übergangszeit bis zur angestrebten Vollendung der Einheit und Freiheit
Deutschlands in freier Selbstbestimmung (Präambel a.F. und Art. 146 a.F. GG) auch schon sprachlich
hervorzuheben.
Nach dem Beitritt der DDR wurde diese Bezeichnung „Grundgesetz“ - gegen den Wunsch einer gar nicht so
kleinen Minderheit - beibehalten, weil das zunächst als Verfassungsprovisorium gedachte Grundgesetz sich
bewährt und in den bis dahin schon 40 Jahren seines Bestehens eine eigene, zutiefst demokratische
Rechtstradition entwickelt hatte. (Vorangegangene Verfassungen hatten wesentlich kürzere Verfallszeiten!) Als
weiteres Argument wurde vorgebracht: Man dürfe das „Fenster der Gelegenheit“ zur Wiedervereinigung nicht
durch eine langwierige Verfassungsdebatte zufallen lassen!
Das Grundgesetz ist die für uns Bürger Deutschlands freieste Verfassung, die je auf deutschem Boden Geltung
erlangt hat. Eine solche gute Rechtstradition wird nicht leichten Herzens durch eine neu zu schaffende
40
Verfassung beendet, die in den größten Teilen dem Grundgesetz entsprechen würde, ja sogar entsprechen
müsste, um uns Bürgern einen gleich großen Freiraum zur Gestaltung unseres Lebens zu eröffnen.
Nach all dem kann festgehalten werden: Die Unterscheidung in der Wortwahl zwischen "Grundgesetz« und
»Verfassung« hat nur eine sprachlich-politische sowie eine auf unsere kümmerliche demokratische Tradition
abzielende, aber keine (staats-)rechtliche Bedeutung.
Das Grundgesetz ist, wie ein Blick in das Inhaltsverzeichnis sofort offensichtlich macht, in die Präambel und 14
große Abschnitte (I – XI, teilweise mit einem Unterbuchstaben) eingeteilt. Die für den einzelnen Bürger
wichtigsten Abschnitte sind die Abschnitte "I. Die Grundrechte" und "IX. Die Rechtsprechung"; letzterer
deswegen, weil darin in den Artikeln 101-104 die sogenannten »justiziellen Grundrechte« geregelt sind, die als
Grundrechte eigentlich auch in den Abschnitt I. gehörten.
Das Grundgesetz ist nicht »in Granit geschlagen«. Nicht einmal in seinem Grundrechtsteil! Wegen seiner hohen
Regelungsdichte ist das Grundgesetz von 1949 bis zum Jahre 2002 mit zuletzt der Einfügung des Tierschutzes
als Staatsziel in Artikel 20 a 51-mal geändert worden: Je höher die Regelungsdichte in einer Verfassung, desto
öfter muss sie anpassend geändert werden. Aus dieser Einsicht hatte der französische Staatsmann Talleyrand zur
Zeit der Französischen Revolution die Maxime aufgestellt, dass eine Verfassung am besten kurz und unklar sein
sollte.
Andere Länder ändern ihre Verfassung wesentlich seltener; die Verfassung der USA z.B. erhielt seit 1787 nur 27
Zusätze.
1.1 Präambel
Präambel
Die angesprochene Vorläufigkeit des Grundgesetzes wurde aus seiner Präambel a.F. (1989) deutlich, die bis zur
Wiedervereinigung mit folgendem Wortlaut Geltung hatte:
"Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine
nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten
Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk in den Ländern Baden, Bayern,
Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern, um dem staatlichen Leben für eine
Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben, kraft seiner verfassunggebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Es hat auch für jene Deutschen gehandelt,
denen mitzuwirken versagt war. Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier
Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden."
Artikel
146 a.F.
GG
Diese vorläufige Form der Präambel – in der seit 1989 geltenden neuen Form haben die Deutschen „in freier
Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das
gesamte Deutsche Volk.“ - wurde ergänzt durch den
Artikel 146 a.F. (bis 1989)
"Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die
von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist."
Eine »Grundgesetz« genannte Verfassung mit eingebautem – allerdings unbestimmten - Verfallsdatum also.
Eigenartigerweise klingt die Neufassung des
„Art. 146 GG
Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte
deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die
von dem deutschen Volke in freier Selbstbestimmung beschlossen worden ist.“
immer noch so, als wenn das Grundgesetz weiterhin seinen vorläufigen Charakter beibehalten habe, immer noch
eine neue Verfassung geplant sei.
Nichts falscher als das!
41
1.1.1 Gott als in der Präambel herausgehobener Bezugspunkt staatlichen Handelns
Gott als in
der Präambel herausgehobener
Bezugspunkt
staatlichen
Handelns
Vor allen im Grundgesetz getroffenen Regelungen steht als Vorspruch die Präambel - mit Gott als
herausgehobenem Bezugspunkt, was bei den Beratungen über die Neuformulierung des Grundgesetzes nach dem
Beitritt der ostdeutschen Länder zu einer Diskussion führte:
"... 'Gott steht nicht zur Disposition'. ... Die leidenschaftliche Diskussion in der
Verfassungskommission ... hatte sich an einem Antrag von MdB Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN) entzündet, der in der Präambel des Grundgesetzes die Bezugnahme auf Gott
radikal streichen und durch die Formulierung ‘im Bewußtsein seiner Verantwortung vor der
deutschen Geschichte und gegenüber künftigen Generationen' ersetzen wollte." (Das Parlament
18.06.93)
"Der Streit um das Grundgesetz
Scholz: Anrufung Gottes beibehalten
epd Bonn - Die Anrufung Gottes in der Präambel des Grundgesetzes soll nach Ansicht des
Vorsitzenden der Verfassungskommission, Rupert Scholz (CDU), beibehalten werden.
Befürchtungen, hierdurch könnte sich ‘durch die Hintertür' ein Stück Kirchlichkeit in das
Staatswesen einschleichen, seien unbegründet.
Der ostdeutsche Abgeordnete und Kirchenhistoriker Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/Grüne) hatte in
der Kommission zur Grundgesetzreform beantragt, ‘in der Verfassung auf Gott zu verzichten'. Mit
dieser Forderung stehe der ostdeutsche Abgeordnete allein, sagte Scholz gestern.
Dessen Vorschlag lasse sich damit erklären, daß Ullmann aus der ehemaligen DDR komme. Dort
habe ein anderes Verhältnis von Staat und Kirche bestanden, ..." (HH A 18.03.93)
"Gott bleibt im Grundgesetz
Theologe Ullmann wollte die Präambel ändern - er stand allein
Bonn - Gott bleibt im Grundgesetz. In einer mehrstündigen Debatte der Verfassungskommission von
Bundestag und Bundesrat über die Präambel des Grundgesetzes zeichnet sich ab, daß eine große
Koalition an den Einleitungsworten des Grundgesetzes ‘Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor
Gott und den Menschen ...‘ festhält.
Der ostdeutsche Theologe und Bundestagsabgeordnete Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/Grüne), der
eine völlige Neuformulierung der Präambel vorschlug und dabei auf Gott verzichten will, stand mit
diesem Bestreben weitgehend allein. Lediglich der PDS-Bundestagsabgeordnete Uwe-Jens Heuer
unterstützte die Ullmann-Initiative.
Für die CDU meinte deren Rechtspolitiker Horst Eylmann zu dem Ullmann-Antrag, er sei bestürzt,
wie wenig Gefühl darin der Haltung und dem Ethos der Mütter und Väter des Grundgesetzes
entgegengebracht werde. Die Bezugnahme auf Gott, die seit 1949 das Grundgesetz einleitet, sei
durch die Abkehr von dem atheistischen Regime der Nazis motiviert gewesen.
An dem Gottesbezug in der Präambel will auch der FDP-Politiker Burkhard Hirsch nicht rütteln.
Dies sei eine ‘erhabene' Formulierung, wie man sie nicht besser machen könne.
Respekt für die Meinung Ullmanns und dessen theologische Argumente für die Streichung Gottes
aus dem Grundgesetz bekundete der frühere SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel. In einem sehr
persönlichen Votum legte er jedoch dar, warum er an der Verankerung der ‘Verantwortung vor Gott‘
in der Präambel festhalten will. Vor dem Hintergrund der Herrschaft der Nationalsozialisten werde
mit dem Gottesbezug daran erinnert, daß der Mensch nicht allmächtig und letzte Instanz sei. ..."
(HH A 24.04.93)
Nicht nur wir, aber insbesondere wir Deutsche haben aller Welt den Beweis dafür geliefert, dass Wissenschaft
dem Menschen zwar Wissen liefert, aber nicht zwangsläufig damit verbunden auch Gewissen. Darum muss
Recht Grenzen setzen, dessen Wertmaßstab letztlich aus einem religiösen Rückbezug gewonnen werden kann –
aber seit Kant nicht mehr aus der Religion gewonnen werden muss -, wenn der religiöse Wertmaßstab den
Menschenrechten entspricht. Gegenbeispiel: Ajatollah Khomeini qualifizierte aus seinem Islamverständnis
heraus die Menschenrechte als „von Zionisten ausgedachte Regelsammlung“ ab, die „alle wahren Religionen
zerstören will“ (SPIEGEL 29.09.03). Vielleicht hatte die katholische Kirche das zunächst ähnlich gesehen, denn
nach einer Bemerkung des renommierten katholischen Universitätslehrers der Universität Tübingen Hans Küng
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im DLF vom 22.12.04 sind die Menschenrechte von der katholischen Kirche erst durch das Zweite Vatikanische
Konzil (Vaticanum II) 1962-1964 anerkannt worden!
Die von ihrem Ansatz her mit Anspruch auf universelle Geltung gedachten, allgemeinen Menschenrechte sind
mit Sicherheit der wichtigere Bezugspunkt als ein religiöser Rückbezug, denn sie sind auf Toleranz gegründet.
Dagegen gibt es zu viele Religionen mit sich gegenseitig ausschließenden Ausschließlichkeitsansprüchen. Und
da »Religion« – oft auf Grund behaupteter göttlicher Eingebung - von Menschen zur Rettung ihrer Seele oder
zur Verfolgung ihrer Instinkte und Triebe, nicht aber zur Gestaltung eines möglichst konfliktfreien
Zusammenlebens mit Andersgläubigen »gemacht« und von ihnen teilweise hemmungslos gelebt wurde und wird,
ist Toleranz kein Wesensmerkmal für Religionen!
Auch bei der Schaffung der Verfassung Europas versuchten christliche Kräfte – in Deutschland CDU und CSU , in der geplanten Präambel einen Gottesbezug zu verankern, was aber in dem zwar überwiegend katholischen
Frankreich an dessen strikt laizistischer Tradition scheiterte. So gab es in dem Entwurf stattdessen einen Bezug
auf die 2.000-jährige Tradition Europas.
Das ließ jedoch die katholische Kirche, bei der ihre zumindest unterschwellige Frontstellung zu den anderen
christlichen Religionen, insbesondere aber zu den nichtchristlichen Religionen immer mitgedacht werden muss,
nicht ruhen:
Papst: EU-Verfassung muss sich auf Christentum beziehen
Das Christentum ist nach Ansicht von Papst Johannes Paul II. Hauptgarant für Frieden in Europa.
Deshalb müsse es auch in der EU-Verfassung entsprechend erwähnt werden, meint er.
Nach der Auffassung von Papst Johannes Paul II. sind christliche Werte eine Garantie für die
Zukunft des europäischen Kontinents. Das Christentum stehe für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden
in Europa, sagte der Papst am Sonntag beim Angelusgebet in seiner Sommerresidenz in
Castelgandolfo bei Rom. Eine ausdrückliche Erwähnung der christlichen Wurzeln des Kontinents in
der künftigen EU-Verfassung sei daher dringend notwendig, forderte er.
Mit einem solchen Schritt könne das Gemeinwohl sowohl für Gläubige als auch für Nichtgläubige
geschützt werden, betonte er. Zur Begründung führte der Papst an, dass das Christentum über
Jahrhunderte hinweg als einigendes Element für die europäischen Völker gewirkt habe. Noch heute
stelle es eine unerschöpfliche Quelle für Spiritualität und Werte dar, die beim Aufbau der
Europäischen Union unersetzlich seien, sagte er.
Die Europäische Verfassung soll noch in diesem Jahr in Rom unterzeichnet werden. (nz)
(netzzeitung 24.08.03)
Eine Präambel ist kein hehres aber letztlich »unwesentliches Geplapper«. Würde der christliche Ursprung
Europas als verpflichtende Tradition für alle Staaten der EU in der zu schaffenden Verfassung der EU
festgeschrieben, würde damit die Tür Europas für die Türkei und Marokko, von dem auch immer wieder
geschrieben wird, dass es – warum eigentlich? – ein Aufnahmekandidat für die EU sei, automatisch geschlossen.
Natürlich richtet sich darum eine solche Stellungnahme wie die des Vatikans unausgesprochen, aber ganz
explizit, gegen eine Mitgliedschaft der muslimischen Türkei in der EU, die der Türkei laut Radiomeldungen
zwei Wochen zuvor – unverschämter- weil unzuständigerweise - von den USA(!), nicht jedoch von der EU, für
den Fall versprochen worden sein soll, dass die Türkei 2003 Truppen für die militärische Verwaltung des Iraks
zur Verfügung stellen sollte.
Da stellt sich die Frage: Was ist Europa? Was macht seine Identität aus? Erst wenn diese Frage hinlänglich
beantwortet ist, erhalten wir den meist nur dumpf gefühlten Maßstab für die Beurteilung der Frage, welche
Länder zu Europa gehören – und welche eben nicht! Nur ein solcher Maßstab bewahrt uns vor einer unsere
Identität als Europäer berührenden oder gar treffenden geographischen, von einigen gleichwohl politisch
gewollten Überdehnung dessen, was »Europa« ist.
Es kann nicht als Maßstab dienen, dass aus der islamischen Welt heraus eine Terrorwelle den ganzen Globus
überzieht. Wenn verübter Terrorismus ein Ausschlusskriterium wäre, hätte Deutschland in den Zeiten der RAF
nicht zu Europa gehört, dürften Großbritannien mit dem Bombenterror in Nordirland und Spanien mit dem
ETA-Terror im Baskenland nicht zu Europa gehören.
Man könnte den Gehalt dessen, was das »geistige Europa« ausmacht, vielleicht schon an der Musik
festzumachen versuchen: Wer mal an einem Tag von einem islamisch geprägten arabischen oder türkischen
Land nach Hause gekommen ist, wird das vielleicht auch dann empfunden haben, wenn er nicht morgens
Mozart, mittags Beethoven und abends Bach zu hören pflegt. Das sind so offensichtlich andere Musikkulturen,
die nichts miteinander gemeinsam haben.
Aber viele europäische »Musik« wird (wohl nicht nur von mir) als so störend empfunden, dass über den Bereich
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der Musik vermutlich kein verlässlicher Maßstab dafür zu gewinnen ist, was »Europa« ausmacht. Wir brauchen
einen anderen Maßstab. Und wenn es um die Frage der europäischen Identität geht, dann kann das nicht so sehr
ein geographischer, sondern muss eher ein geistiger Maßstab sein, der an die Jahrhunderte der europäischen
Geistesgeschichte und -entwicklung, der an die europäische Identitätsbildung angelegt wird.
Europa ist ganz entscheidend vom Christentum geprägt worden. Der Aufbau Europas im Mittelalter wurde zu
großen Teilen insbesondere durch die vorbildliche Arbeit der Klöster christlicher Orden im Zuge der
Christianisierung Europas und der Ostkolonisation geleistet. Der europäische Urwald, der zuvor nur entlang der
großen Flüsse durchquert werden konnte, wurde gerodet, das Land urbar gemacht.
Schriftlichkeit, Voraussetzung jeder Hochkultur, wurde durch die Klöster bewahrt und verbreitet. Es gab nichts
anderes Verbindendes im zerrissenen, sich untereinander - meist aus Glaubensabgründen - teilweise bis aufs
Äußerste befehdenden christlichen Abendland als das in seiner Auslegung heftig umkämpfte Christentum.
Und es stimmt darüber hinaus, was kaum jemand anzusprechen für opportun hält: Der christliche Grundkonsens
Europas wurde in dem Abwehrkampf gegen den Islam mit geschaffen: durch die gemeinsame Abwehr des
zunächst von Westen über Spanien eindringenden Islam seit dessen Einfall in Europa mit der Überquerung der
Meerenge von Gibraltar 711 n.Chr., der Doppelschlacht von Tours und Poitiers 732 n.Chr., die während des
Mittelalters im Rolandslied in Frankreich, England und Deutschland gedichtete und viel besungene Abwehr der
„Sarazenen“ (als Sinnbild der Araber, Muselmanen und aller anderen Nichtchristen, gegen die das Kreuz
gepredigt wurde), weiter über die Rückeroberung Spaniens von den Mauren (die 1492 abgeschlossene
„Reconquista“, die in Spanien noch heutzutage in Volksfesten gelebte Geschichte ist) und dann nach dem Fall
des 1.000-jährigen oströmischen Reiches mit seiner Hauptstadt Konstantinopel 1453 das Eindringen der aus der
Mongolei auf einem langen Treck nach Westen eingedrungenen Turkvölker und mit ihnen des Islam von Osten
in den Bereich Ostroms über den Balkan bis zur zweifachen Belagerung Wiens 1529 und 1683 durch die
muslimischen Heere der osmanischen Hohen Pforte, von wo sie letztlich durch eine gesamteuropäische
Kraftanstrengung der von Papst Innozenz XI. initiierten Heiligen Liga von 1684 (bestehend aus dem Heiligen
Stuhl, den direkt angegriffenen Habsburger Landen und den anderen Teilen des Heiligen Römischen Reiches
Deutscher Nation, Polen und Venedig) zurückgeschlagen wurden, zwischen den beiden Belagerungen Wiens
1571 in der Seeschlacht von Lepanto/Naupaktos (Griechenland), der letzten Galeerenschlacht und mit 50.000
Toten der bisher größten und opferreichsten Seeschlacht der Kriegsgeschichte, und dann die Zurückdrängung
der osmanischen Truppen vom Balkan im 18. und 19. Jahrhundert bis zu dem von anderen europäischchristlichen Ländern bei aller sonstigen Gegensätzlichkeit unterstützten Freiheitskampf der Griechen 1821-29
gegen die Türken.
Die Bannung der „Türkengefahr“ wurde wegen ihrer ernsthaften Bedrohung der christlich-abendländischen
Staatengemeinschaft von vielen europäischen Mächten über Jahrhunderte als abendländische
Gemeinschaftsaufgabe verstanden und wahrgenommen und wurde so auch mit identitätsstiftend für »Europa«.
Die zunächst im »finsteren Mittelalter« von den islamischen Wissenschaftlern – insbesondere der MaurenGebietsherrschaften in Spanien, nicht der Türkei - geistig befruchteten europäischen Gelehrten entwickelten in
der Neuzeit, insbesondere in der der Renaissance mit dem Humanismus als geistiger Hauptströmung folgenden
Zeit der Aufklärung, die den Aberglauben und den verkündeten Glauben mehr und mehr durch das erforschte
Wissen ersetzte, unter Beschreitung auch vieler Irrwege Geistes-, Staats- und damit auch Rechtsideen, an denen
weder der arabische Islam noch die Türkei teilhatte – und nach Vermutung des VG Köln in dem
Abschiebungsverfahren Kaplan, einem der 16 von ihm gegen seine Abschiebung betriebenen Verfahren, die
Türkei selbst im Jahre 2003 nicht teilhatte: Anders ist es nicht zu erklären, dass der fundamentalistische „Kalif
von Köln“, Kaplan, der 1992 wegen drohender Verfolgung in der Türkei als Asylberechtigter anerkannt worden
war – nach seiner Verurteilung wegen der Anstiftung zum Mord wurde die ihm 1992 gewährte Asylberechtigung
aber widerrufen, seine Frau bleibt jedoch weiterhin asylberechtigt -, nach Verbüßung seiner mehrjährigen
Gefängnisstrafe zunächst nicht dem Wunsch der Bundesregierung und der Türkei folgend in die Türkei
abgeschoben werden durfte, weil ihm dort ein Hochverratsverfahren wegen „bewaffneten Versuchs zum
Umsturz der verfassungsmäßigen Ordnung” droht, weil er sich 1995 zum Kalifen ausgerufen hatte, 1997 den
"Anatolischen Föderalen Islamischen Staat" gegründet und das in einem Brief den türkischen Abgeordneten
mitgeteilt hatte - als Beweis dafür, dass Kaplan versucht haben soll, die Türkei zu spalten, dient ein Artikel aus
dem Organ seines Islamstaats - und er 1998 zum 75. Jahrestag der Gründung der Republik Türkei auf das
Mausoleum Atatürks, wo sich die ganz Staatsspitze versammelt hatte, einen Anschlag mit einem Flugzeug
geplant haben solle. Ein weiterer Anschlag sei auf eine Moschee geplant gewesen.
Die Verwaltungsrichter der ersten Instanz nahmen an, dass der Prozess nicht in rechtsstaatlichen Bahnen
verlaufen werde, obwohl die Türkei die Todesstrafe abgeschafft und als Voraussetzung für eine Auslieferung
Kaplans der Bundesregierung die Durchführung eines rechtsstaatlich einwandfreien Verfahrens schriftlich
zugesagt hatte! Ohne diese Garantie eines rechtsstaatlichen Verfahrens in der Türkei wäre die mühsam
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erkämpfte Abschiebung Kaplans unzulässig gewesen. Aber die Verwaltungsrichter des VG Köln sahen die sehr
reale Gefahr, dass in den Hochverratsprozess gegen Kaplan zuvor unzulässig erlangte »Beweismittel«
eingebracht werden könnten, die durch die Folterung von Kaplans Anhängern erlangt worden waren, als die
1998 ein Flugzeug (angeblich) für ein Attentat auf das Atatürk-Mausoleum in Ankara hatten entführen wollen.
Ähnlich sah es das OVG Düsseldorf 2003 in dem Auslieferungsverfahren Kaplan. Wörtlich heißt es in dessen
Urteilsbegründung: Die Anhänger Kaplans, die im Verfahren gegen ihn als Belastungszeugen vorgesehen waren,
seien von türkischen Sicherheitskräften "hauptsächlich mit groben Schlägen, Aufhängen an den Schultern,
Behandlung mit heißem, kaltem und unter Druck gesetztem Wasser, Quetschung der Hoden und deren
Mißhandlung durch Stromstöße" gefoltert worden. Der türkischen Menschenrechtsorganisation IHD sind
ausreichend andere Fälle von Folterungen in türkischen Gefängnissen bekannt, so dass einen auf Grund von
Zusicherungen für die Durchführung eines rechtsstaatlichen Verfahrens unter Verzicht auf Folterung an die
Türkei ausgelieferten „Kalifen“ nur sein Prominentenstatus schützen könnte. An den Schultern aufgehängt zu
werden und dann mit verdrehten Armen hängend die Hoden gequetscht oder mit Stromstößen malträtiert zu
bekommen, macht beflissen gesprächsbereit! Das kann jeder Leser an sich selbst ausprobieren (lassen), ohne
zusätzlich unter der Decke zu hängen. Da erzählt man alles, was die Vernehmenden hören wollen – wenn nur der
Schmerz aufhört!
Nachdem die Türkei durch u.a. auch eine Strafrechtsreform erreicht hatte, dass die Aufnahme von
Beitrittsverhandlungen bezüglich einer EU-Mitgliedschaft begonnen werden sollen, sie weiß, dass sie unter
verschärfter Beobachtung steht und u.a. auch der Prozess gegen Kaplan wegen Hochverrats und versuchten
Umsturzes als einer der vielen erforderlichen Lackmustests auf ihre Demokratiefähigkeit angesehen werden
wird, ist der Hassprediger Kaplan trotz geltend gemachter inlandsbezogener Abschiebungshindernisse in Form
einer Prostata-Krebserkrankung, die eine Abschiebung angeblich unmöglich mache und darüber hinaus in der
Türkei nicht (richtig) behandelt würde, mit Billigung des BVerwGs in Leipzig trotz weiterlaufender
Revisionsverhandlung gegen ein Urteil des OVGs Münster und weiteren Verbleibs seiner Familie in
Deutschland Ende 2004 zum Abschluss des sechzehnten(!) diesbezüglichen Verfahrens an die Türkei
ausgeliefert worden. Im Fall einer Verurteilung droht ihm eine lebenslange Haftstrafe.
Auf Grund der Tatsache, dass die Geschichte des Abendlandes auch die Geschichte der gemeinsamen Abwehr
des Okzidents gegen den Islam ist und dass die Türkei an der europäischen Geistesentwicklung der Neuzeit nicht
teilhatte, gehört selbst die heutige Türkei nach den 1920 eingeleiteten Atatürkschen Reformen und der seit ca.
2000 inzwischen eingeleiteten Hinwendung zu demokratischen Staatsstrukturen weder aus historischen noch aus
kulturellen Gründen mit zu Europa! Es gibt nach meinem Dafürhalten kein einziges historisches oder kulturelles
Argument, das die Zugehörigkeit der Türkei zu Europa zu stützen in der Lage wäre. Es reicht nicht, dass die
Türkei einst auf dem Balkan große Gebiete Europas beherrscht hatte.
Das Fehlen historisch-kultureller Argumente für eine mir unmöglich erscheinende Zugehörigkeit der Türkei zur
EU kann auch nicht dadurch geheilt werden, dass dort möglicherweise irgendwann einmal die Menschenrechte
bis in die abgelegenste Polizeiwache Geltung erlangt haben könnten und die Gerichte sie beherzigen sollten:
Dass die Europäer durch die vor Wien geschlagenen Türken als Beute deren Kaffe kennen gelernt haben und
sich daraus die Wiener Kaffeehauskultur entwickelt hat, reicht nicht als tragfähiges kulturelles Argument. Zählte
das als Argument, müsste auch China zu Europa gehören, denn wir tragen – wenigstens ab und zu – auch mal
Seidenhemden.
Und freundschaftliche diplomatische Beziehungen begründen auch nicht die Zugehörigkeit eines Landes zu
Europa; die haben wir schließlich auch zu Australien und Ozeanien. Wenn alle außereuropäischen Randstaaten,
und dazu muss man die Türkei trotz ihres dreiprozentigen europäischen Gebietszipfels rechnen, in die EU
aufgenommen werden sollten: wo wäre da die Grenze? Am Irak? In Nord-Afrika, da auch Marokko in die EU
drängte? Was sollte das einigende historisch-kulturelle Band einer solchen Europäischen Union sein?
Gibt es vielleicht in Ermangelung historisch-kultureller andere durchschlagende Gründe für eine EU-Mitgliedschaft der Türkei? Politische? „Eine demokratische Türkei wäre ein Aushängeschild für die gesamte arabische
Welt“, lautet ein Argument des Ministerpräsidenten Luxemburgs, Junkers. Das kann schon sein: Aber muss
deswegen die Türkei in die EU aufgenommen werden? Dann müssten ja alle anderen autoritären Staaten z.B. der
SEATO, die wie die Türkei mit den USA einen Ring von Staaten um die damals aggressiv ausgreifende UdSSR
gelegt hatten, zum Erlernen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in die Europäische Union aufgenommen
werden! Was wäre an der EU dann - aber außer ihrem Ursprung - noch europäisch?
Junkers sieht in der EU darüber hinaus „keinen Christenverein“ und die Türkei seit dem 16 Jahrhundert als
„europäische Macht“ (Interview im DLF am 03.09.03). Es hätten in Europa schon immer Völker mit
unterschiedlicher religiöser Ausprägung zusammen gelebt. Sicher, deswegen hatten wir ja auch so viele
Religionskriege in Europa! Und das nur unter denjenigen, die sich als Christen - mit dem sie an sich
verpflichtenden zentralen Gebot des Christentums: der Feindesliebe - begriffen. Religiöse Toleranz herrscht
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unter den Christen erst, seitdem die Religion offiziell zur Privatsache geworden ist. Aber das ist im Islam nach
dessen Grundannahme, dass Religion und Staat eins zu sein hätten, nicht möglich! Was sollen wir uns mit noch
mehr islamistischen Fundamentalisten belasten, die in der Türkei ihr teilweise mörderisches Unwesen treiben,
um die Vorrangstellung des Korans in ihrer dem 7. Jahrhundert zugewandten Blickrichtung vor jeglicher zivilen
Regelung herbeizubomben? Beispiele gab es zu Hauf, dass Andersdenkende umgebracht wurden, indem z.B.
Parlamentsangehörige umgebracht wurden, ein Hotel angezündet wurde, in dem dann viele der dort
versammelten kritischen Schriftsteller verbrannten.
Eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU wird sehr stark von den USA aus deren geostrategischen Interessen
heraus »gepuscht«. So wurde der Türkei von den USA unverschämterweise eine Mitgliedschaft in der EU
versprochen, um sie in den Krieg gegen den Irak Saddam Husseins zu locken. Unverschämt finde ich daran, dass
die USA Versprechungen zu Lasten Dritter macht, denn sie hat die die sich daraus ergebenden Probleme ja nicht
auszubaden. Die USA würden es sich höchlichst verbitten, wenn die EU Mexiko eine Angliederung an die USA
verspräche, um das Problem der mexikanischen Wanderarbeiter auf diese Weise zu lösen! Und das katholische
Mexiko steht den religiös christlich-bigotten USA kulturell wesentlich näher als der EU die islamische Türkei!
Was im geostrategischen Interesse der USA liegt, muss längst nicht im Interesse der EU liegen!
Die Befürworter eines Beitritts der Türkei zur EU werfen den konservativen Gegnern eines Türkei-Beitritts vor,
eine hilflose und längst überholte Debatte zu führen: Die Türkei, so heiße es in hauptsächlich konservativen
Kreisen, passe nicht ins christliche Europa und gehöre geografisch gar zu Asien.
Beide Argumente zielen nach Meinung der Befürworter ins Leere: Nicht einmal der EU-Konvent habe es für
angebracht gehalten, einen Bezug zum Christentum im Entwurf der EU-Verfassung festzuschreiben. Und mit
dem Assoziierungsvertrag von 1963 und der Verleihung des Status eines Beitrittskandidaten 1999 habe die EU
die Türkei als europäisches Land (angeblich) akzeptiert. Die politischen Fakten würden jetzt in absehbarer Zeit
den rechtlich abgesicherten Status einer Vollmitgliedschaft erzwingen – weil man damals aus politischer
Feigheit die erforderliche Diskussion um die andere ausschließende Identität Europas nicht hat führen wollen
und sich darauf verlassen hat, dass sich der – ehemalige?1 - Folterstaat Türkei nicht demokratisch wandeln werde
und somit unter Hinweis auf die politischen und gesellschaftlichen Defizite ein Beitritt jederzeit abgelehnt
werden könnte. Nun wandelt sich die Türkei rapide; und das unter einer konservativen, dezidiert islamischen
Führung!
Aber ehe die Türkei Mitglied der EU wird, müsste z.B. Israel Mitglied in diesem Staatenbund werden! Israel?
Sicher: Wenn historisch-kulturelle Argumente bei der dann auch juristisch zu fixierenden Bestimmung dessen,
was Europa ausmacht, ausmachen soll, zählen, dann hätte die einzige Demokratie des Vorderen Orients auf
Grund ihrer Staatsform und angesichts der Tatsache, dass der Staat Israel von europäischen Juden - mit ihren
Wurzeln auch in der europäischen Geistesgeschichte und ihrer jahrhundertelangen Teilhabe an der
Herausbildung des »europäischen Geistes« - gegründet und entscheidend geprägt worden ist, dann hätte Israel
am ehesten von allen weiteren in die Diskussion gebrachten Bewerbern ein Anrecht auf eine Mitgliedschaft in
der EU!
Da das Christentum das Ideenfundament Europas ist, wäre es trotz der Kirchenferne des weit überwiegenden
Teiles der Bevölkerung Europas nicht unangebracht, wenn man – nicht nur dem Wunsch des Vatikans folgend diese gemeinsame Wurzel in der ansonsten säkularen Verfassung Europas in deren Präambel durch eine
angemessen moderate Formulierung zum Ausdruck brächte. Damit vergäbe man sich nichts, denn so sind ja die
historischen Fakten. Warum schamhaft verschweigen? Trotzdem wird dieser historische Bezug auf die jüdischchristlichen Wurzeln des mehrtausendjährigen europäischen Geisteslebens wegen des Drucks vieler EUPolitiker im Europäischen Parlament und einiger Länderchefs unterbleiben. Das spricht aber nicht gegen die
Richtigkeit der christlichen Wurzel Europas und den Kampf um die Befreiung des europäischen Geistes aus den
Fesseln der katholischen Kirche.
Weil der Außenminister der BRD seine »grünen« Parteigenossen via Telekonferenz auf ihrem Parteitag Ende
2003 aufforderte, sich „nicht feige wegzuducken und die Aufnahme der Türkei in die EU offensiv zu vertreten“,
ist die Frage der Aufnahme der Türkei in die EU für mich das entscheidende Kriterium, einer Partei, die die von
mir aus den vorstehend dargelegten Gründen abgelehnte Mitgliedschaft der Türkei in der EU herbeiführen will,
bei der anstehenden Wahl zum Europäischen Parlament meine Stimme zu verweigern!
„Ich stehe hier, ich kann nicht anders!“
1
Im September 04 sprach die türkische Menschenrechtsorganisationen Human Rights Foundation mit Sitz in Ankara noch
von systematisch angewandter Folter in der Türkei in 597 dokumentierten Fällen, als der EU-Erweiterungskommissar
Verheugen die Türkei vor Abgabe seines Fortschrittsberichts bezüglich der möglichen Aufnahme von
Beitrittsverhandlungen besuchte. Dann setzte die Regierung Erdogan im Zuge der Angleichung des türkischen
Strafgesetzbuches an den EU-Standard eine Strafbarkeit der Folter mit einer Strafdrohung bis zu zehn Jahren Gefängnis
durch.
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Es ist so, wie der Papst es auch sieht und sagt, dass Europa ganz entscheidend vom Christentum geprägt worden
ist. Nur das macht Europas historische und geistige Identität aus!
1.1.2 Text der Präambel als Auslegungsregel für das GG
Präambel
als
Auslegun
gsregel
für das
GG
Weil die Juristen als Freunde des gespaltenen Haares nach dem Motto: "Nur keinen Streit vermeiden!" keinen
rechtlichen Streit auslassen, war die Präambel (das »Vorangehende«, der Vorspruch in Verfassungsurkunden
oder Staatsverträgen) im Verlauf der Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik in einer Gesamtbewertung ihrer
Bedeutung als »Vor-Wort« zunächst überwiegend als rechtlich bedeutungslos eingestuft worden, bis sich in
vielen Aufsätzen die jetzt herrschende Lehre durchsetzte, dass die Präambel Bestandteil der Verfassung sei und
grundsätzliche Auslegungsregeln für die bestehende und Richtlinien für die künftige staatliche Ausgestaltung
enthalte.
Bei dieser Sicht der Stellung und des rechtlichen Gewichts der Präambel ist es dann auch zweitrangig, ob die
von mehr als 400 Abgeordneten des Bundestages geforderte Aufnahme des Programmsatzes in unsere
Verfassung: "Jeder ist zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aufgerufen“, an entweder Art. 2 GG oder die
Präambel angebunden wird.
Und gleich eine wohlgemeinte Warnung aus eigener leidvoller Erfahrung eines sich über siebeneinhalb Jahre
hingezogen habenden Rechtsstreites als Anmerkung zu solchen hehren Sätzen - außerhalb oder in rechtlichen
Regelungen -, vor denen man sich gar nicht genug hüten kann: Wichtiger als so ein unverbindlicher
Programmsatz kann - auf jeden Fall für den einzelnen, der so »blöd« ist, solch einen Satz mit so hehren Zielen
für bare Münze zu nehmen - da schon die Frage sein: "Wie schützt man die zum Engagement für diesen Staat
bereiten Bürger vor eben diesem Staat?" (Vgl. dazu den später detaillierter dargestellten Fall: "Würdest Du eine
Bonner Sekretärin heiraten?" Wer Gemeinsinn bis zur Bereitschaft zur Selbstaufgabe gezeigt hatte, indem er
seine Beamtung auf Lebenszeit aufgeopfert und sich unter dem Risiko langjähriger Haft in DDR-Gefängnissen
dem bundesrepublikanischen Verfassungsschutz gegenüber auf dessen(!) Wunsch hin bereiterklärt hatte, als
Agent gegen das MfS zu arbeiten, um dessen Machenschaften in der Bundesrepublik nach besten Kräften
vereiteln zu helfen, konnte, wenn er abgeschaltet worden war, im Extremfall vom Staat bedenkenlos um seine
bürgerliche Existenzgrundlage gebracht werden. Und einige Gerichte haben dabei mitgespielt!)
Bei solchen erhabenen Formulierungen mit Aufforderungscharakter sollte man sich zur eigenen Vorsicht lieber
an das von dem Bundeskanzler Willy Brandt gern gebrauchte Wort erinnern: „Haben Sie es nicht eine Nummer
kleiner?“
1.2 »Grundgesetz« oder »Verfassung«?
»Grundg
esetz«
oder
»Verfass
ung«?
Das Grundgesetz hatte zunächst nur für das in der Präambel a.F. aufgeführte »Alt-Alt-Bundesgebiet« ohne das
von Frankreich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges - wie schon nach dem Ersten Weltkrieg - erneut
annektierte Saarland, nach Anschluss des Saarlandes an das Bundesgebiet am 01.01.1957 als 10. Bundesland
dann für das »Alt-Bundesgebiet« Geltung gehabt; auch für Bayern, obwohl der Bayerische Landtag mit
Beschluss vom 20.05.49 das Grundgesetz (wegen nach bayerischer Meinung zu geringer Beachtung der
Länderkompetenzen) als einziges Landesparlament abgelehnt, gleichwohl aber dessen Rechtsverbindlichkeit für
Bayern anerkannt hatte, wogegen die Bayernpartei mehr als 40 Jahre später 1991 in Wiederholung alter
Schlachten vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof vergeblich geklagt hatte. (Nach der
Hauptstadtentscheidung des Deutschen Bundestages für Berlin forderte die Bayernpartei, die Selbstständigkeit
Bayerns zu fördern, was über Artikel 6 der Landesverfassung möglich wäre und erreicht werden sollte, in dem bisher ohne das dazu notwendige Ausführungsgesetz - eine eigene bayerische Staatsbürgerschaft vorgesehen ist,
die durch "Geburt, Legitimation, Eheschließung und Einbürgerung" erworben werden kann. Bayerische
Staatsbürgerschaft contra EG-Bürgerschaft, wo doch § 1 der Verordnung über die deutsche Staatsangehörigkeit
seit dem 05.02.1934 bestimmt:
§ 1 (1) Die Staatsangehörigkeit in den deutschen Ländern fällt fort.
(2) Es gibt nur noch eine deutsche Staatsangehörigkeit.
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Wir werden noch öfters Gelegenheit haben zu bestaunen, zu welchen Zwecken das Instrument des Rechts
eingesetzt werden soll!)
Berlin hatte nach Ende des Zweiten Weltkrieges bis zur Wiedervereinigung auf der Grundlage der »2+4
Verträge« unter der gemeinsamen Verwaltung der vier alliierten Siegermächte gestanden. Es war - trotz
zwischenzeitlich ergangener anderslautender, die Rechtstatsachen verdrehender Urteile des BVerfGs - bis
zuletzt kein Bundesland der Bundesrepublik gewesen und war darum z.B. auch nicht in der Präambel unter den
dort aufgeführten Ländern erwähnt worden. Für Berlin war die Geltung des Grundgesetzes vom Anfang des
staatlichen Neubeginns der Bundesrepublik an bis zur Ratifizierung der »2+4-Verträge« und der erst auf dieser
Grundlage erfolgten Wiedervereinigung durch die Besatzungsrechte der drei Alliierten im Westteil
eingeschränkt und im Ostteil der Stadt durch die UdSSR verhindert worden. So hatten z.B. die Westberliner
Abgeordneten im Bundestag kein Stimmrecht. Gleiches galt übrigens die meisten Jahre der SED-Herrschaft auch
für die Ostberliner Abgeordneten in der Volkskammer.
Erst durch die »2+4-Verträge« sind alle bis dahin noch in Kraft gewesenen Besatzungsrechte aufgehoben
worden, hat das wiedervereinte Deutschland alle durch die bedingungslose Kapitulation Hitler-Deutschlands am
Ende des Zweiten Weltkrieges verlorenen Souveränitätsrechte (wegen der Gebietsverluste Polens an die UdSSR
zur Kompensation dieser Gebietsverluste an Polen abgetretenen Gebiete in einem gegenüber 1937 um ca. ein
Viertel kleineren Staatsgebiet) uneingeschränkt zurückerhalten.
Die Bezeichnung »Grundgesetz« statt »Verfassung« hatte also den räumlich und zeitlich vorläufigen Charakter
der bundesdeutschen Verfassung sowie das durch fortgeltende Siegerrechte bedingte Fehlen voller rechtlicher
Freiheit zu souveräner eigenständiger Verfassungsgebung für den dem Westen zugehörenden Teil
Rumpfdeutschlands deutlich machen sollen. Nach der überraschend erlangten Wiedervereinigung hatte die SPD
im Februar 1992 - die Verfassung war als Anpassung an die neue Rechtslage schon in einer ganzen Anzahl ihrer
Bestimmungen und insbesondere in der Präambel und dem Art. 146, aber erstaunlicherweise nicht in
„Art. 144 GG
(1) Dieses Grundgesetz bedarf der Annahme durch die Volksvertretung in zwei Dritteln der
deutschen Länder, in denen es zunächst gelten soll."
[Wieso jetzt noch "zunächst"? Das GG gilt ja in allen nunmehr 16 Ländern der Bundesrepublik. Die
Präambel stellt in ihrem letzten Satz ausdrücklich fest: „Damit gilt dieses Grundgesetz für das
gesamte Deutsche Volk.“ Auf Grund der "2+4-Verträge" ist außerdem der alte Art. 23 GG mit dem
darin teilweise aus illusionärem Wunschdenken angeordneten räumlichen Geltungsbereich ("GroßBerlin"!) aufgehoben worden und sowohl Präambel als auch Art. 146 GG sind geändert worden, um
deutlich zu machen, dass keine weiteren - noch weiter östlich gelegenen ehemaligen deutschen Länder mehr der Bundesrepublik beitreten können sollen. Insbesondere sollen nach der
Zwangsaussiedlung der Deutschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten gleich nach dem Ende
des Zweiten Weltkrieges keine Gebietsansprüche mehr gegen die Republik Polen auf Rückgabe der
zur Kompensation für an die UdSSR verlorenen Gebiete erworbenen ehemaligen deutschen Länder
bestehen, wie sie z.B. aber von der UNO für die durch Israel besetzten palästinensischen Gebiete
bejaht werden!]
geändert worden - folgerichtig den Vorschlag unterbreitet, das zu der Zeit schon durch die Gemeinsame
Verfassungskommission des Bundestages und des Bundesrates in Überarbeitung befindliche »Grundgesetz«
künftig als »Bundesverfassung« zu bezeichnen. Damit wäre z.B. an die demokratische Tradition der "Verfassung
der Frankfurter Nationalversammlung von 1849" und der "Verfassung des Deutschen Reiches von 1919"
(»Weimarer Verfassung«) angeknüpft worden. Und bei so grundlegenden Staatsakten wie einer
Verfassungsgebung oder -überarbeitung ist Tradition ein üblicherweise sehr starkes Argument. Das ist in solchen
Fällen demokratisches Hartgeld. Da gibt man sich nicht geschichtslos! CDU/CSU hatten diesen von der SPD in
die Diskussion gebrachten Vorschlag, kaum unterbreitet, umgehend rundweg abgelehnt: Es solle bei
"Grundgesetz" bleiben, denn das Grundgesetz habe sich in den bis dahin mehr als 40 Jahren seines Bestehens als
Verfassung des westlichen deutschen Teilstaates bewährt.
1.2.1 Der räumliche Geltungsbereich des GG
Der
räumliche
Geltungsbe
reich des
GG
Der neue räumliche Geltungsbereich des GG ergibt sich aus der Präambel n.F. Ein Vergleich zwischen alter und
neuer Fassung der Präambel lohnt sich nicht nur für einen Historiker, weil die dort angegebene
Länderaufzählung wegen des im Einigungsvertrag vorgesehenen und nach einer negativ verlaufenen
Volksabstimmung auf eventuell später verschobenen projektierten Zusammenschlusses der jetzt noch getrennten
Länder Brandenburg und Berlin möglicherweise auch schon bald überholt sein könnte - wenn nicht aus
finanziellen Erwägungen wegen der Zahlungen in und der Leistungen aus dem Länderfinanzausgleichsfonds eine
Änderung dieses Vorhabens eintritt. (Brandenburgs Ministerpräsident Stolpe rechnet auch nach der ersten,
negativ verlaufenen Volksabstimmung immer noch mit einem Zusammenschluss dieser beiden Länder in
baldiger Zukunft. Der neue Regierende Bürgermeister von Berlin, Wowereit SPD, gab dieses Ziel als von ihm
für 2009 angestrebt an.)
"Chronik der Woche
Montag, 18. Januar
Berlin und Brandenburg wollen von der geplanten Länderfusion Abstand nehmen, wenn sie dadurch
im neuen Bund-Länder-Finanzausgleich schlechter gestellt werden als bei getrennter
Finanzverteilung. Dies hätten die Regierungschefs beider Länder dem Bundeskanzler mitgeteilt, sagt
der Berliner Finanzsenator Elmar Pieroth (CDU) vor der Presse in Bonn. Zugleich fordert er
übergangsweise bis 1995 weitere Leistungen und die Obhut des Bundes für Berlin." (Das Parlament
29.01.93)
1.2.2 GG und Länderneugliederung
Ursprünglich lautete
„Art. 29 I GG
Das Bundesgebiet ist unter Berücksichtigung der landsmannschaftlichen Verbundenheit, der
geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge, der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit und des
sozialen Gefüges durch Bundesgesetz neu zu gliedern. Die Neugliederung soll Länder schaffen, die
nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können."
Der 1976 geänderte Art. 29 I GG lautet nunmehr:
"Das Bundesgebiet kann neu gegliedert werden, um zu gewährleisten, dass die Länder nach Größe
und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können. Dabei sind die
landsmannschaftliche Verbundenheit, die geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge, die
wirtschaftlichen Zweckmäßigkeiten sowie die Erfordernisse der Raumordnung und der
Landesplanung zu berücksichtigen."
Der zum besseren Verständnis durch Schrägdruck kenntlich gemachte unterschiedliche rechtliche Gehalt der
beiden gegenübergestellten Fassungen des Art. 29 GG besteht darin, dass aus dem strikten Verfassungsauftrag
"... ist ... neu zu gliedern", also einer »Muss«-Vorschrift nunmehr eine »Kann«-Vorschrift geworden ist.
Die Politiker sind das ihnen lästige Problem damit zunächst durch eine gemäß Art. 79 I GG vorgenommene
Verfassungsänderung losgeworden. Das Problem geistert aber als einer der bundesdeutschen politischen Untoten
immer wieder durch die politische Landschaft und durch Politiker-Diskussionen.
"Stoiber: Hamburg soll verschwinden
o Der CSU-Innenminister will höchstens 10 Bundesländer
o Nordlichter stärker zur Kasse bitten/ Curilla kontert
o "Dann dürfte es Bayern schon längst nicht mehr geben"
Ozapft is? Die bayerische Staatsregierung will das Bundesland Hamburg von der Landkarte radieren.
Innenminister Edmund Stoiber (CSU) denkt laut darüber nach, nachdem das
Bundesverfassungsgericht am vergangenen Mittwoch Hamburg beim Länderfinanzausgleich um 148
Millionen Mark entlastet hat. `Mit kleinen oder finanzschwachen Ländern wie dem Saarland,
49
Bremen und Hamburg wird es nicht gelingen, den Föderalismus zu stärken', schimpfte Stoiber.
In München macht man schon Planspiele über eine Zusammenlegung Hamburgs mit Bremen,
Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Hamburgs Finanzsenator Wolfgang Curilla (SPD) kontert:
Wenn Stoiber recht hätte, wäre Bayern längst weg.
Stoiber will die Zahl der Bundesländer von 16 auf neun oder zehn senken: `Es schwächt das Gewicht
der Länder insgesamt, wenn allein nicht lebensfähige Länder auf Dauer am Tropf der reicheren
Länder und des Bundes hängen.' Mittels des Länderfinanzausgleichs sollen regionale Unterschiede
beim Steueraufkommen gemildert werden - reiche Länder zahlen ein, arme kassieren.
Stoibers Ziel: Wenn ab 1995 die bitterarmen ostdeutschen Länder in den Finanzausgleich
einbezogen werden, sollen die Nordlichter stärker zur Kasse gebeten werden. Bayern wolle nicht
allein dastehen, wenn es um die Lasten der Einheit gehe, hieß es gestern aus dem bayerischen
Innenministerium.
In der [Hamburger] Finanzbehörde am Gänsemarkt kommt Oktoberfeststimmung auf: `Wir zahlen
die Zeche, und Herr Stoiber will auch noch das Trinkgeld kassieren.' Seit 1970 habe jeder
Hamburger 4430 Mark in den Finanzausgleich gelöhnt, während jeder Bayer 348 Mark einstrich.
Finanzsenator Curilla: `Hamburg hat bislang 13 Milliarden eingezahlt, Bayern hat über 6,6
Milliarden Mark kassiert. Nach der Logik von Herrn Stoiber dürfte es Bayern als eigenständiges
Bundesland schon längst nicht mehr geben.'
‘In der Diskussion ist alles erlaubt', schwächte der Sprecher des bayerischen Innenministeriums
gestern die Anti-Hamburg-Aktion seines Dienstherrn ab. ..." (Morgenpost 03.06.92)
„Geschichte ohne Wahrheit ist wie ein Gesicht ohne Augen“ (Polykrates). Der historischen Wahrheit
halber, zu der gehört, dass Hamburg bis heute eines der Geberländern ist, sei aus einer Gesamtbilanz
aus dem STERN vom 08.01.98 (S. 109) über Nettoerlöse aus dem Länderfinanzausgleich über die
Jahre 1950 (Einführung des Finanzausgleichs) bis 1996 zitiert:
„Länderfinanzausgleich
Erst kassieren, dann lamentieren
Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) läßt keine Gelegenheit aus, gegen angebliche
Ungerechtigkeiten im Finanzausgleich zwischen den Bundesländern zu wettern. Erfolgreiche Länder
würden »bestraft«, klagt er, andere dagegen hätten »überhaupt keinen Anlaß, sich besonders
anzustrengen«.
Was Stoiber verschweigt: Sein Freistaat hat vom bestehenden System selbst kräftig profitiert. Das
zeigt eine Gesamtbilanz aller Zahlungen seit 1950 - dem Jahr, als der Finanzausgleich eingeführt
wurde, um wirtschaftlich schwachen Bundesländern auf die Beine zu helfen.
Bayern hat von 1950 bis 1996 aus dem Finanzausgleich exakt 6,69 Milliarden Mark bekommen,
bislang aber nur 6,18 Milliarden eingezahlt - ein Plus von rund 500 Millionen Mark. Ohnehin zahlen
die Bayern erst seit 1989. Bis 1986 ließen sie sich ohne Unterbrechung von anderen Ländern unter
die Arme greifen. ...“
Fünf Jahre später hat sich das Missverhältnis der unverhältnismäßig hohen Zahlungen Hamburgs noch immer
nicht geändert:
„Finanzausgleich: Hamburger zahlen am meisten
Hamburg musste noch nie so viel Geld in den Länderfinanzausgleich einzahlen wie in diesem Jahr.
Insgesamt zahlt die Stadt 500 Millionen Euro – das sind pro Bürger 281 Euro. Damit nimmt die
Hansestadt – bezogen auf die Einwohnerzahl – den Spitzenplatz ein. Zum Vergleich: NordrheinWestfalen zahlt 1,8 Millionen Euro – rund 10 Cent pro Einwohner. ...“ (HH A 07.11.03)
Hamburg gibt, Berlin nimmt …
Sven Kummereincke
Hamburg musste 2003 mit 654 Millionen Euro so viel Geld in den Länderfinanzausgleich zahlen,
wie nie zuvor. Eine gute Nachricht oder eine schlechte? Beides zugleich. Gut, weil es ein Zeichen
der wirtschaftlichen Stärke Hamburgs ist. Und schlecht, weil das Gels fehlt, um die gewaltige
Finanzierungslücke im eigenen Haushalt (1,5 Milliarden Euro allein in diesem Jahr) zu verkleinern.
Politisch problematisch wird die Sache wegen des Falls Berlin. Die bankrotte Hauptstadt bekommt
mehr als fünf Milliarden Euro Hilfe, je rund zur Hälfte vom Bund und von den anderen
Bundesländern. Doch offenbar hat Berlin noch Geld genug, um Hamburger Unternehmen mit
50
üppigen Subventionsversprechungen an die Spree zu locken. Wenn Berlin aber mit Hamburger Geld
Hamburger Firmen weglockt, dann wird der Gedanke des Länderfinanzausgleichs ad absurdum
geführt. Hamburg, seit jeher ein Geberland, hätte also durchaus das Recht, sich zu beschweren.
Andere Länder sollten da zurückhaltender sein. Bayern etwa hat jahrzehntelang kassiert und fing just
in dem Moment an, das System in Frage zu stellen, als es selber vom Nehmer- zum Geberland
wurde.“ (HH A 17.02.04)
In diesem Zusammenhang wurde die folgende Aufstellung mit abgedruckt:
WER GIBT, WER NIMMT?
ZAHLERLÄNDER
Land
€ je Einwohner
Hamburg
378
Hessen
308
Baden-Württemberg
203
Bayern
150
Nordrhein-Westfalen
3
Betrag in Mio. €
654,3
1.873,9
2.165,8
1.858,0
49,5
EMPFÄNGERLÄNDER
Land
€ je Einwohner
Betrag in Mio. €
Berlin
777
2.636,6
Bremen
524
347,1
Mecklenburg-Vorpommern 226
392,1
Sachsen
215
933,4
Thüringen
209
498,1
Sachsen-Anhalt
205
518,6
Brandenburg
194
500,8
Saarland
100
106,5
Rheinland-Pfalz
64
258,9
Niedersachsen
49
393,0
Schleswig-Holstein
6
16,2
Bei der Sachlage kann man das Lamentieren der bayrischen Staatsregierung und deren Klage vor dem BVerfG
schon fast als degoutant empfinden! Aber die Geberländer ärgert neben den wegen ihrer erfolgreichen
Wirtschaftspolitik ständig gestiegenen Ausgleichszahlungen an die ärmeren Bundesländer u.a. auch das
Stadtstaatenprivileg - obwohl Hamburg ebenfalls zu den Geberländern gehört -, demzufolge die Einwohner eines
Stadtstaates wegen der von diesem geleisteten Metropolfunktion für das sie umgebende Umland anderer
Bundesländer höher bewertet werden als die Einwohner anderer (kleinerer) Städte, bei denen innerhalb des
jeweiligen Bundeslandes ein interner Ausgleich vorgenommen werden kann. Doch das Umland leistet sich nicht
z.B. Theater und Opern von Weltniveau und keine Hochleistungskrankenhäuser, die von den „SpeckgürtelBewohnern“ mit genutzt werden. Die von der Großstadt in den „Speckgürtel“ gezogenen und nun im Umland in
einem Eigenheim lebenden Neuzugänge der Flächenstaaten haben weiterhin ihre Arbeitsplätze in den
Stadtstaaten, erwirtschaften dort ihr Einkommen und sind auf diese Arbeitsplätze angewiesen, schicken teilweise
ihre Kinder weiterhin auf die Schulen des von ihnen wegen des Eigenheimbezuges verlassenen Stadtstaates,
zahlen aber nach einer gravierenden juristischen Änderung, der Änderung der Steuererhebung von der
Arbeitsplatz- auf die Wohnsitzbesteuerung1, ihre Steuern nicht mehr dort, wo sie ihr Gehalt erwirtschaften,
sondern machen den Wohnsitz-Flächenstaat reich, ... . So ist das Stadtstaatenprivileg cum grano salis berechtigt,
demzufolge bei der Berechnung des Länderfinanzausgleichs davon ausgegangen wird, dass z.B. für Hamburg
jeder Einwohner wie 1,35 Einwohner von Flächenstaaten gezählt werden. Gäbe es die Stadtstaatenwertung nicht,
müsste Berlin 4,1 Mrd., Hamburg 1,6 Mrd. und das inzwischen hoch verschuldete, nach der Änderung des
Steuererhebungsprinzips ausgeblutete Bremen - dem es so lange wirtschaftlich blendend ging, wie die
Arbeitsplatzbesteuerung galt, bevor die die Stadtstaaten benachteiligende Wohnsitzbesteuerung eingeführt
worden ist - 750 Mill. mehr in den Länderfinanzausgleich zahlen. Der bis vor das BVerfG getriebene juristische
1
Das für den Arbeitsplatz zuständige Finanzamt war auch für die Abgabe der Steuererklärungen der Arbeitnehmer
zuständig, gleichgültig, wo sie wohnten. Dorthin mussten die individuellen Steuern abgeführt werden, die somit den
Stadtstaaten zuflossen, die ja auch die Arbeitsplätze in ihrer Gebietskörperschaft schufen und durch ihre
Infrastrukturmaßnahmen irgendwie auch »vorhielten«.
51
Kampf um das so behauptete eigene »Recht« insbesondere der süddeutschen Geberländer geht jetzt neben einem
erhöhten Selbstbehalt auf Grund durch eigene Anstrengungen gestiegenen Steueraufkommen u.a. um die Quote,
mit der die Stadtstaatenbürger Berlins, Hamburgs und Bremens in die anzustellenden Berechnungen einbezogen
werden sollen. Und das ist für jeden der Stadtstaaten eine nach „Recht und Gesetz“ zu regelnde Frage der
nackten Existenz!.
Um die Daumenschrauben anzusetzen, forderte Bayern zu Anfang der Diskussion in gewollter (und wie aus den
vorstehenden Auszügen aus Zeitungsartikeln ersichtlich: schon fast verlogener) Verkennung der Realitäten und
mit der gleichen mit unredlichen Argumenten vorgebrachten, wegen ihrer alle anderen Regierungschefs
nervenden Penetranz dann aber letztlich erfolgreichen Attitüde der ehemaligen britischen Premierministerin
»Tina« Margaret Thatcher auf EG-Ebene – „I want my money back!“ - eine generelle Abschaffung des
Stadtstaatenprivilegs. Bayern weiß aber die Metropolfunktion seiner Landeshauptstadt München innerhalb des
eigenen Landes durchaus angemessen zu honorieren; so erhält München eine »innerstaatliche«
Einwohnerwertung von 1,85 Einwohnern! (Und z.B. Düsseldorf wird von seinem Bundesland mit 1,75 gewertet.
Auch Stuttgart erfährt von seinem Bundesland eine höhere Wertung, als sie den Stadtstaaten zunächst
abgesprochen wurde.) Was aber die drittgrößte Stadt der Bundesrepublik für ihr süddeutsches Umland ist, das ist
die zweitgrößte Stadt der Bundesrepublik für ihr norddeutsches Umland. Ich vermag da keinen hinreichend
plausiblen juristischen Differenzierungsgrund zu erkennen! Die Stadtstaaten wehren sich mit Gutachten. Nach
einem solchen Gutachten von Anfang 2001 könnte Berlin im Vergleich zu 100 Einwohnern eines Flächenstaates
eine Verrechnung mit mindestens 144 Einwohner beanspruchen, Bremen bis zu 147 und Hamburg eine
Einwohnerwertung von 139 bis 141. Sogar eine höhere Wertung wäre nach dem aktualisierten Gutachten der
Professorin Hummel möglich. Angesichts der Vergleichszahlen für den innerstaatlichen Ausgleich, den die
jeweiligen Landesmetropolen für ihre Leistungen für ihr Umland von ihren jeweiligen Ländern erhalten,
erscheinen die bisher den Stadtstaaten zur »Einwohnerveredelung« zugestandenen Bemessungszahlen
ausgesprochen maßvoll angesetzt! Neben den eben genannten Faktoren als Leistung ihrer Metropolfunktion für
die angrenzenden Gebiete der Flächenstaaten haben sie höhere Aufwendungen für Sozialhilfeempfänger zu
tragen, in den größeren Städten herrscht ein höheres Preisniveau als in den meisten Gebieten der Flächenstaaten,
...
Am 24.06.01 gab es in der Frage des Länderfinanzausgleichs dann doch noch einen Kompromiss, dessen
Annahme die Bundesregierung durch zusätzliche Zahlungen ermöglichte. Nach diesem Kompromiss, der als
„Sieg des Föderalismus“ ausgerufen wurde und mit dem die Diskussion um Länderneugliederungen erst einmal
(wieder) auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben wurden, gelten für die Jahre 2005 bis 2020 nunmehr u.a.
folgenden Regelungen:
 Die Pro-Kopf-Einnahmen der finanzschwachen Länder werden durch Ausgleichszahlungen aus dem
Länderfinanzausgleichsfonds auf 95 % des Mittelwertes der Einkünfte aller Länder angehoben. Die
Bundesländer Saarland und Bremen erhalten wegen ihrer desolaten Finanzstruktur darüber hinaus
Ergänzungszuweisungen des Bundes.
 Die Geberländer dürfen durch ihre Zahlungen nicht mehr unter 100 % dieses Mittelwertes der Einkünfte
aller Länder sinken.
 Ein Geberland muss künftig von seinen überdurchschnittlichen Steuereinnahmen nicht mehr als 72,5 %
abführen.
 Das Stadtstaatenprivileg wird weiterhin anerkannt. Ihm wird dadurch Rechnung getragen, dass die
Einwohnerzahlen von Berlin, Hamburg und Bremen jeweils zu 135 % bewertet werden.
GG und
Länderne
uordnung
Würde aber eine Neugliederung des Bundesgebietes in andere Länder nicht vielleicht gegen die zurzeit geltende
Bestimmung des
Art. 79 III GG
"Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder ... berührt
werden, ist unzulässig."
verstoßen? Ist somit eine Neugliederung des Bundesgebietes mit dem Ziel der Schaffung von in etwa gleich
leistungsfähigen Ländern blockiert? Zur eigenen Meinungsbildung und als Argumentationshilfe sei zunächst auf
Art. 118 GG verwiesen. So gehen die Juristen auch vor.
Auflösung: Schon allein die Lektüre der alten Fassung der Präambel des Grundgesetzes macht deutlich, dass vor
der Wiedervereinigung einige der ursprünglichen Bundesländer weggefallen waren und statt dessen durch
Zusammenschluss der dann weggefallenen ursprünglichen Länder das Bundesland Baden-Württemberg
52
entstanden war. Weitere an sich sinnvolle und in der ursprünglichen Regelung des Art. 29 GG zunächst als
Verpflichtung aufgegebene, dann nach einer geschwinden Verfassungsänderung nur noch als möglich
zugelassene Zusammenschlüsse bisher zu kleiner Länder zu sinnvollen wirtschaftlichen Einheiten scheiterten
bisher an landsmannschaftlichen Eifersüchteleien insbesondere der Parteien und Politiker, die dann zum Teil die
Macht in einem Bundesland und insbesondere ihre Ministerposten und/oder Abgeordnetensitze in den
bisherigen, aber dann aufzulösenden Landesparlamenten verlieren würden. Da gäbe es dann u.a. zwangsläufig
auch weniger Startlöcher für das bisher alle vier Jahre stattfindende Rennen um die Kanzlerschaft mit
Kandidatur und Gegenkandidatur!
Eine Neugliederung des Bundesgebietes ist also durch Art. 79 III GG nicht blockiert, denn der spricht nur
grundsätzlich von der Gliederung des Bundes in Länder.
Es gibt aber keine grundgesetzliche Bestandsgarantie für ein bestimmtes Bundesland. (Das Land Bremen hat
allerdings als kleinstes Bundesland und darum das Bundesland mit den größten Befürchtungen um seine
Eigenstaatlichkeit eine niederrangigere Bestandsgarantie ausgehandelt.)
Die Bestandsgarantie des Art. 79 III GG bezieht sich also nur auf das Föderalismusprinzip, nicht aber auf die
Existenz eines jeden Bundeslandes.
Das Fehlen einer grundgesetzlichen Bestandsgarantie für ein bestimmtes Bundesland ergibt sich als
Umkehrschluss aus Art. 118 GG, der ebenfalls von Anfang an in der Verfassung stand und die Neugliederung
des Landes Baden-Württemberg ausdrücklich vorsah.
Eine große Chance, wirtschaftlich tragfähige Ländereinheiten zu bilden, ist bei der Schaffung der ostdeutschen
Bundesländer 1990 erst einmal vertan worden, als sich entgegen allem Rat der Wirtschafts- und Finanzexperten
die neu zu bildenden Länder in den Grenzen etablierten, in denen sie vor Auflösung durch die DDR bis 1950
existiert hatten. Darauf bestanden sie 1990 - mochte die Kleinstaaterei aus vordringlich wirtschafts- und
raumordnungspolitischen Gesichtspunkten heraus auch noch so sinnlos(!) sein - als ihrem so geglaubten guten
»Recht«. Wer mochte gegen solche Befindlichkeiten die sinnvollere Lösung eines großen Wurfes durchsetzen?
Niemand! Schließlich ist ja jedes der ostdeutschen Bundesländer größer und bevölkerungsreicher als der kleinste
westdeutsche Flächenstaat, das Saarland, das allerdings durch den historischen Sonderfall einer zunächst
erfolgten erzwungenen Abtrennung durch Abtretung an Frankreich und späteren Wiedervereinigung nach positiv
verlaufener Volksabstimmung entstanden war. (Aber was kostet das an Mehrfachem für die Gehälter der
Ministerpräsidenten, Minister, Spitzenbeamten, Beamten, Parlamentarier, von denen es insgesamt rund 2.000
geben soll, Mehrkosten für Gebäude, ... !)
Es kam erneute Bewegung in die Diskussion der Länderneugliederung, weil einer der beiden Vorsitzenden des
"Gemeinsamen Verfassungsausschusses des Deutschen Bundestages und des Bundesrates" zur Erarbeitung einer
neuen Verfassung, Prof. Scholz, die Bildung einer "Neugliederungs-Kommission" zur Zusammenlegung von
Bundesländern angeregt hat, um "das Grundgesetz für die europäische Einheit fit zu machen, weil die deutsche
16-Länderstruktur noch nicht ausreichend lebensfähig" sei (HH A 12.02.92). Diese Anregungen eines der beiden
Kommissionsvorsitzenden verpufften - bis auf eine Verärgerung der Betroffenen – völlig wirkungslos, weil ihre
Konkretisierung außer der Neubildung eines Nordstaates u.a. auch vorsah, Niedersachsen mit Sachsen-Anhalt
und "das reiche Hessen mit dem schwierigen Thüringen zusammenzutun". Wäre ernsthaft erwogen worden,
diese letzteren Vorschläge politisch umzusetzen, hätten sich die Ostdeutschen in ihrer Befindlichkeit ja noch
mehr "vereinnahmt" oder "abgewickelt" gefühlt, wenn ihre Länder z.T. in westdeutschen Ländern aufgegangen
wären. Das war politisch nicht machbar. Dieser Teil des Vorschlages war aus den vorgenannten Gründen
politisch instinktlos! (Das hätte auch der ehemalige »Kurzzeit«-Verteidigungsminister Scholz und jetzige
Vorsitzende des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages wissen und bei seinen Äußerungen in Rechnung
stellen müssen, wenn er nicht das Ansehen der von ihm mitgeleiteten gemeinsamen Bundestags- und
Bundesratskommission zur Neuformulierung der Verfassung hätte beschädigen wollen!) Sinnvoll könnte in
Ostdeutschland nur ein Zusammenschluss zu kleiner ostdeutscher Länder untereinander sein - wie es diese
Überlegungen für das Gebiet der westdeutschen Bundesländer seit Jahrzehnten, z.B. durch das Gutachten der
Günther-Kommission, gibt. (Ein Stichwort hierzu war der »Nordstaat«, ein weiteres ist ein »Südwest-Staat«.)
Das Thema wird immer ein politischer Dauerbrenner bleiben – der vorläufig letzte Beitrag kam von der
Landeschefin der Hamburger Grünen, die sich Ende 2001 gegen die die ganze Region schwächende
„norddeutsche Kleinstaaterei“ und für die Schaffung zweier Nordländer aus einerseits Schleswig-Holstein,
Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern und andererseits Niedersachsen und Bremen aussprach - und es
werden die unterschiedlichsten Lösungsvorschläge für den Papierkorb erarbeitet werden, z.B.:
„Zu viele Länder?
ADN Bonn - Bis zu zehn Milliarden Mark an Steuergeldern könnten jährlich gespart werden, wenn
53
die 16 Länderparlamente und -regierungen reduziert und der Bundestag verkleinert würden. Dies hat
der Deutsche Beamtenbund (DBB) ausgerechnet. Zusammenschließen sollten sich: SchleswigHolstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern; Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Bremen;
Berlin, Brandenburg und Sachsen; Hessen und Thüringen; Rheinland-Pfalz, das Saarland und
Baden-Württemberg.“ ( HH A 28.12.95)
1998 forderte der sächsische Ministerpräsident Biedenkopf eine Reduzierung der Zahl der Bundesländer auf
sieben: nur Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen sollten in ihrer jetzigen Form erhalten
bleiben.
Auch die (jetzt) reichen Bundesländer strebten nach Meinung einiger Beobachter mit der 1998 beim BVerfG
eingereichten und von ihm 1999 angeordneten Neuordnung des Länderfinanzausgleichs angeblich neben einer
schon auf „sehr eigennützige“ (heuchlerische) Argumente gestützten Zahlungsentlastung ebenfalls eine
Umgestaltung der Struktur der Bundesländer in annähernd gleich große und an Wirtschaftskraft gleich starke
Länder an.
Wir werden sehen - eine solche Länderumgestaltung aber wohl eher nicht erleben. Politische Traditionen stehen
dagegen. Und die sind meist sehr zäh!
2003 wurde parteiübergreifend(!) von Politikern aus der CDU, der FDP und den Grünen ein neuer Anlauf zur
Reduzierung der 16 Bundesländer auf 11, nach einem noch weitergehenden Vorschlag auf 9 2 neu
zuzuschneidende Länder unternommen. Später forderte der baden-württembergische Ministerpräsident Teufel,
den Föderalismus auf nur noch 8 leistungsfähige Länder zu begrenzen. Deutschland könne sich die teure und
ineffiziente Lösung mit 16 Bundesländern nicht mehr leisten. So solle ein „Nordstaat“ oder „Küstenstaat“ aus
den bisherigen Ländern Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen und Niedersachsen, wahlweise mit oder
Mecklenburg-Vorpommern, gebildet werden.
Die in der nach der Wiedervereinigung erfolgten Neufassung der Präambel nunmehr genannte Aufgliederung
des Bundesgebietes in Bundesländer kann schon bald durch den trotz zunächst erfolgter Ablehnung durch die
Bevölkerung von den Parteien weiterhin projektierten Zusammenschluss der Länder Berlin und Brandenburg
von der neuesten Entwicklung überrollt werden. Doch wie immer, so auch 2003: Spätestens wenn es zum
Schwur kommt, setzen sich wieder die Leute mit den kleinsten geistigen Karos und den größten
landsmannschaftlichen Bedenken oder Vorurteilen durch: „Same procedure as every time!“ Vielleicht wird das
2006 ja anders, und die Brandenburger überwinden ihre Abneigung gegen die Hauptstädter. Anzunehmen ist das
meiner Meinung nach aber nicht: bei der Kassenlage des nach der Berliner Bankenpleite und der damit
ausgelösten finanziellen Verpflichtungen Berlins ist das eher unwahrscheinlich!
Für die 2006 wieder anstehende Befragung der Bürger von Brandenburg und Berlin nach einem
Zusammenschluss dieser Länder wurde auch schon statt „Berlin-Brandenburg“ die Wiederauferstehung des
Namens „Preußen“ für das neue Gebilde vorgeschlagen, obwohl der Alliierte Kontrollrat das Land Preußen
1947 als „Träger des Militarismus und der Reaktion“ aufgelöst hatte.
Neu ist allerdings das mit dem Vorstoß zum Aufbau größerer und - so erhofft - leistungsfähigerer Bundesländer
zeitgleiche vereinzelte Bemühen zu einer noch weitergehenden staatlichen Zersplitterung Deutschlands:
“Abspaltung
Rügen denkt an eigenen Staat
von n-tv-Reporter Jörg Jelinnek
Ein eigener Inselstaat Rügen. Die Verwaltung der Ostseeinsel hat ein solches Vorhaben in Erwägung
gezogen. Dabei wurde geprüft, ob eine Abspaltung von Deutschland wirtschaftliche Vorteile bringen
könnte.
Landrätin Kerstin Kassner erläutert: "Im Zuge von Diskussionen in Brüssel wurde die Idee geboren,
ob die Insel allein lebensfähig ist. Ein positives Beispiel ist dabei die Isle of Man. Und da haben wir
gedacht, wir können ja mal schauen, ob vielleicht so ein Vorhaben für uns schlüssig ist."
Im Klartext: Außenpolitisch würde zwar Deutschland die Insel vertreten. Innenpolitisch hätte der
Inselstaat einen hohen Grad an Eigenverantwortung. So könnten eigene Euros geprägt werden,
ebenso Briefmarken. Sammlerobjekte also, die dem Staat viel Geld einbringen könnten. Auch der
2
Angedacht sind folgende, teilweise neue, Gebietseinheiten: Schleswig-Holstein + Hamburg + Mecklenburg-Vorpommern /
Bremen + Niedersachsen + Sachsen-Anhalt / Brandenburg + Berlin / Nordrhein-Westfalen / Hessen + Thüringen / Sachsen
/ Rheinland-Pfalz + Saarland / Baden-Württemberg / Bayern.
Strittig ist die dabei u.a. die dann erforderliche neue Stimmengewichtung im Bundesrat.
54
Tourismus könnte davon profitieren. "Wenn man sich die anderen Inseln ansieht, die einen
unabhängigen Status haben, dann fällt einem auf, dass sie alle Vorteile davon haben. Denn viele
Touristen sind neugierig, die Unabhängigkeit kennenzulernen. Wie die Kanalinseln oder die Isle of
Man könnte auch die schöne Insel Rügen von einer solchen Neugier profitieren“, erklärt TourismusVerbandssprecher Raymond Kiesbye.
Einige Urlauber haben kein Verständnis für die Unabhängigkeitsbestrebungen der Insel. Anderen ist
es egal. Sie würden sowieso Rügen besuchen - als größte Insel Deutschlands oder als unabhängige
Republik. Ihnen gefällt die Insel. ’Da spielt es keine Rolle, ob sie nun zu Deutschland gehört oder
nicht. Die Insel ist einfach eine Reise wert.’
Finanzexperten aus Mecklenburg Vorpommern halten den Plan für nicht finanzierbar. Denn 30
Prozent der Einnahmen erhält die Insel vom Land und vom Bund. Diese würden bei einer
Unabhängigkeit Rügens fehlen. Der Finanzbeamte Udo Knapp kann seine Ironie nicht im Zaune
halten: ’Da könnte sich Frau Kassner ein Kriegsschiff kaufen und auf dem Schweriner See das
Schloss belagern, um damit die Zuschüsse zu erpressen. Vielleicht fahren sie ja auf der Spree zum
Bundeskanzleramt und beschießen es.’
Er glaubt, dass viele Rügener mit der Abspaltung von Deutschland vor allem drohen wollen. Denn
die Landesregierung in Schwerin bereitet eine radikale Verwaltungsreform vor, die in den nächsten
zwei Jahren umgesetzt werden soll. Die Rügener befürchten Nachteile, da sie gemeinsam mit
Landkreisen vom Festland verbunden wären und damit ihre Eigenverwaltung der Vergangenheit
angehören würde. Das Finanzministerium rät aber den Insulanern, lieber an der Spitze der
Kreisgebietsreform zu marschieren und die eigenen Interessen zu sichern.“
(n-tv.de Freitag, 10. Januar 2003)
Im Zuge der Föderalismusdiskussion um eine entzerrende Neuregelung der Aufgabenverteilung zwischen Bund
und Ländern hat Bundeskanzler Schröder 2004 - wieder einmal - eine Diskussion über eine Neuordnung der
Bundesländer angemahnt: es müsse die Frage thematisiert werden, „ob wir wirklich 16 Bundesländer brauchen“.
So befürwortet der Kanzler z.B. die Bildung eines Nordstaates – ohne zu sagen, welcher der schon lange
angedachten vielen Varianten er dabei den Vorzug geben würde.
1.3 Das GG als oberste rechtliche Norm unseres Staates für insbesondere
staatliches, eingeschränkt aber auch privates Handeln
Das GG als
oberste
rechtliche
Norm
unseres
Staates für
insbesonder
e
staatliches,
eingeschrän
kt
aber
auch
privates
Handeln
Das »Grundgesetz« ist als unsere Verfassung unsere oberste rechtliche Norm, an der sich alles staatliche - und
wesentlich eingeschränkter auch das private - Handeln auszurichten hat. Wohlgemerkt: (zunächst einmal
vorrangig) alles staatliche Handeln. So verbietet z.B. der in seiner Aufzählung der Verbotsgründe anschauliche
(spezielle) Gleichheitssatz des
Art. 3 III GG
„Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner
Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen
benachteiligt oder bevorzugt werden."
zunächst einmal vorrangig und unmittelbar dem Staat eine sachfremde Benachteiligung von einzelnen Bürgern
oder Bevölkerungsgruppen aus einem der angeführten Verbotsgründe.
Diese Einsicht gilt nur für die letzten Millisekunden der von (nicht nur) rechtlicher Ungleichheit geprägten
Menschheitsgeschichte – und auch für diese Millisekunden nicht uneingeschränkt: Als in Kambodscha ab ca.
1975 die Roten Khmer unter Führung von Pol Pot, des "Bruders Nr. 1", die Herrschaft an sich gerissen hatten
und ihren »Steinzeitkommunismus« der Bevölkerung oktroyierten, erschlugen sie vor rund 30 Jahren sofort
jeden, der eine Brille trug, denn er konnte, so wurde vermutet, lesen - und galt damit als subversiv. Auch andere
Lesekundige, die sich nicht verstellt hatten, auf jeden Fall die Leute mit höherer Schulbildung, sind allein ihrer
intellektuellen Fähigkeiten wegen entweder gleich umgebracht worden oder sie wurden, um Munition zu sparen,
in den „killing fields“ auf den Reisfeldern entweder mit Spaten erschlagen oder durch überharte Arbeit
vernichtet, damit sie dem System, das ca. ein Drittel der Bevölkerung getötet hat, nicht gefährlich werden
konnten: „Die Macht des Volkes errichten heißt, die Bourgeousie zerstören.“
55
Ein anschauliches historisches Beispiel für die rechtliche Ungleichbehandlung der Geschlechter liefert die
Theologieprofessorin Ranke-Heinemann mit ihrem Hinweis auf das jüdische Eheverständnis zu Lebzeiten Jesu:
„Das Eheverständnis der Jünger wurde durch Jesu Wort auf den Kopf gestellt. »Du sollst nicht
ehebrechen«, bei diesem Verbot der Zehn Gebote verstanden die Juden für Männer und Frauen
etwas Verschiedenes: Für den Mann ist nur der Verkehr mit der Frau eines anderen Ehebruch, für die
Frau ist jeder Ausbruch aus der eigenen Ehe Ehebruch. Der Mann kann nur eine fremde Ehe
brechen, die Frau dagegen auch die eigene. Für den Mann ist Ehebruch nur Einbruch in eine fremde,
für sie ist Ehebruch jeder Ausbruch aus ihrer eigenen Ehe. Das liegt daran, daß die Frau nicht als
Partnerin, sondern als Besitz des Mannes gewertet wird. Die Frau mindert durch Ehebruch den
Besitz ihres eigenen Mannes. Der Mann dagegen mindert durch Ehebruch den Besitz eines anderen
Mannes. Ehebruch ist eine Art Eigentumsdelikt. Verkehr mit einer unverheirateten Frau bedeutet
darum für den Mann keinen Ehebruch. Laut Jesu Lehre von der Bedeutung des Ein–Leib-Werdens
als einer unzertrennlichen Einheit ist diese privilegierte männliche Auffassung von Ehebruch
aufgehoben. Aufgehoben ist auch die Vielehe der Männer, die dem Judentum als von Gott gestattet
erschien. Galten die Wünsche eines Ehemannes nämlich einer anderen, nicht verheirateten Frau, so
konnte er sie neben seiner schon vorhandenen Ehefrau heiraten. Das Judentum zur Zeit Jesu – außer
der Qumransekte – bejaht die Polygamie. Das heißt: Ein Ehemann kann seine eigene Ehe nie
brechen. Die Frau gehört ihrem Mann, der Mann gehört aber nicht seiner Frau. Jesu Art, den
Schöpfungsbericht zu deuten, machte das alles zunichte, was patriarchalische Sicht aufgebaut hatte.
Kein Wunder, daß die Jünger meinen, wenn das so ist, heiratet man am besten gar nicht. Solche Ehe
ist nicht nach ihrem Sinn.“3
Den Glauben an die Geltung unserer heute aktuell geltenden Gesetze verlor der seit zehn Jahren als
Goldschmied in Rheinland-Pfalz lebende, unbezweifelt deutschstämmige Togolese Liebl, der 2001 im Vertrauen
auf diese grundgesetzliche Regelung nach einer anfänglichen Stellung eines Asylantrages die Anerkennung als
deutscher Staatsbürger beantragte: Sein Großvater war ein bayrischer Kolonialarzt gewesen, der in Togo eine
togolesische Prinzessin geheiratet hatte. In § 4 I des seit einiger Zeit auf der politischen Agenda zur Änderung
anstehenden Reichs- und Staatsbürgerschaftsgesetzes4 hieß es zum Zeitpunkt der Antragsstellung über den
Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft:
§ 4 [Geburt]
(1) Durch die Geburt erwirbt die Staatsangehörigkeit
1. das eheliche Kind, wenn ein Elternteil Deutscher ist,
2. das nichteheliche Kind, wenn seine Mutter Deutsche ist.
(2) ...
Der schwarzhäutige Nachfahre des deutschen Arztes vermutet nun in der Ablehnung seiner Anerkennung
als Deutscher – weil auf irgendeinem Papier die Unterschrift des Kaisers fehlen soll - einen Verstoß gegen
den speziellen Gleichheitssatz des Art. 3 III GG. Vielleicht wird irgendwann das BVerfG mit diesem Fall
befasst sein, weil sich der Antragsteller auf Grund rassistischer Bestimmungen aus der Kolonialzeit
diskriminiert fühlt.
Wenn Spitzensportler im Wege des weltweit praktizierten „Sportler-Shoppings“ aus so verstandenem
nationalen Interesse u.a. auch bei uns eingebürgert werden, warum dann keine Anerkennung als Deutscher
für einen schwarzhäutigen Nachfahren eines Deutschen?
GG und
Zivilrecht
1.3.1 GG und Zivilrecht
1.3.1.1 Grundsätzliche Vertragsfreiheit im Bereich des Zivilrechts und (meist nur)
eingeschränkte »mittelbare Drittwirkung« der Grundrechte
3
4
Ranke-Heinemann, Uta: Eunuchen für das Himmelreich Katholische Kirche und Sexualität, Hamburg 1988, S. 38 f
Seit 2000 wird die deutsche Staatsbürgerschaft nicht mehr nur durch das Abstammungsprinzip begründet, sondern auch
durch das jus soli, den Grundsatz, dass die deutsche Staatsbürgerschaft an das Territorium (Territorialprinzip) gebunden ist
und nicht mehr an die Blutverwandtschaft (Abstammungsprinzip).
56
Grundsätzliche
Vertragsfre
iheit im
Bereich des
Zivilrechts
und (meist
nur)
eingeschrä
nkte
»mittelbare
Drittwirku
ng« der
Grundrecht
e
Das dem Staat auferlegte Benachteiligungsverbot gilt für den Privatmann aber nicht so direkt und so umfassend.
Der Grund ist die unter Privatleuten eingeschränkte Geltung der Grundrechte. Im privaten Bereich haben die
zunächst einmal als Abwehrrechte gegen die Übermacht des Staates gerichteten Grundrechte nur eine
»mittelbare Drittwirkung«, was z. B. einige »Blaublüter« sogar im Wortsinne beklagen, weil sie enterbt worden
sind, da sie unter ihrem in der Verfassung ihres Hauses vorgesehenen Stand geheiratet haben. Sie sehen sich
wegen der Abstammung der nach der Meinung ihrer Clans nicht sorgfältig genug ausgewählten jeweiligen
Ehefrauen diskriminiert. Eine diesbezügliche Klage wurde vor längerer Zeit beim BVerfG rechtshängig
gemacht; da man aber nichts mehr davon hörte, kann man davon ausgehen, dass das Begehren erfolglos
verlaufen war.
Ein Vermieter kann nicht jederzeit die von seinem Mieter bezogene Wohnung inspizieren. Einen Mieter schützt
über die in der Generalklausel des § 242 BGB normierte Verpflichtung zur Erbringung jeglicher vertraglichen
Leistung nach dem Grundsatz von »Treu und Glauben« als eines der mit dieser Bestimmung geöffneten
»Einfallstore der Grundrechte in das Privatrecht«, als »mittelbare Drittwirkung« der Grundrechte, das
Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 I GG. Durch die von Lehre und Rechtsprechung
entwickelte »mittelbare Drittwirkung« der Grundrechte kann also - in beschränktem Umfang - eine
Grundrechtsbindung sogar zwischen Privaten entstehen, obwohl die Grundrechte zunächst einmal die Beziehung
zwischen Individuum und Staat betreffen. Auch wenn selbstverständlich nicht alles in einer Verfassung geregelt
ist, gar nicht alles geregelt sein kann, weil zukünftige Entwicklungen nicht absehbar sind, so kann die
Rechtsprechung trotzdem über vorhandene Generalklauseln den Zeitgeist auffangen und mit den Wertungen des
Grundgesetzes in Übereinstimmung bringen.
Unstrittig kann hingegen ohne mittelbare Drittwirkung z.B. ein privater Vermieter bei der Auswahl seiner Mieter
ohne Verstoß gegen das Grundgesetz nach jedem ihm gut dünkenden Gesichtspunkt differenzieren und seine
Wohnung z.B. nur an Einheimische oder kinderlose Ehepaare vermieten. Er braucht nicht Fremde oder Eltern
mit lärmenden Bälgern, die vielleicht dann noch in unmittelbarer häuslicher Gemeinschaft mit ihm wohnen und
ihm so seine Mittagsruhe rauben würden, zu berücksichtigen. Für ihn gilt das das Zivilrecht beherrschende
Prinzip der grundsätzlichen Vertragsfreiheit, was sowohl die Freiheit umfasst, einen Vertrag zu schließen, wie
auch die Freiheit, einen Vertrag nicht zu schließen. Ein zwar privatwirtschaftlich organisiertes
Versorgungsunternehmen hingegen, das aber als Monopolist die Einwohner eines Wohngebietes allein mit Gas,
Wasser oder bis 1999 auch mit Strom versorgt(e), dürfte nicht die Belieferung mit seinem Produkt verweigern,
weder gegenüber z.B. einem erwiesenen Atomkraftgegner, noch gegenüber einem Ausländer. Wer ein Monopol
innehat, steht unter Abschluss-/»Kontrahierungs-« und Lieferzwang.
Alles andere dazwischen ist juristische Grauzone und wird nach tatsächlichen und Zumutbarkeitsgesichtspunkten
gemäß § 242 BGB unter Berücksichtigung des Grundsatzes von »Treu und Glauben« innerhalb der durch das
BGB vorgegebenen Strukturen entschieden: Ein Einzelhändler, der sich darüber geärgert hatte, dass eine
bestimmte Kundin bei ihm immer nur Sonderangebote gekauft, die teuren Waren dagegen liegen gelassen und
ihr deswegen Hausverbot erteilt hatte und daraufhin von der pfennigbewussten Hausfrau mit dem Hinweis auf
die erst in ca. 4 km Entfernung gelegene nächste Einkaufsmöglichkeit auf Verkaufszwang aus (behaupteter)
Monopolstellung heraus verklagt worden war, obsiegte in dem ihm von der sparsamen Hausfrau aufgenötigten
Prozess. 4 km seien eine noch zumutbare Entfernung für Einkäufe, entschieden die Richter, da könne noch nicht
von einer Monopolstellung gesprochen werden. Das Hausverbot wurde vom Gericht nicht aufgehoben. (Für die
entstandenen und von ihr als verlierende Prozesspartei nun zu zahlenden Rechtsanwalts- und Gerichtskosten
hätte sie jahrelang teuer einkaufen können. Das kommt davon, wenn man sich im »Recht« glaubt, ohne es jedenfalls nach Meinung des den Prozess entscheidenden Richters - zu sein!)
Kritischer wird es mit der»grundsätzlichen«5 Vertragsfreiheit des Zivilrechts, abgesehen von der aufgehobenen
Vertragsfreiheit bei Monopolstellung von Versorgungsunternehmen, vielleicht bei folgendem Sachverhalt:
1.3.1.2 Privates Hausrecht überwindet das Diskriminierungsverbot des (speziellen)
Gleichheitssatzes aus Art. 3 III GG
"Diskotheken
Ausländer werden ausgegrenzt
5
Wenn ein Jurist »grundsätzlich« sagt, dann bedeutet das, dass es mindestens eine juristisch relevante Ausnahme gibt, bei
der es dann nicht so ist wie in dem aufgestellten Grundsatz; daher das Sprichwort: "Keine Regel ohne Ausnahme", das
seinerseits auch nur grundsätzliche Geltung hat, denn: „Alle Menschen müssen sterben!“, und davon gibt es keine
Ausnahme.
57
Türsteher verlangen Ausweise mit Arbeitsnachweis
Mit den Worten `Ausländer kommen hier nicht rein' verweigern die Türsteher vieler Hamburger
Diskotheken ausländischen Jugendlichen den Zutritt. Abendblatt-Mitarbeiterin Petra Neumann
versuchte am Wochenende, gemeinsam mit Ciro (24) aus Italien, seiner deutschen Freundin Sabine
(22) und den türkischen Studenten Halis (24) und Ersel (23) zum Tanzen zu gehen.
Um 23.30 Uhr vor dem `Posemuckel' an der Bleichenbrücke hat Ciro, ein 24 Jahre alter Italiener
aus Mailand, noch gute Laune. Der hochgewachsene junge Mann, der seit vier Jahren als Koch in
einem italienischen Restaurant arbeitet, will zusammen mit seinen Freunden in der Diskothek in
seinen Geburtstag hineinfeiern.
Die Jugendlichen haben sich schick für die Szene gemacht. Ersel, ein 23 Jahre alter GermanistikStudent und seit sieben Jahren in Hamburg, trägt sogar einen dunklen Anzug. Doch aus der
Geburtstagsfeier wird nichts.
`Ausländer lassen wir nur mit Clubausweis rein,' sagt der Türsteher des `Posemuckel'. `Die Frauen
können durch, aber ihr müßt erst Ausweise beantragen.' Es dauere allerdings sechs Wochen, bis der
Antrag bearbeitet sei, auf dem neben einer Fotokopie des Passes und der Aufenthaltsgenehmigung
auch der Name des Arbeitgebers angegeben werden muß.
`Wir hatten viel Ärger mit Türken und können keine Ausnahme machen', heißt es zur Begründung.
`Sehen wir denn aus wie Verbrecher?' fragt Halis, der in Istanbul geboren wurde und seit sechs
Semestern in Hamburg Erziehungswissenschaften studiert.
Daß Ausländer - und nur sie - eine Clubkarte brauchen, habe die Polizei angeordnet, sagt der
Türsteher. So könnten Ausländer nach Schlägereien leichter ermittelt werden. Der Polizei ist
allerdings von solchen Absprachen nichts bekannt. `Das wäre extrem ungewöhnlich', sagt
Polizeisprecher Ralf Stahlberg.
Nächste Station auf der Suche nach einer Diskothek ist der `Fürstenhof' an der Bramfelder Straße.
Es ist mittlerweile 1 Uhr. Die Abweisung vor Hamburgs ältester Diskothek ist unverhohlen und
schroff: `Wir dürfen keine Ausländer reinlassen', sagt die Kassiererin. Der Türsteher bestätigt:
`Anordnung vom Chef.'
`Fürstenhof'-Chef Ernst Utesch will so etwas jedoch nie gesagt haben. `Ausländer dürfen natürlich
in den `Fürstenhof'. Wir haben da auch Schwarze', sagt er. `Vielleicht waren die Abgewiesenen in
diesem Fall nicht gut angezogen. Wer direkt vom Sportplatz zu uns kommt, darf natürlich nicht rein.'
Es ist kurz vor zwei Uhr, als die Gruppe vor dem `Madhouse' am Valentinskamp steht. Aus der
Disco dröhnt Musik, Jugendliche kommen und gehen. Doch auch hier werden Ersel, Halis und Ciro
abgewiesen. `Einlaß nur mit Einladungskarte', lautet die `Madhouse'-Formulierung, um unliebsame
Besucher fernzuhalten. Aus der Disco kommende deutsche Jugendliche versichern uns, daß sie
weder Stammgäste noch Besitzer einer Einladungskarte seien.
`Was soll's', sagt Ciro resigniert. `Große Lust, meinen Geburtstag in einer Hamburger Disco zu
feiern, habe ich mittlerweile sowieso nicht mehr." (HH A 11.01.93)
Die Verbitterung über diese (vermutlich von den Chefs der Diskotheken angeordnete) Aussortierpraxis der
Türsteher kommt auch in dem Satz des als einer der 11 von 88 für Deutschland bei der LeichtathletikWeltmeisterschaft 1999 in Sevilla gestarteten farbigen Athleten Charles Friedek nach dem Gewinn der
Goldmedaille im Dreisprung zum Ausdruck: „Mit meiner Hautfarbe komme ich nicht in die Discos rein, aber
Gold für Deutschland darf ich holen.“ Genau so sieht es der Weitspringer Xavier Naidoo, der sich darum mit
anderen in der Kampagne »Rock gegen rechte Gewalt« engagierte.
Hätten die Jugendlichen Einlass in ein staatliches Jugendzentrum begehrt, hätten sie nicht abgewiesen werden
dürfen. Dem Staat wäre eine (diskriminierende?) Einlasspraxis nach der Nationalität der Besucher verwehrt,
wenn nicht vielleicht gerade z. B. ein Nationalitätenfest oder Ähnliches als geschlossene Gesellschaft gefeiert
würde.
Doch dem Privatunternehmer wird die Freiheit des „Aussortierens“ zugestanden: Selbst wenn es sich um die
einzige privatwirtschaftlich betriebene Diskothek in einem weiten Umkreis handelt, beständen für klagende
ausländische Jugendliche vor Gericht wohl kaum Chancen, Einlass durch ein stattgebendes Urteil zu erzwingen,
da Disko-Besuche nicht zu den lebenswichtigen Gütern gehören. Wenn aber viele Discotheken existieren, die
mit sogar noch unterschiedlicher Begründung Ausländern den Zutritt verweigern, dann wird da außer ein
bisschen Imponiergehabe von Seiten einer für Jugendbelange zuständigen Behörde juristisch nichts zu machen
sein. Die ausländischen Jugendlichen können (nach meiner unmaßgeblichen juristischen Einschätzung)
jedenfalls nicht unter Berufung auf Art. 3 III GG den Zutritt zu den in dem Zeitungsartikel genannten
Hamburger Diskotheken durch ein stattgebendes Gerichtsurteil erzwingen.
58
Privates
Hausrech
t
überwindet das
Diskrimi
nierungs
verbot
des
(spezielle
n)
Gleichhe
itssatzes
aus Art.
3 III GG
"Jugendschutz reagiert auf Diskriminierung von Ausländern
Klage gegen Disco-Betreiber?
Disco-Betreiber, die Ausländern generell den Zutritt verweigern, müssen sich möglicherweise vor
Gericht für ihre diskriminierende Praxis verantworten.
Wolfgang Hammer, Leiter des Referates Jugendschutz, will Inhaber, die nur Deutsche in ihre Disco
lassen, wegen `Anstachelung zum Rassenhaß' anzeigen.
`Unsere Rechtsabteilung prüft zurzeit, welche strafrechtlichen Sanktionen gegen dieses
ausländerfeindliche Verhalten möglich sind,' sagt Wolfgang Hammer. `Es kann nicht angehen, daß
durch dieses Geschäftsgebaren jungen Ausländern ein wesentlicher Freizeitbereich verwehrt wird.'
Hammer will außerdem zusammen mit Jugendorganisationen wie dem Landesjugendring eine
Kampagne gegen die Diskriminierung ausländischer Jugendlicher starten.
Wie berichtet, kommen zum Beispiel in den Fürsthof und in das Posemuckel Ausländer entweder
gar nicht oder nur nach Vorlage des Reisepasses und eines Beschäftigungsnachweises hinein.
Wolfgang Hammer selbst erhielt kurz nach Erscheinen des Berichts Anrufe, in denen anonym
gedroht wurde: `Wir werfen dir Molotow-Cocktails ins Büro, wenn du dich weiter gegen
kanakenfreie Discos einsetzt.'" (HH A 15.01.93)
Mit seiner Drohung der Erstattung einer Strafanzeige wegen "Aufstachelung zum Rassenhass" gemäß § 131
StGB schlägt der Herr Hammer vor der ihn interviewenden Presse natürlich nur wie ein Pfau ein großes
publizistisches Rad ohne jeden weiteren Effekt, damit die ausländischen Jugendlichen glauben, ihnen würde von
Behördenseite wirkungsvoll geholfen. Doch schon die Suche nach einem Hebel aus dem Bereich des Strafrechts
zur Lösung eines zivilrechtlichen Problems zeigt, wie wenig aussichtsreich ein Unterfangen der Behörde in
diesem Zivilrechtsstreit gewesen war, als es noch nicht das Antidiskriminierungsgesetz gab. Ehrlicher wäre es
gewesen einzugestehen, dass von staatlicher Seite in diesem Fall nicht geholfen werden konnte. Die Erzwingung
von Einlass für Ausländer in eine Disco ist eher ein marktwirtschaftliches, genauer: ein betriebswirtschaftliches,
aber bestimmt kein (straf-)juristisches Problem! Da muss jemand die Marktlücke des Disco-Angebotes für
Ausländer oder Ausländer und ihre deutschen Freunde erkennen und durch das Angebot der Eröffnung einer
Disco "Multi-Kulti" wahrnehmen. (Der Staat kann dabei vielleicht durch Bereitstellung eines geeigneten
Grundstücks oder Gebäudes unterstützend tätig werden.) Aber wenn man unter Hinweis auf § 131 StGB in
Discotheken den Zutritt für Ausländer erzwingen zu können vorgab, dann gab man sich der Lächerlichkeit preis!
Das zeigt ein Blick in das Gesetz - und ein Blick in das Gesetz behebt manchen Zweifel:
"§ 131 StGB Verherrlichung von Gewalt; Aufstachelung zum Rassenhaß
(1) Wer Schriften (...), die Gewalttätigkeiten gegen Menschen in grausamer oder sonst
unmenschlicher Weise schildern und dadurch eine Verherrlichung oder Verharmlosung solcher
Gewalttätigkeiten ausdrücken oder die zum Rassenhaß aufstacheln,
1. verbreitet,
2. öffentlich ausstellt, anschlägt, vorführt oder sonst zugänglich macht,
3. einer Person unter achtzehn Jahren anbietet, überläßt oder zugänglich macht oder
4. herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält, anbietet, ankündigt, anpreist, in den räumlichen
Geltungsbereich dieses Gesetzes einzuführen oder daraus auszuführen unternimmt, um sie oder aus
ihnen gewonnene Stücke im Sinne der Nummern 1 bis 3 zu verwenden oder einem anderen eine
solche Verwendung zu ermöglichen,
wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer eine Darbietung des in Absatz 1 bezeichneten Inhalts durch Rundfunk
verbreitet.
(3) Die Absätze 1 und 2 gelten nicht, wenn die Handlung der Berichterstattung über Vorgänge des
Zeitgeschehens oder der Geschichte dient.
(4) Abs. 1 Nr. 3 ist nicht anzuwenden, wenn der zur Sorge für die Person Berechtigte handelt."
Losgelöst von den vielen unterschiedlichen im "Tatbestand" (Gesetzeswortlaut) des § 131 StGB aufgeführten
Tatmodalitäten einer möglichen Verhetzungshandlung muss irgend etwas mit Schriften oder ihnen
gleichgesetzten Verbreitungsweisen unternommen worden sein, das zur Verherrlichung von Gewalt anregte oder
zum Rassenhass aufstachelte. Ist das nicht der Fall, so kann die jeweilige (straf-)gesetzliche Bestimmung nicht
angewendet werden. Das beinhaltet die in Art. 103 II GG u.a. geregelte und später noch genauer zu
besprechende "Garantiefunktion" der strafgesetzlichen Tatbestände.
59
Art. 103 II GG
„Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat
begangen wurde."
Da die Türsteher keine Schriften verbreitet, sondern nur gesagt hatten: "Du kommst hier nicht rein!", kann die
von dem Leiter des Hamburger Referates Jugendschutz wohl nur zu Pressezwecken bemühte Strafnorm gar nicht
einschlägig sein! Der Anwalt des Diskothekenbetreibers wird sich bei einer Strafanzeige völlig entspannt
zurücklehnen! (Das müsste die Rechtsabteilung des Bezirksamtes dem Leiter des Referates Jugendschutz gesagt
haben - und wird es wohl auch getan haben!)
Aber die Hamburger Jugendbehörde blieb verbissen - und wohl mehr auf Medienwirksamkeit bedacht - am Ball:
"Klage gegen Disco-Betreiber?
Kein Zutritt für Ausländer - Jugendbehörde prüft rechtliche Schritte
Betreiber von Discotheken, die ausländischen Jugendlichen keinen Einlaß gewähren (das Abendblatt
berichtete), könnten sich bald auf der Anklagebank wiederfinden: Jugendbehörde und
Landesjugendring prüfen, ob juristische Schritte möglich sind. `Wir haben mehrere Rechtsanwälte
mit der Prüfung beauftragt', sagt Klaus Groß-Weege, Geschäftsführer des Landesjugendrings.
Juristen halten Klagen gegen `ausländerfeindliche' Disco-Betreiber auf strafrechtlicher und
zivilrechtlicher Ebene für möglich. `Vor einem Zivilgericht könnte man wegen Verletzung des
Gleichheitsgrundsatzes, der sich aus Artikel 3 des Grundgesetzes ergibt, klagen', so der Hamburger
Rechtsanwalt Frank Vogler. Voraussetzung sei eine eindeutige Diskriminierung.
Die diskriminierten Jugendlichen könnten aber auch Anzeige wegen Beleidigung oder
Volksverhetzung erheben. Folge für die Betreiber könnte der Entzug der Konzession sein, so Vogler.
Der Erfolg der Klagen ist unklar. Professor Reinhard Bork, Zivilrechtler an der Universität
Hamburg: `Bei diesem Problem greift der Grundsatz der Vertragsfreiheit. Er gilt in unserem
Rechtssystem als sehr hohes Gut. Ob Gerichte solchen Klagen entsprechen, ist daher sehr unsicher.'
Rechtsanwalt Falk Vogler ist optimistischer: `Der Gleichheitsgrundsatzes aus dem Grundgesetz gilt
nicht nur gegenüber dem Staat, sondern mittelbar auch gegenüber Privatleuten.' Es sei daher
durchaus möglich, daß ausländische Jugendliche sich auf ihn berufen könnten, wenn sie diskriminiert
würden.
Deutsche Jugendliche, die sich über die Türsteher vor Hamburgs `In'-Discos ärgern, weil auch sie
draußen bleiben müssen, haben allerdings keine Chance, den Eintritt mit Hilfe eines Gerichts zu
erzwingen. Der Dicotheken-Besitzer hat das Hausrecht. Wenn sein Laden voll ist, ein Gast nach
Randale aussieht oder sonst seinen Vorstellungen nicht entspricht, kann er ihn abweisen', sagt
Rechtsanwalt Vogler. Einzige Ausnahme sind auch hier eindeutige Diskriminierungen. `Aber die
wird man fast nie beweisen können.' Zivilrechtler Bork: `Krawattenzwang ist keine Diskriminierung.'
Die CDU-Bürgerschaftsabgeordnete Madeleine Göhring will unterdessen in einer Kleinen Anfrage
wissen, warum die Jugendbehörde erst jetzt gegen `ausländerfeindliche Disco-Betreiber' vorgehen
will. Der Senat schöpfe seine rechtlichen Möglichkeiten offenbar nicht aus." (HH A 15.02.93)
Frau Göhring: Der Senat hat gar keine! Darum ist er ja auch gar nicht "vorgegangen". Er schlägt nur, wie ein
Pfau, der Presse gegenüber das große Rad. Da helfen nur „Türken-Discos“.
Zwölf Jahre später versuchte Ende 2004 die rot-grüne Regierungskoalition mit einem projektierten Anti-Diskriminierungsgesetz eine rechtliche Möglichkeit für ein Eingreifen zu schaffen. (Näheres siehe im übernächsten
Kapitel 1.3.2.1.1)
Die Verweigerung des Zutritts zu einer Disco durch den Türsteher ist Madonna in New York laut einer
Pressemeldung auch passiert. Sie konnte aber drohen: "Wenn ich hier nicht gleich reingelassen werde, dann
kaufe ich den Laden, und Du fliegst." Das half!
Die ausländischen Jugendlichen in Hamburg und Madonna in New York sind nicht die einzigen, denen der
Zutritt zu einer Lokalität verwehrt wurde. Das passiert hunderten, tausenden deutschen Jugendlichen jedes
Wochenende, ohne dass einer der Einlass Begehrenden die Chance hätte, mit einer Strafanzeige wegen
Beleidigung den Eintritt zu erzwingen. Wieso soll dann ausländischen Jugendlichen rechtlich gestattet werden,
was deutschen Jugendlichen rechtlich versagt wird? Schon allein diese Kontrollüberlegung zeigt die Schwäche
des (behaupteten) strafjuristischen Argumentes der Hamburger Jugendbehörde!
Und in anderen Ländern Europas ist das ebenso.
Die Problematik gilt übrigens nicht nur für Jugendliche und Discotheken. So habe auch ich einmal Lokalverbot
60
in einem meinem Haus sehr nahe gelegenen und von einem Deutschen geführten Restaurant erhalten - nachdem
ich ein zu zähes Steak hatte zurückgehen lassen -, ohne dass die Chance bestände, dieses Verbot gerichtlich für
ungültig erklären zu lassen. Ich hätte halt gleich ins Block-House gehen sollen! Nun gehe ich noch mehr als
vorher zu Chinesen, Griechen, Indern, Italienern, Jugoslawen und Spaniern essen. Und wenn bei
nachmittäglichem Vorstadtbummel ein griechischer Gastwirt in seinem völlig leeren Lokal ganz
untypischerweise das Ausschenken von je einem Glas Wein an meine Frau und mich verweigerte, weil wir nicht
gleichzeitig auch Essen mitbestellten, sondern - in Erinnerung eines wunderschönen Segeltörns durch den
Dodekanes von Samos nach Rhodos - nur einfach den Wein trinken wollten, dann besteht für den unfreundlichen
Wirt, der sicher kein Nachfahre der für ihre Gastfreundschaft heute immer noch berühmten Philemon und Baucis
gewesen sein kann, auch kein »Kontrahierungszwang«. Da muss man sich dann einen anderen Griechen suchen.
Gedacht, getan - gefunden.
Wie gesagt: Dem Staat ist eine sachfremde Benachteiligung von einzelnen Bürgern oder Bevölkerungsgruppen
aus einem der im speziellen Gleichheitssatz des Art. 3 III GG angeführten Verbotsgründe untersagt. Dabei kann
im Einzelfall immer strittig sein, inwieweit eine Benachteiligung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe
sachfremd ist - oder auch nicht.
Dieses zuvörderst dem Staat aufgegebene Benachteiligungsverbot gilt für den Privatmann aber nicht so
umfassend.
"Unerwünschte Gäste
ap Karlsruhe - Spielbanken dürfen Kunden ohne Begründung den Zutritt verweigern. Das hat der
Bundesgerichtshof im Falle eines Ehepaares entschieden. Es spielte 18 Jahre im Kasino Travemünde
und lebte von den Gewinnen." (HH A 26.08.94)
1.3.2 Grundrechte und ihre Bedeutung am Beispiel des allgemeinen und des
speziellen Gleichheitssatzes von Art. 3 GG
1.3.2.1 Allgemeiner Gleichheitssatz des Art. 3 I GG
Bisher war nur von dem speziellen Gleichheitssatz des Art. 3 III GG die Rede, um das Wesen der Grundrechte
zu erklären. Die Formulierung »spezieller« Gleichheitssatz legt die Vermutung nahe, dass es auch einen
»allgemeinen« Gleichheitssatz geben muss, denn sonst wäre die Formulierung ja unsinnig. (Rückschlüsse auf
den Sinn einer Formulierung zu ziehen, ist bei ungenau formulierten Gesetzen eine wichtige juristische
Tätigkeit!)
Der allgemeine Gleichheitssatz lautet:
Allge
meiner
Gleich
heitssa
tz des
Art.
3 I GG
„Art. 3 I GG
Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich."
(Wohlgemerkt: „vor dem Gesetz“; nicht unbedingt im privaten Bereich, z.B. vor einem den Einlass
in eine Disco recht willkürlich regulierenden Türsteher, wie wir ihn im letzen Kapitel kennen gelernt
haben!)
Den in Art. 3 I GG zum Ausdruck gebrachten allgemeinen Gleichheitssatz erklärte Gerhard Branstner mit den
Worten:
„Die Objektivität der Gesetze besteht darin, daß sie sich nicht bestechen lassen.“
Humorvoller und darum eingängiger formulierte Germund Fitzhum:
„Das Auge des Gesetzes zwinkert nicht!“
Das große Ziel des allgemeinen und des zur notwendig erachteten Klarstellung zusätzlich speziell normierten
Gleichheitsgebotes in Art. 3 ist die Verwirklichung von „Gerechtigkeit“. Eine von den Gedanken und
Forderungen der Französischen Revolution inspirierte Demokratie muss allen ihren politischen Vorstellungen
und Maßnahmen den Gleichheitssatz (in welcher Ausprägung auch immer) zu Grunde legen! Vor dem Gesetz
dürfen nicht einige Bürger »gleicher« sein als wir anderen: Der Staat darf keinen Bürger ungerechtfertigt und
damit willkürlich benachteiligen oder bevorzugen. Natürlich beziehen immer einige Gruppen Leistungen, die
61
andere nicht beziehen. Will man feststellen, ob z.B. eine nicht begünstigte Gruppe unberechtigt schlechter und
damit ungleich behandelt wurde, dann muss geprüft werden, ob sie ohne sachlich vertretbaren Grund und damit
willkürlich effektiv schlechter gestellt wurde als die Vergleichsgruppe.
1.3.2.1.1 Gleichheitssatz des Art. 3 GG als »Willkürverbot«
Dieses Grundrecht auf Gleichbehandlung aller Bürger ohne sachfremde Differenzierung in der Form von
Bevorzugung oder Diskriminierung bindet als »Willkürverbot« alle staatlichen Gewalten. Es verlangt nach dem
schon von dem größten Gelehrten der Antike mit Wirkung in die Neuzeit, Aristoteles (384 – 322 v. Chr.),
aufgestellten Gleichheits- oder Gleichbehandlungsgrundsatz, wesentlich Gleiches rechtlich gleich und
wesentlich Ungleiches seiner Eigenart entsprechend rechtlich ungleich zu behandeln. Andersherum
ausgedrückt ist es dem Staat also verboten, wesentlich Gleiches willkürlich ungleich und wesentlich Ungleiches
willkürlich gleich zu behandeln. Damit ist dem Staat eine willkürliche, d. h. sachfremde, sich zum Vorteil des
Einen oder einer Benachteiligung des Anderen auswirkende Differenzierung verboten. Wenn sich der Staat in
einer bestimmten Problemlage für eine bestimmte rechtliche Vorgehensweise entschieden hat, dann darf er in
den nächsten gleichgelagerten Fällen grundsätzlich nicht davon abweichen und muss sie analog den zuvor
entschiedenen behandeln – wenn er nicht mit seiner anders gelagerten Entscheidung aus wohl erwogenen und
eventuell vor den Verwaltungsgerichten zu rechtfertigenden Gründen eine andere Verwaltungspraxis beginnen
will, an die er sich dann (erst einmal) zu halten hat. Es tritt somit auf Grund des Gleichheits- oder
Gleichbehandlungsgrundsatzes eine Selbstbindung der Verwaltung durch vorgängiges Verwaltungshandeln ein.
Dieser Gleichbehandlungsgrundsatz und die sich daraus ergebende Selbstbindung der Verwaltung ist auch
anderen Rechtssystemen nicht fremd: Der britische Thronfolger Prinz Charles hatte in Anwesenheit seiner
Mutter, der Queen, auf Schloss Windsor seine zweite Trauung mit seiner Dauerliebe, der nach der Terminologie
der unter diesem Verhältnis zerbrochenen ersten Ehefrau des Thronfolgers, Lady Diana, als „Rottweiler“
beschimpften Camilla Parker Bowles, vornehmen lassen wollen. Die Rechtsberater der Queen hatten jedoch
übersehen, dass nach einem britischen Gesetz ein Ort, der einmal die Trauungslizenz erhält, für drei weitere
Jahre danach allen anderen Kandidaten offen stehen muss, die an gleicher Stelle den Bund fürs Leben schließen
wollen. Erschreckt ob der Aussicht, dass eine Heerschar von Heiratswilligen sich demnächst zur Trauung auf
Schloss Windsor würde anmelden wollen, war die Queen „not amused“! Die Familie machte einen Rückzieher
und entschied sich für die standesamtliche Trauung in der Guildhall von Windsor auf dem Standesamt, wobei
sich ein weiteres juristisches Problem auftat, denn ein Thronfolger ist ja nicht so jemand wie Sie und ich: Der
Lordrichter Charles Falconer hatte zwar erklärt, die Regierung befinde die standesamtliche Trauung von Prinz
Charles und Camilla Parker Bowles für legal. Andere Rechtsexperten führten demgegenüber an, dass für
Mitglieder des Königshauses ausschließlich eine kirchliche Eheschließung erlaubt sei: Als 1836 per Gesetz die
zivile Trauung in England und Wales eingeführt worden war, waren die Mitglieder der königlichen Familie
ausdrücklich davon ausgeschlossen worden! Als das Gesetz 1949 aktualisiert worden war, blieb die Ausnahme
für die Royals bestehen. Darum durfte Prinzessin Maregret, die Schweseter der Queen, in den 50er Jahren auch
nicht den geschiedenen Peter Townsend heiraten. Und Charles’ Schwester Anne ehelichte Tim Laurence 1992 in
zweiter Ehe in Schottland, wo andere Gesetze gelten. Weil aber Charles und Camilla (wegen ihrer
ehebrecherischen Beziehung zueinander) geschieden sind, verbietet die anglikanische Kirche eine kirchliche
Trauung! Ein juristisches Dilemma, aus dem es nach britischem Recht eigentlich keinen Ausweg gab!
Und trotzdem heirateten sie in Windsor und der Erzbischof von Canterburry vollzog den kirchlichen Ritus,
nachdem beide die früheren ehelichen Verfehlungen ihrer Liebesbeziehung bekannt hatten. Das war nur
möglich, weil Großbritannien sieben Jahre zuvor der Europäischen Menschenrechtskonvention beigetreten war,
und nach der sind alle Menschen gleich, auch ein Kronprinz und seine frühere Geliebte! Simmel hat wieder
einmal Recht mit seinem schönen Buchtitel: „Gott schützt die Liebenden!“
Dem so abstrakt formulierten Grundsatz, wesentlich Gleiches rechtlich gleich und wesentlich Ungleiches seiner
Eigenart entsprechend rechtlich ungleich zu behandeln, kann man zustimmen. Er hört sich nicht unbillig an und
darum wurde der von Aristoteles formulierte Gleichheitssatz vom BVerfG aufgegriffen und seiner
Rechtsprechung zu Grunde gelegt. Dabei kann allerdings im Einzelfall durchaus strittig sein, wann etwas
»gleich« und wann etwas anderes »ungleich« ist! Zum bloßen Wundern, da in der Presse ohne nähere
Begründung mitgeteilt:
„Unterschiedliche Bezahlung verfassungsgemäß
Gefangenenlohn
Es verstößt nicht gegen das Grundgesetz, dass Strafgefangene etwas mehr Lohn für ihre Arbeit
62
erhalten als Untersuchungshäftlinge. Diese Entscheidung hat am Mittwoch eine Kammer des
Bundesverfassungsgerichts
in
Karlsruhe
veröffentlicht.
Das
Gericht
nahm
die
Verfassungsbeschwerde eines Untersuchungsgefangenen mangels Erfolgsaussicht nicht zur
Entscheidung an. (AP)“
(Die Welt 13.05.2004)
Für Aristoteles ergab sich auf Grund der ihm offensichtlichen biologischen Ungleichheit der menschlichen
Körper – wobei der weibliche, (unter den Menschen) allein Leben spendende nicht als der vollkommenere,
sondern aus auf Hippokrates’ »Erkenntnissen« fußender männerzentrierter Sicht als der wesenhaft
unvollkommene weil menstruierende Körper angesehen wurde, der nicht im Stande sei, Unreinheiten über den
Schweiß auf sanfte und anmutige Weise auszuscheiden und darum zu seiner Reinigung auf die Menstruation
angewiesen sei - aus dem von ihm formulierten Gleichheitssatz z.B. zwingend, dass Männer untereinander
gleich, Frauen6 und Sklaven im Vergleich zu jenen aber ungleich und somit von den Staatsbürgerrechten
auszuschließen seien: Weil Frauen menstruieren, seien sie juristisch als minderwertig zu behandeln!
Und was galt dann aber für Frauen nach ihrer Fruchtbarkeitsphase? Da wurden ihnen keine Rechte neu
eingeräumt. Männerlogik, auch in der das Geistesleben der Antike und des gesamten Mittelalters prägender
»aristotelischer Vollkommenheit«: Nein danke!
Solch eine gravierende rechtliche Benachteiligung musste - wenigstens dem äußeren Schein nach - mit
irgendeinem und wenn auch noch so flauen (Schein-)Argument begründet werden; und wenn die (Schein-)Begründung ideologisch auch noch so weit hergesucht wurde. Aber amüsant-interessant ist sie noch heute.
Dahinter steckte u.a. der Streit, was bei der Entstehung neuen Lebens wichtiger ist: die (weibliche) Eizelle oder
der (männliche) Samen? Auf Autofahrerniveau veranschaulicht: Der Motor oder der Starter. Die
meinungsbildenden Männer des alten Griechenlands wie Aristoteles waren selbstverständlich der Meinung: der
Samen. Das verwundert nicht, insbesondere da die Eizelle erst 1827 entdeckt wurde, der Samen hingegen von
Anbeginn an offensichtlich, so oder so in aller Munde war. Bis zur Entdeckung der Eizelle, bis zu Beginn des
19. Jahrhunderts also, glaubte man, dass vom Mann ein klitzekleiner Mensch in das „Gefäß“ Frau ergossen
werde und „Homunkulus“ – so wurde er genannt – dort zu Babygröße heranwachse.
Interessant ist jedoch die Begründung, mit der von den »alten Griechen« die Rechte der Frauen beschnitten
wurden: Wie ja jeder (göttergläubige Grieche) »wisse«, sei in früher Vorzeit die Göttin Athene ohne Mutter
geboren worden, da sie im Hirn des Zeus entstanden (und als Kopfgeburt darum später als Göttin mit dem
Referat „Weisheit“ betraut) und dem Haupte des Zeus direkt entsprungen sei (nachdem der zuvor seine mit
Athene schwangere Geliebte vorsichtshalber gefressen hatte, weil ihm, ähnlich wie später dem König Laios, dem
Vater von Ödipus, orakelt worden war, dass er für seinen Vatermord an Kronos von einem eigenen Sohn vom
Götterthron gestürzt werden würde, so er denn einen Sohn zeugen würde). Also, schlussfolgerten gelehrte
Griechen spitzfindig auf Grund der angeblichen göttlichen Kopfgeburt der Göttin durch Göttervater Zeus – was
den irdischen Männern nicht möglich war, war also dem obersten der Götter möglich: ohne Zwischenschaltung
einer Frau als »Gefäß« Leben zu spenden –, also folgerten die für die rechtliche Benachteiligung der Frauen
juristische Scheinargumente suchenden griechischen Männer als weitere männliche, aber dieses Mal irdische
männliche Kopfgeburt, sei der mütterliche Teil für die Entstehung neuen Lebens nicht ausschlaggebend.
Folglich seien die Männer wichtiger, darum ständen ihnen mehr Rechte zu als den Frauen. Eine sophistische
Spitzfindigkeit! Und eines Aristoteles nicht würdig - zumal 150 Jahre früher von anderen Griechen die soziale
Gleichstellung der Frauen mit den Männern als gesellschaftlicher Alternativentwurf zu der praktizierten Realität
schon gedacht worden war. Strathern erzählt in „Pythagoras & sein Satz“, dass von den dem Glauben der
Wiedergeburt in jeglicher lebender Gestalt und Form anhängenden Pythagoräern nicht nur die Sklaven (trotz
ihrer nicht durch Freilassung aufgehobenen Sklavenstellung), sondern auch sogar(!) die Frauen als
6
Frauen wurden von den frühen griechischen Anatomen und »Körper«-Philosophen - insbesondere Hippokrates (460 – 377
v.Chr.) und darauf fußend Galen/Galemos (131 – 201 n. Chr.), dessen Schriften die gesamte antike Heilkunde
zusammenfassten und das ganze Mittelalter hindurch die medizinische Lehrgrundlage waren, - als „umgekehrte Männer“
angesehenen. Laqueur fasst in seinem Buch „Auf den Leib geschneidert. Die Inszenierung der Geschlechter von der
Antike bis Freud“ die damaligen »phallozentrischen Vorstellungen« der Männer in den Worten zusammen: „Frauen
[waren] im Grunde genommen Männer ..., bei denen ein Mangel an vitaler Hitze – an Perfektion – zum Zurückbehalten
von Strukturen im Inneren des Leibes geführt hat[te].“
Vgl. und zitiert nach Angier, N.: Frau - Eine intime Geographie des weiblichen Körpers, S. 75 f
Und so »phallozentrisch« definierte gravierende körperliche Mängel bedingten Rechtsmängel: Es war nach dem
Gleichheitssatz des Aristoteles nur »gerecht«, dass »Mangel-Männer« selbstverständlich den ihnen von den »vollendeten«
Männern zudiktierten staatsbürgerlichen Rechtsmangel hinzunehmen hatten!
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gleichberechtigt behandelt wurden: „Diese Toleranz erstreckte sich sogar auf Frauen. (Aufmüpfige Männer,
denen es schwerfiel, sich mit diesem unerhörten Sachverhalt abzufinden, wurden daran erinnert, daß ihre Seele
in einem früheren Leben den Körper einer Frau bewohnt haben oder in einem zukünftigen zu einem solchen
Schicksal verurteilt sein könnte.)“ 7 Hätte Pythagoras’ (565 – 490 v.Chr.) zahlenmystische Religionsphilosophie
eine größere und andauerndere Bedeutung erlangt, wäre die Gleichberechtigung der Frauen möglicherweise viel
früher und viel leichter durchsetzbar gewesen. Aber gegen Aristoteles’ überragende Bedeutung für die
Zeitspanne von der Antike bis zur beginnenden Neuzeit und gegen seine Vorurteile konnte sich der Gedanke der
Gleichberechtigung der Geschlechter nicht durchsetzen.
Das wäre vermutlich anders gewesen, wenn nicht Christus, sondern eine als Religionsstifterin gewirkt habende
Christa ans Kreuz geschlagen worden wäre!
Lysistratas und ihrer Geschlechtsgenossinnen Kampfmittel („Liebe Männer, ihr dürft es euch so lange selber
besorgen, bis ihr vernünftig werdet!“) konnte auch keine allzu große Durchschlagskraft gegen die aristotelischen
Ansichten und Vorurteile entwickeln, da die gesellschaftlich tonangebenden griechischen Männer dem Ideal der
Knabenliebe ganz praktisch frönten!
Aber nicht nur Männer spinnen - damals und heute! Auch manche Frauen spinnen: damals und heute. Denn als
solches empfinde ich es, wenn - weil die Initiatorin dort beschäftigt war - über die „Hamburger Landeszentrale
für politische Bildung“ Zettel verteilt wurden, aus deren Text nachfolgender Schwachsinn auszugsweise zitiert
wird:
„GARTEN DER FRAUEN
Eine letzte Ruhestätte nur für Frauen
und
ein musealer Ort für alte Grabsteine von Gräbern bekannter Frauen
WAS IST DER GARTEN DER FRAUEN?
Der Garten der Frauen ist ein Ort, auf dem Frauen ihre letzte Ruhestätte finden können, die auch im
Tod gern unter Frauen sein wollen.
...
WER FINDET IM GARTEN DER FRAUEN EINE LETZTE RUHESTÄTTE?
Frauen, die sich gut vorstellen können, inmitten von Frauen ihre letzte Ruhestätte zu finden.
Vielleicht haben sie zu Lebzeiten ... und, und, und, oder empfanden zu Lebzeiten die Gesellschaft
mit Frauen als angenehm, so dass sie dies im Tod fortführen möchten.“
Ich versichere, in dem vorstehenden Zitat - wie bei allen anderen auch: ich übernehme als gelernter Historiker
sogar die Rechtschreibfehler der Ursprungstexte (baue höchstens aus Versehen selber welche ein) - keinen
Buchstaben des mir hirnrissig erscheinenden Textes geändert und nur weggelassene Wörter durch die üblichen
drei Punkte kenntlich gemacht zu haben!
Mit dem Gleichheitssatz im Hinterkopf sollte man sich zwei Satzteile noch einmal vergegenwärtigen: „... Frauen
..., die auch im Tod gern unter Frauen sein wollen“ „... empfanden zu Lebzeiten die Gesellschaft mit Frauen als
angenehm, so dass sie dies im Tod fortführen möchten.“ Eigenartiger Friedhofsfeminismus!
Und ich dachte immer: „Leiche ist Leiche“, wenn es nur um das Bestatten geht. Und erst recht gilt das nach
meinem Dafürhalten für die Asche aus einer Feuerbestattung.
Nach dem Gleichheitssatz würde ich auf einem Friedhof Asche wie Asche und Leiche wie Leiche behandeln.
Aber das scheint selbst einer promovierten Frau wie der Initiatorin nicht zu vermitteln zu sein. Die emanzenhaft
verschrobene Frau und ich, wir müssen einen sehr unterschiedlichen Biologie- und Chemieunterricht erteilt
bekommen haben!
Der Hamburger Senat beugte sich der Pression von »Emanzen-Seite«, richtete den geforderten „Garten der
Frauen“ ein und behandelt damit nach meiner Ansicht - andere mögen es anders sehen - Gleiches ungleich, da
auf den Friedhöfen der Freien und Hansestadt Hamburg keine Geschlechtertrennung über den Tod hinaus
vorgenommen wird. Und warum auch? Warum sollten meine Überreste nach Verwendung meines Körpers zu
medizinischen Zwecken in der Ärzteausbildung, wozu ich ihn freigeben möchte, nicht neben der dort schon
lange ruhenden Asche meiner Frau beigesetzt werden?
Doch sollen an dieser Stelle nicht alte oder neue Schlachten geschlagen werden. Nur weil es sich anbot, sollte an
7
Strathern, P.: „Pythagoras & sein Satz“, S. 54
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dieser Stelle an dem historischen Beispiel der Ungleichbehandlung von Frauen im alten Griechenland en passant
anschaulich gemacht werden, wie teilweise hergesucht, fadenscheinig und damit äußerst fragwürdig juristische
Machtfragen begründet wurden (und werden!), um zu eigenem Nutz und Frommen Vorrechte weiterhin aufrecht
zu erhalten. Das kann wachsam machen und den Blick für die Jetztzeit schärfen, der wir uns nun wieder
zuwenden wollen. Versuchen wir dabei, das jeweilige Argument hinter einer juristischen Entscheidung zu
erkennen und zu bewerten.
Ein x-beliebiger Fall für eine Abwägung nach dem Gleichheitsgrundsatz: Nachdem schon vor Jahren
in einigen Bundesländern und im Ausland Menschen, insbesondere Kinder, von sogenannten
»Kampfhunden« (die sich mit Vorliebe Zuhälter hielten, um die Tiere durch Abrichtung zu
Kampfmaschinen ohne Beißhemmung u.a. für die Kämpfe um die Aufteilung der Damen, der
Gebiete und für Hundewettkämpfe in ihrem Wesen zu pervertieren) angefallen und teilweise
zerfleischt worden waren, verschärfte damals Hamburg - wie andere Bundesländer auch - die
Hundehaltung durch die Schaffung einer sogenannten "Kampfhundeverordnung". In ihr wurde den
Haltern von Kampfhunden u.a. auferlegt, ihre Befähigung zur Haltung der dort aufgeführten
Hunderassen durch Erwerb eines »Kampfhund-Führerscheins« nachzuweisen (der nach der Intention
der Innenbehörde Zuhältern verweigert werden sollte) und ihre Tiere stets angeleint zu halten.
Hiergegen klagte ein betroffener Hundehalter. Damit stand die erlassene "Kampfhundeverordnung"
auf dem juristischen Prüfstand. Durften den Besitzern von Kampfhunden Beschränkungen auferlegt
werden, die anderen Hundehaltern erspart blieben? (Man darf dabei ja nicht nur an Dackelhalter
denken!)
Das Hamburger VG gab dem Kläger Recht: Nach Ansicht der Richter verletzte die Verordnung
(VO) in der ursprünglichen Form willkürlich den verfassungsrechtlichen Grundsatz der
Gleichbehandlung. Es sei nicht erwiesen, dass Hunde der Rassen Pitbullterrier, Bandog oder Mastino
Napoletano gefährlicher seien als z.B. Schäferhunde. Den richterlichen Erwägungen lag die (nur
eingeschränkt brauchbare) Statistik zugrunde, derzufolge in Hamburg pro Jahr etwa 500 Bisswunden
bei den Bezirksämtern gemeldet werden, von denen nur 5 % von Kampfhunden stammen. 50 % der
Fälle gingen dagegen auf das Konto von Schäferhunden oder Schäferhundmischlingen, je 8 %
entfielen auf Boxer und Rottweiler.
(Die Richter setzten die Zahl der Bissverletzungen durch Kampfhunde aber nicht in Relation zu der
Prozentzahl der Kampfhunde am gesamten Hamburger Hundebestand! Das ist ein schwerer Fehler in
ihrer Argumentation. Es könnte ja theoretisch sein, dass die aus der Statistik herausgelesenen 5 %
Kampfhunde alle schon gebissen hätten. Das wären dann 100 % der Kampfhunde, was sicher die
Aufnahme dieser Rassen in die Kampfhundeverordnung gerechtfertigt hätte.)
Weil der Behörde in der bewussten Hundeverordnung die Differenzierung nach Kampfhundearten
gerichtlich untersagt worden ist, sie andererseits aber für potenziell gefährliche Hundearten den
Leinenzwang aufrechterhalten wollte, erwog sie, die VO umzuformulieren, so dass jetzt alle
»gefährlichen« Hunde einem Leinenzwang unterliegen sollten. Sie musste dazu aber mit einem
"unbestimmten Rechtsbegriff" arbeiten - welche Hunde sind als potenziell gefährlich einzustufen und
in einer Liste auszuweisen? -, der sicher wieder Anlass zu gerichtlichen Auseinandersetzungen hätte
geben können.
Nachdem im Jahre 2000 erneut ein kleiner Junge von Kampfhunden totgebissen wurden war, waren
die Verwaltungsrichter der Hamburger Verwaltung bei der neuen Hundeverordnung aber nicht mehr
in den Arm gefallen!
Ein Blick über den Zaun: In den Niederlanden gibt es ein "Gesetz zur Abschaffung von
Pitbullterriern", in vielen großen amerikanischen Städten, wie z.B. Denver, Cincinnati und San
Francisco, ist das Halten und Züchten von American Pitbullterriern total verboten. Angetroffene
Kampfhunde werden beschlagnahmt und eingeschläfert.
Gleichhei
tssatz des
Art. 3 GG
als
»Willkürv
erbot«
Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz hat sich - weil allgemein befriedend, da das empörte Gerechtigkeitsgefühl
der meisten beruhigend - als sehr segensreich für die Ausgestaltung unseres politischen Zusammenlebens
erwiesen. Als übergeordneter Grundsatz für eine »gerechte(re)« Ausgestaltung der Lebensverhältnisse wird diese
aristotelische »Gerechtigkeits-Elle« für staatliches Handeln immer unverzichtbar bleiben! Und immer wieder
angewandt werden: 2005 entschied das Sozialgericht Düsseldorf in einer einstweiligen Anordnung (AZ S 35 SO
28/05 ER) auf die Klage einer arbeitslosen Frau hin, die bei einem berufstätigen Mann lebt, dass entgegen der
Meinung der Bundesagentur für Arbeit – nach Rechtsauffassung der Bundesagentur hätte der Mann die
unverheiratet mit ihm zusammenlebende Frau zu unterstützen, sein Einkommen müsste bei der
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Bedarfsberechnung mit herangezogen werden, weil die beiden eine Bedarfsgemeinschaft bildeten – die
Anrechnung von Partnereinkommen bei unverheiratet zusammenlebenden heterosexuellen Paaren, von denen ein
Partner einen Antrag auf den Bezug von Arbeitslosengeld II gestellt habe, gegen das Grundgesetz verstoße und
damit - möglicherweise - verfassungswidrig sei, weil diese Anrechnung bei außerhalb der Bindungen einer
legalisierten homosexuellen Partnerschaft zusammenlebenden gleichgeschlechtlichen Paaren nicht vorgesehen
sei. Bei denen läge, wenn sie nicht in der Form einer eingetragenen Partnerschaft zusammenleben, keine
Bedarfsgemeinschaft in Form einer nicht legalisierten "eheähnliche Gemeinschaft" vor, bei zusammenlebenden
Heterosexuellen hingegen wird sie als "wilde Ehe" unwiderleglich vermutet. Die Schlechterstellung
unverheirateter heterosexueller Partnerschaften gegenüber insoweit bevorzugten homosexuellen Partnerschaften
verstoße damit gegen den Gleichheitsgrundsatz. Deshalb wollte das Sozialgericht das Gesetz nicht mehr
anwenden; was es aber nicht so einfach darf. Da ein Fachgericht kein Gesetz für verfassungswidrig erklären oder
einfach ignorieren darf, muss die Sache dem BVerfG vorgelegt und von ihm entschieden werden. Sollte sich die
Auffassung das Sozialgerichts durchsetzen, wären hunderttausende Bescheide unrechtmäßig ergangen und
letztlich würde der Staat wegen des Gleichheitssatzes über die Transferleistungen an die Bundesagentur für
Arbeit zur Ader gelassen.
Die über den staatlichen Bereich hinausgehende Anwendung der aristotelischen »Gerechtigkeits-Elle« auch im
nichtstaatlichen Bereich wurde durch ein spezielles Antidiskriminierungsgesetz angestrebt, dass Ende 2004 zum
zweiten Mal in den Gesetzgebungsgang gebracht wurde, nachdem vier Jahre zuvor die damalige Justizministerin
mit der von ihr begonnenen Umsetzung von vier EU-Richtlinien mit unterschiedlichem Regelungsbereich
gescheitert war. Inzwischen war Eile geboten, weil Deutschland als letztes Land in der EU hinterher hinkte, die
EU-Kommission schon Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland beim EuGH eingereicht hatte und unserem
Land wegen Versäumens der schon abgelaufenen Umsetzungsfrist mehrere Millionen Euro pro Tag an
Strafgeldern drohten. Die Gesetzgebung komplizierte sich dadurch, dass die von der rot-grünen Regierung
geplanten Regelungen als Herzensvorhaben der Grünen – auch gegen den Widerstand führender
Sozialdemokraten in Bund und Ländern - über die EU-Vorgaben teilweise hinaus gingen. Es wurde von allen
Seiten an dem Gesetzesentwurf gezerrt. Seine Behandlung im politischen Raum macht anschaulich deutlich, wie
ein Gesetz entsteht, und wird darum in einem kleinen Pressespiegel nachgezeichnet:
Künftig sollten dem Gesetzentwurf zufolge im Arbeits- und Privatrecht Benachteiligungen wegen der sechs
Kriterien a) Rasse oder ethnischer Herkunft, b) Geschlecht, c) Religion oder Weltanschauung, d) Behinderung,
e) Alter und f) sexueller Identität grundsätzlich verboten sein. Im Privatrecht schreibt die EU in einer ihrer
Richtlinien nur den Ausschluss von Diskriminierungen wegen der Rasse oder der ethnischen Herkunft sowie
wegen des Geschlechts vor. Die Regierung will aber auf Drängen des kleineren Koalitionspartners
Benachteiligungen umfassend in allen Bereichen durch ein alle Diskriminierungen zusammenfassend regelndes
Gesetz verhindern. Auch soll, was durchaus Sinn macht, nur eine Antidiskriminierungsstelle eingerichtet
werden.
Arbeitgeber wie auch Betreiber von Gaststätten, Wohnungsvermieter oder Versicherungen sollen nunmehr
Beschäftigte und Kunden nicht mehr auf Grund von Rasse oder ethnischer Herkunft, Religion oder
Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexueller Identität und auch nicht auf Grund des Geschlechts
benachteiligen dürfen. Andernfalls könnten die Benachteiligten Schadenersatz und Schmerzensgeld gerichtlich
geltend zu machen versuchen:
Anti-Diskriminierungsgesetz
Rot-Grün verständigt sich auf Gesetz gegen Diskriminierung
Keiner soll wegen Herkunft, Geschlecht, Alter, Religion oder Behinderung benachteiligt werden /
Konflikte in der Auslegung absehbar
Nach langen Kontroversen hat Rot-Grün sich auf ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz
verständigt. Das Gesetz soll im Beruf und im Alltag vor Benachteiligung aufgrund von Herkunft,
Geschlecht, Alter, Religion oder Behinderung schützen
VON VERA GASEROW
Berlin · 11. November · Noch gibt es zwar keinen abgestimmten Entwurf der Koalition für das lang
versprochene Antidiskriminierungsgesetz (ADG). Doch Olaf Scholz, der für die SPD die
Verhandlungen koordiniert, ist optimistisch: ’Wir sind uns zu 99 Prozent einig’. ’Die Einigung ist so
gut wie perfekt’, heißt es auch bei den Grünen. Möglicherweise könnte eine abschließende
Koalitionsrunde schon an diesem Freitag den endgültigen Entwurf für das Gesetz unter Dach und
Fach bringen. Bis Ende des Jahres soll das ADG auf dem parlamentarischen Weg sein.
Über die Details des schwierigen Projekts, das in der vorigen Legislaturperiode vor allem am
66
Widerstand der Wirtschaft und der Kirchen gescheitert war, schweigen die rot-grünen Unterhändler
noch eisern. Nach Informationen der FR stehen aber zumindest die groben Linien fest. Wer anhand
von Tatsachen glaubhaft machen kann, dass er etwa allein wegen seiner ausländischen Herkunft,
seines Geschlechts oder seiner geistigen Behinderung benachteiligt wurde, soll sich künftig gegen
diese Diskriminierung wehren können, lautet der Kerngedanke des ADG. Wer also nicht in die Disco
gelassen wird, weil er eine dunkle Hautfarbe hat oder wer wegen seiner Behinderung von einem
Hotel abgewiesen wurde, der könnte dann auf Unterlassung dieser Ausgrenzung klagen - und auch
Schadenersatz einfordern. Disco-Betreiber oder Reisebüro müssten dann ihrerseits nachweisen, dass
es andere Gründe für die Abweisung gab. Schützen soll das Gesetz künftig auch ältere Menschen,
wenn ihnen mit Hinweis auf ihre Lebensjahre etwa ein Kredit oder eine Versicherung verweigert
wird. Allerdings will das Gesetz hier Ausnahmen machen. Das einklagbare Diskriminierungsverbot
soll nur für ’Massengeschäfte’ gelten, nicht für den kleinen individuellen Handel.
Auch Mieter, die Anhaltspunkte dafür haben, dass sie etwa wegen ihrer ausländischen Herkunft,
ihres Glaubens, oder ihrer homosexuellen Veranlagung eine Wohnung nicht bekommen haben,
sollen klagen können. Auch hier will das Gesetz aber Ausnahmen erlauben. Im persönlichen
Nahbereich, bei der Untervermietung in der eigenen Wohnung etwa oder im Privathaus müssen
Vermieter nicht jeden Bewerber akzeptieren. Dort könnten sie durchaus sagen: ich will nur mit
einem Deutschen oder nur mit einer Frau Tür an Tür wohnen.
Lange umstritten war, ob das Gesetz auch die Ungleichbehandlung aufgrund der
Religionszugehörigkeit ahnden sollte. Besonders die Kirchen hatten sich gegen die Aufnahme der
Konfession in den Katalog der Diskriminierungsmerkmale gesperrt. Sie fürchteten um die
Autonomie ihrer konfessionellen Einrichtungen.
Nach den Plänen von Rot-Grün soll das Gesetz nun zwar ausdrücklich auch vor einer
Benachteiligung aufgrund der Religion schützen. Die Kirchen sollen aber weiterhin das Recht haben,
nur Mitarbeiter ihrer eigenen Konfession einzustellen. Auch dürfen sie weiterhin Plätze in ihren
sozialen Einrichtungen wie Kindergärten oder Altenheimen nur an eigene Konfessionsangehörige
vergeben.
In der parlamentarischen Beratung und später in der praktischen Auslegung dürfte das Gesetz noch
für allerhand Konflikte sorgen. Koordinator Scholz meint dennoch ‚Ich glaube, dass das ein sehr
schönes Gesetz wird, mit dem sich die meisten anfreunden werden.’"
(FR 12.11.04)
Ein Gesetz, das Bauchschmerzen verursacht
Kommentar
Von Maike Röttger
Die Regierung hat sich mit einer Ausarbeitung des Antidiskriminierungsgesetzes, das jetzt erst nach
mehr als drei Jahren auf dem Tisch liegt, sehr schwer getan. Zu Recht. Denn man muß sich wirklich
fragen, wie sich ein plakativ angepriesener Bürokratieabbau mit einem zusätzlichen Regelungswust
verträgt. Eigentlich gar nicht.
Diskriminierung ist zweifellos eine häßliche und schädliche Sache, und jedermann, der sie betreibt
oder unterstützt, gehört dafür zur Rechenschaft gezogen. Die Richtlinien der EU dagegen, die jetzt
von den europäischen Staaten umgesetzt werden müssen, wollten in der europaweit
fremdenfeindlichen Welle der 90er Jahre genau darauf eine Antwort geben.
Daß diese noch wesentlich strenger und strikter in die Freiheiten eingreifen kann als künftig in
Deutschland, läßt sich derzeit in Frankreich studieren. Fraglich ist jedoch, ob tatsächlich Gesetze
verhindern können, Arbeitsplatz-Bewerber - wie in Frankreich - allein wegen ihres ausländischen
Namens abzulehnen. Im Zweifel folgt ein aufreibender Gerichtsprozeß, in dem letztlich nur die
Anwälte mit hohen Rechnungen gewinnen - ohne daß sich tatsächlich in den Köpfen etwas wandelt.
Justizministerin Brigitte Zypries, die das Gesetz offenbar nur mit Bauchschmerzen auf den Weg
gebracht hat, glaubt, daß es auch anders gehen kann. "Die Freiheit für Bürgerinnen und Bürger in
einem liberalen Staat besteht auch und gerade darin, Unterschiede zu machen und ungleich
behandeln zu dürfen", hat sie richtigerweise gesagt. Doch wo die Ministerin eine zu große
Regelungswut verhindern wollte, sah der grüne Koalitionspartner mit heftigem Rückenwind der EU
aus Brüssel sogar eine Regelungspflicht. Zypries gelang es, diesen Spagat zu meistern. Dafür haben
wir bald schon wieder ein Gesetz mehr.
(HH A 16.12.04)
Wer diskriminiert wird, kann Entschädigung einklagen
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Gesetzentwurf: Vermieter, Arbeitgeber, Gastwirte müssen aufpassen, wen sie warum ablehnen
...
Von Maike Röttger
Hamburg - Ein Arbeitgeber, der künftig beim Bewerbungsgespräch einen Behinderten abblitzen
läßt, wird vielleicht später vor Gericht nachweisen müssen, daß dies rein gar nichts mit dessen
körperlicher Verfassung zu tun hatte. Ein Diskothekenbesitzer wird vielleicht erklären müssen,
warum er den Türken nicht hineingelassen hat. Nicht mehr der, der sich diskriminiert fühlt, sondern
der mutmaßliche Verursacher wird in der Pflicht stehen, das Gegenteil zu beweisen. So steht es in
dem Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes (ADG), auf den sich die rot-grüne Koalition
gestern geeinigt hat. Damit macht die Regierung ihre europäischen Hausaufgaben und setzt drei EURichtlinien um. Kritiker fürchten eine Klagewelle.
Künftig soll niemand im Privat- oder Arbeitsleben wegen Rasse, ethnischer Herkunft, Geschlecht,
Religion oder Weltanschauung, Alter oder sexueller Ausrichtung benachteiligt werden. Sonst kann er
auf "angemessene Entschädigung" klagen und wird von einer Antidiskriminierungsstelle (Kosten:
5,6 Millionen Euro jährlich) unterstützt.
Während es für die Grünen "höchste Zeit" für ein entsprechendes Gesetz ist, fürchtete
Justizministerin Brigitte Zypries bisher immer eine unnötige Bürokratisierung und einen zu starken
Eingriff in die Privatautonomie. Es sind deswegen diverse Ausnahmeregeln eingebaut. Die Sorge,
man werde nicht "die Kraft haben, alle erforderlichen Ausnahmen durchzusetzen", habe sich nicht
bestätigt, sagt der Hamburger SPD-Abgeordnete Olaf Scholz, der an dem Entwurf mitgearbeitet hat,
gestern dem Abendblatt nicht ohne Stolz. Das Gesetz müsse so funktionieren, daß die 95 Prozent der
Deutschen, die sich völlig korrekt verhalten, das Gesetz gar nicht bemerken.
Bestimmte Unterschiede, die als Diskriminierungen ausgelegt werden könnten, sind ja auch durchaus
gewollt: Parkplätze für Frauen, Cafés nur für Lesben und Schwule, günstigeres Essen und Eintritt für
Senioren und Studenten. Soll der Staat einem Wohnungseigentümer verbieten, seine Räume lieber an
eine ältere Dame als an einen jungen Mann zu vermieten? Soll er nicht.
So werden die Antidiskriminierungs-Regelungen nur bei "Massengeschäften" gelten, womit Verträge
zwischen Privatpersonen ausgenommen wären. Wer also unbedingt meint, er wolle sein Auto keinem
Schwulen verkaufen, dürfe das weiterhin tun. Die Einliegerwohnung darf an wen auch immer
vermietet werden.
Die Eigentümerschutz-Gemeinschaft Haus & Grund lehnt dennoch auch diesen Entwurf strikt ab.
Private Vermieter würden grundsätzlich dem Risiko einer Schadenersatzpflicht ausgesetzt. "Die
Folge wird eine Flut von Klagen und Prozessen vor den heute schon völlig überlasteten Gerichten
sein", sagt der Präsident der Gemeinschaft, Rüdiger Dorn. Auch die Bundesvereinigung der
Arbeitgeber (BDA) fürchtet höhere Belastungen für die Wirtschaft durch häufigere
Schadenersatzforderungen. Der Verband hält die bisherigen Regelungen für einen ausreichenden
Diskriminierungsschutz.
Dorn nennt die Regierung sogar "anmaßend", weil sie auf die EU-Richtlinie sogar noch
draufgesattelt habe. Die gibt als Diskriminierungsgründe nämlich nur ethnische Herkunft und Rasse
vor. Die Erweiterung der Gründe wird als ein Zugeständnis der SPD an die Grünen gesehen.
Ilja Seifert hat für die brüske Ablehnung der Wirtschaft und Eigentümerverbände hingegen
überhaupt
kein
Verständnis.
Der
stellvertretende
Vorsitzende
des
Allgemeinen
Behindertenverbandes in Deutschland empfindet täglich noch ganz andere Diskriminierungen. Wenn
etwa Treppen wie Barrieren vor ihm stehen. Wo sei die Gerechtigkeit, wenn Häuser nicht
behindertengerecht gebaut werden? "Ist das keine Diskriminierung?"
(HH A 16.12.04)
Gleiches Geld für gleiche Arbeit
Gesetzentwurf mit großen Folgen für Firmen und Vermieter: Klagen kann, wer sich wegen
Religion, Nationalität oder Geschlecht benachteiligt sieht.
Hamburg - Wer wegen seines Geschlechts, der ethnischen Herkunft, Religion oder
Weltanschauung, sexueller Identität, Alters oder einer Behinderung benachteiligt wird, soll künftig
auf Schadenersatz klagen können. Das sieht der Entwurf zum Antidiskriminierungsgesetz (ADG) der
Koalitionsfraktionen vor, der gestern in Berlin vorgestellt wurde. Die rot-grüne Regierung setzt
damit nach jahrelangem Streit drei EU-Richtlinien um. Der Gesetzentwurf, der im Januar in den
Bundestag kommen soll und vom Bundesrat nicht mehr blockiert werden kann, sieht unter anderem
vor:
 Wohnungseigentümer dürfen Ausländer, Muslime oder Behinderte nicht mehr als Mieter
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ablehnen. "Anzeigen wie: ,Juden und Behinderte zwecklos' sind dann verboten", sagte der
Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen, Volker Beck. Als Ausnahme gilt, wenn ein
Hausbesitzer im selbstbewohnten Haus eine Wohnung vermietet.
 Versicherer sollen künftig ausführlich begründen, warum sie ihre Leistungen etwa nach dem
Geschlecht oder der sexuellen Identität differenzieren. "Daß Krankenversicherer Homosexuellen
den Versicherungsschutz verweigern, weil sie eine zu hohe Risikogruppe für HIV seien, wird es
nicht mehr geben", sagte Beck.
 Frauen sollen für die gleiche Arbeit in einem Betrieb nicht schlechter bezahlt werden dürfen als
Männer. Dieser Grundsatz wird durch das ADG noch einmal verstärkt. Sollte die schlechtere
Bezahlung generelle Firmenpolitik sein, kann jede Frau eine Gleichbehandlung einklagen.
 Für Kirchen gibt es Ausnahmen: Katholische Kindergärten zum Beispiel dürfen weiterhin
Kinder oder Mitarbeiter anderer Konfession ablehnen.
 Gaststätten- und Hotelbesitzer dürfen Ausländer, Behinderte oder Homosexuelle nicht
abweisen.
"Die Lösung bietet Betroffenen einen wirksamen Schutz vor Diskriminierung, ohne den privaten
Wirtschaftsverkehr mit bürokratischen Regeln zu überziehen", sagte Justizministerin Brigitte Zypries
(SPD). Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände warnte dagegen mit Blick auf
Schadenersatzforderungen vor einer unnötigen Mehrbelastung der Wirtschaft. mai/dpa
(HH A 16.12.04)
Antidiskriminierungsgesetz (ADG)
Deutsche sollen vor Diskriminierung geschützt werden
Rot-Grün einigt sich auf Gesetzentwurf - Bürger, die sich benachteiligt fühlen, dürfen auf
Schadenersatz klagen - Prozeßflut droht
von Ansgar Graw
Berlin - Olaf Scholz, Berichterstatter der SPD-Fraktion, ist mit dem "smarten" Entwurf zufrieden,
und Irmingard Schewe-Gerigk, frauen- und altenpolitische Sprecherin der Grünen, auch. Aber bei
der Vorstellung des Antidiskriminierungsgesetzes (ADG) drängt sich der Eindruck auf, die beiden
Koalitionspolitiker sprechen von unterschiedlichen Projekten: Während Scholz versichert, daß sich
"95 Prozent der Bürger und 95 Prozent der Betriebe anständig benehmen" und daher mit dem Gesetz
niemals konfrontiert würden, nennt Schewe-Gerigk ganz andere Zahlen: So stellten 60 Prozent der
Betriebe niemanden ein, der älter als 50 Jahre sei, und bei gleichwertiger Qualifikation bekämen
Frauen rund 30 Prozent weniger Gehalt.
Die Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse und der Ethnie fordert seit Juni 2000 eine EUAntirassismus-Richtlinie, und jetzt sollen die Deutschen gleich gegen sechs weitere
Diskriminierungsgründe geschützt werden - nämlich zusätzlich gegen Benachteiligungen wegen des
Geschlechtes, der Religion, der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters und der sexuellen
Identität.
Rot-Grün wolle "natürlich keine Prozeßflut", sagt der parlamentarische Geschäftsführer der Grünen,
Volker Beck. Tatsächlich ist das federführend vom Familienministerium betreute Prestigeprojekt der
Grünen gegenüber älteren Entwürfen verbessert. Doch die Bestimmungen zum Arbeits- und zum
Zivilrecht dürften nach wie vor zu Klagen einladen. Nach dem Gesetz ist benachteiligt, wer wegen
einem der genannten Gründe "eine weniger günstige Behandlung als eine andere Person in einer
vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde". Wie aber läßt sich feststellen, ob
der Vermieter einem Türken die Wohnung verweigerte, weil er keine Ausländer mag - vielleicht
erschien ihm der andere Interessent solventer? Und hat der Arbeitgeber die Bewerberin abgelehnt,
weil sie Frau ist - oder weil der männliche Anwärter "irgendwie" geeigneter wirkte? Können der
verhinderte Mieter oder die abgelehnte Bewerberin "Tatsachen glaubhaft" machen, die eine
Diskriminierung "vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, daß (...) sachliche
Gründe" ausschlaggebend waren. Das ist zumindest eine partielle Beweislastumkehr.
Kompliziert wird das Gesetz auch durch den Mix aus europäischen Vor- und nationalen Zugaben. So
gelten die sechs zusätzlichen Diskriminierungsmerkmale im Zivilrecht nur für "Massengeschäfte",
während bei sonstigen zivilrechtlichen Schuldverhältnissen lediglich Benachteiligungen wegen der
Rasse oder der ethnischen Herkunft unzulässig sind. Darum könnte ein Homosexueller klagen, wenn
er eine entgangene Beförderung auf seine sexuelle Orientierung zurückführt. Wegen einer ihm
verweigerten Wohnung kann er hingegen nur klagen, wenn er sie von einer Wohnungsgesellschaft
("Massengeschäft") mieten wollte, aber nicht, wenn es sich um einen Privateigentümer handelt. Ein
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Ausländer wiederum könnte in beiden Fällen vor Gericht ziehen - allerdings nicht bei einer
verweigerten Mietwohnung in der direkten Nachbarschaft des Vermieters, weil in diesem Fall die
Privatsphäre besonders geschützt bleibt.
Wer eine "vorsätzliche oder grob fahrlässige" Diskriminierung durch den Arbeitgeber gerichtsfest
machen kann, hat Anspruch auf Entschädigung und Schadenersatz für den Vermögensschaden und
für den Nichtvermögensschaden (Schmerzensgeld). Das ADG sieht "wirksame, verhältnismäßige
und abschreckende Sanktionen" vor. "Positive Diskriminierung" bleibt hingegen erlaubt, so daß etwa
kirchliche Kindergärten in der Personalauswahl frei bleiben. Auch "Frauenparkplätze, Kinder- und
Seniorenteller" werde es weiter geben, sagt Scholz. Und Barbesitzer müssen keine 50-jährigen
Barmädchen einstellen. Das nicht zustimmungspflichtige Gesetz sei eben "wirklich gut gelungen".
(DIE WELT 16.12.04)
„KOMMENTAR: ANTIDISKRIMINIERUNG
Zangengeburt
VON VERA GASEROW
In der Medizin nennt man so etwas eine Zangengeburt. Geschlagene sechs Jahre ist es her, dass die
rot-grünen Koalitionäre den gesetzlichen Schutz vor Diskriminierung auf die Liste der eigenen
Vorzeigeprojekte setzten. Doch aus dem einstigen Wunschkind nicht allein der Grünen wurde eine
leidige Dauerschwangerschaft.
Mal sperrte sich die Versicherungslobby gegen ein Antidiskriminierunsgesetz, mal die
Touristikbrache. Mal witterten Hausbesitzer Ungemach, mal fürchteten die Kirchen um Pfründe.
Eine ganze Phalanx unterschiedlicher Interessengruppen legte dem Antidiskriminierungsgesetz so
eifrig Steine in den Weg, bis Rot-Grün das Projekt lange auf Eis legte. Dort würde es womöglich
noch jetzt selig schlummern, wenn nicht Vorgaben der Europäischen Union Berlin Beine gemacht
hätten. Denn Deutschland klappert beim Schutz vor Diskriminierung bislang peinlich hinterher.
Auch jetzt ist das Gesetz nicht unter Dach und Fach. Aber zumindest der Grundkonsens scheint
gefunden und der Zeitplan fixiert. Damit ist die unendliche Geschichte gewiss nicht beendet. Denn
das Gesetz ist vor allem ein Experiment. Sein Lackmustest ist ohnehin die Praxis. Dort werden sich
Schwachstellen zeigen, Unstimmigkeiten, Auslegungsstreitigkeiten zuhauf. Aber Stolpern ist in
diesem Fall besser als Nichtstun. Wer allzu lange zögert, Neuland zu betreten, riskiert halt Probleme
beim Laufenlernen.
(FR 12.11.04)
Gegen den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen von SPD und Grünen machen die Wirtschaftsverbände
vehement Front. Es dürfe nicht nutzlose und zusätzlich Bürokratie beim Staat und bei den Unternehmen
aufgebaut werden:
Die totale Diskriminierung
Jeder, der sich benachteiligt fühlt, kann künftig klagen. Mißbrauch ist programmiert. Die Wirtschaft
fürchtet unkalkulierbare Kosten
von Stefan von Borstel und Christoph B. Schiltz
Claudia Roth hatte einen Traum. Niemand soll wegen Herkunft, Geschlecht, Religion, Alter,
Behinderung und sexueller Orientierung benachteiligt werden können. Homosexuelle, denen
pauschal eine Lebensversicherung verweigert wird. Alte, die keine Konsumentenkredite mehr
bekommen. Frauen, die höhere Beiträge zur Lebensversicherung bezahlen müssen als Männer.
Behinderte, die keinen Tisch im Restaurant bekommen. Junge Araber, die an der Disko-Tür
abgewiesen werden. Sie alle sollen sich künftig per Gesetz gegen Diskriminierung wehren können.
Aus diesem Traum ist Wirklichkeit geworden: Das deutsche Antidiskriminierungsgesetz. Gestern
wurde der Gesetzentwurf in erster Lesung im Bundestag beraten. Und nichts, so scheint es jedenfalls,
kann ihn mehr aufhalten. Für Grünen-Chefin Roth ist das Gesetz ein "wichtiger Baustein der
gesellschaftlichen Demokratisierung". Für die Opposition ist es eine Kampfansage an die Freiheit,
für die Wirtschaft ein "Beschäftigungsprogramm für Juristen".
Dabei hatte alles ganz harmlos angefangen. In den Jahren 2000 und 2002 verabschiedete die EU drei
Richtlinien, die in Europa für Gleichheit zwischen den Rassen und Geschlechtern sorgen sollten. Die
Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement und Familienministerin Renate Schmidt (beide SPD)
wollten die Richtlinie in nationales Recht umsetzen, aber auf keinen Fall zusätzliche Regeln
aufnehmen. Doch sie hatten die Rechnung ohne die grünen Gutmenschen gemacht. Claudia Roth,
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Volker Beck und Teile der Grünen-Fraktion sorgten dafür, daß aus der schlichten Umsetzung dreier
EU-Richtlinien ein Gesetz wurde, daß jedem in Deutschland die Tür öffnet, sich einmal so richtig
diskriminiert zu fühlen.
Für Arbeitgeber, Vermieter, Wohnungsgesellschaften, Versicherungen und Gastwirte kann das neue
Gesetz teuer werden. Jeder, der sich diskriminiert fühlt und dies glaubhaft machen kann, kann sie
künftig vor Gericht zerren. Dort müssen sie dann beweisen, daß sie nicht diskriminiert haben. Im
Deutsch der Juristen heißt das "Umkehr der Beweislast".
Beispiel: Ein abgewiesener Bewerber könnte behaupten, er sei nicht eingestellt worden, weil der
Arbeitgeber Ausländer diskriminiere. Als Indiz für die ausländerfeindliche Gesinnung des
Arbeitgebers nennt er die unterdurchschnittliche Ausländerquote im Unternehmen. Der Arbeitgeber
müßte dann vor Gericht beweisen, daß er den ausländischen Bewerber nicht wegen seiner Herkunft
abgelehnt hat. Dazu muß er auch die Bewerbungsunterlagen aufbewahren. Das ist nicht so einfach:
Allein die Frankfurter Flughafengesellschaft Fraport erhält im Jahr 16 000 Bewerbungsmappen.
Auch Vermieter müssen in Zukunft umfangreiche Dokumentationspflichten erfüllen, um
Mietverhältnisse jederzeit nachweisbar begründen zu können. Versicherungen wiederum müssen
unterschiedliche Tarife - so sieht es der Gesetzestext vor - mit einer auf "genauen
versicherungsmathematischen und statistischen Daten beruhenden Risikobewertung" belegen.
Dem Arbeitgeber drohen aber nicht nur Klagen, wenn er selbst seine Arbeitnehmer diskriminiert
haben soll. Auch wenn Dritte, etwa Kunden oder Lieferanten, diskriminieren, soll er haften. In der
Praxis könnte das so aussehen: Ein Kunde kommt in eine Bank und weigert sich, von einer Frau in
Gelddingen beraten zu werden. Laut Gesetz wäre dies eine Diskriminierung der Frau aufgrund ihres
Geschlechts. Der Arbeitgeber muß die Frau nun vor Diskriminierung schützen. "Realitätsfern" nennt
Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt diese Regelung, die in den europäischen Richtlinie auch gar nicht
gefordert wird.
Zudem sieht der Gesetzentwurf eine Art Verbandsklagerecht für Betriebsräte und Gewerkschaften
vor - selbst gegen den Willen des Arbeitnehmers. Der Betriebsrat als Sittenpolizei? Neben
Gewerkschaften und Betriebsräten sollen künftig auch "Antidiskriminierungsvereine" Ansprüche
einklagen können, die der Arbeitnehmer an sie abgetreten hat. "Diese Vereine werden
medienwirksam gegen die Arbeitgeber zu Felde ziehen - und ganz nebenbei viel Geld damit
verdienen", vermutet Unionsfraktionsvize Karl-Josef Laumann. "Unkalkulierbare Prozeßrisiken"
sieht Arbeitgeberpräsident Hundt auf die Wirtschaft zurollen und verweist auf das "wenig
ermutigende Beispiel" der Abmahnvereine. Auch für die Kirchen birgt das Gesetz Risiken. Zwar
sieht es Gesetz ausdrücklich eine "zulässige unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder
Weltanschauung" vor. Doch die Kriterien dafür sind schwammig formuliert.
Niemand weiß, wie sich die Kulturrevolution auf dem Papier in der Praxis auswirken wird. Wird ein
Arbeitnehmer, der sich diskriminiert fühlt, in Zeiten großer Jobangst auch wirklich gegen seinen
Arbeitgeber klagen? Werden die Richter mit den "sachlichen Gründen", die eine unterschiedliche
Behandlung rechtfertigen, klug umgehen? Ein Volk von rechtskräftig Diskriminierten ist derzeit
nicht in Sicht. Aber dem Mißbrauch des Diskriminierungsvorwurfs sind mit diesem Gesetz Tür und
Tor geöffnet. Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Irmingard Schewe-Gerigk,
versucht zu beruhigen: "Der Kinderteller, das Seniorenticket und die Frauensauna bleiben trotz
Antidiskriminierungsgesetz erhalten."
(DIE WELT 22.01.05)
Bei Diskriminierung droht Schadenersatz
15. Dezember 2004 Im Arbeitsleben und bei „Massengeschäften” des Alltags darf künftig niemand
mehr aus einer Reihe von Gründen benachteiligt werden. Auf den Entwurf für ein entsprechendes
Antidiskriminierungsgesetz haben sich die Bundestagsfraktionen von SPD und Bündnisgrünen nun
endgültig verständigt.
Damit sollen vier EU-Richtlinien umgesetzt, aber auch deutlich erweitert werden (F.A.Z. vom 30.
November). Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) sagte am Mittwoch in Berlin, es sei ein
„tragfähiger Kompromiß” gefunden worden. Dieser biete den Betroffenen wirksamen Schutz, „ohne
den privaten Wirtschaftsverkehr mit bürokratischen Regeln zu überziehen”.
Reihe von Ausnahmen sollen die Regelungen entschärfen
Verbotene Unterscheidungsmerkmale sind danach Rasse und ethnische Herkunft, Geschlecht,
Religion und Weltanschauung, Alter, Behinderung und sexuelle Identität. Die Vorgaben aus Brüssel
verlangen eine solche Bandbreite jedoch nur für das Arbeitsrecht; im allgemeinen Zivilrecht
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beschränken sie sich dagegen auf die Merkmale Ethnie und Geschlecht. Für Beruf und
Beschäftigung erstreckt sich das Verbot etwa auf Einstellungen und Kündigungen, Beförderungen
und die Bezahlung, und zwar sowohl in der Privatwirtschaft wie im öffentlichen Dienst. Ansonsten
sind vor allem Verträge mit Lieferanten, Dienstleistern und Vermietern sowie private
Versicherungen, Hotels, Gaststätten und Kaufhäuser betroffen.
Eine Reihe von Ausnahmen sollen die Regelungen entschärfen. So sei im Berufsleben nicht jede
unterschiedliche Behandlung eine verbotene Benachteilung, sagte Zypries. Erlaubt sei etwa „die
Festsetzung
eines
Höchstalters
für
die
Einstellung aufgrund
der
spezifischen
Ausbildungsanforderungen eines bestimmten Arbeitsplatzes”. Auch besondere Fördermaßnahmen
für Frauen und Behinderte seien zulässig. Einen Zwang zu „Unisex-Tarifen” für Versicherungen
gebe es nicht, wenn Risiken auf „statistisch gesicherter Grundlage” kalkuliert würden. Der „gesamte
private Lebensbereich” bleibe ausgenommen, etwa beim Verkauf eines Privatwagens oder der
Vermietung einer Einliegerwohnung. Wo dieser „persönliche Nähebereich” endet, definiert das
Gesetz allerdings nicht.
„Antidiskriminierungsstelle” wird eingerichtet
Vorgesehen sind zudem Beweiserleichterungen für Kläger, die sich benachteiligt glauben. Auch
Verbände, Betriebsräte und Gewerkschaften können für sie vor Gericht ziehen. Wer diskriminiert
worden ist, hat Anspruch auf Schadensersatz, beispielsweise für die „Mehrkosten für eine
Ersatzbeschaffung” oder als „Entschädigung für die Würdeverletzung”. Sofern noch möglich, muß
das Gericht den Abschluß des gewünschten Vertrags erzwingen. Damit sieht die Regierung die
Maßgabe der Europäischen Union erfüllt, einen „abschreckenden” Schadensersatz einzuführen.
Auch eine „Antidiskriminierungsstelle” des Bundes wird eingerichtet.
Die Parlamentarischen Geschäftsführer der Grünen, Volker Beck und Irmingard Schewe-Gerigk,
sprachen von einem „weiteren Meilenstein rot-grüner Gesellschaftspolitik”. Beck zeigte sich
zufrieden, daß es gelungen sei, die „Zweifler in der SPD in einem zähen Überzeugungskampf” zur
Zustimmung zu bewegen. Der rechtspolitische Sprecher von CDU/CSU, Norbert Röttgen, kritisierte
dagegen, das geltende Verfassungsrecht und Zivilrecht enthalte bereits ein umfassendes Verbot von
Diskriminierungen. Röttgen warnte vor „Prozeß- und Kostenlawinen”. Bei dem Gesetzentwurf gehe
es darum, „weit über die EU-Vorgaben hinaus Bürger in ihrer wirtschaftlichen Lebensgestaltung
staatlich zu bevormunden”.
(FAZ 15.12.04)
„Rot-Grün stoppt Diskriminierung
Gesetz: Wer etwa als Behinderter im Restaurant abgewiesen wird, soll bald vor Gericht
Schadenersatz einklagen können.
Berlin - Ein Behinderter wird an der Hotelrezeption abgewiesen, eine türkische Familie geht bei der
Wohnungssuche leer aus: Die Fälle von Benachteiligungen sind vielfältig. Das
Antidiskriminierungsgesetz der rot-grünen Koalition, das am Freitag in den Bundestag eingebracht
wurde, will damit Schluß machen. Wer benachteiligt wird, soll auf Schadenersatz oder
Schmerzensgeld klagen können. Die Regelung, die auch eine Antidiskriminierungsstelle bei der
Bundesregierung vorsieht, benötigt nicht die Zustimmung des Bundesrats. Das Gesetz, das noch
dieses Jahr in Kraft treten soll, setzt EU-Richtlinien zur Antidiskriminierungspolitik um, geht aber im
Fall der Behinderten über die darin definierten Anforderungen hinaus. Beispiele für den neuen
Schutz vor Diskriminierung:
 Ethnische Herkunft
Bislang kann ein Vermieter einen Wohnungsinteressenten wegen ausländischer Herkunft oder
seiner Hautfarbe ungestraft abweisen. Diese Praxis soll nun verboten werden. Ausgenommen ist
hier lediglich der private Nahbereich, also etwa dann, wenn Vermieter und Mieter oder deren
Angehörige Wohnraum auf demselben Grundstück nutzen.
 Religion
Bislang können sich Händler ihre Kunden nach religiösen Kriterien aussuchen. Ein islamischer
Metzger etwa darf die Bedienung von Frauen verweigern, die kein Kopftuch tragen. Nach dem
neuen Gesetz kann er dies nur dann beibehalten, wenn er darlegen kann, daß seine Religion ihm
diese Auswahl gebietet. Allerdings dürfen Religionsgemeinschaften weiter von ihrem
Selbstbestimmungsrecht Gebrauch machen, etwa wenn ein katholischer Kindergarten nur Kinder
aufnimmt, die dieser Glaubensrichtung angehören.
 Alter
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Daß eine Bank zum Beispiel einem 70jährigen den Dispo-Kredit wegen seines Alters streicht, soll
künftig per Gesetz verboten sein. Denn die Neuregelung sieht vor, daß Menschen nicht auf Grund
ihres Alters beim Erwerb von Waren oder der Inanspruchnahme von Dienstleistungen
benachteiligt werden dürfen. Weiter erlaubt sind Vergünstigungen für jüngere oder ältere Kunden
- wie etwa der Seniorenteller im Restaurant.
 Behinderung
Bislang können Gastwirte und Hotelbesitzer Behinderte unter Hinweis auf ihr Hausrecht
abweisen. Das soll verboten werden. Nach dem Antidiskriminierungsgesetz dürfen
Versicherungsunternehmen eine Behinderung nur dann berücksichtigen, wenn sich das zu
versichernde Risiko erhöht. Pauschale Ablehnungen werden damit unterbunden.
 Sexuelle Identität
Bislang kann etwa ein Hotel die Aufnahme gleichgeschlechtlicher Paare verweigern. Nach dem
Antidiskriminierungsgesetz ist dies nicht mehr möglich. Versicherungen konnten bisher
Vorbehalte gegen Homosexuelle - etwa wegen erhöhten Aids-Risikos - ohne Begründung
kaschieren. Nach dem Gesetz müßten Unterscheidungen wegen der sexuellen Identität
gerechtfertigt werden.
 Arbeitswelt
Einem Bewerber darf eine Stelle nicht mehr wegen seines Alters verwehrt werden, Frauen haben
Anspruch auf das gleiche Gehalt wie ihre männlichen Kollegen. Allerdings gibt es auch hier
Ausnahmen. So bleibt der Tendenzschutz erhalten, den etwa kirchliche Arbeitgeber genießen. Sie
können damit weiterhin Mitarbeiter auf Grund ihrer Homosexualität entlassen. afp/HA“
(HH A 22.01.05)
Kusch kritisiert Gesetz
Roger Kusch (CDU) hat das Anti-Diskriminierungsgesetz der rot-grünen Bundesregierung scharf
kritisiert. Bei ohnehin „dramatisch vielen Arbeitslosen“ errichte es zusätzliche Einstellungshürden
für Unternehmen. Hamburg hat deshalb gemeinsam mit Baden-Württemberg eine
Bundesratsinitiative gegen das Gesetz gestartet. dpa
HH A 07.02.05
Auch der sich zu der Zeit im Wahlkampf befunden habende SPD-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen
hatte angekündigt, dass sein Land dem nicht zustimmungspflichtigen Gesetzesvorhaben - gegen das der
Bundesrat zwar (praktisch als bloßer Anstoß zum nochmaligen Überdenken) Einspruch einlegen kann, der dann
aber von der rot-grünen Bundestagsmehrheit zurückgewiesen werden kann - in der vorgelegten Form im
Bundesrat mit den CDU-geführten Ländern zusammen nicht zustimmen werde: das Gesetz sei insbesondere in
der schwierigen wirtschaftlichen Lage der BRD eine „Job-Vernichtungsmaschine“. Es dürfe nicht nutzlose und
zusätzliche Bürokratie beim Staat und bei den Unternehmen aufgebaut werden, betonten als Opposition
innerhalb der Regierung die drei Bundesminister des Inneren, für Wirtschaft und die Familienministerin vor dem
Hintergrund von auf über 5 Mill. gestiegener Arbeitslosenzahlen, der die vorgeschlagenen Regelungen zu weit
gingen – womit ein Argument der CDU/CSU und der FDP aufgenommen wurde, die bemängelten, dass SPD
und Grüne bei der Umsetzung der EU-Richtlinie zur Antidiskriminierung des Guten zuviel getan und
Regelungen draufgesattelt hätten, die nach den EU-Vorgaben nicht erforderlich gewesen wären. Das deutsche
Zivil- und Arbeitsrecht würde zu stark verändert. Ein Verzicht auf das Gesetz "wäre ein echter Beitrag zum
Bürokratieabbau".
"Es geht zunächst um die Garantie der Grundrechte, dass alle Menschen uneingeschränkten Zugang im Berufsund Privatleben haben", hielt die Verbraucherschutzministerin den Kritikern des vorgelegten Gesetzentwurfes
entgegen. Unter Verweis auf Benachteiligungen etwa am Arbeitsplatz oder auf dem Wohnungsmarkt sagte die
Grünen-Politikerin, man könne nicht "mit dem Ruf der Ent-Bürokratisierung loslegen, um damit als Folge
vorhandene Diskriminierung zu rechtfertigen".
DGB-Chef widerspricht Kusch
Hamburgs DGB-Chef Erhard Pumm (SPD) hat das neue Anti-Diskriminierungsgesetz begrüßt.
"Anders als Justizsenator Kusch halten die Gewerkschaften das Gesetz für erforderlich und richtig,
weil Benachteiligungen nach wie vor Alltag sind", so Pumm. Mit dem Gesetz sollen
Diskriminierungen wegen des Alters, Geschlechts, wegen Behinderung, sexueller Orientierung,
ethnischer Herkunft, Religion und Weltanschauung verhindert werden. "Dieser umfassende Ansatz
ist nötig, damit Diskriminierung im öffentlichen Bewußtsein als Problem erkannt und abgestellt
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wird", so Erhard Pumm. jmw
HH A 24.02.05
Diskriminierung darf nicht toleriert werden
Ansichtssache
Von Christa Goetsch *
Mustafa Y. steht am Sonnabend vor einer In-Disco auf dem Kiez. "Sorry", sagt der Türsteher, "aber
Türken kommen hier nicht rein." Barbara R. ist eine erfahrene Ingenieurin, auf der Suche nach einer
neuen Anstellung. "Unser Unternehmen xy.com sucht einen zeitlich flexiblen Ingenieur mit
mindestens fünf Jahren Berufserfahrung", liest sie in der Stellenanzeige. Fünf Jahre Berufserfahrung
hat sie. Zeitlich flexibel ist sie auch. Ein Mann ist sie nicht. Erna P., 65 Jahre alt, sitzt vor dem
Kundenberater ihrer Sparkasse. "Tut mir leid, Frau P., ab 65 vergebenwir grundsätzlich gar keine
Kredite mehr."
Diskriminierung ist alltäglich in Deutschland. Das heißt nicht, daß sie toleriert werden darf. Schutz
vor Diskriminierung bedeutet nicht Privilegien für bestimmte Gruppen, sondern Anspruch auf
Respekt und gleiche Chancen. Mit dem Antidiskriminierungsgesetz (ADG) setzt die
Bundesregierung nun EURichtlinien gegen Diskriminierung maßvoll in deutsches Recht um. Das
Gesetz tritt Benachteiligungen auf Grund des Geschlechts, der ethnischen Herkunft, der Religion
oder Weltanschauung, der sexuellen Identität, des Alters oder auf Grund einer Behinderung wirksam
entgegen. Es legt ein Diskriminierungsverbot fest im Berufsbereich und beim Zugang zu Gütern und
Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, wie z. B. Versicherungen.
Derartige Antidiskriminierungsgesetze gibt es in vielen europäischen Ländern, z. B. in Frankreich,
Großbritannien, den Niederlanden und Skandinavien. Sie haben sich in der Praxis bewährt, sind kein
Anschlag auf die Vertragsfreiheit und keineswegs belastend für die Wirtschaft. Ein solches
Benachteiligungsverbot ist im Übrigen auch in Deutschland nichts Neues. Artikel 3 des
Grundgesetzes benennt die Gleichheit vor dem Gesetz und verbietet Ausgrenzungen wegen
bestimmter
Persönlichkeitsmerkmale.
Einige beschwören nun das Ende des Wirtschaftsstandortes Deutschland herauf. Wenn jeder nach
dem ADG einfach behaupten könne, er wäre in einem Bewerbungsverfahren benachteiligt worden,
stünden die deutschen Unternehmen vor einer riesigen Klagewelle, prophezeit die CDU. Das gleiche
hatte sie auch bei der Einführung des Rechtsanspruchs auf Teilzeit behauptet. Die Klagewelle ist
aber ausgeblieben. Tatsächlich haben sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer in den meisten Fällen
einvernehmlich geeinigt. Die Beschwörung einer Klagewelle ist Panikmache, die durch nichts belegt
ist. Weder die britische noch die französische oder die niederländische Wirtschaft ist in den Ruin
getrieben worden. In Großbritannien werden im allgemeinen sogar deutlich bessere Bedingungen für
Investitionen ? auch in Arbeitsplätze ? gesehen. Schadet es dem Wirtschaftsstandort Deutschland
nicht eher, wenn ein latent ausländerfeindliches Klima herrscht, das Investoren aus dem Ausland
abschreckt und Migranten behindert, die hier unternehmerisch tätig sind?
Und auch mit der Beweislastumkehr ? nicht der Arbeitnehmer muß die Diskriminierung beweisen,
sondern der Arbeitgeber das Gegenteil ? ist das nicht so einfach, wie die CDU glauben machen will:
Es reicht eben nicht zu behaupten, man wäre diskriminiert worden, man muß es glaubhaft machen.
Das ist rechtlich ein entscheidender Unterschied, mit dem die Gerichte in Deutschland gut vertraut
sind. Ein Bewerber um eine Stelle kann schlecht beweisen, daß er diskriminiert wurde, schließlich
kennt nur der Arbeitgeber alle Unterlagen.
Natürlich bleiben spezielle Anforderungen an bestimmte Jobs oder in besonderen Situationen
weiterhin zulässig, wenn sie sachlich zu begründen sind. Ein Frauenhaus darf weiterhin nach einer
Mitarbeiterin suchen. Ein indisches Restaurant darf indische Köche bevorzugen. Private Vermieter
dürfen sich ihre Wohnungsnachbarn weiterhin nach Sympathie aussuchen. Der Kinderoder
Seniorenteller darf weiterhin auf der Speisekarte stehen. Und für das Bundespräsidentenamt muß
man oder frau weiter mindestens 40 Jahre alt sein.
Arbeitgeber, Vermieter, Unternehmer, die nicht diskriminieren, haben nichts zu befürchten. Sie
notieren jeweils kurz, warum sie sich wie entschieden haben. Wer aber immer schon lieber Männer
angestellt hat, weil es einfacher und toller ist, nur mit Kerlen zusammenzuarbeiten, der wird es
künftig schwerer haben. Gut so. Wir wollen nämlich, daß Diskriminierung bald nicht mehr alltäglich
ist in Deutschland.
* Christa Goetsch antwortet hier auf einen Artikel von Justizsenator Roger Kusch (CDU) im
Abendblatt vom 18. Februar.
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Christa Goetsch (52) ist Vorsitzende der GAL-Bürgerschaftsfraktion. Zuvor arbeitete sie als Lehrerin
für Chemie und Biologie.
(HH A 25.02.05)
Angst vor dem Jobkiller
Wer künftig einen Bewerber ablehnt, muß nachweisen, daß er ihn nicht diskriminiert hat. Wie das
gehen soll, weiß niemand. Die Wirtschaft fürchtet eine Prozeßlawine - und unkalkulierbare Kosten
von Stefan von Borstel
Alle sollen sie künftig besser gegen Diskriminierungen geschützt werden: Behinderte, die keinen
Tisch im Lokal bekommen - obwohl Platz genug ist. Junge Türken, die vom Türsteher der Diskothek
abgewiesen werden. Die libanesische Familie, der beim Wohnungsbesichtigungstermin gesagt wird:
"Die Wohnung ist schon vermietet." Homosexuelle, denen pauschal eine Lebensversicherung
verweigert wird. Mit einem Gesetz zum Schutz vor Diskriminierungen soll ihnen geholfen werden.
Ziel des Antidiskriminierungsgesetzes (ADG) ist es, so heißt es im ersten Paragraphen,
"Benachteiligungen aus Gründen der Rasse, oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts,
der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung , des Alters oder der sexuellen Identität zu
verhindern oder zu beseitigen." Das Ziel ist ehrenwert - dennoch stößt das Gesetz nicht auf ungeteilte
Zustimmung, wie die Expertenanhörung am Montag vor dem Familienausschuß zeigte. Während
manche Rechtsexperten von einem "längst überfälligen Schritt" sprechen und das Gesetz
ausdrücklich begrüßen, warnen andere vor einem "inakzeptablen Eingriff in das Grundrecht auf
Vertragsfreiheit"
und
bezweifeln
grundsätzlich,
ob
der
Gesetzgeber
mit
dem
Antidiskriminierungsgesetz einen fairen Umgang mit Minderheiten von seinen Bürgern erzwingen
kann. Vor allem in der Wirtschaft schlagen die Wellen der Empörung hoch: Die Unternehmen
fürchten eine Welle der Bürokratie und warnen vor einem neuen Jobkiller.
Im Mittelpunkt der Kritik steht die so genannte Umkehr der Beweislast. Danach kann jeder, der sich
diskriminiert fühlt und dies "glaubhaft" machen kann, vor den Kadi ziehen. Es ist dann am beklagten
Gastwirt, Vermieter oder Arbeitgeber, zu beweisen, daß er nicht diskriminiert hat.
So könnte ein abgewiesener Stellenbewerber behaupten, er sei nicht eingestellt worden, weil der
Arbeitgeber Ausländer diskriminiere. Als Indiz für die ausländerfeindliche Gesinnung des
Arbeitgebers nennt er die unterdurchschnittliche Ausländerquote im Unternehmen. Der Arbeitgeber
müßte dann vor Gericht beweisen, daß er den Ausländer nicht wegen seiner Herkunft abgelehnt hat.
Dazu müßte er sämtliche Bewerbungsunterlagen aufbewahren und das Bewerbungsgespräch
protokollieren - oder aber es auf die Verurteilung und Schadensersatz ankommen lassen. "Ein
mittelständischer Einzelhändler für Damenunterwäsche muß doch künftig schon bei der
Stellenanzeige einen Rechtsanwalt einschalten, um sicher zu sein, daß er sich bei der Suche nach der
"jungen, dynamischen Verkäuferin mit guten Deutschkenntnissen" nicht gleich dreifach der
Verfolgung durch graue Panther, Männerschutzverbände und durch die Vertreter ethnischer
Minderheiten aussetzt", schreibt der Deutsche Industrie- und Handelskammertag bissig in seiner
Stellungnahme. Vor allem die kleinen Mittelständler dürften unter dem ADG leiden. Sie werden sich
im Zweifel gegen Diskriminierungsvorwürfe kaum zur Wehr setzen können, fürchtet der
Gaststättenverband Dehoga. "Weil das Bewerbungsgespräch nicht unter Zeugen, sondern lediglich
zwischen Betriebsinhaber und Bewerber geführt wurde, weil kein Jurist die Formulierung der
Stellenanzeige unterstützt hat oder weil der Arbeitsvertrag aus einem veralteten Musterhandbuch
entnommen wurde."
Doch nicht nur bei der Stellenausschreibung und dem Bewerbungsgespräch, bei jeder
Zielvereinbarung, Gehaltserhöhung und Beförderung im Betrieb greifen die Paragraphen der
Antidiskriminierung - und droht Schadensersatz. Eine Obergrenze für etwaige
Schadensersatzzahlungen ist im Gesetz nicht vorgesehen. Und so fürchtet sich die Wirtschaft vor
"amerikanischen Verhältnissen". In den USA haben Konzerne schon dreistelligen Millionensummen
wegen "Rassendiskriminierung" oder "sexueller Belästigung" zahlen müssen.
Die Befürworter des Gesetzes verweisen dagegen darauf, daß deutsche Richter solche Auswüchse
wohl verhindern würden. Über drei Monatsgehälter oder das, was heute bei Beleidigungsklagen
üblich sei, dürfte der Schadensersatz kaum hinausgehen, hieß es bei der Anhörung. Auch die Furcht
vor einer Prozeßwelle sei maßlos übertrieben.
Die Kritiker des Gesetzes sehen das anders. Sie fürchten "ein Eldorado für Rechtsanwälte", wie
Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt sagt. Zumal die vermeintlichen Diskriminierungsopfer ihre
Ansprüche an "Antidiskriminierungsvereine" abtreten können. Diese Vereine werden dann
medienwirksam zu Felde ziehen - und damit eine Menge Geld verdienen.
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Den Arbeitgebern drohen aber nicht nur Klagen, wenn er selbst seine Arbeitnehmer diskriminiert
haben soll. Auch wenn Dritte, etwa Lieferanten oder Kunden, diskriminieren, soll er haften. Dieser
Fall kann schnell eintreten. Was ist, wenn ein Mann in der Technikabteilung eines Kaufhauses nicht
von einer jungen Frau bedient werden will? Muß der Arbeitgeber dann der Mitarbeiterin eine
Entschädigung für diese "Diskriminierung" zahlen, fragt sich der Handelsverband BAG.
Und was ist mit der Kellnerin, die sich bei einer feuchtfröhlichen Bierrunde anzügliche
Bemerkungen der Gäste anhören muß? "Die Grenzen zwischen bloßen Witzeleien und
Belästigungen oder echten diskriminierenden Äußerungen sind fließend und situationsabhängig",
schreibt der Gaststättenverband Dehoga. "Der Arbeitgeber kann keine Verantwortung für das
Verhalten Dritter tragen, es ist für ihn nicht kontrollier- und steuerbar."
Besonders betroffen sind auch die großen Wohnungsunternehmen und die Versicherungswirtschaft.
Die Wohnungsgesellschaften müssen nicht nur Millionen von Mietverträgen gerichtssicher
dokumentieren. Sie können auch nicht mehr gezielt vermieten, um zum Beispiel Ausländerghettos zu
verhindern. Und die Versicherer dürfen ihre Prämien nur noch differenzieren, wenn sie dies auch mit
verläßlichen Daten begründen können. Die gibt es aber kaum, klagt die Versicherungswirtschaft. Sie
fürchtet um den Versicherungsstandort Deutschland.
Aber auch auf die Tarifpartner und den Gesetzgeber selbst kommen Probleme: Denn ältere
Arbeitnehmer werden bei einer Kündigung und bei der Bezahlung in Tarifverträgen und auch
Gesetzen vielfach bevorzugt behandelt - und die Jüngeren damit "diskriminiert". Selbst die
Altersgrenze von 65 Jahren wackelt.
"Extreme Rechtsunsicherheit" konstatieren Experten, der DIHK warnt vor einem juristischem
Minenfeld: "Wahrscheinlich wird erst nach Jahren durch die Rechtsprechung einigermaßen klar
umrissen sein, was genau verboten ist und was noch zulässig ist."
(DIE WELT 08.03.05
Vermieter wollen diskriminieren dürfen
Die SPD streitet um das Antidiskriminierungsgesetz. Die Gegner erhalten Auftrieb bei einer
Bundestagsanhörung
BERLIN taz Das geplante Antidiskriminierungsgesetz entzweit die SPD weiter. Nun zeigte sich auch
Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck skeptisch - Peer Steinbrück aus NordrheinWestfalen kritisiert die Vorlage schon länger. Ohne ihre Stimmen würde das Gesetz im Bundesrat
scheitern.
Schon letzte Woche hatten diverse SPD-Kabinettsmitglieder erkennen lassen, dass sie das geplante
Antidiskriminierungsgesetz nicht mehr unterstützen. Dazu gehörten Finanzminister Eichel,
Wirtschaftsminister Clement und Innenminister Schily. Auch Kanzler Schröder gilt nicht als Freund
des Antidiskriminierungsgesetzes. SPD-Chef Müntefering hingegen verteidigte das Vorhaben. Auch
die Grünen halten daran fest, sind jedoch zu Einzelkorrekturen bereit.
Die Opposition ist sowieso dagegen. Gestern wiederholte CDU-Chefin Merkel, dass der zu
erwartende bürokratische Wust "aktiv zur Vernichtung von Arbeitsplätzen beitragen" würde.
Das Antidiskriminierungsgesetz wird sich jedoch nicht vollständig vermeiden lassen - sind doch vier
EU-Richtlinien umzusetzen. Allerdings weicht der rot-grüne Gesetzesplan an einigen Stellen von der
europäischen Vorgabe ab. Dort ist nur für das Arbeitsrecht vorgesehen, dass Benachteiligung nach
acht Kriterien verboten ist: Rasse, Ethnie, sexuelle Identität, Alter, Weltanschauung, Religion,
Behinderung und Geschlecht. Für das Zivilrecht hingegen sollen nur zwei Kategorien wichtig sein:
Ethnie und Geschlecht. Im deutschen Entwurf gelten hingegen auch dort alle acht Kriterien.
Seither tobt der Streit. Gestern lud der zuständige Familienausschuss im Bundestag zu einer
Expertenanhörung. Die Meinungen waren erwartungsgemäß geteilt. Die Sachverständigen der
Regierungsparteien betonten das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes - daher müssten im Zivilrecht
dieselben Kategorien wie im Arbeitsrecht gelten. Doch auch die Experten der Opposition kannten
die Verfassung und zitierten immer wieder die Vertragsfreiheit.
Dissens gab es auch im Detail. So müssen die acht Kategorien im privaten Rechtsverkehr nur
berücksichtigt werden, wenn es sich um ein "Massengeschäft" handelt. Bei einem Abschluss wie der
Kreditvergabe, wo es sehr stark auf die Bonität des einzelnen Kunden ankommt, würde das Gesetz
nicht gelten.
Besonders die privaten Versicherungen sind alarmiert, die als "Massengeschäft" zählen und daher
alle acht Kategorien befolgen müssen. Ihre Experten wandten ein, dass man Behinderung, Alter oder
geschlechtliche Orientierung nicht immer sauber von einem Krankheitsrisiko trennen könne. Wenn
etwa Homosexuelle nicht versichert würden - dann doch nicht weil sie schwul seien, sondern weil sie
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ein erhöhtes Risiko für Aids oder Hepatitis mitbrächten. Die Versicherer streben daher an, dass sie
wie die Kreditinstitute nicht länger als "Massengeschäft" gelten.
Genau das wollen auch die großen Wohnungsunternehmen für sich erreichen, die ebenfalls nicht alle
acht Kriterien befolgen möchten. Sie argumentierten gestern, dass sie ihre Mieter stets sehr sorgsam
und persönlich auswählen - ob sie etwa in die Nachbarschaft passen.
Und schließlich: Wie wird eigentlich eine Diskriminierung nachgewiesen? Die Arbeitgeber fürchten
eine "Beweisumkehr" - dass sie künftig darlegen müssten, dass sie nicht diskriminiert haben. Diese
Sorgen konnten die Regierungsexperten nicht teilen: In den EU-Richtlinien sei nur eine
Beweiserleichterung festgeschrieben. Ohne konkreten Anfangsverdacht ließe sich aber kein Gericht
überzeugen, einen Diskriminierungsfall überhaupt anzunehmen. " ULRIKE HERRMANN
(taz 08.03.05)
Der Kanzler schien – zu Recht - über das schlechte Regierungsmanagement ungehalten zu sein:
„Schröder rüffelt Clement und Schily
Kanzler verteidigt Antidiskriminierungsgesetz - ...
Berlin - Bundeskanzler Gerhard Schröder hat sich auf der Kabinettssitzung in den koalitionsinternen
Streit um das Antidiskriminierungsgesetz eingeschaltet. Grundlegende Änderungswünsche von
Innenminister Otto Schily und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (beide SPD) an dem Gesetz
lehnte Schröder nach WELT-Informationen ab. Die Ministerien hätten den Fraktionen bei dem
Gesetzentwurf zugearbeitet. Im nachhinein könne man sich jetzt nicht hinstellen und dies selbst
kritisieren. Mehrere Minister hatten moniert, das Gesetz gehe über die EU-Vorgaben hinaus, schaffe
unnötig Bürokratie und sei in Teilen zu wirtschaftsfeindlich.
Grünen-Fraktionsgeschäftsführer Volker Beck sagte zu der Kritik, der arbeitsrechtliche Teil des
Gesetzes sei vollständig im Wirtschaftsministerium ausgearbeitet und von den Regierungsfraktionen
übernommen worden: "Es ist schon seltsam, daß mancher jetzt nicht mehr wissen will, was er uns da
reingeschrieben hat." Beck signalisierte aber Kompromißbereitschaft bei Details. Demnach sollten
Wohnungsgesellschaften ihren bisherigen Handlungsspielraum behalten, wonach sie in
Großsiedlungen auf eine ausgewogene Mischung von Mietern achten können. Ferner schlug Beck
vor, Klagen gegen Diskriminierung nur in einer bestimmten Frist zuzulassen. Er kann sich zudem
vorstellen, entgegen den ursprünglichen Plänen keine kostspielige Antidiskriminierungsstelle
einzurichten, sondern die Aufgabe bei der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung
anzusiedeln.
Sein SPD-Kollege Wilhelm Schmidt erklärte, das Gesetz solle noch im April im Bundestag
verabschiedet werden. Er sei zuversichtlich, daß die Koalition dann auch die SPD-regierten Länder
an ihrer Seite habe. Die Abstimmung über das umstrittene Gesetz im Bundesrat sei für den 27. Mai
geplant - fünf Tage nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen. Ministerpräsident Peer Steinbrück (SPD)
hatte damit gedroht, sein Land werde dem vorliegenden Gesetzentwurf in der Länderkammer nicht
zustimmen. Der Bundesrat kann das Gesetz mit einer Zweidrittelmehrheit kippen, da es sich um ein
Einspruchsgesetz handelt. ...“
(DIE WELT 10.03.05)
Grundsätzliche Bedenken gegen ein Antidiskriminierungsgesetz bringt der Politologe Leggewie vor (FR
09.03.05):
Antidiskriminierungspolitik verleitet Individuen dazu, sich in "ihrer" Minderheit zu verschanzen und
den sozialen Partikularismus zu verschärfen, statt die konkrete Benachteiligung im Rahmen einer
menschenrechtlich fundierten Ordnung aufzuheben.
Und sie ermöglicht selbst ernannten Advokaten und politischen Unternehmern, sich schützend vor
Minderheiten zu stellen, nicht immer zu deren Vorteil und auch hier wieder mit der Tendenz,
ethnische und andere Unterschiede festzuschreiben statt sie aufzuweichen.
Zudem erlaubt dieses Eingraben in der eigenen Gruppenidentität, innere Kritiker mundtot zu machen
und die Meinungsfreiheit, ein allemal überzuordnendes Gut, zu beschädigen. Gerade religiöse
Gruppen berufen sich jetzt auf Antidiskriminierung, um auf diesem Weg Bigotterie und
Unterdrückung in eigenen Reihen unantastbar zu machen. Ein fundamentalistischer Moslem, Christ
oder Hindu kann jederzeit auf Beleidigung oder Blasphemie klagen, um die Klage über tatsächlich
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begangene Diskriminierungen, von Frauen und Mädchen, so genannten Häretikern und Außenseitern
abzuwehren.
Doch die teilweise erbittert geführten Auseinandersetzungen um die Verabschiedung des
Antidiskriminierungsgesetzes stellten sich dann im Mai 2005 als vergeblich aufgewandte Energie im politischjuristischen Bereich heraus, weil der Bundeskanzler der bis dahin rot-grünen Bundestagsmehrheit nach der für
diese Parteienkonstellation verlorenen Landtagswahl im »SPD-Stammland« NRW angekündigt hatte, über den
holprigen verfassungsrechtlichen Weg des Art. 68 GG (Stellung der Vertrauensfrage mit selbst organisierter
Abstimmungsniederlage) die Auflösung des Bundestages zu betreiben und vier Monate später Neuwahlen
anzustreben. Die Regierungskoalition hatte nach der verloren gegangenen NRW-Wahl nicht einmal mehr die
Geschäftsordnungsmehrheit im Vermittlungsausschuss. So konnte die bürgerliche Opposition das Thema von
der Geschäftsordnung absetzen und vertagen. Das Gesetz fiel damit der in § 125 der Geschäftsordnung des
Bundestages geregelten zeitlichen "Diskontinuität" anheim. Der Diskontinuitätsgrundsatz bedeutet, dass die am
Ende einer Wahlperiode nicht mehr abschließend beratenen Gesetzesentwürfe schon allein durch diesen
Fristablauf erledigt sind. Um sie weiterzuverfolgen, müssten sie erst von dem neugewählten Bundestag wieder
aufgenommen werden - der dann die Antidiskriminierungsregeln leicht auf den von ihm gewünschten
Mindestumfang zusammenstutzen könnte, um gerade noch der EU-Richtlinie in ausreichendem Maße
nachgekommen zu sein.
Juristisch interessant war in dem Zusammenhang des Antidiskriminierungsgesetzes und der grundgesetzlich
geschützten Religionsfreiheit, insbesondere des Art. 4 II GG
„Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“,
die von der stellvertretenden CDU-Vorsitzenden Schavan zuvor 2004 in die öffentliche Diskussion gebrachte
Forderung, dass in den damals rund 2.500 in Deutschland gelegenen Moscheen nur noch Deutsch gepredigt
werden dürfe, um den in arabisch oder türkisch predigenden islamischen Hass-/Dschihadpredigern - leichter auf
die Schliche kommen zu können – womit man aber höchstens das religiöse Vorfeld der „Bomben-Muslime“/
“Islam-Bomber“ ins Visier nehmen könnte, religiöse Selbstmordattentäter schotten sich auch von ihren nicht (so)
fanatischen Glaubensbrüdern ab:
„Imame sollen in Deutsch predigen
Moscheen: Türkische Gemeinde und Zentralrat der Muslime unterstützen Forderung aus der
CDU
Von Maike Röttger
Hamburg - Angesichts der nicht abreißenden Anschläge gegen muslimische und christliche
Einrichtungen in den Niederlanden haben auch deutsche Politiker vor gefährlichen
Parallelgesellschaften gewarnt. Baden-Württembergs Kultusministerin Annette Schavan (CDU)
forderte deswegen eine Pflicht für Imame, in Deutsch zu predigen.
"Wir dürfen nicht weiter zulassen, daß in Moscheen in Sprachen gepredigt wird, die außerhalb der
islamischen Gemeinde nicht verstanden werden", sagte sie. Andernfalls würden kulturelle
Abgrenzung und Skepsis gefördert. Geistliche Führer, die in Arabisch oder anderen Sprachen
predigten, setzten sich dem Verdacht von Hetzreden gegen Andersgläubige aus. Vorstellbar sei eine
entsprechende Gesetzesinitiative Baden-Württembergs. …“ (HH A 15.11.04)
Die Forderung von Anette Schavan war eine wohlfeil in den politischen Raum gestellte populistische Forderung
- und wohl eher ihren damaligen Ambitionen auf den Stuhl des/der baden-württembergischen
Ministerpräsident/in geschuldet, um in der parteiinternen Mitgliederbefragung zu punkten. „Law made simple“,
oder: wie sich die kleine Annette »das Recht« vorstellt. Natürlich hat der Gedanke Schavans auf den ersten Blick
etwas Bestechendes. Jeder juristisch Unbeleckte - und dazu gehört Schavan: darum sind ihre diesbezüglichen
Äußerungen mehr peinlich als ärgerlich - glaubt sofort, dass Schavan mit ihrer eingängigen Forderung für das
Hass-/Dschihadprediger-Problem das „Ei des Kolumbus“ gefunden habe. Aber mit einem bisschen Nachdenken,
das man von einem/einer herausragenden Politiker/in verlangen kann, hätte sie selber darauf kommen müssen(!),
dass sie ihren Vorschlag „in die Tonne treten“ sollte; und wenn sie es nicht macht, dann wird es das
Bundesverfassungsgericht machen, dessen bin ich absolut sicher, denn Art. 4 II GG regelt: „Die ungestörte
Religionsausübung wird gewährleistet.“ Zur Freiheit des kultischen Handelns gehört nach heutigem Verständnis,
78
dass der/die Gottesdienstbesucher/in auch verstehen können müsse, was sein/ihr Prediger ihm/ihr sagt. Auch
demjenigen, der keine ausreichenden Deutschkenntnisse besitzt, sichert unser Grundgesetz als eines der wenigen
in unserer Verfassung vor gesetzlichem Eingriff geschützten Rechte eine „ungestörte Religionsausübung“ zu.
Das Recht der freien Religionsausübung wird innerhalb der Schranken der durch das Grundgesetz
konkretisierten Wertordnung vorbehaltlos gewährt. Wir leben nicht mehr in der Zeit von vor einigen hundert
Jahren, als in der katholischen Kirche der Gottesdienst ausschließlich auf Latein abgehalten wurde und die
Glaubensschäfchen teilweise erst im Beichtgespräch die Konkretisierung dessen erfuhren, was ihnen ihr Priester
in einer ihnen fremden Sprache im Gottesdienst verkündet hatte. Und wie sollte es mit dem in Art. 3 GG
normierten Gleichheitsgrundsatz zu vereinbaren sein, wenn muslimische Prediger gezwungen würden, in einer
ihren Gläubigen teilweise unverständlicher Sprache zu predigen – wobei hinzu kommt, dass z.B. die vom
türkischen Religionsministerium geschickten Imame nicht unbedingt Deutsch sprechen können oder, wenn sie
vielleicht ein wenig Deutsch können, nicht über für die Besorgung von Alltagsgeschäften hinausgehende
deutsche Sprachkenntnisse verfügen – und orthodoxe Pfarrer einer russisch-orthodoxen Gemeinde oder
katholische Priester einer polnischen Gemeinde ihren Gottesdienstbesuchern in der ihnen vertrauten und
teilweise allein verständlichen Sprache die Segnungen ihrer Mutterkirche zukommen lassen können?
BEERDIGUNG IN WOLFSBURG
Ergreifender Abschied von Nowak
Unter großer Anteilnahme ist am Samstag der ehemalige Bundesliga-Profi Krzysztof Nowak
beigesetzt worden. Rund 1500 Trauergäste, darunter viele ehemalige Mitspieler, nahmen Abschied
vom polnischen Nationalspieler und Mittelfeldregisseur des VfL Wolfsburg.
Wolfsburg - Nowak war vor zehn Tagen im Alter von 29 Jahren an den Folgen der unheilbaren
Nervenkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) gestorben. Er hinterlässt Ehefrau sowie zwei
Kinder (vier und neun Jahre). Die Beisetzung fand auf dem Wolfsburger Waldfriedhof statt. Zuvor
hatten rund 600 Menschen beim Requiem in der St. Christophoros Kirche Nowak die letzte Ehre
erwiesen. Sowohl das Requiem als auch die Beisetzung fanden in deutscher und polnischer Sprache
statt.
...
Die Krankheit ALS zerstört Nervenzellen, die für die Kontrolle der Muskeln zuständig sind, was zu
einer zunehmenden Lähmung des ganzen Körpers und schließlich meist zum Tod der Patienten führt.
Der wohl bekannteste Patient ist der britische Astrophysiker Stephen Hawking. Auch der deutsche
Maler Jörg Immendorf leidet an ALS. Pro Jahr erkranken etwa 1 bis 2 von 100.000 Menschen an der
Krankheit. (SPIEGEL ONLINE 06.06.05)
Ein allein auf die Moscheen zielendes Gesetz, wäre – auch wenn durch einschlägige Vorkommnisse veranlasst –
ein die islamische Religionsausübung diskriminierendes Gesetz. Das grundgesetzlich geschützte Recht der
„ungestörten Religionsausübung“ kann Schavan den des Deutschen teilweise unkundigen Muslimen nicht
nehmen! „Die Gerichtssprache ist deutsch.“, heißt es in § 184 Gerichtsverfassungsgesetz; die
»Religionssprache« ist nicht ebenso verbindlich geregelt, und aus grundgesetzlichen Erwägungen heraus kann
man das auch nicht machen – wie man das bei der Gerichtssprache trotz der genannten eindeutigen gesetzlichen
Regelung anscheinend noch näher konkretisieren muss:
GESETZESENTWURF
Schöffen sollen Deutsch können
Von Sebastian Fischer
Das rheinland-pfälzische Kabinett hat eine Gesetzesinitiative gestartet, die Selbstverständliches
garantieren soll: Schöffen an deutschen Amts- und Landgerichten müssen die deutsche Sprache
beherrschen.
Berlin - Die Gerichtsverhandlung am Amtsgericht Mainz geriet ins Stocken. Schnell musste eine
Dolmetscherin herbeigeschafft werden. Doch es war nicht etwa der Angeklagte, der der Verhandlung
nicht mehr folgen konnte - es war die ehrenamtliche Richterin. Die Deutsch-Rumänin, Anfang des
Jahres gerade erst auf vier Jahre zur Schöffin bestellt, verstand kein Wort.
Im rheinland-pfälzischen Justizministerium schrillten die Alarmglocken: "Es kann nicht sein, dass
Angeklagte von Schöffen verurteilt werden, die gar kein Deutsch verstehen", so der zuständige
Minister Herbert Mertin. In Windeseile ließ er einen Gesetzesentwurf für den Bundesrat formulieren.
Am Dienstag beschloss ihn das Kabinett unter Ministerpräsident Kurt Beck.
Rheinland-Pfalz will den Entwurf nun am 17. Juni in den Bundesrat einbringen - und ist sich der
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Unterstützung gewiss: "Die anderen Länder werden diese Problematik erkennen, wir gehen davon
aus, dass sie unserem Entwurf zustimmen", sagt Fabian Scherf, Sprecher des Justizministers.
Dolmetscher für die Übersetzung der Eidesformel
Die Problematik ist seit Jahren bekannt. Zum Beispiel im Stadtstaat Hamburg: Im März 2001 musste
am Amtsgericht Altona ein Prozess abgebrochen werden, weil der Hilfsschöffe als
Russlanddeutscher des Deutschen nicht mächtig war. Für die Übersetzung der Eidesformel musste
ein Dolmetscher hinzugezogen werden.
Bisher kann das Ehrenamt des Schöffen von jedem deutschen Staatsangehörigen ausgeübt werden.
Die Schöffen wirken als gesetzliche Richter im Sinne des Grundgesetzes an der
Entscheidungsfindung mit. Im Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) sind zur Zeit nur einige wenige
Beschränkungen der Schöffenberufung geregelt. So sollen die Laienrichter über 25, aber unter 70
Jahre alt sein, mindestens seit einem Jahr in der entsprechenden Gemeinde wohnen und nicht wegen
einer strafbaren Handlung zu mehr als sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden sein.
Wie wird man Schöffe?
Die Auswahl der Schöffen erfolgt über eine Vorschlagsliste, die von der Gemeindevertretung mit
Zwei-Drittel-Mehrheit beschlossen werden muss. Auf der Liste sollen alle Gruppen der Bevölkerung
repräsentiert sein. Über Aufrufe und Anzeigen finden die Gemeinden Kandidaten, die sich selbst
melden. Möglich sind auch Nominierungen durch Parteien, Religionsgemeinschaften oder Vereine.
Die von der Gemeindevertretung beschlossene Vorschlagsliste wird eine Woche lang öffentlich
ausgelegt. Jeder hat das Recht, gegen die Kandidaten Einspruch einzulegen. Von den Amts- und
Landgerichten wird dann die erforderliche Anzahl an Laienrichtern von den Listen ausgewählt.
In Bayern wurde im Jahr 2001 der Fall einer nicht deutsch sprechenden Hilfsschöffin ans
Justizministerium gemeldet. Man habe die Sache damals "pragmatisch gelöst", sagt
Ministeriumssprecherin Beate Ehrt. Nach einem Gespräch mit der Schöffin sei diese zurückgetreten.
Der Freistaat Bayern schickte in der Folge ein Rundschreiben an die deutschen
Landesjustizministerien, um deren Praxiserfahrungen abzufragen. Das Ergebnis war Uneinigkeit:
"Die einen sagten, man müsse das regeln, die anderen sahen das nicht als dringlich an", so
Sprecherin Ehrt. Eine Gesetzesinitiative im Bundesrat habe sich deshalb aus bayerischer Sicht
damals nicht gelohnt.
Kleine Verzögerung durch anstehende Neuwahlen
In diesem Jahr aber sei das Thema wieder auf die politische Agenda des Justizministeriums geraten:
Weil am 1. Januar 2005 bundesweit die neuen Schöffen auf vier Jahre gewählt worden sind, laufe in
Bayern derzeit eine "Praxisabfrage". Trotz bayerischen Problembewusstseins sieht der Freistaat
seine Zustimmung zur rheinland-pfälzischen Gesetzesinitiative im Juni nicht als schon im Vorhinein
gegeben an: "Manchmal ist weniger Bürokratie besser, wir sehen zur Zeit Schwierigkeiten darin, die
Deutschkenntnisse von potentiellen Schöffen zu prüfen", so Ehrt. Außerdem müsse man auch die
Signale bedenken, die man damit an die nicht deutschstämmigen Bürger sende
Rheinland-Pfalz will mit seiner Gesetzesinitiative nun "Personen, die nicht über hinreichende
Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen" vom Schöffenamt ausschließen, so der vorgelegte
Neuformulierungsvorschlag für Paragraph 33 GVG. Außerdem, so Justizsprecher Fabian Scherf,
"sollen mit Hilfe des Gesetzes in Zukunft auch bereits gewählte, aber nicht deutsch sprechende
Schöffen abberufen werden können, ohne dass es Folgen für den Prozessverlauf hat".
Eine kleine Verzögerung müssen die schnellen Rheinland-Pfälzer noch hinnehmen: Zwar kann der
Bundesrat das Gesetz im Falle einer Mehrheit für das sozialliberal regierte Bundesland schnell
durchwinken, doch wird sich die Lesung im Bundestag durch die wahrscheinlich im Herbst
anstehenden Neuwahlen verzögern. "Das macht aber nicht viel aus", sagt Scherf, "wir würden das
Gesetz dann eben sofort in den neu konstituierten Bundestag einreichen".
(SPIEGEL ONLINE 01.06.05)
In dem undurchdachten »Bauch-Vorschlag« der Ministerin steckt ein weiterer Grundrechtsverstoß, nämlich
gegen den mit Verfassungsrang ausgestatteten, vom Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit aller den Bürger belastenden staatlichen Maßnahmen: der Staat soll nicht mit Kanonen auf
uns Spatzen schießen dürfen! Auf das Problem der Predigtsprache in Moscheen angewandt, gäbe es eine die
Gläubigen weniger belastende Maßnahme staatlicher Kontrolle: von den vielen eingedeutschten Türken arbeitet
ein Teil als Polizist – und kann deswegen ohne weiteres zum dienstlichen Predigtbesuch in einer Moschee
abgestellt werden; da braucht nicht den des Deutschen nicht ausreichend Kundigen das Verstehen der geistlichen
Labsal unmöglich gemacht zu werden! Außerdem stehen die als »problematisch« erkannten Moscheen bereits
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unter ständiger Beobachtung der Verfassungsschutzbehörden.
Ein Rat in Frau Dr. Schavan: Schon die »alten Römer« wussten: „Si tacuisses, philosophus mansisses!“ [„Wenn
Du geschwiegen (und kein dummes Zeug geredet) hättest, hätte man dich weiterhin für einen Philosophen halten
können!“]
Die juristische Ahnungslosigkeit von Frau Schavan wurde von ihrem Parteikollegen Schönbohm, dem damaligen
Innenminister des Landes Brandenburg, noch übertroffen; und es ist ärgerlich, dass ein Innenminister so eine
eklatante Ahnungslosigkeit gegenüber den Grundrechten offenbart, die zu verteidigen als Aufgabe seines Amtes
auch ganz speziell mit in seinen Amtsbereich fällt: Der Ex-General hatte mit einem politischen Schnellschuss
nach Cowboy-Manier aus der Hüfte heraus die Forderung erhoben, dass Hasspredigern die deutsche
Staatsbürgerschaft entzogen werden sollte. Das setzt natürlich voraus, dass ein Hassprediger Inhaber der
deutschen Staatsbürgerschaft ist; andernfalls könnte man ihn ja leichter aus der BRD hinauskomplimentieren.
Und da der deutsche Staat Mehrfachstaatsbürgerschaften grundsätzlich unterbindet und von z.B. Türken, die
sich hier hatten einbürgern lassen wollen, bisher verlangt/e, dass sie zuvor ihre türkische Staatsbürgerschaft
aufgeben, würden solche Leute ja staatenlos werden. Das aber nicht zu tun, hat sich die BRD durch Ratifizierung
internationaler Konventionen, u.a. der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte8, verpflichtet. Und nun
kommt Art. 16 I 1 GG ins Spiel, der ganz eindeutig regelt:
„Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden.“
Punkt! Aber man darf sie natürlich freiwillig durch ordnungsgemäßen Antrag aufgeben, wie es z.B. der ehemals
deutsche Soziologe und jetzige Brite Lord Dahrendorf gemacht hat. Das ist in § 26 Reichs- und
Staatsangehörigkeitsgesetz so geregelt.
Nicht freiwillig verliert man die deutsche Staatsangehörigkeit durch die - aber grundsätzlich nicht erlaubte „Entziehung“. Die „Entziehung“ ist ein Staatsakt, durch den jemand ohne oder gegen seinen Willen seine
Staatsangehörigkeit verliert, d.h. laut BVerfG ein „Verlust, den der Betroffene nicht beeinflussen kann.“
Mit dem so schlicht klingenden Verbot der Entziehung der deutschen Staatsangehörigkeit durch alle drei
staatlichen Gewalten, insbesondere den Gesetzgeber, ist jede einseitige Wegnahme der Staatsangehörigkeit
durch eine hoheitliche Maßnahme durch Gesetz, Richterspruch oder Verwaltungsakt auf Grund der historischen
Erfahrung mit der Ausbürgerungspolitik des NS-Staates9 „aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen“
(Art. 116 II 1 GG) und der daran gekoppelten Vermögenskonfiszierung durch das Reich (und später der
Ausbürgerungspolitik der DDR) nunmehr grundsätzlich grundgesetzlich verboten. Die zuständige
Regierungsbehörde kann grundsätzlich nicht durch eine hoheitliche Einzelfallmaßnahme einen ihr missliebig
gewordenen deutschen Staatsbürger ausbürgern, keinen Hassprediger - und noch nicht einmal einen Terroristen.
Kein Deutscher darf durch die Entziehung der Staatsbürgerschaft staatenlos werden. Das würde der
Schutzpflicht des Heimatstaates widersprechen.
Könnte einem unserem Staat missliebig gewordenen deutschen Staatsbürger die deutsche Staatsbürgerschaft
entzogen werden, müsste man u.a. um das für das Funktionieren einer Demokratie fundamentale Recht der freien
Meinungsäußerung aus Art. 5 GG fürchten, wenn jeder scharfe Kritiker bundesrepublikanischer Missstände, die
immer einmal wieder zu Tage treten, kujoniert werden, ihm sogar seine Staatsangehörigkeit entzogen und er
dann des Landes verwiesen werden könnte, denn das ist ja letztlich das Ziel der Entziehung einer
Staatsbürgerschaft, wie manche Staaten das machen, z.B. Saudi-Arabien mit Osama bin Laden. Und nun fordert
der »Verfassungsschutzminister«, wie sich die Innenminister inoffiziell gerne nennen und nennen lassen, dass
gegen das Grundgesetz verstoßen werden sollte!
„Da haben Herr General mit seiner Forderung, durch Eindeutschung zu deutschen Staatsbürgern gemachten
Hasspredigern die verliehene deutsche Staatsbürgerschaft wieder zu entziehen, einen ziemlichen Bock
geschossen!“
Bewusst war bei der Erörterung der „Entziehung“ der Staatsangehörigkeit gerade wieder einmal das in
8
9
Art. 15 2., 1. HS.: „Niemandem darf seine Staatsangehörigkeit willkürlich entzogen … werden, …“
Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit. Vom 14. Juli
1933 und die Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung
der deutschen Staatsangehörigkeit. Vom 26 Juli 1933. In letzterer hieß es keine sechs Monate nach der
„Machtübernahme“, drei Jahre vor den Olympischen Spielen in Berlin und sechs Jahre vor dem Überfall auf Polen, mit
dem der Zweite Weltkrieg in Gang gesetzt wurde, u.a.: „Ein der Treuepflicht gegen Reich und Volk widersprechendes
Verhalten ist insbesondere gegeben, wenn ein Deutscher der feindseligen Propaganda gegen Deutschland Vorschub leistet
oder das deutsche Ansehen oder die Maßnahmen der deutschen Regierung herabzuwürdigen gesucht hat.“
81
juristischen Zusammenhängen bedeutungsvolle Wörtchen »grundsätzlich« benutzt worden, das andeutet, dass es
mindestens eine juristisch relevante Ausnahme von der grundsätzlich geltenden Regelung gibt, dass die deutsche
Staatsangehörigkeit nicht – wieder - entzogen werden könne.
„Weil er an exponierter Stelle in der PKK mitgearbeitet haben soll, hat das Regierungspräsidium
(RP) Gießen einem gebürtigen Türken die deutsche Staatsbürgerschaft wieder aberkannt. Der Mann
habe im Vorstand eines der PKK nahe stehenden Vereins mitgearbeitet und an ’PKK-nahen
Aktivitäten’ teilgenommen, teilt die Behörde mit. Damit habe er ’Bestrebungen verfolgt, die gegen
die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gerichtet sind’. Daraus folgert das RP, dass sein
anlässlich der Einbürgerung im Sommer 2002 abgegebenes Bekenntnis zur freiheitlichen
Grundordnung (Loyalitätserklärung) falsch war. Denn das Bundesinnenministerium habe die
Organisation im Jahr 1993 verboten. RP-Regierungsdirektor Manfred Becker: ’Das Verbot in Artikel
16 des Grundgesetzes (Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden) gilt nach
einheitlicher Rechtsauffassung nicht für erschlichene, unter falschen Voraussetzungen zustande
gekommene Einbürgerungen.’ Diese Entscheidung habe der Verwaltungsgerichtshof Gießen im Mai
2004 bestätigt.
Vorwurf: Falsche Loyalitätserklärung zur fdGO anlässlich der Einbürgerung.“
(FR 04.01.05)
„Wer ins Grundgesetz schaut, könnte über den Fall zunächst verwundert sein, heißt es doch in
Artikel 16: ’Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden.’ Es gibt jedoch eine
wichtige Einschränkung, die im Fall des hessischen Kurden angewandt wurde. ’Der Verlust der
Staatsangehörigkeit’, heißt es im Grundgesetz, dürfe ’gegen den Willen des Betroffenen nur dann
eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird’. Dies aber ist bei dem Deutschkurden
nicht der Fall. Seine türkische Staatsbürgerschaft hatte er auch nach seiner Einbürgerung in
Deutschland behalten dürfen. Jetzt sei er wieder ’nur noch Türke’, sagte ein Sprecher des
Regierungspräsidiums gestern, und müsse seine Aufenthaltserlaubnis bei der Ausländerbehörde neu
beantragen. ’Doppelpass’-Besitzer wie der hessische Kurde haben schlechte Karten. Aber auch wer
nach seiner Einbürgerung vorerst nur noch Deutscher ist, kann sich nicht in Sicherheit wiegen. Über
die Auslegung der Schutzbestimmungen des Grundgesetzes gab es in der Vergangenheit
verschiedene Gerichtsurteile. Während das Berliner Verwaltungsgericht vor zwei Jahren entschied,
eine Einbürgerung könne nicht rückgängig gemacht werden, urteilte das hessische
Oberverwaltungsgericht schon 1996, die grundgesetzlich garantierte Unentziehbarkeit der
Staatsbürgerschaft sei ’bei einer erschlichenen Einbürgerung wegen der fehlenden Schutzwürdigkeit
des
Eingebürgerten
ausgeschlossen’.
Im Bezug
auf
’Scheinehen’
befand
das
Bundesverwaltungsgericht Ende 2003: ’Eine erschlichene Einbürgerung, die durch eine vorsätzliche
Täuschung der Einbürgerungsbehörde erreicht wurde, darf keinen Bestand haben.’" (taz 05.01.05)
Juristisch ähnlich zu bewerten ist der Fall, dass jemand nach der seit 2000 geltenden Gesetzeslage
§ 85 AuslG
Einbürgerungsanspruch für Ausländer mit längerem Aufenthalt; Miteinbürgerung ausländischer
Ehegatten und minderjähriger Kinder
(1) Ein Ausländer, der seit acht Jahren rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, ist
auf Antrag einzubürgern, wenn er
sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik
Deutschland bekennt und erklärt, daß er keine Bestrebungen verfolgt oder unterstützt oder verfolgt
oder unterstützt hat, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die
Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der
Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziele
haben oder die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen
auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, oder glaubhaft macht, daß er sich
von der früheren Verfolgung oder Unterstützung derartiger Bestrebungen abgewandt hat,
eine Aufenthaltserlaubnis oder eine Aufenthaltsberechtigung besitzt,
den Lebensunterhalt für sich und seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen ohne
Inanspruchnahme von Sozial- oder Arbeitslosenhilfe bestreiten kann,
seine bisherige Staatsangehörigkeit aufgibt oder verliert und
nicht wegen einer Straftat verurteilt worden ist.
82
...
die deutsche Staatsbürgerschaft unter der Verpflichtung erworben hat, seine bisherige Staatsbürgerschaft
aufzugeben, er das weiß und tut - und sich dann, weil er um das Verbotene seines Handelns weiß, aus teilweise
nachvollziehbaren Gründen (erbrechtliche Ansprüche wahren, Immobilienerwerb im Ursprungsland) heimlich
wieder seine alte Staatsbürgerschaft zusätzlich verschafft. Nicht hinnehmbar ist es für unser Land, wenn ihn sein
Ursprungsland dabei durch Verschleierungsmaßnahmen auch noch komplizenhaft unterstützt:
„50 000 Türken beschafften sich illegal den Doppelpaß
Union: Regierung unterschätzt das Problem
von Ansgar Graw
Berlin - Die Union hat die Bundesregierung aufgefordert, von der türkischen Regierung eine Liste
mit den Namen von rund 50 000 türkischstämmigen Personen mit illegaler doppelter
Staatsangehörigkeit zu verlangen. Die Innenpolitiker Wolfgang Bosbach (CDU) und Hartmut
Koschyk (CSU) sagten vor Journalisten, die Bundesregierung unterschätze offenkundig die
Probleme, die mit dieser Frage zusammenhingen.
Zuvor hatte die Bundesregierung in der Beantwortung einer Kleinen Anfrage der Union unter
Berufung auf offizielle Angaben aus Ankara die Zahl der türkischstämmigen Personen, die sich nach
Erlangung der deutschen Staatsangehörigkeit erneut einen zusätzlichen türkischen Paß beschafft
hatten, auf etwa 50 000 beziffert.
Das Verfahren widerspricht dem am 1. Januar 2000 in Kraft getretenen deutschen
Staatsangehörigkeitsrecht, nach dem Deutsche ausländischer Abstammung, die sich wieder die
ursprüngliche Staatsangehörigkeit beschaffen, automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit
verlieren. Obwohl diese Rechtslage bekannt war, hat die türkische Regierung nach Darstellung der
Union per Runderlaß vom 10. September 2001 alle Gouverneursämter angewiesen, die in
Deutschland verlangten Registerauszüge zu manipulieren und so den Wiedererwerb der türkischen
Staatsangehörigkeit gegenüber deutschen Behörden zu verschleiern.
"Der Vorgang ist ein unfreundlicher Akt", sagte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Bosbach,
der zugleich betonte, es gehe nicht darum, die betroffenen Türken einzuschüchtern oder ihnen
Sanktionen etwa hinsichtlich ihres Aufenthaltsstatus anzudrohen. Sie hätten sich durch den
Wiedererwerb des türkischen Passes bislang nicht strafbar gemacht, daher sollten sie sich freiwillig
melden und unter Verzicht auf die türkische Staatsangehörigkeit den Prozeß zur deutschen
Einbürgerung erneut durchlaufen - "ohne Bonus und ohne Malus, wie jeder andere Türke auch, der
einen deutschen Paß haben möchte", so Koschyk, der innenpolitischer Sprecher der Fraktion ist.
Bosbach sagte, die Bundesregierung ignoriere bislang, welche Fragen mit der Staatsangehörigkeit
zusammenhingen. So hätten Deutsche die Möglichkeit der Verbeamtung, das Recht auf
diplomatischen Schutz im Ausland und seien in Fragen des Familiennachzuges privilegiert. Von
allen diesen Rechten dürften Inhaber der türkischen Staatsangehörigkeit keinen Gebrauch machen.
Sollten sie dies dennoch tun, könnten sich zu einem späteren Zeitpunkt, wenn der Tatbestand
bekannt würde, beispielsweise "immense Rückzahlungsforderungen" ergeben. Dies gelte, so
Koschyk, beispielsweise, wenn Hartz-Bezüge gezahlt worden seien, die für einen Deutschen höher
sein könnten als für einen Ausländer mit Duldungsrecht.
Koschyk wies zudem auf das Problem der Teilnahme an Wahlen hin. So habe die SPD bei der
Bundestagswahl 2002 nur um 6027 Stimmen vor der Union gelegen. Der CSU-Politiker forderte
dazu auf, eine solche unklare Situation bereits vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai
zu vermeiden. Bosbach wie Koschyk erklärten allerdings, es gehe nicht um eine Anfechtung
zurückliegender oder künftiger Wahlen.“ (DIE WELT 10.03.05)
Faruk Sen, der Direktor des Zentrums für Türkeistudien (ZfT), hatte schon vor der Landtagswahl in NordrheinWestfalen auf die Bedeutung der 180.000 wahlberechtigten türkischen Migranten hingewiesen (DIE WELT
07.04.05). Er forderte sie auf, die Bestimmungen des Staatsangehörigkeitsrechts zu achten, das spätestens seit
der ab 2000 geltenden Neuregelung eine doppelte Staatsbürgerschaft bei Erwerb der deutschen ausschließt. Es
müsse akzeptiert werden, wenn die Landesregierung Doppelstaatler aufdecken wolle, um die Legitimität der
Wahl nicht zu gefährden.
Das galt und gilt genau so für die kommenden Bundestags- und Europawahlen! Die SPD hatte die
Bundestagswahl 2002 vor der CDU/CSU mit einem Zweitstimmenvorsprung von nur 6.027 Stimmen gewonnen.
Da können zehntausende von Türken unberechtigt abgegebene Stimmen das Wahlergebnis ohne weiteres
verfälschen! Da die türkischen Einwanderer bisher zu rund 60 % zur SPD und zu 9-14 % zur CDU tendierten
83
(SPIEGEL 04.10.04) und sich dieses Wahlverhalten noch deshalb verstärken wird, weil SPD und Grüne für eine
Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU eintreten, die CDU/CSU aber nur eine „privilegierte Partnerschaft“
zulassen will, könnten durch die Staatsbürgerschaftsmanipulationen der Türken die Siegchancen der in den
Umfragen vorne liegenden CDU/CSU entscheidend geschwächt werden.
Neben der freiwilligen Aufgabe und der - grundsätzlich nicht erlaubten - Entziehung gibt es noch den „Verlust“
als automatischen Wegfall der deutschen Staatsbürgerschaft durch dauerhaften Aufenthalt in einem anderen
Land, wo dann irgendwann die Staatsbürgerschaft des Aufenthaltslandes beantragt und kein gleichzeitiger
Antrag auf Entlassung aus der deutschen Staatsbürgerschaft gestellt wird. Diese Fälle sind gemeint mit Art. 16 I
2 GG:
„Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des
Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird.“
Diese Fälle sind in § 25 Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz näher geregelt.
Die eingangs dieses Kapitels angesprochene aristotelische »Gerechtigkeits-Elle« der Geltung des allgemeinen
Gleichheitsgrundsatzes für jedes staatliche Handeln hat selbstverständlich auch Geltung für die Regelung von
Fragen, die bei der Schaffung des Grundgesetzes gar nicht in Erwägung gezogen worden sind. Beispiele aus
jüngerer Zeit:
Als im Zuge der Parteispendenaffäre der CDU, und insbesondere ihres langjährigsten Vorsitzenden, des
ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl, dessen MfS-Akten auftauchten, in der viele natürlich illegal
mitgeschnittene Telefongespräche gesammelt sind, beanspruchte der Bürger Kohl von der »Gauck-Behörde«
eine ihn privilegierende Ungleichbehandlung gegenüber der bislang anderen MfS-Opfern gegenüber geübten
Behördenpraxis: Obwohl – so die von den meisten Juristen angenommene Intention des Gesetzgebers - das von
allen Parteien des Bundestages beschlossene Stasiunterlagengesetz von 1991 in bewusstem Gegensatz zum
Bundesarchivgesetz der Pressefreiheit zum Zwecke der Aufklärung der Öffentlichkeit Vorrang vor dem
Persönlichkeitsrecht eines Bürgers eingeräumt habe, soweit es dessen öffentliche Tätigkeit angeht - der
Privatbereich soll auch durch dieses Gesetz geschützt bleiben -, verhinderte der ehemalige Bundeskanzler
Einblicke in seine Akte durch den wegen seines Schweigens eigens zur Untersuchung der Spendenaffäre
eingesetzten Untersuchungsausschuss des Bundestages oder durch Journalisten. Der Leiter der »GauckBehörde« und seine Nachfolgerin wiesen in mehreren Interviews auf die nach Meinung des Amtes eindeutige
Gesetzeslage hin, die eine solche Privilegierung gegenüber anderen von dem MfS/Stasi10 bespitzelten Personen
nicht zuließe: Wenn auf Grund der bewussten Entscheidung des Bundesgesetzgebers andere »prominente«
(meist ostdeutsche) MfS-Opfer Einblick in die sie betreffenden Akten durch Parlamente und Journalisten hätten
hinnehmen müssen - ohne dass die CDU aufgeschrieen hatte -, dann müsste das bis zu einer immer möglichen
Änderung der Gesetzeslage auch für einen überaus prominenten westdeutschen Politiker gelten, wenn dessen
Wirken in der Öffentlichkeit untersucht werde. Dessen ungeachtet bleibe es dem Untersuchungsausschuss völlig
unbenommen, für seine Arbeit die Akten zu verwerten oder auf deren Verwertung zu verzichten, aber nach dem
Gleichbehandlungsgrundsatz habe die Behörde nach derzeit gültiger Gesetzeslage, wie sie von den Juristen der
»Gauck-Behörde« interpretiert wurde, dem in dem Stasiunterlagengesetz als berechtigt aufgeführten
Personenkreis die Akten - unter für unsere Rechtsordnung selbstverständlichem Schutz der Privatsphäre - zur
Verfügung zu stellen: Bei Prominenten der Zeitgeschichte solle das Aufklärungsinteresse der Öffentlichkeit an
dem öffentlichen Wirken des Ausgespähten und Ausgehorchten seinem Opferstatus vorgehen. Eine, wie mir
scheint, auf unserem Grundgesetz fußende juristisch völlig einwandfreie Argumentation, wenn das die Intention
des Gesetzgebers war!
Keiner solle gleicher als gleich sein.
Das mit der Klage Kohls befasste Verwaltungsgericht Berlin gab jedoch dem Kläger in erster Instanz Recht,
machte sich dabei aber eine Interpretation des Gesetzes zu eigen, die eine Arbeit der Behörde im bisherigen
Umfang unmöglich machte: Der Schutz der Opfer des MfS-Überwachungsapparates für „Betroffene oder Dritte“
10
Es ist zwar üblich, „die Stasi“ als Meta-Chiffre für die Chiffre „die Staatssicherheit“ zu sagen, womit aber immer das
„Ministerium für Staatssicherheit“ oder der Staatssicherheitsdienst gemeint war. So ist die Begriffsbildung „die Stasi“
falsch, denn gemeint ist immer „der Staatssicherheitsdienst“, und dann muss es – gleichgültig ob üblich, oder nicht – „der
Stasi“ heißen. Beispiel: Die Erfordernisse der Staatssicherheit der DDR vor dem Klassenfeind geboten nach Ansicht des
Politbüros die Einrichtung des Staatssicherheitsdienstes.
84
habe nach § 32 I Stasi-Unterlagengesetz, so wie er von der Kammer dieses Gerichts interpretiert wurde, Vorrang
vor allen anderen Zielen.
Damit wurde eine zehnjährige Praxis der Gesetzesauslegung und -anwendung als unrechtmäßig eingestuft. Die
Vorab-Begründung des Vorsitzenden Richters gegenüber insbesondere ostdeutscher Kritik: „Es kommt nicht
darauf an, wie die Praxis bislang war, sondern wie sie (nach der Gesetzeslage) sein muss.“
Darin kann man dem Richter nur Recht geben - auch wenn das für manche ostdeutsche Kritiker nicht
nachvollziehbar zu sein scheint. Die Frage ist aber, ob das erkennende Gericht mit der von ihm vorgenommenen
wörtlichen Auslegung des Gesetzestextes das Gesetz richtig angewandt hat, denn es gibt neben der wörtlichen
auch andere Auslegungsgesichtspunkte. Doch die nächste Instanz entschied genau so: Die ausschließliche
Intention des Stasiunterlagen-Gesetzes sei gewesen, das Täterunrecht des MfS zu entlarven. Dabei zufällig
gewonnene Erkenntnisse über Opferunrecht dürfe deswegen nach bestehender Gesetzeslage nicht mitverwertet
werden, auch dann nicht, wenn es sich um Personen in öffentlichen Funktionen handelt, da diese Erkenntnisse
durch Verletzung des durch Art. 10 GG geschützten Post- und Fernmeldegeheimnisses zustande gekommen
sind.
Das BVerwG machte sich 2002 genau diese, von der Rechtsauffassung der „Gauck-Behörde“ abweichende
einschränkende Interpretationsmöglichkeit des Stasiunterlagen-Gesetzes zu Eigen. Es räumte dem Recht auf
Privatheit und Datenschutz eines durch Bespitzelung betroffen Gewesenen auch in seinem öffentlichen Wirken
den grundsätzlichen Vorrang gegenüber dem Interesse der Öffentlichkeit an der Aufarbeitung der letzten
Diktatur auf deutschem Boden ein. Das BVerwG untersagte die Einsicht in die Akten ohne Einwilligung eines
Betroffenen.
Die Verbrechen des MfS können nunmehr detailliert letztlich nur noch im Rahmen der Einwilligung eines durch
das Schnüffel-Vorgehen des MfS jeweils Betroffenen aufgedeckt werden. Nur er erhält das Einsichtsrecht in die
Manipulation seines Lebens durch den Überwachungsapparat der SED; und das auch nur mit teilweisen
Schwärzungen, wenn andernfalls die Involvierungen Dritter aus den ihn betreffenden Unterlagen ersichtlich
würden. (Rückschlüsse auf denjenigen, der ihn an das MfS verraten haben könnte, kann ein Betroffener so nur
indirekt ziehen, indem er überlegt, wem er wann was erzählt haben könnte: Wenn es nur der eigene Ehepartner
war, dann lag für manchen Bespitzelten schon der Schluss nahe, dass er von dem dann gemutmaßten »Feind im
eigenen Bett« verraten worden sein muss – wenn das MfS nicht »Wanzen« in seiner Wohnung installiert und so
mitgehört hatte.) Da es weder eine begünstigende noch eine belastende »Gleichbehandlung im Unrecht« gibt,
müsse sich der Kläger nicht so behandeln lassen, wie es vor ihm alle anderen widerspruchslos hingenommen
hatten. Die Verwertung von unrechtmäßig erlangten »Zufallsfunden« durch die Presse als Vertreter der
Öffentlichkeit wurde entgegen bisher geübter jahrelanger Praxis unterbunden: Opferschutz vor Medien- und
Forschungsinteressen. Nur das Parlament könnte, wenn überhaupt, durch eine Gesetzesänderung – innerhalb der
durch das BVerwG aufgezeigten engen Grenzen - dafür sorgen, dass dem Interesse der Öffentlichkeit an
Aufklärung ein größeres Gewicht eingeräumt werde.
Aber keiner wusste, wie die Änderung ausfallen müsse. Die Verwaltungsjuristen waren am Grübeln!
Die nach diesem heftigem Grübeln durch die parlamentarischen Instanzen gebrachte Gesetzesänderung
veranlasste das BVerwG jedoch nicht zu einer Revidierung seiner diesbezüglichen Rechtsprechung, denn bei der
Ende 2002 erfolgten Novellierung des Stasiunterlagengesetzes wurde dessen § 5 nicht geändert. Die das Gesetz
vorbereitenden Juristen des Deutschen Bundestages und des Bundesministeriums der Justiz hielten das nicht für
erforderlich. Sie passten nur den § 32 an die Klarstellungsintention des Gesetzgebers an. Das reichte den
Richtern des BVerwGs in Leipzig aber immer noch nicht. Nach ihrer Meinung dürfen bei dieser Gesetzeslage
"personenbezogene Informationen über Betroffene oder Dritte", die illegal erworben wurden, (weiterhin) nicht
zum Nachteil dieser Personen verwendet werden. Informationen über Kohl, zu denen die Stasi bekanntermaßen
auf illegalem Wege kam, dürften nicht herausgegeben werden. Paragraph 32 des Stasiunterlagengesetzes erlaube
zwar, dass von der Behörde "personenbezogene Informationen" über "Personen der Zeitgeschichte, Inhaber
politischer Funktionen oder Amtsträger" weitergegeben werden dürften, soweit sie "ihre zeitgeschichtliche
Rolle, Funktions- oder Amtsausübung" betreffen. Voraussetzung für eine Verwertung sei jedoch, dass die
Informationen nicht unter Verletzung von Menschenrechten durch IM, Stasi-Offiziere oder wen auch immer
gesammelt worden seien. Da Geheimdienste aber insbesondere nie das Post- und Fernmeldegeheimnis beachten,
sondern es bewusst brechen, können die auf diesem Wege beschafften Informationen bei Beibehaltung dieser
Rechtsprechung nicht verwendet werden. Das betrifft so gut wie alle interessanten bis brisanten Informationen.
Ebenso wie das BVerwG entschied 2004 das in dieser Grundrechtsfrage als höchste Instanz letztinstanzlich
angerufene BVerfG. Es wurden daraufhin rund 1.300 Seiten Kohl-Akten von der Birthler-Behörde
herausgesucht, den Anwälten Kohls im gesetzlich vorgeschriebenen Beteiligungsverfahren mitgeteilt und als der
Alt-Bundeskanzler seine zunächst erhobenen Einwände zurückzog, 2005 an sieben interessierte Journalisten und
zwei Historiker herausgegeben. 6.000 Seiten bleiben unter Verschluss. Aus den jetzt letztlich vorliegenden
85
Akten werde ausschließlich das Schnüffel-Vorgehen des MfS ersichtlich. Journalisten, die einen Skandal um das
Verhalten Kohls in der Parteispendenaffäre und einigen anderen delikaten Punkten seines Regierungshandelns
zu entdecken hofften, würden enttäuscht sein, ließ die Behördenchefin verlauten, da weder Unterlagen zu der
Regierungstätigkeit Kohls als Bundeskanzler noch gar Hinweise in Sachen Parteispendenaffäre in dem
zusammengestellten und abgesegneten Konvolut enthalten seien.
Weitere, relativ beliebig aus alltäglichen Zeitungsnotizen zusammengestellte Anwendungsfälle für das
Gleichbehandlungsgebot aus neuerer und neuester Zeit; und diese Beliebigkeit - die Entscheidungen, in die das
Gleichbehandlungsgebot hinein strahlt, sind Legion, jede Auswahl kann nur zufällig sein - soll ja gerade die
Ausstrahlungsbreite dieser Grundrechtsnorm zeigen, damit ihre manchmal unvermutete Wichtigkeit für unser
Alltagsleben erahnbar wird und bei Ihnen die entsprechende gedankliche juristische Schublade geöffnet wird,
wenn Sie solche Meldungen lesen:
Noch zehn Jahre nach der Wiedervereinigung erhielten ostdeutsche Kriegsinvaliden des Zweiten Weltkrieges
eine geringere Kriegsinvalidenrente als die durch Zufall oder Flucht im Westen des ehemaligen Deutschen
Reiches wohnenden Kriegsinvaliden. Warum? Man wird schamrot, wenn man sich das Handeln der Politiker
betrachtet. Worin soll die innere Berechtigung für diese bis zum Jahre 2000 verweigerte Gleichbehandlung zu
sehen gewesen sein? Ich weiß nicht, was die jeweilige Regierung an Gründen vorschob, um Geld zu sparen.
Waren es angeblich niedrigere Lebenshaltungskosten in den östlichen Bundesländern? Das Argument müsste
sich ja inzwischen als Legende erwiesen haben: Das Mietniveau des Jahres 2000 ist in Ostfriesland bestimmt
nicht höher als in Berlin, Dresden oder Leipzig, die Reisekonzerne haben keine nach Ost und West gestaffelten
Tarife für einen Urlaub in der Karibik, und in Ost- und Westdeutschland muss beim Einkauf bei Aldi oder
anderen Lebensmittelketten das Gleiche gezahlt werden. Warum dann diese Ungleichbehandlung bei staatlichen
Versorgungsleistungen, die auf gleichen Voraussetzungen beruht11? Ein im Krieg an einer der Fronten für das
Vaterland verlorenes Bein ist in Ost- wie in Westdeutschland ein »abbes« Bein! Die Ungleichbehandlung wurde
darum auch von dem BVerfG gekippt: Da alle deutschen Männer gleichermaßen ihre Knochen für denselben
Staat hingehalten haben und daran beschädigt wurden, stehe ihnen die mit der Kriegsinvalidenrente verbundene
Genugtuungsfunktion in gleicher Höhe zu.
Wie gut, dass wir das BVerfG haben, damit es – nicht nur bei verlorenen Invalidenbeinen! - den Politikern
notfalls Beine macht, wenn sie zu »gerechtigkeitsblind« sind; jedenfalls »gerechtigkeitsblinder« als das BVerfG
– denn freisprechen von dem Vorwurf partieller »Gerechtigkeitsblindheit« kann ich auch das BVerfG, wie Sie
gleich lesen werden, nicht immer!
Verheiratete männliche Beamte haben Anspruch auf einen Tag bezahlten Sonderurlaub, wenn ihre Frau ein Kind
zur Welt bringt. Die Ehe ist aber selbst unter Beamten nicht die einzige Form einer Partnerschaft. Darum
beantragte ein in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft lebender Beamter die gleiche Vergünstigung, als die
Zeit heran kam, dass seine ihm nicht angetraute Lebens(abschnitts?)partnerin ihr Kind gebären sollte. (Im
Gegensatz zu Maria und Josef waren sie sich aber einig, dass es ihr gemeinsames Kind sei, und der Staat scheint
auch keine diesbezüglichen Zweifel geäußert zu haben.) Das Begehren des Petenten muss abschlägig beschieden
worden sein, denn zum Schluss landete der sich daran entzündet habende Rechtsstreit beim BVerfG. Und das
entschied - meiner Meinung nach falsch! -, dass der Dienstherr nicht verpflichtet sei, eine einem Verheirateten
zustehende Vergünstigung in Form eines Sonderurlaubes zur Teilnahme an der Geburt seines eigenen Kindes
auch einem Ledigen zu gewähren.
Ist in dieser Sache Ungleiches - hier einerseits: verheirateter Vater, dagegen andererseits: unverheirateter
Erzeuger - sachgerecht ungleich entschieden worden, was nicht nur zulässig, sondern dann sogar geboten wäre
oder Gleiches ungleich - beide Male werdender Vater in einer stabilen Dauerbeziehung -, was letztlich einen in
Verkennung einer Grundrechtsnorm durch das BVerfG begangenen Verfassungsverstoß begründen würde? Wie
war zuvor die Abgrenzung bei der Gruppenbildung zur Bestimmung von Gleichem oder Ungleichem
sachgerecht(!) vorzunehmen, um dann die Elle des Artikels 3 GG an die präjudizierend(!) so vorgenommene
Gruppenbildung zur Beurteilung des Falles anzulegen?
Wer sich mit dem BVerfG anlegt, muss gute Gründe auf seiner Seite glauben oder wissen. Ich kenne leider
weder die Einzelheiten des Falles, noch die tragenden Gründe, die zu der in einer Zeitungsnotiz vom 18.04.98
mitgeteilten Entscheidung geführt haben. Vermutlich hat sich unser höchstes Gericht dahingehend entschieden,
dass laut Art. 6 I GG die Ehe unter dem besonderen Schutz des Staates stehe. Aber ich kritisiere die
11
Für betriebliche Lohnzahlungen ist diese Argumentation aber nicht so zwingend, denn die ostdeutschen Betriebe würden
bei gleicher Lohnzahlung ihren Kosten- und Standortvorteil im gesamtdeutschen Wettbewerb verlieren, müssen aber erst
noch mit kostengünstig produzierten Produkten um ihre Platzierung im Wettbewerb kämpfen, um überleben zu können.
86
Entscheidung in der mitgeteilten Form (unter dem Vorbehalt, dass es möglicherweise mir nicht bekannte
Differenzierungsgründe geben sollte: so könnten die Eltern z.B. gar nicht zusammengelebt haben) als
grundgesetzwidrig, weil sich jede Entscheidung teleologisch (zielgerichtet)12 auf den Schutzzweck der jeweils
entscheidungserheblichen Norm beziehen muss: Zu der Geburt ihres Kindes werden die Väter deswegen
Sonderurlaub bekommen, um dieses auch für ihr Leben einschneidende Ereignis teilweise sogar im Wortsinne
hautnah miterleben zu können. Die sich anbahnende Vater-Kind-Beziehung soll auf einer möglichst tiefen
emotionalen Basis gründen. „Neue Väter braucht das Land!“, wird uns straßauf, straßab zugerufen. Nach der
Zeitungsmeldung hat das BVerfG seine Entscheidung aber mit dem unterschiedlichen Personenstandsstatus
zwischen Vater und Mutter begründet, und nicht mit einer tatsächlich bestehenden oder vielleicht nicht
bestehenden Lebensgemeinschaft. Das Vater-Kind-Verhältnis scheint in der Entscheidung überhaupt nicht zum
Tragen gekommen zu sein. Da es aber in Art. 6 I GG heißt:
„Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz des Staates.“
dürfte man meiner unmaßgeblichen Meinung nach einem werdenden Vater auch dann nicht den Sonderurlaub
zum Miterleben der Geburt seines Kindes versagen, wenn er mit der Mutter seines Kindes nicht verheiratet ist,
sondern (»nur«) in einer „wilden Ehe“ lebt; auch die ist mit der Geburt des Kindes eine Familie! So betrachtet
stellt sich mir die Entscheidung als ein willkürlicher Verstoß gegen das Gleichheitsgebot dar.
Maßstab sei dabei die Definition des Begriffes „Familie“, wie sie das BVerfG in seiner Entscheidung BVerfGE
10/59,66 selber formuliert hat:
„Ehe ist auch für das Grundgesetz die Vereinigung eines Mannes und einer Frau zu einer
grundsätzlich unauflöslichen Lebensgemeinschaft und Familie ist die umfassende Gemeinschaft von
Eltern und Kindern, in der den Eltern vor allem Rechte und Pflichten zur Pflege und Erziehung der
Kinder erwachsen. Dieser Ordnungskern der Institute ist für das allgemeine Rechtsgefühl und
Rechtsbewußtsein unantastbar.“13
Damit ist mit „Ehe“ die „Hetero-Ehe“ eines Mannes und einer Frau festgeschrieben – ohne dass die
Singularisierung extra betont worden war. Das war für das BVerfG damals – vor der Zeit der Millionen Muslime
in Deutschland – einfach selbstverständlich, ist es aber inzwischen nicht mehr, wie eine Entscheidung des
BVerwGs mit multikulturellem Verständnis zeigt:
„Zweitfrau darf bleiben
Koblenz – Die Zweitehefrau eines in Deutschland lebenden Irakers kann hier für sich eine
Aufenthaltsbefugnis verlangen. Das OVG Koblenz entschied, es sei für die Zweitfrau unzumutbar, in
die Heimat geschickt zu werden, während der Gatte mit seiner ersten Frau bleiben dürfe (Az.: 10 A
11717/03). (ap)“ (HH A 30.03.04)
Um aber nun den Ausgangsfall für die Veranschaulichung des Gleichheitsgrundsatzes weiterzuspinnen - als
kreativer Mensch kann man seine Gedanken ja nicht anhalten -, denken wir uns die Fallkonstellation etwas
abgewandelt, und zwar so, dass die nicht gebärende Partnerin in einer »Lesben-Ehe« die Geburt des Kindes der
Lebenspartnerin miterleben möchte und dafür Sonderurlaub beantragt (um den Jahresurlaubsanspruch zu
schonen, falls sie noch welchen hatte). Im Unterschied zum Miterleben der Geburt eines eigenen Kindes durch
den nichtehelichen, in einer Lebenspartnerschaft mit der werdenden Mutter lebenden Vater liegt in diesem
umgebildeten Fall keine eigene »Vaterschaft« vor, so dass nach dem von mir zur Gruppenbildung
vorgeschlagenen Kriterium nun eine Ungleichbehandlung zwischen dem Miterleben der Geburt eines eigenen
leiblichen oder eines fremden Kindes sachdienlich ist.
Dieser von mir vorgetragene Gedanke ist einige Jahre später von dem schleswig-holsteinischen Landesparlament
anders gesehen worden:
12
Vielleicht wird die Notwendigkeit einer allgemeinen teleologischen Arbeitsweise - nicht nur bei der Systematik und
Auslegung gesetzlicher Tatbestände - ganz gut durch einen Witz kenntlich gemacht, der nahe legt, sich auch im
Alltagsleben zielorientiert zu verhalten:
Ein Kunde fragt im Baumarkt in „körperlicher Bedrängnis“: „Wo sind denn hier die Toiletten?“ Antwortet der Verkäufer:
„Da hinten im Regal links!“
13 Zitiert nach Hesselberger, D.: Das Grundgesetz / Kommentar für die politische Bildung 1995 9 S. 97
87
„Mehr Rechte für Homosexuelle
Kiel - Schleswig-Holsteins Landtag hat Regelungen zur Ehe auf eingetragene Lebenspartnerschaften
Homosexueller erweitert. Zum Beispiel kann eine Beamtin künftig Sonderurlaub bekommen, wenn
ihre Lebensgefährtin niederkommt. epd“ (HH A 17.12.04)
Vielleicht wurde als gleich zu beurteilendes Kriterium die Ankunft eines neuen Familienmitgliedes angesehen.
Ich hatte in meiner Auseinandersetzung mit der von mir kritisierten und für falsch gehaltenen Entscheidung des
BVerfGs in meinen vorgetragenen damaligen Überlegungen als unterscheidungserhebliches Kriterium
ausschließlich auf die eigene Elternschaft abgestellt und gemeint, man müsste im Falle zweier Lesben, die durch
die Hilfe der modernen Biomedizin mittels Entkernens einer Eizelle und Einpflanzens eines neuen Kernes, der
von der nichtgebärenden Partnerin stammt, ein gemeinsames Kind erwarten, den Sachverhalt analog der
Regelung bei einer eigenen Vaterschaft eines Ehepaares bewerten; was dann natürlich eine Freistellung vom
Dienst bei nicht eigener Elternschaft ausschließt. Aber wenn der Landtag des Landes Schleswig-Holstein
großzügiger sein und die mit der Geburt neu eingetretene Situation im Zusammenleben der (eingetragenen?)
Lebenspartner unterstützen will, so ist dagegen nichts einzuwenden. Die von mir aufgestellte
Freistellungsforderung ist ja eine in Konfrontation zum Urteil des BVerfGs aufgestellte Minimalforderung.
Ein wenig Aufmerksamkeit, aber keine große Erregung, lieferte der Fall, dass die Bundeswehr 1999 einen
homosexuellen Zeitsoldaten im Range eines Feldwebels wegen von ihr befürchteten möglichen
Autoritätsverlustes nicht als Berufssoldat übernehmen wollte. In diesem ablehnenden Verwaltungsakt (VA) sah
das Lüneburger VG einen Verstoß gegen das Willkürverbot oder Gleichbehandlungsgebot und verurteilte die
Bundeswehr zur Übernahme dieses Mannes trotz seiner speziellen Männerneigung. Dabei ist nach meiner
zweijährigen Erfahrung als Zeitsoldat Anfang der 60-er Jahre des vorigen Jahrhunderts die Befürchtung der
Dienststelle wegen eines möglichen Autoritätsverlustes gar nicht so abwegig: Ich kann mir sehr gut vorstellen,
dass diesem Feldwebel in der nicht unbedingt auf gesellschaftlichen Schliff hin angelegten Männergesellschaft
der Bundeswehr im Konfliktfall durch einen renitenten Untergebenen seine sexuelle Präferenz mit der
abschätzigen Kampfansage: „Von einem Arschficker lasse ich mir gar nichts sagen!“, entgegengeschleudert
werden könnte! (Pardon! In der - jedenfalls bis 1999 - reinen Männergesellschaft drückte man sich meistens
nicht sehr fein aus.) Und alle anderen stehen dabei und feixen! Das zieht, auch wenn der renitente Soldat bestraft
wird, unweigerlich einen – bleibenden - Autoritätsverlust nach sich! Die Geschichte einer solchen
Auseinandersetzung wird perpetuiert werden, unter Garantie. Ich war lange genug beim Militär, um das genau zu
wissen!
Die drei letzten von mir gleich angesprochenen innerstaatlichen Fälle zur Gleichbehandlungsproblematik zielen
nicht auf den Geschlechterunterschied, sondern haben ganz im Gegenteil die Gleichheit des betroffenen
Geschlechts zur Voraussetzung. Es geht im ersten und zweiten der drei Fälle um die Stellung und bisherige
Ungleichbehandlung von verheiratet gewesenen aber dann geschiedenen gegenüber unverheirateten Müttern und
um den Unterhaltsanspruch gegen den ehelich verbunden gewesenen oder den bewusst nie mit ihnen verheiratet
gewesenen Vater ihrer Kinder:
„Wilde Ehen vor Gericht
Werden uneheliche Kinder vom Gesetzgeber benachteiligt? Karlsruhe soll darüber entscheiden, ob
mehr als eine halbe Million betroffene Väter zu wenig Alimenten bezahlen.
Deutschlands meistgekaufte Zeitung nannte es vor drei Jahren den "Steffi-Graf-Trend" - das
Kinderkriegen ohne Trauschein. Da nichteheliche Kinder ehelichen gleichgestellt seien, "muss also
nicht geheiratet werden, damit das Kind versorgt ist", warb "Bild".
Den Trend hatte das Blatt richtig erkannt: Während bis dato noch jedes fünfte Kind nichtehelich
geboren wurde, ist es heute schon jedes vierte. In den neuen Ländern werden sogar mehr als die
Hälfte aller Babys in "wilden Ehen" gezeugt.
Tennisstar Steffi Graf indessen heiratete doch noch, vier Tage vor der Geburt des Sprösslings. Ein
kluger Schritt: Denn die Absicherung von Mutter und Kind ist ohne Heirat eben doch längst nicht so
gut wie mit Trauschein. Die Alimente, die Väter für nichteheliche Nachkommen zu zahlen haben,
sind zwar gleich hoch wie für eheliche, die für ihre ledigen Mütter sind es aber mitnichten. Drei
Jahre nach der Geburt eines unehelichen Kindes erlischt der Unterhaltsanspruch der Mutter
gegenüber dessen Vater; es sei denn, das Kind wäre etwa schwer behindert.
Geschiedene dagegen haben Anspruch auf Unterhalt, bis das jüngste Kind 15 Jahre alt ist. So lange
88
soll eine Ex-Gattin den Nachwuchs persönlich betreuen können - die ersten acht Jahre voll, weitere
sieben gilt ein Teilzeitjob als zumutbar.
Diese gesetzliche Ungleichbehandlung von Müttern sei schlicht "verfassungswidrig", befand jetzt
das Oberlandesgericht (OLG) Hamm. Allerdings nicht wegen etwaiger Diskriminierung von Frauen,
sondern weil sich nichteheliche Trennungskinder im Gegensatz zu jenen aus Ehen ab dem dritten
Geburtstag Fremdbetreuung gefallen lassen müssten. "Aus Sicht des Kindes", so der Richterspruch,
könne es aber "keine Rolle spielen, ob seine Eltern miteinander verheiratet waren oder nicht". Das
OLG hat den Fall der Klägerin Heike Preuß, Mutter zweier nichtehelicher Kinder, dem
Bundesverfassungsgericht vorgelegt.
Die höchste Instanz hatte die Oberlandesrichter zu dieser Radikalentscheidung ermuntert, als sie im
Februar der Verfassungsbeschwerde der Sozialhilfeempfängerin auf Prozesskostenhilfe zur Klärung
ihres Falls stattgab. "Die Verfassungsmäßigkeit der unterschiedlichen Ausgestaltung" des Unterhalts
je nach Familienstand im Hinblick auf die im Grundgesetz geforderte Gleichbehandlung aller
Kinder, stellte Karlsruhe damals fest, sei "fraglich".
Die Zweifel der Juristen am geltenden Recht sind in Berlin offenbar als Warnschuss angekommen.
Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) bereitet eine Reform des Unterhaltsrechts vor, von der
auch nicht verheiratete Mütter profitieren. Der Gesetzentwurf soll noch dieses Jahr vorgestellt
werden.
Die bisherige Schlechterstellung bei den finanziellen Lasten trägt in hohem Maß Vater Staat. Wenn
es Müttern nicht gelingt, für sich selbst zu sorgen, beantragen sie Sozialhilfe. So wie Klägerin Preuß
aus dem westfälischen Isselburg: "Ich verlange von den Vätern meiner Kinder keinen Cent mehr als
vom Sozialamt", argumentiert sie. "Sie sollen ihren Kindern nur das Dach über dem Kopf zahlen."
Etwa ein Drittel der unverheirateten Mütter wirtschaftet auf Sozialhilfeniveau - laut einer Studie von
1997 doppelt so viele wie geschiedene. Von den rund eine Million Kindern, die Stütze beziehen,
leben knapp 600 000 bei Alleinerziehenden.
Die Armut der Betroffenen sei auch der Grund, glaubt der Anwalt der Klägerin, Eckhard Benkelberg
aus Emmerich, warum diese relativ selten gegen ihre offenkundige Benachteiligung zu Felde zögen.
Der Jurist hat sich darauf kapriziert, die Gleichstellung der geschiedenen mit den ledigen Müttern zu
erlangen.
Und Benkelberg zeigt sich zuversichtlich: Neben dem Verfassungsgericht hat auch der
Bundesgerichtshof (BGH) die Verfahren zweier seiner Mandantinnen angenommen. Im Dezember
muss der BGH über die Rechtmäßigkeit einer weiteren Ungereimtheit im Nichtehelichen-Recht
befinden: Warum hat ein lediger unterhaltspflichtiger Vater Anspruch auf einen höheren Selbstbehalt
als ein verheirateter? Denn: Je mehr er von seinem Einkommen behalten darf, desto weniger bleibt
für Mutter und Kind.
Eine berechtigte Frage, finden auch Experten wie die Vorsitzende der Unterhaltskommission des
Deutschen Familiengerichtstags, die Hamburger OLG-Richterin Jutta Puls. "Kinder fallen nicht vom
Himmel", sagt Puls - "und auch die ohne Trauschein nicht." Durch das seit 1995 geltende Gesetz
sind in den Augen der Familienrechtlerin keineswegs nur die betroffenen Kinder benachteiligt. Auch
zwischen den Eltern sei das Risiko "schief" verteilt: "Der Vater zahlt und macht weiter Karriere,
während die Mutter das Kind als Klotz am Bein hat. Selbst im Alter wird sie noch dafür bestraft.
Denn der Vater eines nichtehelichen Kindes muss für keinen Rentenausgleich bei der Mutter
sorgen."
Leidtragende, die bisher gegen diese Benachteiligung klagten, fanden kein Gehör: Das OLG
Nürnberg verweigerte einer Mutter, die arbeitslos wurde, weil sie die Unterbringung ihres
Kleinkindes und den Job nicht vereinbaren konnte, das Recht auf Unterstützung vom Vater.
Begründung: Der Gesetzgeber habe "in Kauf genommen, dass die Notwendigkeit der Betreuung
eines gerade drei Jahre alten Kindes eine Mutter in größte Schwierigkeiten bringt, ihren
angemessenen Unterhalt selbst zu verdienen".
Im vergangenen Jahr urteilte das OLG Koblenz, eine allein erziehende Krankenschwester, die sich
mit Familie und Job überfordert sah, könne ja Nachtdienste schieben. Währenddessen könne ihr
15jähriger Sohn das uneheliche Kleinkind beaufsichtigen.
Führende Familienrechtler wie der Kölner Experte Helmut Büttner sympathisieren mit der
Entscheidung des OLG Hamm, das geltende Unterhaltsrecht als verfassungswidrig einzustufen. Was
es aber in der Praxis bringt, wenn Karlsruhe vom Gesetzgeber zu Gunsten der nichtehelichen Kinder
Verbesserungen beim Mütterunterhalt einfordert, bleibt einstweilen offen.
Betroffene sind skeptisch. "Die Väter sind als Zahlesel überfordert", warnt Peggi Liebisch vom
Verband allein erziehender Mütter und Väter. Denn selbst wenn die über eine halbe Million getrennt
89
lebenden Väter unehelicher Kinder mehr zahlen müssten, sei nicht gesagt, dass sie dies auch täten.
"Mütterunterhalt wird auch nach Scheidungen in nur zwölf Prozent aller Fälle wirklich geleistet",
weiß Liebisch.
Die Forderungen der Alleinerziehenden-Lobbyistin: mehr Kindergeld, mehr öffentliche
Kinderbetreuung - und diese, bitte schön, "zum Nulltarif". Was nützten schließlich Kindergärten,
wenn die Mütter sie nicht bezahlen könnten? ANNETTE BRUHNS“ (Spiegel 11.10.04)
Gleicher Unterhalt für Ledige und Geschiedene
Karlsruhe - Unverheiratete Mütter dürfen beim Unterhalt für sich nicht besser gestellt werden als
Geschiedene. Das hat der Bundesgerichtshof entschieden. Danach bekommen Mütter in jedem Fall
vom Vater des gemeinsamen Kindes nicht mehr als die Hälfte seines Einkommens. Die Richter
stellten damit nicht-eheliche Eltern geschiedenen Eltern gleich (Az: XII ZR 121/03).
Laut Unterhaltsrecht hat neben dem Kind auch die Mutter Anspruch auf Unterhalt, wenn sie in den
ersten drei Lebensjahren des Kindes nicht arbeitet. dpa
(HH A 17.12.04)
Der dritte der von mir anzusprechenden und uns noch längere Zeit beschäftigenden
Gleichbehandlungsfälle, dieses Mal nur innerhalb des männlichen Geschlechts, betrifft das Problem der
Wehrgerechtigkeit mit der Frage der Beibehaltung der Wehrpflicht oder ihrer Abschaffung und die
Ersetzung der bisherigen Wehrmachtsstruktur durch die Einführung einer Berufsarmee: Nach dem
Zusammenbruch des kommunistischen Blocks, der dadurch verursachten Beendigung des Kalten Krieges,
der Aufnahme osteuropäischer Staaten in die NATO und zuletzt der Erweiterung der EU um zunächst
neun mittel- und osteuropäische Staaten liegt die BRD in der Mitte der EU und ist rundherum von
befreundeten und mit ihr verbündeten Staaten umgeben. Von Freunden umgeben zu sein, kann tödlich
enden: das musste schon Caesar erfahren, und Parteipolitiker insbesondere der CDU beklagten ebenfalls
ihre politische »Ermordung« durch Parteifreunde aus nächster Nähe. Aber für die Sicherheitslage eines
Staates ist solch eine Konstellation nur von Vorteil; damit kann man nicht nur gut mit dem Hinweis auf
die uns umgebenden sicheren Drittstaaten den Asylantenstrom abwehren. Die Bedrohungslage der BRD
hat sich mit dem politischen Umbau Europas grundlegend zum Positiven verändert. Es ist nicht mehr von
der Notwendigkeit einer Landesverteidigung mit großen Panzerverbänden und vielen Infanteriedivisionen
auszugehen, die sich in der norddeutschen Tiefebene, im „Kassel-gap“, hereinbrechenden Panzertruppen
der Sowjetunion und ihrer im Warschauer Pakt mit ihr Verbündeten entgegenstellen müssten. Im Zuge der
Umstrukturierung der Bundeswehr von einer Landesverteidigungs- zu einer weltweit einsatzfähigen
Eingriffsarmee – weil die Freiheit Deutschlands (angeblich) am Hindukusch verteidigt werden müsse wurde die Truppenstärke um fast 15 % zurückgefahren. Seitdem braucht man nicht mehr alle zur
Verfügung stehenden Wehrpflichtigen: Wer muss nun weiterhin mit seiner Einberufung rechnen und dem
Vaterland dienen, wenn – aber diese Zahl ist vermutlich eher der politischen Agitation geschuldet – nach
lauthals propagierter Ansicht der Grünen angeblich nur noch 10 % der Wehrpflichtigen überhaupt
eingezogen werden können, weil damit die Aufnahmekapazität der Bundeswehr erschöpft sei?
Gleichgültig, welche Gründe für oder gegen die Abschaffung der Wehrpflicht aus militärischen und
militärpolitischen Erwägungen sprechen – sie sollen an dieser Stelle nicht untersucht werden -, steht nach
dem in Art. 3 GG in verschiedenen Variationen zum Ausdruck gebrachten Gleichheitsgrundsatz und
insbesondere nach dem 1978 ergangenen klarstellenden Urteil des BVerfGs die „Pflichtgleichheit“ aller
(männlichen) Staatsbürger unter dem Gebot des Gleichheitsgrundsatzes des Grundgesetzes. Das BVerfG
betonte schon damals ausdrücklich, dass eine Freistellung von der Wehrpflicht durch Nichteinberufung,
die sich am jeweiligen Personalbedarf orientiert, gegen den zu beachtenden Gleichheitsgrundsatz verstößt,
weil die Wehrgerechtigkeit nicht gewahrt ist, wenn nur eine Minderheit der an sich Wehrpflichtigen der
den betroffenen Einzelnen erheblich belastenden Wehrpflicht nachkommen müsse. Die Wehrgerechtigkeit
verlange wegen des erheblichen Eingriffs in die persönliche Lebensführung und in die berufliche
Entwicklung, dass bei der Erfüllung der Wehrpflicht nicht willkürlich oder ohne sachlich zwingenden
Grund unterschiedliche Anforderungen gestellt werden. Die Wehrpflicht dürfe nicht zur Lotterie werden!
90
Unterschi
edliche
Geltung
des
Gleichheit
ssatzes im
öffentlichrechtliche
n Bereich
von
Kirche
und Staat
1.3.2.1.2 Unterschiedliche Geltung des Gleichheitssatzes im öffentlich-rechtlichen Bereich von Kirche
und Staat
Ein Beispiel für die nur bedingte Geltung der Grundrechte bezüglich des Gleichheitssatzes, des
Ausgangspunktes unserer Betrachtung, im öffentlich-rechtlichen aber nichtstaatlichen Bereich: Die großen
Kirchen müssen in der Bundesrepublik selbst unter der (grundsätzlichen) Geltung des Grundgesetzes nicht
Gläubige einer anderen Konfession als der eigenen in ihre Dienste aufnehmen. Das ist nur zu verständlich bei
seelsorgerischer Tätigkeit, könnte aber etwas großzügiger gesehen werden, wenn es sich um nichtseelsorgerische
Tätigkeit handelt, z.B. bei Psychologen in kirchlichen Beratungsstellen, Lehrern an Schulen konfessioneller
Träger, Sozialpädagogen in kirchlichen Sozialeinrichtungen, ... .
Anderes, noch augenfälligeres Beispiel: Dem Staat wäre es nicht erlaubt, nur Männer in seinen Dienst
aufzunehmen, die katholische Kirche aber verweigert Frauen bislang den Zugang zum Priesterberuf.
1.3.2.1.3 Art. 33 GG als den Staat verpflichtende spezielle Ausgestaltung des allgemeinen
Gleichheitsgrundsatzes
Im Gegensatz zu den Großkirchen muss aber der Staat unter der Geltung des
„Art. 33 GG
(1) Jeder Deutsche hat in jedem Land die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.
(2) Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu
jedem öffentlichen Amte.
(3) Der Genuß bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte, die Zulassung zu öffentlichen Ämtern
sowie die im öffentlichen Dienste erworbenen Rechte sind unabhängig von dem religiösen
Bekenntnis. Niemandem darf aus seiner Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem
Bekenntnisse oder einer Weltanschauung ein Nachteil erwachsen.
..."
und der Geltung des schon zitierten Art. 3 III GG einen Deutschen evangelischen, katholischen, jüdischen,
islamischen oder buddhistischen Glaubens in gleicher Weise bei einer Bewerbung berücksichtigen und darf nur
nach den im Grundgesetz in Art. 33 II genannten Gesichtspunkten "Eignung, Befähigung und fachliche
Leistung" seine Auswahl treffen, wobei alle Bewerber die Gewähr dafür bieten müssen, dass sie für die »fdGO«,
die freiheitlich-demokratische Grundordnung, einstehen. Und daran hapert es bei fundamentalistischen
Islamisten, die ihren Nachwuchs in der BRD in Koranschulen, in Internaten des Verbandes der islamischen
Kulturzentren in der BRD (VIKZ) oder dem Internat der saudiarabisch-islamischen Fachd-Akademie in Bonn
heranziehen (Panoramabericht 02.10.03) und die Kopftücher ihrer Frauen als Flagge in ihrem Kampf um die
Abschaffung der Trennung von Staat und Religion in einem durch die islamische Religion dominierten
Gottesstaat, um die Abschaffung der staatlichen Toleranz zu Gunsten ihrer religiösen Intoleranz, benutzen.
Nach der Verfassungstheorie geht es, auf der vorausgesetzten Basis der »fdGO«, also nur um "Eignung,
Befähigung und fachliche Leistung". Die Verfassungswirklichkeit sieht natürlich anders aus, denn sonst gäbe es
in den Beamtenapparaten nicht immer wieder u.a. die Erscheinungen, die mit dem Schlagwort "Parteienfilz" zu
Recht gegeißelt werden. Da werden dann fachliche Gründe vorgeschoben, um politisch nicht genehme Bewerber
ablehnen und politisch genehme um sich scharen zu können; was in Spitzenpositionen allerdings berechtigt ist:
Ein Minister muss sich darauf verlassen können, dass z.B. sein Staatssekretär seine politische Linie vertritt!
Relevanz und öffentliche Aufmerksamkeit über brodelnde Stammtische hinaus erlangte Art. 33 GG in Fragen
der Beschäftigung deutscher Frauen muslimischen Glaubens als Lehrerin, wenn sie vor ihren Klassen mit
Kopftuch auftreten wollten. Diese zunächst politisch und dann letztlich juristisch zu entscheidende Frage hat
sich als eine große Herausforderung für die deutsche Leit- und Rechtskultur herausgestellt: „Soll eine
muslimische Lehrerin im Unterricht an einer staatlichen, bekenntnisfreien Schule ihr Haupt in ein Kopftuch
gehüllt lassen dürfen? ... Es geht um die Frage, wie religiös der weltliche Staat westeuropäischer Prägung
werden darf, ohne seine Identität zu verlieren. Richter Hassemer [Vizepräsident des BVerfGs und Vorsitzender
des mit der Entscheidung in dieser Frage befassten Senats; d. Autor] hat schon Recht, wenn er feststellt, ’dass
diese Frage Staat und Gesellschaft von Grund auf beschäftigt und auch weiter beschäftigen wird ...’“ (SPIEGEL
29.09.03).
In der BRD ist es – im Gegensatz zu z.B. Frankreich und der muslimischen Türkei - klar und (inzwischen) völlig
unbestritten, dass der Staat als Ausbildungsmonopolist für den Lehrerberuf diesen »Kopftuch-Lehrerinnen« bis
zum Ende ihrer Ausbildung, d.h., bis zur Beendigung des Referendariates, einen Ausbildungsplatz zur
91
Verfügung stellen muss, damit die zweiphasige Lehrerausbildung - mit der ersten Phase des Studiums an einer
Universität oder pädagogischen Hochschule und der anschließenden praktischen Phase im Vorbereitungsdienst ordnungsgemäß abgeschlossen werden kann.
Aber was danach? Soll eine solche »Kopftuch-Lehrerin« in den öffentlichen Schuldienst übernommen werden wegen ihres guten Examens sogar übernommen werden müssen, bevor Lehrerinnen mit schlechteren
Examensnoten und somit nachgewiesener geringerer fachlicher Eignung und Befähigung eingestellt werden
dürfen -, wo wegen des Toleranzgebotes und der aus den Artikeln 4 I, 3 III, 33 III und 140 GG i.V.m. den
entsprechenden Artikeln der Weimarer Verfassung folgenden Neutralitätspflicht des Staates der Unterricht ohne
jede Art - oder gar latente Gefahr - einer Indoktrination insbesondere kleinerer Kinder weltanschaulich und
religiös neutral zu erteilen ist, wie zuletzt in dem 1995 ergangenen »Kruzifix-Urteil« des BVerfGs erneut
festgestellt wurde? Allerdings ging es in dem Verfahren um die Kruzifixe in jedem bayrischen Klassenzimmer
vorrangig um die Neutralitätspflicht des Staates auf der einen und die Freiheitsrechte von Eltern und Schülern
auf der anderen Seite.
Zur vorherigen Klarstellung: Die vom BVerfG wiederholt festgestellte weltanschauliche Neutralitätspflicht des
Staates bezieht sich auf alle Aspekte staatlichen Handelns, nicht nur auf die in katholisch geprägten
Bundesländern lange üblich gewesene Bildung mancher deutscher Landeskinder unter dem Kruzifix:
„Recht auf Prozess ohne Kruzifix
Saarbrücken – An saarländischen Gerichten darf gegen den Willen nicht christlicher Beteiligten
keine Verhandlung mehr unter dem Zeichen des Kruzifixes geführt werden. Das entschied das
Landgericht Saarbrücken (Az.: 1 Qs 137/01). (HH A 05.09.01)
Das empfindet ein Heutiger in einer - wenigstens in den Städten - zunehmend multikulturell geprägten
Gesellschaft als ein angemessenes Urteil. Einen Juristen hingegen muss nicht das Urteil, sondern der Umstand,
dass es so gefällt werden musste, erstaunen und empören, denn schon mehr als eine Generation zuvor hatte das
BVerfG genau so entschieden!
Schwierigkeiten könnten sich für Polizistinnen ergeben, wenn sie wegen der Neutralitätspflicht des Staates
»unanständig« gekleidet gegen konservative muslimische Männer vorgehen müssen. Aber Kopftücher tragende
Polizistinnen hätten bei den sich oft als »Machos« gebärdenden Konservativen auch kein wesentlich größeres
Ansehen.
Mit der nicht nur auf Schulen beschränkten grundsätzlichen Neutralitätspflicht des Staates – derentwegen
Kruzifixe auch von Richtertischen oder aus Gerichtssälen entfernt werden mussten und z.B. das
Justizministerium des Landes Niedersachsen nach dem vom BVerfG ergangenen »Lehrerinnen-Kopftuchurteil«
im November 2003 seine Richterinnen und Staatsanwältinnen anwies, dass während des Dienstes kein Kopftuch
getragen werden dürfe - soll u.a. eine mit staatlichem Korsett ausstaffierte öffentliche Zur-Schau-Tragung von
Religiosität verhindert werden.
Für das BVerfG und das BVerwG war bei seinem »Lehrerinnen-Kopftuchurteil« ausschlaggebend, dass Schüler
in Fragen von Weltanschauung und Religion nicht zwangsweise mit etwas konfrontiert werden sollen, was sie
oder ihre Eltern nicht wollen. Es gilt in dem »Sonderrechtsverhältnis« Schule das vom BVerwG in seiner
Entscheidung so genannte „Überwältigungsverbot“: Wer missionieren wolle, habe an öffentlichen Schulen nichts
zu suchen.
Im Fall der »Kopftuch-Lehrerinnen« kommt aber zusätzlich zu den vorgenannten Gesichtspunkten die
grundgesetzlich geschützte Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der einer strengen Islaminterpretation – im Falle
der afghanisch gebürtigen Klägerin Ludin, die in »Backfisch«-Jahren in Saudi-Arabien zum Kopftuch bekehrt
wurde und später ihren deutschen Ehemann zum Islam bekehrt hat: aus dem Dunstkreis der als potentiell
verfassungsfeindlich eingestuften Organisation Milli Görüs - anhängenden muslimischen Lehrerinnen aus Art. 4
GG mit ins Spiel! Hat eine »Kopftuch-Lehrerin« durch Art. 33 III GG
„... die Zulassung zu öffentlichen Ämtern ... sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis.
Niemandem darf aus seiner Zugehörigkeit ... zu einem Bekenntnis ... ein Nachteil erwachsen.“
und Art. 4 I GG
„Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen
Bekenntnisses sind unverletzlich.“
92
möglicherweise sogar einen Rechtsanspruch auf Übernahme als Beamtin?
Baden-Württemberg verneinte das mit der Begründung, dass der Koran und damit der Islam nicht zwingend das
Tragen eines Kopftuches vorschreibe. Zwar gäbe es in den die Frauen grundsätzlich unterdrückenden Ländern
Saudi-Arabien und dem Iran einen strengen Kopftuch-Zwang in der Öffentlichkeit, um die Ehrbarkeit und
»Reinheit« einer Frau zu demonstrieren und damit sie nicht als Lockmittel des Teufels auf Männer sexuelle
Reize ausübe – „Weil die Muslime ihre Triebe nicht in den Griff bekommen, muss ich ein Kopftuch tragen“,
schimpfte in Deutschland eine aufmüpfige türkische Schülerin in einem SPIEGEL-Artikel, weil sie dagegen
rebelliert, von ihren Eltern und der Großfamilie zum Tragen eines Kopftuches gezwungen zu sein - , in den
meisten arabischen Ländern aber bestehe dieser Zwang nicht; in der durch Atatürk säkularisierten, gleichwohl
stark muslimisch geprägten Türkei ist es sogar generell verboten, in öffentlichen Räumlichkeiten ein Kopftuch
zu tragen, denn dort wird das Tragen eines Kopftuches als politische Äußerung gewertet. (Schon Atatürk hatte
den Türken aufs Haupt geschaut und das Tragen des Fes’ als Symbol für die »alte« Türkei verboten. Nun hat das
Kopftuch den Fes als Symbolkleidungsstück der »Ewig-Gestrigen«, der Gottesstaat-Verfechter, abgelöst.) Eine
Frau, die in der Türkei gegen das Kopftuch-Verbot verstößt, wird bestraft, muss z.B. die Universität verlassen
und ihre akademische Ausbildung abbrechen.
Die sich den Gerichten aus dieser Sachlage aufdrängende Schlussfolgerung: Das Tragen eines Kopftuches
gehöre also nicht zu den religiösen Pflichten einer Muslimin. Im Koran werde es nicht verlangt. Es gibt, wie in
der Sure 33/59, in den religiösen Schriften nur Hinweise, dass Frauen sich außerhalb des Hauses „ehrbar“
kleiden sollten. Überwiegend werde von muslimischen Frauen in deren Heimatländern jedoch kein Kopftuch
getragen, wenn sie nicht durch Ehemänner und traditionell geprägte Familien(oberhäupter), religiöse
Sittenwächter oder staatliche Strafsanktionen bis hin zur Tötung dazu gezwungen würden. Das Tragen eines
Kopftuches (aus behaupteten religiösen Gründen) gehöre nicht zwingend zum Islam! Dem islamischen
Fundamentalismus zuneigende Frauen würden aber ein solches Tuch (mehr oder minder) freiwillig tragen.
Für sie, so argumentierte die Klägerin Ludin14 in ihren jahrelangen gerichtlichen Auseinandersetzungen mit dem
14
Alice Schwarzer in der Frankfurter Rundschau vom 28.5.2003 (gekürzt)
„Alice Schwarzer: Der Fall Ludin
Die junge Frau kommt aus einer großbürgerlichen afghanischen Familie. Ihr Vater war vor den Sowjets und den Taliban
Innenminister, ihre Mutter eine unverschleierte Lehrerin. Im Exil in Riad erschien das Mädchen als 13-Jährige zur
Überraschung der eigenen Eltern plötzlich mit Schleier zuhause - der Einfluss in der saudi-arabischen Schule hatte das
Seine bewirkt. Mit 18 heiratete Fereshta, die nun mit ihren Eltern in Deutschland lebte, den fünf Jahre älteren Raimund
Proschaska, einen zum Islam konvertierten Lehrer.
Ab 1993 studiert Ludin dann Pädagogik an der Hochschule in Schwäbisch Gmünd, wo die vom Verfassungsschutz
inzwischen verbotene islamistische Milli Görüs besonders präsent ist. In den "Fortbildungskursen", die die muslimische
Studentin Ludin für Lehrerinnen gab, dozierte sie, laut einer Teilnehmerin, "deutsche Frauen seien unrein, nur
muslimische Frauen seien rein". Ab etwa 1995 weigert Ludin sich, Männern noch die Hand zu geben.
1997 reist sie mit ihrem Mann nach Pakistan. Nach ihrer Rückkehr weigert die Uhland-Schule sich, die verschleierte
Lehrerin in die Klasse zu lassen. Seither kämpft Ludin, unterstützt von der als "links" geltenden Lehrergewerkschaft wie
von der als "verfassungsfeindlich" verdächtigten Milli Görüs, gegen "das Berufsverbot für praktizierende Muslimas". Die
gebürtige Afghanin tut das in einer Zeit, in der in ihrer Heimat Frauen, denen die Burka verrutscht, totgeschlagen werden
wie die räudigen Hunde, und Ärzte auch eine todkranke Afghanin nicht behandeln dürfen, weil ein Mann keine Frau
anfassen darf.
In Deutschland aber wird keine Frau gesteinigt, wenn sie kein Kopftuch trägt. Und seit mindestens 20 Jahren ist der
Schleier keine Frage von Tradition oder Glauben mehr, sondern - eine politische Demonstration. Er ist die Flagge des
islamistischen Kreuzzuges, der die ganze Welt zum Gottesstaat deformieren will.
Wehret den Anfängen! Das lässt sich in diesen Zeiten leider nicht sagen. In Zeiten, in denen muslimische Schülerinnen
mitten in Deutschland mit Einverständnis der Schulleitungen von Sportunterricht und Ausflügen suspendiert werden; und
es niemanden irritiert an Hamburger Hochschulen, wenn arabische Studenten Frauen nicht mehr die Hand geben.“
Wie solche willkürlichen Einschränkungen der persönlichen Freiheit der Frauen religiös begründet werden? Für
die theologisch verbrämte Missachtung der Rechte der Frauen sind nur ein paar diffamierende Grundannahmen Voraussetzung, dann ergibt sich der religiöse (Trug-)Schluss fast zwangsläufig.
Der Islam lehrt, dass Allah Mann und Frau mit einer je eigenen Natur (fitra) geschaffen habe, und dass nur der Islam dem
Menschen eine Ordnung anbiete, in der er in Einklang mit seiner jeweiligen Fitra leben könne. Ein Verstoß gegen die Fitra
bedeutet eine Versündigung gegen Gott. Weiter ist der islamischen Orthodoxie zufolge die Frau emotional, willenlos und
leicht beeinflussbar - obwohl das von der Frau des Propheten und auch von seiner Tochter Fatima nicht gesagt werden
kann! Eine seelisch gesunde Frau verlange nach einem Mann, dem sie gehorchen kann und muss.
Nach traditionell männlich-islamischer Überzeugung müssen die Frauen mit einem Gen der Unterwerfung geboren sein.
Da die "Frauen die Fangschlingen des Teufels sind" (Y. Anwar), ist der Umgang zwischen den Geschlechtern außerhalb
der Familie zum Wohle von Mann und Frau nicht erlaubt. Der angemessene Lebensbereich der Frau sei das Haus, ihre
Erfüllung finde sie in Ehe und Mutterschaft. Aufgrund seiner überlegenen Fitra soll nun der Mann seine Frau ver-
93
Land Baden-Württemberg, sei das Tragen eines Kopftuches ein wichtiger Ausdruck ihres Glaubens und weiter:
Man könne einer Frau nicht ihre demokratische Einstellung und Emanzipation nur deswegen absprechen, weil
sie ein Kopftuch trage. Dass dem nicht so sei, beweise ja ihr langjähriger Rechtsstreit durch alle Instanzen. Ohne
Emanzipation hätte sie die Entscheidung des Oberschulamtes Stuttgart hingenommen; eine durchsichtige,
schwache Argumentation. Man kann auch andersherum argumentieren: Wenn eine Frau nicht emanzipiert ist,
dann fügt sie sich starken familiären, gesellschaftlichen und religiösen Pressionen und lässt sich von islamischen
Fundamentalisten als Werkzeug in einem jahrelangen juristischen Kampf für deren letztlich auf die Errichtung
eines auf Intoleranz ausgerichteten Zieles, den alles Weltliche dominierenden islamischen Gottesstaat,
instrumentalisieren.
Die Verwaltungsgerichte bis rauf zum BVerwG teilten nicht die Ansicht der Klägerin Ludin: Wer in einem
freien Land trotz der dazu nicht bestehenden Pflicht als Symbol seines Glaubens auf dem Tragen eines
Kopftuches bestehe, wolle damit etwas ausdrücken, etwas demonstrieren. Durch das Tragen eines Kopftuchs aus
religiösen Gründen werde mit aggressivem Geltungsanspruch eine kulturelle Extremposition betont, die unserem
auf die Gleichheit der Geschlechter ausgerichteten Verständnis der Frauen in der Gesellschaft widerspreche. Als
Beleg kann auf Allah selbst verwiesen werden, der Mohammed durch seinen Erzengel Gabriel als vierte
Koransure offenbarend diktiert habe: „Die Männer gehen vor den Weibern, weil Gott ihnen den Vorzug gab,
und auch weil sie das Vermögen aufbringen. Ehrbare Frauen sind gehorsam und bewahren das Geheimnis, weil
Gott sie bewahrt. Doch wenn ihr bei ihnen Ungehorsam fürchtet, vermahnt sie und scheidet euer Lager von dem
ihren und schlagt sie.“
Dieser auf Grund der durch das Tragen eines Kopftuches symbolisierten kulturellen Extremposition bestehende
Vorbehalt des Staates wiege schwerer als die Religionsfreiheit der (angeblich) aus (rein) religiösen Gründen auf
dem Tragen eines Kopftuches vehement bestehenden Lehrerinnen. Das demonstrativ getragene Kopftuch sei
nach Meinung der baden-württembergischen Kultusverwaltung als ein Symbol kultureller Abgrenzung,
verweigerter Integration, als Fanal eines intoleranten, die westliche Kultur ablehnenden Islam zu werten und
verstoße wegen seiner – von konservativen muslimischen Verbänden vehement bestrittenen - Signalwirkung
gegen das manchmal als »Verfassungsfolklore« bespöttelte oder diffamierte Toleranzgebot, auf dessen
Einhaltung Schüler und Eltern in unserem Land ein Anrecht haben. Individuelle religiöse wie politische
Einstellungen dürften an einer Schule nicht quasi als Monstranz vorangetragen werden. Eine solche Lehrerin
einzustellen habe nichts mit Toleranz, sondern mit Pseudo-Toleranz zu tun.
Die Verwaltungsgerichte bis rauf zum BVerwG gaben dem Land Baden-Württemberg recht: Die durch ein
Kopftuch zum Ausdruck gebrachte Glaubensüberzeugung einer Lehrerin könne Kindern zwischen 4 und 14
Jahren „durchaus vorbildhaft und befolgungswürdig erscheinen.“ Baden-Württemberg habe die Übernahme der
»Kopftuch-Lehrerin« in den Schuldienst im Rahmen seines Ermessensspielraumes ablehnen dürfen.
Das in solchen Fragen liberalere Hamburg hat hingegen eine kopftuchtragende Lehrerin verbeamtet, NRW
ebenfalls einige wenige eingestellt.
Das BVerwG entschied 2002 in seinem Grundsatzurteil, dass seiner Ansicht nach das von einer muslimischen
Frau im Unterricht getragene Kopftuch ein „deutlich wahrnehmbares Symbol ihrer muslimischen Religion“ sei,
das in einer Schule selbst dann nichts zu suchen habe, wenn die Klägerin keine missionarischen Absichten damit
verbinde. Die aus Afghanistan stammende, seit 1995 in Deutschland eingebürgerte Lehrerin wurde nicht damit
gehört, dass es für sie einer »Entblößung« gleichkäme, wenn sie ohne Kopftuch vor eine Klasse treten müsste:
„Die Pflicht zu strikter Neutralität im Bereich der staatlichen Schule wird verletzt, wenn eine Lehrerin im
Unterricht ein Kopftuch trägt.“ Wegen der pädagogisch prägenden Funktion, die eine Lehrerin an Grund- und
Hauptschulen ausübe, und die die ihr anvertrauten Kinder auch in Opposition zu ihren Eltern treiben könne,
dürfe sie den in ihrer Persönlichkeit noch nicht gefestigten Schülern keine bestimmte Glaubensüberzeugung
ständig und unübersehbar vor Augen führen. In einer immer mehr von multikulturellen Einflüssen geprägten
Gesellschaft gelte das Gebot der Neutralität gegenüber unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen in
staatlichen Pflichteinrichtungen umso mehr. Alle Schüler und ihre Eltern haben auf Grund ihrer Religionsfreiheit
einen Anspruch darauf, vom Staat nicht dem Einfluss einer fremden Religion, und wenn auch »nur« in Gestalt
eines von Menschen ständig vermittelten Symbols, ausgesetzt zu werden. Die Eltern religionsunmündiger
Schüler könnten verlangen, dass der Staat sich in religiösen und weltanschaulichen Fragen neutral verhalte, da
Art. 6 II 1 GG ausdrücklich bestimme:
„Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen
obliegende Pflicht.“
ständnisvoll ertragen und ihre Eigenheiten mit Nachsicht hinnehmen. Dahinter steht ganz nackt das männliche
Dominanzstreben.
94
Der Vorsitzende der türkischen Gemeinde in Deutschland, Keskin, kommentierte die Entscheidung der
Behörden und des BVerwGs als „richtig“: „In der Tat hat das Kopftuch einen Symbolcharakter.“ Man bringe
dadurch eine bestimmte – »traditionelle«, politisch »fundamentalistisch« ausgerichtete – religiöse Orientierung
zum Ausdruck, die von dem Orientforscher Hans-Peter Raddatz in seinem Buch „Allahs Schleier – Die Frau im
Kampf der Kulturen“ mit den Worten charakterisiert wurde: „ Es ist der umfassende Dienst am Mann, der durch
Schleier und Verhüllung seinen uniformen Ausdruck erhalten soll.“ Darum dürfe diese gegen den in unserer
Verfassung als Grundrecht abgesicherten Gleichheitsgrundsatz verstoßende „islamspezifische“ Haltung nicht
ohne weiteres akzeptiert und toleriert werden.
Sollte man in staatlichen Schulen ausschließlich das Tragen eines Kopftuches verbieten – und damit alle
Muslima unter den Generalverdacht einer fundamentalistisch ausgerichteten Religionsausübung stellen? Was die
doch meistens bestreiten und darauf hinweisen, dass sie ja gerade dadurch, dass sie sich durch ihre
Berufsausübung dem hiesigen Leben öffnen, zeigen, dass sie einen weltoffenen Islam leben, ihren muslimischen
Glauben mit westlicher Lebensart verbinden möchten; woran sie teilweise von ihren »traditionell« eingestellten
Familien oder Ehemännern gehindert und zum Tragen des Kopftuches gezwungen werden.
Muslime in der CDU gegen Kopftuch-Verbot
Union diskutiert über ihr Verhältnis zum Islam. Leitsätze gefordert
In der Union kommt die Diskussion über die Rolle der Muslime in Deutschland neu in Gang. Das
Deutsch-Türkische-Forum in der CDU verabschiedete "Leitsätze einer christlich-demokratischen
Islampolitik für Deutschland". Darin lehnt das Forum unter anderem ein generelles Kopftuchverbot
im öffentlichen Dienst ab. Die CDU-Spitze in Berlin wollte sich zu den Leitsätzen nicht äußern.
Bislang hat sich die CDU klar für ein Kopftuch-Verbot zum Beispiel für Lehrerinnen ausgesprochen.
Die baden-württembergische Kultusministerin Annette Schavan sieht das Kopftuch als politisches
Bekenntnis. Es sei ein "Symbol kultureller Abgrenzung und Teil der Unterdrückungsgeschichte der
Frau". Auch CDU/CSU-Fraktionsvize Friedrich Merz akzeptiert "das Tragen von Kopftüchern aus
religiösen Gründen" an Schulen nicht.
Das Deutsch-Türkische Forum stellt sich also gegen die bisherige Parteilinie. Das Forum ist bislang
auf Nordrhein-Westfalen begrenzt. Zum Jahresende wird daraus die Deutsch-Türkische Union
entstehen, in der dann bundesweit Türken Mitglied werden können. Rund 2000 türkischstämmige
Deutsche sind derzeit Mitglied der CDU. Ziel der Union ist es, künftig die muslimischen
Wählerschichten besser zu erschließen. … (DIEWELT 29.08.04)
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied 2001 im Fall einer klagenden schweizerischen
Lehrerin ebenfalls gegen diese »Kopftuch-Lehrerin« und billigte die ablehnende Haltung der Schweizer
Behörden.
Ich habe aber noch nie gehört, dass ein an einer Halskette getragenes Kreuz hätte abgenommen werden müssen.
Die in den meisten Bundesländern Deutschlands geltende, alle Religionen und Religionsausprägungen
umfassende Neutralitätspflicht15 des Staates kennt heutzutage - jedenfalls außerhalb Baden-Württembergs und
Bayerns - keinen christlichen Kulturbonus, der – im Gegensatz zum Kulturmalus einer beim Unterrichten aus
religiösen Gründen ein Kopftuch tragenden Muslimin - das Tragen christlicher Symbole durch Lehrer oder deren
demonstratives Zeigen in Klassenräumen für Schüler hinnehmbar oder hinnehmbarer machen würde, weil diese
Religion bei uns schon seit mehr als einem Jahrtausend heimisch ist und unsere Kultur entscheidend geprägt hat.
Ähnlich verhält es sich mit dem Davidstern: Ich habe noch nie gelesen oder gehört, dass einer jüdischen
Lehrerin ihre diesbezügliche Busenzierde mit einem Hinweis auf die nach dem Beamtenrecht ihr obliegende
Neutralitätspflicht verboten worden wäre. Und so nehmen die Bundesländer, die eine gesetzliche Regelung
anstreben, die grundsätzliche Position ein: Jesus am Kreuz zwischen den wogenden Brüsten oder ein Davidstern
als kleiner Schmuck oder diskretes Bekenntnis an Hals oder Handgelenk: ja; Mohammed auffallender, da auf
dem Kopf: nein! Diskrete Zugehörigkeitssymbole zu einer Religion: ja; ostentativ bis provokativ zur Schau
gestellte Religionssymbole hingegen: nein.
15
Einige »katholischere« Länder sehen das anders; Baden-Württemberg z.B. hat, wie auch viele andere Landesverfassungen
ab 1945, nach der entmenschlichten Gewaltausübung der Nazis zum staatlichen Neuanfang auf dezidiert christlicher
Basis als Schutz gegen ideologisch verbrämte menschenmordende Inhumanität »expressis verbis« in seiner
Landesverfassung das Postulat einer Erziehung zu christlichen Werten aufgestellt und – im Gegensatz zu den anderen
Bundesländern - bislang beibehalten. Art. 12 I LV B-W: „Die Jugend ist in Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christlichen
Nächstenliebe ... zu erziehen.“
95
Einige Bundesländer haben Schwierigkeiten mit dieser Position und wollen dem Christentum wegen seiner
jahrtausende langen Verwurzelung in unserem Kulturkreis Sonderrechte zugestehen und außerhalb des
Religionsunterrichts Mönche in Kutte, Nonnen im Habit und Juden mit der Kipa trotz des für staatliche Schulen
geltenden Neutralitätsgebotes weiterhin bekleidet mit einem Kleidungsstück unterrichten lassen, das ihre
Religionszugehörigkeit sehr augenscheinlich deutlich macht. Diese Position ist aber fragwürdig und wird in
Karlsruhe - wenn überhaupt - nur sehr schwer durchzuhalten sein! Wo soll für muslimisch gekleidete
Lehrerinnen die Grenze sein? Schon beim Kopftuch? Oder erst beim Tschador – nicht wesentlich verhüllender
wie der Habit einer Nonne - oder gar erst bei der Burkha, die aus »religiösen« Gründen in der Schule zu tragen
eine in Deutschland unterrichtende Muslimin ja ebenfalls beanspruchen könnte, wenn die Bekleidung frei
wählbar wäre? Oder selbst bei einer religiös motivierten Ganzkörperverhüllung nicht? Auch wenn dahinter ein
für uns nicht akzeptables Bild von der Gesellschaft steckt?
Wir haben aber durch die Geschehnisse während der Weimarer Republik gelernt, dass es keine schrankenlose
Freiheit geben darf, die von Feinden der Freiheit zur Abschaffung der Freiheit genutzt werden kann und auch
genutzt worden war! So hatte der spätere Reichspropagandaminister Goebbels fünf Jahre vor der dann erst 1933
erfolgten „Machtübernahme“ schon 1928 als Herausgeber des „Angriff“ geschrieben und als NSDAP-Gauleiter
von Berlin gesagt – und jeder hatte es lesen und hören können, viele hatten es gelesen und gehört und daraufhin
nicht nur trotzdem, sondern gerade deswegen die NSDAP gewählt:
„Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen
Waffen zu versorgen. Wir werden Reichstagsabgeordnete, um die Weimarer Gesinnung mit deren
eigener Gesinnung lahmzulegen. Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst
Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist das ihre eigene Sache. … Wir kommen als Feinde! Wie
der Wolf in eine Schafherde einbricht, so kommen wir.“
Das soll nie wieder möglich sein! Darum gilt jetzt als äußerste Schranke der bei uns zulässigen demokratischen
Freiheit die im Grundgesetz geregelte und ihm immanente »fdGO«, die freiheitlich-demokratische
Grundordnung unseres Gemeinwesens.
Wie sollen in unserer vom GG vorgegebenen Wertordnung der „wehrhaften Demokratie“ mit u.a. der Geltung
des Gleichheitssatzes die religiösen Bekleidungssymbole einiger durch eine entsprechende Regelung
bevorrechtigter Religionsgemeinschaften juristisch unangreifbar zugelassen werden und andere nicht? Es wäre
doch nur Wortklauberei, wenn man zur bevorrechtigten Abgrenzung der eigenen Religion und damit gleichzeitig
verbundenen Ausgrenzung der anderen Glaubensüberzeugungen in seit fast 1.500 Jahren hier beheimatetes
christliches »Brauchtum« einerseits und neu hinzugekommene »religiöse Symbole« anderer Religionen
unterscheiden wollte!
Eine solche Differenzierung wäre nicht jedem verständlich zu machen; am wenigsten hoffentlich den
„Richterkönigen“ des BVerfGs. Eine solche Differenzierung ist unter dem Gesichtspunkt des
Gleichheitsgrundsatzes äußerst angreifbar, sie ist wohl nicht zu halten! Darum muss man, wenn man sie trotzdem
per Gesetz durchzusetzen versucht, sich um eine irgendwie geartete (Schein-)Rechtfertigung mühen. Die
bayerische Kultusministerin sprach von einem „Verbot von Symbolen, die sich gegen die Wertordnung des
Grundgesetzes und die Bayerische Verfassung richten oder geeignet sind, den Schulfrieden zu stören“. Und:
„Die Kirchen haben sich immer eindeutig zum Grundgesetz bekannt. Kopftücher aber sind in einigen Ländern
im Unterricht verboten, weil sie als Symbol einer fundamentalistischen Grundhaltung gelten.“
BAYERN
Landtag verbietet Kopftuch für Lehrerinnen
München · 11. November · dpa/kna · Muslimischen Lehrerinnen in Bayern wird zum Jahresbeginn
2005 das Tragen eines Kopftuches an öffentlichen Schulen verboten. Der Landtag beschloss mit den
Stimmen der CSU-Mehrheit eine Änderung des Erziehungs- und Unterrichtsgesetzes.
Das Gesetz verbietet nicht ausdrücklich das Kopftuch, sondern religiöse Symbole und
Kleidungsstücke, die als eine "mit den verfassungsrechtlichen Grundwerten unvereinbare Haltung"
verstanden werden könnten. Die Kopfbedeckung katholischer Nonnen ist laut CSU nicht davon
betroffen, weil die christlichen Kirchen fest zu den Grundwerten der Verfassung stünden. Bislang
gab es in Bayern keinen einzigen Fall einer muslimischen Lehrerin, die ein Kopftuch trägt. (FR
12.11.04)
„Von der Türkei lernen, heißt siegen lernen!“, ist man geneigt, in Abwandlung des ehemals in der DDR
96
bezüglich des großen Bruders Sowjetunion meist gebrauchten Mottos zu formulieren.
Mit dieser Begründung der bayerischen Kultusministerin würden dezidiert christliche Erscheinungsformen wie
das Kruzifix in jedem Klassenzimmer, wenn niemand dessen Entfernen ausdrücklich verlangt, und im Habit
(Ordenstracht mit großem Kreuz an einem auffällig großen Rosenkranz) unterrichtende Nonnen von der als
Verteidigungswall gegen islamische Einflüsse hochgehaltenen Neutralitätspflicht ausgenommen. Kopftücher
aber sind des Teufels.
Wir sehen: Es kommt immer darauf an, wer die Definitionsmacht hat und wie sie genutzt wird, damit nicht
»einer usrer Leit« in Mitleidenschaft gezogen wird.
Das Saarland will ein entsprechend ablehnendes Gesetz formulieren und assistiert den bayerisch-regierungsamtlichen Begründungen: „Kopftücher sind eine bewusste Abkehr von den Werten, auf denen unsere Demokratie
beruht und ein Zeichen der Intoleranz.“ Das lässt sich, wenn man will, ohne weiteres nachvollziehen - hebelt
aber nicht eine strenge Neutralitätspflicht aus, die bisher in überwiegend katholischen Bundesländern durch
dezidiert christliche »Überwältigung« verletzt wurde: Nicht ohne Grund gibt es den diesen Missstand
charakterisierenden Witz, dass der Vater des kleinen Fritzchens von Berlin nach Süddeutschland versetzt wird
und die Berliner Göre nun einem sehr katholisch geprägten Umfeld ausgesetzt ist. Als die Biologielehrerin in
einer Stunde fragt: „Was ist das: Es ist braun, hat einen großen buschigen Schwanz und hüpft von Baum zu
Baum?“, meldet sich die hellwache Großstadtpflanze und berlinert: „Ick würd ja sajen, det is ’n Eichhörnchen,
aber wie ick den Laden hier inzwischen kenne, is det dat liebe Jesulein.“
Ohne den gut erfundenen Witz wurde die dezidiert christliche »Überwältigung« in insbesondere den
Vorkommnissen deutlich, die zu dem „Kruzifix-Urteil“ des BVerfGs geführt hatten.
Aus Gründen der Neutralitätspflicht war - auch in dem großstädtisch-liberalen Hamburg - bisher nur gegenüber
Bhagwan-Jüngern, die die roten Jacken und Halsketten ihrer indischen Sekte im Unterricht getragen hatten, ein
Bekleidungsverbot ergangen.
Ein »liberal« eingestelltes oder in täglichen Auseinandersetzungen mit sich nicht unbedingt nach der »deutschen
Leitkultur« verhaltenden Ausländern »gehärtetes« Bundesland wird durch das Urteil des BVerwGs nicht
verpflichtet, seine »gewährendere« Haltung aufzugeben. Das BVerwG hat nur durch Urteil festgestellt, dass eine
im Unterricht ein Kopftuch tragende Lehrerin ihre Anstellung nicht erzwingen könne. Das ist ein Unterschied!
Mit der Entscheidung des BVerwGs war nunmehr der Rechtsweg zum BVerfG eröffnet. Und u.a. das Land
Hamburg mit einer beamteten, im Unterricht ein Kopftuch tragenden Muslimin wartete erst einmal ab, ob und
wie der Rechtsstreit weiterging, bevor es bezüglich seiner mit einem Syrer verheirateten und daraufhin zum
Islam konvertierten deutschen Lehrerin entscheiden wollte, wie es weitergehen solle.
Ein Richter des BVerfGs stellte in der dem Urteilsspruch vorangehenden Anhörung die Frage: „Wie viel fremde
Religiosität glauben wir uns in unserer Gesellschaft leisten zu können?“ Das ist der Kern des Problems! Und
man kann ja nicht sagen, dass der in unserem Land gelebte Islam immer harmlos sei! Dafür muss man nicht
unbedingt auf die selbsternannten „Kalif(en) von Köln“ verweisen. Auch unterhalb der Schwelle von religiös
gegründeten Straftaten wirkt der Islam durch manche seiner Interpreten ausgesprochen aggressiv: Dem
SPIEGEL vom 29.09.03 verdanken wir den Hinweis auf ein in Deutschland ergangenes »Kamel-Fatwa«: Ohne
männlichen Anstandswauwau dürfe sich eine muslimische Frau nur 81 Kilometer von ihrer Wohnung entfernen,
das ist genau die Strecke, die eine Kamelkarawane(!!) in 24 Stunden zurücklegen kann. Diese Regelung wurde
nicht in einem erzkonservativen islamischen Land wie Saudi-Arabien oder dem Iran getroffen, dieses Fatwa
wurde als Verhaltensmaßregel für unter uns lebende muslimische Frauen vom Islamgelehrten Amir Zaidan, dem
ehemaligen Vorsitzenden der Islamistischen Religionsgemeinschaft in Hessen, erlassen! Solche Leute üben mit
ihren Ansichten den gesellschaftlichen Druck aus, der auch bei uns viele Musliminnen zum Kopftuch greifen
lässt oder zum Tragen eines Kopftuches zwingt.
Und eine sehr bewusst auf dem religiös motivierten Tragen eines Kopftuches bestehende Muslimin begehrte
durch alle ihr möglichen Gerichtsinstanzen ihre Verbeamtung als Lehrerin in Baden-Württemberg.
Schließlich war der Rechtsstreit nach fünf Jahren beim BVerfG rechtshängig.
Das BVerfG war dann in seiner Entscheidung vom 24.09.03 gespalten. Mit fünf gegen drei Stimmen erkannte es
für Recht, dass das Land Baden-Württemberg die Religionsfreiheit der ihre Einstellung in den Staatsdienst
begehrenden Muslimin verletzt habe, da bislang eine - von der Mehrheit der Richter für erforderlich gehaltene hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage für eine solche Ablehnung fehle. Das Tragen eines Kopftuchs
stehe laut dem im Urteil zum Ausdruck kommenden Mehrheitsvotum unter dem Schutz der Religionsfreiheit der
Klägerin. Weiter müsse nach dem Grundgesetz der Zugang zu öffentlichen Ämtern unabhängig von der
97
Religionszugehörigkeit gewährt und gewahrt werden. Andererseits müssten sich Staat und Schulen – anders als
Privatleute - in religiös-weltanschaulichen Dingen neutral verhalten. Schließlich müsse das Erziehungsrecht der
Eltern und die negative Religionsfreiheit von Eltern und Schülern beachtet werden, von religiösen Kulten und
Symbolen verschont zu werden.
In diesem "unvermeidlichen Spannungsverhältnis" der Abwägung der Grundrechte der Betroffenen sei es nach
unserem föderalistischen Staatsaufbau mit der grundsätzlichen Gesetzgebungskompetenz und der
Kulturverwaltungshoheit bei den Ländern – O-Ton BVerfG: "Das Grundgesetz lässt den Ländern im Schulwesen
umfassende Gestaltungsfreiheit", „wieweit der Gesetzgeber auf die gewachsene religiöse Vielfalt reagiert, bleibt
ihm überlassen“ - Aufgabe des jeweiligen Landesgesetzgebers, in einem hoch komplizierten Abwägungsprozess
unter Beachtung der verfassungsimmanenten Schranken16 "einen für alle zumutbaren Kompromiss zu suchen".
In der zunehmenden religiösen Pluralität in unserem Staat sei der Streit um das aus religiösen Gründen getragene
Kopftuch Anlass für eine Neubestimmung des "zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule", forderte
das Gericht. Und diese Klärung könne nach dem Urteilsspruch keine Sache von Gerichten oder Behörden sein,
sondern gehöre in die Parlamente. Der Landesgesetzgeber dürfe dabei innerhalb eines "Gestaltungsspielraumes
im Blick auf besondere kulturelle Traditionen" unter Berücksichtigung der Schultradition, der konfessionellen
Zusammensetzung der Bevölkerung und ihrer mehr oder minder starken religiösen Verwurzelung
unterschiedliche Regelungen vorgeben, die, wie das Gericht ausdrücklich betonte, von der Ablehnung des
Tragens von Kopftüchern aus religiösen Gründen bis zu ihrer Gestattung reichen könne. Würde - was jedes
Bundesland für sich tun könne und rund die Hälfte aller Bundesländer zu tun angekündigt hat17 - eine solche
gesetzliche Grundlage geschaffen, durch die das unvermeidliche Spannungsfeld zwischen der Glaubensfreiheit
einer Lehrkraft und der staatlichen Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität geregelt wird, wäre auch eine
Ablehnung des religiös motivierten Tragens von Kopftüchern rechtens. Der "Gesetzesvorbehalt" der Verfassung
verlange nur, dass der Repräsentant des Souveräns, das Parlament, einen so schwierigen gesellschaftlichen
Konflikt behandle.
Die »Richter-Könige« des BVerfGs gaben aber – leider? – keinerlei konkrete Hinweise, was in einem solchen
»Kopftuch-Gesetz« geregelt werden solle und welche Grenzen außer den immer geltenden
„verfassungsimmanenten Schranken“ dabei zu beachten seien. Bei den vermutlich sehr unterschiedlichen
landesgesetzlichen Regelungen, die nun wohl ergriffen werden, ist eine Klageflut vor zunächst die
Landesverfassungsgerichte und das BVerwG und zuletzt abermals vor das BVerfG abzusehen, die das BVerfG
durch sachdienliche Hinweise von vornherein hätte eindämmen können; und wegen des absehbaren weiteren
Verlaufs dieses Rechtsstreites hätte eindämmen sollen. Gesetzgeber können nicht über die
Verfassungsgemäßheit der von ihnen beschlossenen Gesetze bestimmen. Eine solche Interpretation muss ausschließlich - unser oberstes Gericht vornehmen. Darum hätte es das gleich tun sollen. Nach Meinung der in
der Abstimmung unterlegenen Richter war die Sache entscheidungsreif und eine Entscheidung wäre sachdienlich
gewesen: Wenn auf Grund der nun zu schaffenden Landesgesetze eine Muslimin vor dem BVerfG wegen
Verletzung ihres Grundrechtes klagt, kann sich Karlsruhe nicht mehr wegducken, sondern muss entscheiden. Da
hätte man gleich die Leitlinien für die zu schaffenden Gesetze aufzeigen und so heraufziehende Klagen eventuell
verhindern können.
Die »Minderheitsrichter« zerpflücken in ihrem Sondervotum die Argumente der »Mehrheitsrichter«, u.a. weil
diese die verfassungsrechtliche Grundsatzfrage nach der staatlichen Neutralität im Bildungs- und
Erziehungsraum der Schule unentschieden gelassen haben. Nach der Meinung der »Minderheitsrichter« sei das
von der Klägerin "begehrte kompromisslose Tragen des Kopftuchs" mit dem "Mäßigungs- und Neutralitätsgebot
eines Beamten nicht vereinbar", betonten die drei von der Senatsmehrheit abweichenden Richter in ihrem
Minderheitsvotum.
Der zu der Zeit amtierende Bundestagspräsident Thierse schloss sich dieser Meinung in einer für sein hohes Amt
befremdlichen Wortwahl an: Er schimpfte das Urteil „enttäuschend und eigentümlich feige“; andere Kritiker des
Urteils sprachen von einer „Rechts-“ oder einer „Entscheidungs-Verweigerung“ durch das Zurückspielen des
16
Die meisten Grundrechte unterliegen in ihrer Ausübung einem Gesetzesvorbehalt und sich daraus ergebenden gesetzlich
fixierten Beschränkungen, nur sehr wenige werden ohne in der Verfassung formulierte oder vorgesehene
Einschränkungen »vorbehaltlos« gewährt. Dazu gehört u.a. die Religionsfreiheit. Trotzdem werden auch die bei
unbefangener Betrachtung für schrankenlos gewährt gehaltenen Grundrechte nicht schrankenlos gewährt: »Forschung und
Lehre« und die »höchstrichterliche Rechtsprechung« haben herausgearbeitet, dass es auch für die in der jeweiligen
Formulierung schrankenlos gehaltenen Grundrechte Schranken gibt, die sich aus der Gesamtschau und Gesamtwürdigung
der Verfassung ergeben, die also „verfassungsimmanent“ sind. Diese schwierige juristische Konstruktion ist auch
sinnvoll, denn sonst könnte unter Hinweis auf die in Art. 4 GG schrankenlos formulierte Bekenntnis- und
Religionsausübungsfreiheit z.B. der Sati-Brauch der Witwenverbrennung praktiziert werden.
17 Ein gesetzliches Kopftuch-Verbot erwogen daraufhin: Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Hessen,
Niedersachsen und das Saarland. Der Meinungsbildungsprozess ist aber noch nicht überall abgeschlossen.
98
juristischen Balles in den politischen Raum. Der Präsident des nordrhein-westfälischen
Verfassungsgerichtshofes, der vielleicht bald in dieser Frage auf Landesebene zu entscheiden hat, wenn in NRW
ein entsprechendes Gesetz geschaffen und dagegen geklagt werden sollte, meinte: Das Karlsruher Urteil
verdiene als Urteil unseres obersten Gerichts Respekt, aber keine Zustimmung, weil es kein Wort zur „religiös
begründeten Degradierung der Frau“ wage; ein unvorsichtiges, ein keckes Wort für einen Richter, der wegen
solcher frühen vorlauten Äußerungen im Vorfeld einer von ihm später möglicherweise zu entscheidenden Frage
dann, wenn es zum diesbezüglichen Verfahren kommen sollte, problemlos als befangen abgelehnt werden kann
– oder sich selbst für befangen erklären muss!
Nun muss jeder Landesgesetzgeber für sich die Gretchenfrage: „Wie hältst du es mit der Religion?“,
beantworten.
Weil die Diskussion in unserem Land bezüglich des Problems der »Kopftuch-Lehrerinnen« mit diesem Urteil
und seinem Verweis auf mögliche Länderregelungen erst begonnen hat und das Sondervotum in der nun
aufbrechenden politischen Diskussion einige bedenkenswerte Gesichtspunkte dazu enthält, nachfolgend ein
zusammengekürzter Auszug daraus:
„Wer Beamter wird, stellt sich in freier Willensentschließung auf die Seite des Staates. Der Beamte
kann sich deshalb nicht in gleicher Weise auf die freiheitssichernde Wirkung der Grundrechte
berufen wie jemand, der nicht in die Staatsorganisation eingegliedert ist. In Ausübung seines
öffentlichen Amtes kommt ihm deshalb das durch die Grundrechte verbürgte Freiheitsversprechen
gegen den Staat nur insoweit zu, als sich aus dem besonderen Funktionsvorbehalt des öffentlichen
Dienstes keine Einschränkungen ergeben. Der beamtete Lehrer unterrichtet auch im Rahmen seiner
persönlichen pädagogischen Verantwortung nicht in Wahrnehmung eigener Freiheit, sondern im
Auftrag der Allgemeinheit und in Verantwortung des Staates. Beamtete Lehrer genießen deshalb
bereits vom Ansatz her nicht denselben Grundrechtsschutz wie Eltern und Schüler: Die Lehrer sind
vielmehr an Grundrechte gebunden, weil sie teilhaben an der Ausübung öffentlicher Gewalt.
Der freiwillige Eintritt in das Beamtenverhältnis ist eine vom Bewerber in Freiheit getroffene
Entscheidung für die Bindung an das Gemeinwohl und die Treue zu einem Dienstherren, der in der
Demokratie für das Volk und kontrolliert durch das Volk handelt. Wer Beamter werden will, darf
deshalb das Gebot der Mäßigung und der beruflichen Neutralität nicht ablehnen, weder generell
noch in Bezug auf bestimmte, vorweg erkennbare dienstliche oder außerdienstliche Konstellationen.
Mit diesen Pflichten ist jedenfalls nicht zu vereinbaren, dass der Beamte den Dienst im
Innenverhältnis prononciert als Aktionsraum für Bekenntnisse, gleichsam als Bühne grundrechtlicher
Entfaltung nutzt. Die ihm übertragene Aufgabe besteht darin, dem demokratischen Willen, d.h. dem
Gesetzeswillen und dem der verantwortlichen Regierung fachlich, sachlich, nüchtern und neutral zur
Wirksamkeit zu verhelfen und als Individuum dort zurückzustehen, wo seine Ansprüche auf
Verwirklichung der Persönlichkeit geeignet sein können, Konflikte im Dienstverhältnis und damit
Hindernisse für die Verwirklichung demokratisch gebildeten Willens zu erzeugen.
Wer Beamter werden will, muss sich mit dem Verfassungsstaat in wichtigen Grundsatzfragen und
bei der Wahrnehmung seiner dienstlichen Aufgaben loyal identifizieren, weil umgekehrt auch der
Staat durch seinen öffentlichen Dienst repräsentiert und deshalb mit dem konkreten Bediensteten
identifiziert wird. Von dieser Idee der Gegenseitigkeit und der Nähe sind alle Grundsätze des
Berufsbeamtentums beherrscht.
Grundrechtliche Freiheitsansprüche eines Beamten oder des Bewerbers um ein öffentliches Amt sind
deshalb von vornherein nur insoweit gewährleistet, als sie mit diesen Sachgesetzlichkeiten vereinbar
sind.
Die Eignungsbeurteilung im Rahmen des speziellen Gleichheitsrechts aus Art. 33 Abs. 2 GG darf
nicht mit einem Eingriff in die Freiheitssphäre des Art. 4 Abs. 1 GG verwechselt werden.
Voraussetzung und gleichsam Normalfall klassischer Freiheitsrechte ist ein Eindringen der
öffentlichen Gewalt in die Sphäre des Bürgers. Davon weichen diejenigen Konstellationen ab, in
denen der Bürger auf den Staat zugeht, von der Allgemeinheit Leistungen einfordert oder ihr seine
Dienste anbietet. Nicht die öffentliche Gewalt dringt hier in die Gesellschaft ein, sondern
Grundrechtsträger suchen die Nähe zur staatlichen Organisation, erstreben deren Handeln, suchen
eine Rechtsbeziehung.
Verbietet der Staat jemandem das zumindest auch religiös motivierte Tragen des Kopftuches auf
einem öffentlichen Platz, greift er zweifellos in das Grundrecht der Religionsfreiheit ein. Möchte der
99
Art. 33
GG als
den Staat
verpflicht
ende
spezielle
Ausgestaltung
des
allgemein
en
Gleichheit
sgrundsat
zes
Beamte dagegen in einem bereits von der Verfassung als neutral bestimmten Bereich - hier im
Unterricht einer staatlichen Pflichtschule - und als Repräsentant der Allgemeinheit religiös
begriffene Zeichen setzen, so übt er nicht eine ihm als Individuum zustehende Freiheit im
gesellschaftlichen Raum aus. Die Freiheitsentfaltung des Beamten im Dienst ist von vornherein
durch die Sachnotwendigkeiten und vor allem die verfassungsrechtliche Ausgestaltung des Amtes
begrenzt - anders würde die Verwirklichung des Volkswillens an einem Übermaß an
Freiheitsansprüchen der Repräsentanten des Staates scheitern. Bei der Wahrnehmung des
Schuldienstes hat der Lehrer die Grundrechte der Schüler und ihrer Eltern zu achten, er steht nicht
nur auf der Seite des Staates, der Staat handelt durch ihn. Wer den Beamten, abgesehen von
Statusfragen, als uneingeschränkt grundrechtsberechtigt gegenüber seinem Dienstherren sieht, löst
die um der Freiheit von Kindern und Eltern willen gezogene Grenze zwischen Staat und Gesellschaft
auf. Er nimmt damit in Kauf, dass die Durchsetzung demokratischer Willensbildung erschwert wird
und ebnet stattdessen einer schwer kontrollierbaren juristischen Abwägung zwischen
Grundrechtspositionen von Lehrern, Eltern und Schülern den Weg.
Wer ein öffentliches Amt erstrebt, sucht im status activus die Nähe zur öffentlichen Gewalt und
begehrt - wie die Beschwerdeführerin - die Begründung eines besonderen Dienst- und
Treueverhältnisses zum Staat. Diese besondere, durch Art. 33 Abs. 5 GG verfassungsrechtlich
abgesicherte Pflichtenstellung überlagert den grundsätzlich auch für Beamte geltenden Schutz der
Grundrechte (vgl. BVerfGE 39, 334 <366 f.>), soweit Aufgabe und Zweck des öffentlichen Amts
dies erfordern. Dementsprechend gewährt auch der aus Art. 33 Abs. 2 GG folgende staatsbürgerliche
Anspruch gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern nur, wenn der Bewerber die
Tatbestandsvoraussetzungen des grundrechtsgleichen Rechts - Eignung, Befähigung, fachliche
Leistung - erfüllt. Der Dienstherr ist befugt und von Verfassungs wegen verpflichtet, die Eignung
eines Bewerbers für ein öffentliches Amt festzustellen (Art. 33 Abs. 2 GG).
Die im Rahmen der Ermessensentscheidung vorzunehmende Beurteilung von Eignung, Befähigung
und fachlicher Leistung ist ein Akt wertender Erkenntnis, der vom Gericht nur beschränkt darauf zu
überprüfen ist, ob die Verwaltung der Beurteilung einen unrichtigen Sachverhalt zu Grunde gelegt
und ob sie den beamtenrechtlichen und verfassungsrechtlichen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen
kann, verkannt hat. Im Übrigen ist die Nachprüfung, da es keinen Anspruch auf Übernahme in das
Beamtenverhältnis gibt, auf die Willkürkontrolle beschränkt (vgl. BVerfGE 39, 334 <354>). Die
Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Eignung erfordert eine Prognoseentscheidung,
wobei der Dienstherr die Gesamtheit der Eigenschaften, die das jeweilige Amt von seinem Inhaber
fordert, umfassend zu bewerten hat (vgl. BVerfGE 4, 294 <296 f.>; BVerwGE 11, 139 <141>).
Hierbei hat der Dienstherr auch zu prognostizieren, ob der Bewerber zukünftig seine Dienstpflichten
in dem angestrebten Amt erfüllen wird. Zur Eignung zählt nicht nur die Gewähr, dass der Beamte
den fachlichen Aufgaben gewachsen ist, sondern auch, dass er in seiner Person die grundlegenden
Voraussetzungen erfüllt, die für die Wahrnehmung eines übertragenen öffentlichen Amtes
unabdingbar sind. Zu diesen Voraussetzungen, die Art. 33 Abs. 5 GG mit Verfassungsrang schützt,
rechnet die Gewähr für eine neutrale Wahrnehmung der dienstlichen Aufgaben des Beamten.
Welches Maß an Zurückhaltung und Neutralität vom Beamten im Einzelfall verlangt werden darf,
bestimmt sich nicht nur aus allgemeinen Grundsätzen, sondern auch aus den konkreten
Anforderungen des Amtes.
Der Staat und seine Organe sind nach Art. 4 Abs. 1 GG sowie aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 33
Abs. 3 und Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 1, 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV
verpflichtet, sich in Fragen des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses neutral zu verhalten
und nicht den religiösen Frieden in der Gesellschaft zu gefährden (BVerfGE 105, 279 <294>). Auch
deshalb muss der Beamte bereits beim Zugang zum öffentlichen Dienst von Verfassungs wegen die
persönliche Gewähr für ein neutrales, nicht provozierendes oder herausforderndes Verhalten im
Rahmen der künftigen Amtsführung bieten (Art. 33 Abs. 5 GG).
Die allgemeine Neutralitätspflicht gilt in besonderem Maße für Beamte, die das Amt des Lehrers an
öffentlichen Schulen ausüben. Lehrer erfüllen den Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates
(Art. 7 Abs. 1 GG). Sie haben dabei die unmittelbare pädagogische Verantwortung für den
Unterricht und die Erziehung der Schüler. Auf Grund ihrer Funktion werden sie in die Lage versetzt,
in einer den Eltern vergleichbaren Weise Einfluss auf die Entwicklung der anvertrauten Schüler zu
nehmen. Damit verbunden ist eine Einschränkung des grundrechtlich garantierten Erziehungsrechts
der Eltern (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG), die nur hingenommen werden kann, wenn sich die Schule um
größtmögliche Objektivität und Neutralität nicht nur im politischen, sondern auch im religiösen und
weltanschaulichen Bereich bemüht. Dies gilt auch deshalb, weil den Eltern nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1
100
GG das Recht zur Kindererziehung auch in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht zusteht und
diese für falsch empfundene Glaubensüberzeugungen grundsätzlich von ihren Kindern fern halten
können (vgl. BVerfGE 41, 29 <48>; 41, 88 <107>). Die Beachtung dieser Rechte gehört zu den
wesentlichen bereits vom Grundgesetz geforderten Aufgaben der Schule; sie bestimmen zugleich
spiegelbildlich die von den Lehrern zu beachtenden Dienstpflichten.
Eine Lehrerin an einer Grund- oder Hauptschule verstößt gegen Dienstpflichten, wenn sie im
Unterricht mit ihrer Kleidung Symbole verwendet, die objektiv geeignet sind, Hindernisse im
Schulbetrieb oder gar grundrechtlich bedeutsame Konflikte im Schulverhältnis hervorzurufen. Das
von der Beschwerdeführerin begehrte kompromisslose Tragen des Kopftuchs im Schulunterricht ist
mit dem Mäßigungs- und Neutralitätsgebot eines Beamten nicht zu vereinbaren.
Die Schulverwaltung hat ausweislich des Protokolls der Eignungsgespräche und nach den
Bekundungen in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht durchaus
Verständnis für die Glaubensüberzeugung der Beschwerdeführerin gezeigt; die Beschwerdeführerin
hat umgekehrt aber ersichtlich dem Neutralitätsanliegen des Dienstherren kein Verständnis
entgegengebracht. Sie hat sich - abgesehen von Extremfällen wie unmittelbar drohender Gewalt außer Stande gesehen, auf ein Symbol von starker religiöser und weltanschaulicher Aussagekraft im
Dienst zu verzichten. Abgesehen davon, dass diese Rigidität Zweifel an der vorrangigen Loyalität
der Beschwerdeführerin zu den politischen Zielen des Dienstherren und der Werteordnung des
Grundgesetzes auch in einem möglichen Konflikt mit religiösen Überzeugungen des Islam
hervorruft, sind damit bereits bei der Eignungsbeurteilung Umstände bekannt geworden, die eine
allseitige Verwendung der Bewerberin im Schuldienst erheblich erschweren würden und die
Landesstaatsgewalt in heute bereits voraussehbare Konflikte mit Schülern und deren Eltern, aber
womöglich auch mit anderen Lehrern brächten.
Das von der Beschwerdeführerin getragene Kopftuch ist dabei nicht abstrakt oder aus der Sicht der
Beschwerdeführerin zu beurteilen, sondern im konkreten Schulverhältnis.
Zu den Anforderungen des Amtes einer Grund- und Hauptschullehrerin zählt die Pflicht, objektiv
ausdrucksstarke politische, weltanschauliche oder religiöse Symbole für ihre Person zu vermeiden.
Im Schuldienst hat der Lehrer die Verwendung solcher signifikanter Symbole zu unterlassen, die
geeignet sind, Zweifel an seiner Neutralität und professionellen Distanz in politisch, religiös oder
kulturell umstrittenen Themen zu wecken. Dabei kann es nicht darauf ankommen, welchen
subjektiven Sinn der beamtete Lehrer mit dem von ihm verwendeten Symbol verbindet.
Entscheidend ist vielmehr die objektive Wirkung des Symbols.
Eine solche Wirkung in konkret wechselnden Lagen jeweils einzuschätzen, ist grundsätzlich Sache
des Dienstherren und kann von Gerichten nur in eingeschränktem Umfang auf Plausibilität und
Schlüssigkeit überprüft werden. Für die Einschätzung ist die fachlich kompetente Verwaltung am
besten geeignet, die Konkretisierung der Dienstpflichten ist traditionell eine Domäne des
Dienstherren. Dabei hat er auf wechselnde Lagen zu reagieren. Die Verwendung von Symbolen
verändert sich ebenso im Laufe der Zeit wie die Heftigkeit der durch sie hervorgerufenen Resonanz:
mal stehen politische Plaketten (z.B. "Stoppt Strauß", "Atomkraft - nein danke"), mal religiös
hergeleitete Zeichen wie die orangefarbene Kleidung der Bhagwan(Osho)-Anhänger im Vordergrund
(BVerwG, NVwZ 1988, S. 937).
Die die angegriffenen Entscheidungen tragende Annahme, dass bei einer Einstellung der
Beschwerdeführerin in einer allgemeinen Grund- oder Hauptschule in Baden-Württemberg
Beeinträchtigungen des Schulfriedens zu besorgen sind, ist nachvollziehbar. Auch die
Senatsmehrheit geht davon aus, dass eine Lehrerin, die das Kopftuch als islamisches Symbol
dauerhaft im Unterricht trägt, jedenfalls eine "abstrakte Gefahr" hervorruft.
In der Tat ist ein von der Lehrerin getragenes – gegenwärtig – ausdrucksstarkes Symbol mit
objektiven religiösen, politischen und kulturellen Sinngehalten geeignet, in die negative
Religionsfreiheit von Schülern und Eltern und in das Erziehungsrecht der Eltern (Art. 6 Abs. 2 GG)
einzugreifen. Gerade das Tragen eines Kleidungsstücks, das eindeutig auf eine bestimmte religiöse
oder weltanschauliche Überzeugung eines Lehrers an öffentlichen Schulen hinweist, kann auf
Unverständnis oder Ablehnung bei andersdenkenden Schülern oder deren Erziehungsberechtigten
stoßen und diesen Personenkreis in seinem Grundrecht negativer Bekenntnisfreiheit treffen, weil sich
die Schüler einer solchen Demonstration religiöser Überzeugung nicht entziehen können. Unterricht
101
und Erziehung an öffentlichen Schulen sind staatliche Leistungen, deren Inanspruchnahme den
Kindern zur gesetzlichen Pflicht gemacht ist. Für Kinder und ihre Eltern ist deshalb die Teilnahme
am Schulunterricht grundsätzlich unausweichlich. Zudem hängen vom Leistungsniveau und von der
Fähigkeit schulischer Einrichtungen sowie ihrer Praxis zu sachgerechter Förderung und Erziehung
die Lebenschancen der Kinder maßgeblich ab. Weder den Eltern noch dem Staat ist es deshalb
zuzumuten, angesichts einer schon im Einstellungsgespräch erkennbaren künftigen Konfliktlage
abzuwarten, ob und wie sich Konflikte im Einzelfall entwickeln. Überdies liegt nahe, dass einige
Eltern von einem Protest absehen werden, weil sie deswegen Nachteile für ihr Kind befürchten.
Die Möglichkeit einer Beeinträchtigung des Schulfriedens ist im Fall der Beschwerdeführerin im
Übrigen auch schon konkret geworden, wie Erfahrungen im Vorbereitungsdienst und die ablehnende
Reaktion von anderen Lehrerinnen zeigen.
Lehrerinnen und Lehrer prägen als Person und als Persönlichkeit - gerade in der Grundschule und in
der Funktion des Klassenleiters - die Kinder maßgeblich. Trägt eine Lehrerin auffällige Kleidung,
ruft dies Eindrücke hervor, gibt zu Fragen Anlass und spornt zur Nachahmung an. Der
Sachverständige Professor Bliesener hat in der mündlichen Verhandlung dazu ausgeführt, dass das
Lehrerverhalten die Kinder zur Nachahmung anregt: dies geschähe auf Grund der oft engen
emotionalen Bindung der Grundschülerinnen und Grundschüler, die von der Lehrkraft aus
pädagogischen Gründen auch angestrebt werden soll, sowie der eindeutigen Ausrichtung der
kindlichen Aufmerksamkeit auf die Lehrkraft und der ebenfalls wahrgenommenen Autorität der
Lehrkraft im Kontext der Schule.
Die Erklärung der Beschwerdeführerin, sie würde durch das Kopftuch ausgelöste Fragen
wahrheitswidrig beantworten und wider ihrer Glaubensüberzeugung behaupten, es handele sich nur
um ein Modeaccessoire, ist nicht geeignet, einen Grundrechtskonflikt zu vermeiden. Denn auch
Kinder wissen um die religiöse Bedeutung eines ständig, also auch in geschlossenen Räumen
getragenen Kopftuchs. Überdies interagieren Schulkinder nicht nur mit der Lehrerin, sondern auch
mit ihren Eltern und einem weiteren sozialen Umfeld. Eltern, die im Rahmen ihrer
Erziehungsvorstellung Fragen ihrer Kinder wahrheitsgemäß beantworten, werden nicht umhin
können zu erläutern, die Lehrerin trage das Kopftuch, weil sie anders ihre Würde als Frau in der
Öffentlichkeit nicht wahren könne. Damit ist aber bei Schülern mit nichtislamischen, möglicherweise
auch bei islamischen Eltern, die nicht von einem Verhüllungsgebot der Frau in der Öffentlichkeit
ausgehen, ein Konflikt mit ihren Wertvorstellungen angelegt.
Die objektive Reizwirkung eines auch politisch-kulturellen Symbols kann sich über Reaktionen im
sozialen Umfeld leicht auf das Kind übertragen und es zu der Frage führen, ob es sich in einem
Wertedisput, den es nicht beurteilen kann, auf die Seite der Lehrerin oder auf die Seite eines das
Kopftuch dezidiert ablehnenden sozialen Umfeldes schlägt, zu dem auch die Eltern rechnen können.
Der Sachverständige Bliesener hat in der mündlichen Verhandlung insoweit auf die mögliche
emotionale Überforderung der Kinder im Grundschulalter hingewiesen, die eintreten könne, wenn
sich zwischen der Lehrkraft auf der einen Seite und der Elternschaft oder einzelnen Eltern auf der
anderen Seite ein dauerhafter Konflikt entwickelt.
Durch die Verwendung signifikanter Bekleidungssymbole erscheint ein Konflikt in
nachvollziehbarer Weise als möglich oder sogar naheliegend, weil das Kopftuch offenkundig - das
zeigen bereits die öffentlichen Reaktionen auf die von der Beschwerdeführerin angestrengten
gerichtlichen Verfahren - jedenfalls auch als Symbol des politischen Islamismus mit starkem
Symbolgehalt aufgeladen ist und entsprechende Abwehrreaktionen zu erwarten sind.
Zu diesem objektiven Aussagegehalt gehört auch die Betonung eines sittlichen Unterschieds
zwischen Frauen und Männern, die geeignet ist, Konflikte mit denjenigen hervorzurufen, die
ihrerseits die Gleichberechtigung, Gleichwertigkeit und gesellschaftliche Gleichstellung von Frauen
und Männern (Art. 3 Abs. 2 GG) als hohen ethischen Wert vertreten.
Die Einschätzung, dass das beständige Tragen eines Kopftuchs im Schulunterricht mit der Pflicht zur
weltanschaulichen und religiösen Neutralität des Beamten unvereinbar ist, wurde durch alle drei
verwaltungsgerichtliche Urteile überzeugend als fehlerfrei gekennzeichnet. Das Kopftuch als
religiöses und weltanschauliches Zeichen für die Notwendigkeit der Verhüllung der Frau in der
Öffentlichkeit ist jedenfalls zurzeit objektiv geeignet, Widerspruch und Polarisierung hervorzurufen.
Die Beschwerdeführerin hat bekundet, sie fühle sich in ihrer Würde verletzt, wenn sie sich mit
unbedecktem Haupthaar in der Öffentlichkeit zeige. Auch wenn die Beschwerdeführerin sich nicht
102
ausdrücklich entsprechend eingelassen hat, so liegt doch im Umkehrschluss nahe, dass eine Frau, die
sich nicht verhüllt, sich ihrer Würde begibt. Eine solche Unterscheidung ist objektiv geeignet,
Wertkonflikte in der Schule hervorzurufen. Dies gilt schon im Verhältnis der Lehrer untereinander,
aber erst recht im Verhältnis zu Eltern, deren Kinder gerade in der Grundschule erfahrungsgemäß
eine besondere Beziehung zu ihrer Lehrerin aufbauen.
Das Kopftuch, getragen als kompromisslose Erfüllung eines von der Beschwerdeführerin
angenommenen islamischen Verhüllungsgebotes der Frau, steht gegenwärtig für viele Menschen
innerhalb und außerhalb der islamischen Religionsgemeinschaft für eine religiös begründete
kulturpolitische Aussage, insbesondere das Verhältnis der Geschlechter zueinander betreffend.
Immerhin wurzelt auch nach Meinung wichtiger Kommentatoren des Korans das Gebot der
Verhüllung der Frau - unabhängig von der Frage, ob es überhaupt ein striktes Gebot in diese
Richtung gibt - in der Notwendigkeit, die Frau in ihrer dem Mann dienenden Rolle zu halten.
Diese Unterscheidung zwischen Mann und Frau steht dem Wertebild des Art. 3 Abs. 2 GG fern. Es
kommt insofern nicht darauf an, ob eine solche Meinung innerhalb der islamischen
Glaubensgemeinschaft allein gültig oder auch nur vorherrschend ist oder ob die im Verfahren
vorgetragene Auffassung der Beschwerdeführerin, das Kopftuch sei eher ein Zeichen für das
wachsende Selbstbewusstsein und die Emanzipation islamisch gläubiger Frauen, zahlenmäßig stark
vertreten wird.
Es ist ausreichend, dass die Auffassung, eine Verhüllung der Frauen gewährleiste ihre Unterordnung
unter den Mann, offenbar von einer nicht unbedeutenden Zahl der Anhänger islamischen Glaubens
vertreten wird und deshalb geeignet ist, Konflikte mit der auch im Grundgesetz deutlich
akzentuierten Gleichberechtigung von Mann und Frau hervorzurufen.
Das Grundgesetz achtet - in der Sphäre der Gesellschaft - auch solche religiösen und
weltanschaulichen Auffassungen, die ein mit der grundgesetzlichen Wertordnung schwer zu
vereinbarendes Verhältnis der Geschlechterbeziehungen dokumentieren, solange sie nicht die
Grenzen der staatlichen Friedens- und Rechtsordnung überschreiten. Das Wertesystem des
Grundgesetzes einschließlich seines Verständnisses der Gleichheit von Mann und Frau schließt sich
nicht vor allen Veränderungen ab, es stellt sich Herausforderungen, reagiert und bewahrt die
Identität im Wandel. Diese Offenheit und Toleranz geht aber nicht soweit, solchen Symbolen
Eingang in den Staatsdienst zu eröffnen, die herrschende Wertmaßstäbe herausfordern und deshalb
geeignet sind, Konflikte zu verursachen.
Die grundsätzliche Offenheit und Toleranz in der Gesellschaft darf nicht auf das staatliche
Binnenverhältnis übertragen werden. Es ist vielmehr von Verfassungs wegen geboten, die innere
Organisation der staatlichen Verwaltung von der ersichtlichen Möglichkeit solch schwerwiegender
Konflikte frei zu halten, damit - im konkreten Fall - Schulunterricht und schulische Erziehung
störungsfrei erfolgen können und allgemein, weil der Staat handlungsfähig bleiben und mit einem
Minimum an Einheitlichkeit auftreten können muss.“
Zur Illustration der vom BVerfG angesprochenen sittlichen Ungleichwertigkeit zwischen Männern und Frauen
im Islam kann auf Sure 4/Vers 34 (in der mir vorliegenden Übersetzung):
„Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie (von Natur vor diesen) ausgezeichnet
hat und wegen der Ausgaben, die sie von ihrem Vermögen gemacht haben. Ehrbare
Frauen sind gehorsam und bewahren das Geheimnis, weil sie Gott bewahrt. Doch wenn ihr
bei ihnen Ungehorsam fürchtet, vermahnt sie und scheidet euer Lager von dem ihren und
schlagt sie. Denn Gott ist erhaben und mächtig.“
verwiesen werden und darauf hingewiesen werden, dass - neben allen rituellen Hintansetzungen der Frauen - als
Ausfluss dieser im Koran und in der Scharia religiös verbrämten Ungleichwertigkeit Frauen u.a. viel weniger als
Männer erben, ihr Zeugnis vor Gericht nur halb so viel wie das von Männern zählt, Muslime auch Christinnen
und Jüdinnen als Mitglieder von Buchreligionen heiraten dürfen, es hingegen einer Muslimin verboten ist, einen
Nichtmuslim zu heiraten, Männer laut Sure 4/3 bis zu vier (Haupt-)Frauen haben dürfen, wenn sie ihnen gerecht
werden, d.h. sie ernähren, können, eine Frau aber nur einen Mann haben darf, den sie sich eventuell sogar mit
anderen Frauen teilen muss, ein Mann seine Frau verstoßen kann, wenn er ihrer überdrüsig ist: „Talaq, talaq,
talaq“ („Ich verstoße dich, ich verstoße dich, ich verstoße dich!“), einer Frau dieses Recht aber nicht zusteht, sie
103
auch im Vergleich zu den Möglichkeiten des Mannes eingeschränktere Scheidungsmöglichkeiten hat.
Bundeskanzler Schröder (Jurist) und die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Vollmer (Pfarrerin),
forderten im Verlauf der durch das BVerfG angestoßenen »Kopftuch-Diskussion« ein Verbot von Kopftuch
tragenden Lehrerinnen an öffentlichen Schulen: Das Kopftuch sei ein politisches Symbol der islamistischen
Bewegung und ihrer gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen, die die Frau dem Manne unterordne. Das
Grundgesetz verlange aber die Gleichberechtigung von Frau und Mann. Diesem Grundrecht entgegenstehende
Dominanzansprüche seien somit grundgesetzwidrig und dürften nicht auch noch durch ein »religiöses
Kampfsymbol« in Schulen zum Ausdruck gebracht werden.
Der damalige Bundespräsident Rau (Jurist und bekennender Christ) sprach sich in dem Kopftuchstreit für eine
Gleichbehandlung der Religionen aus. Die Haltung der Länder müsse konsequent und in sich stimmig sein:
„Wenn das Kopftuch in Schulen verboten wird, muss das auch für Mönchskutte und Kruzifix gelten.“ (Rau im
ZDF und HH A 29.12.03). Rau betonte in der "Welt am Sonntag" (04.01.04), die Verfassung fordere eine
Gleichbehandlung der Religionen im öffentlichen Raum, somit auch in den Schulen. Bei einem Verbot des
Kopftuches als religiöses Zeichen an Schulen könne man "die Mönchskutte nur schwer verteidigen. Damit wird
ja nicht unser christliches Erbe infrage gestellt." (Wie sich ein Jahr später herausstellte, sah das BVerwG das
genau so!)
Gegen die rechtliche Gleichsetzung von Kreuz und Kopftuch wandte sich der protokollarisch zweite oder dritte
Mann im Staat, Bundestagspräsident Thierse. Er fuhr dem Bundespräsidenten in die Parade: Zwar habe der Staat
grundsätzlich die Pflicht zur Neutralität gegenüber allen Religionen. Der Unterschied zwischen Kreuz und
Kopftuch bestehe seiner Meinung nach aber darin, dass ein in Deutschland von Frauen getragenes Kreuz kein
Zeichen von Unterdrückung sei, das von muslimischen Frauen getragene Kopftuch hingegen sei jedoch kein
bloßes religiöses Symbol, sondern für viele dieser Frauen sehr wohl ein Zeichen für ihre Unterdrückung durch
reaktionäre Familien- oder Gruppenmitglieder! Daher verbiete sich eine rechtliche Gleichbehandlung von Kreuz
und Kopftuch.
Aber da irrt Herr Thierse, da er nicht die hier vertretene Meinung teilt, die auch das BVerwG für Recht erkannt
hat:
„URTEIL
Auch Nonnen müssen jetzt oben ohne
Im Streit um die Kopftücher muslimischer Lehrerinnen sind nun christliche Nonnen im Schuldienst
die Leidtragenden. Laut Bundesverwaltungsgericht müssen auch sie in Baden-Württemberg
zukünftig ablegen, bevor sie das Klassenzimmer betreten.
Berlin - Aus der schriftlichen Begründung des jüngsten Urteils des Bundesverwaltungsgerichts zum
baden-württembergischen Kopftuchverbot, die jetzt vorliegt, geht hervor, dass die Ordensfrauen ihr
Habit ablegen oder den Schuldienst quittieren müssen.
Die baden-württembergische Kultusministerin Annette Schavan (CDU) hatte versucht, mit einer
Novelle des Schulgesetzes zwar das Tragen islamischer Kopftücher durch Lehrerinnen zu verbieten,
christliche Symbole aber weiterhin zuzulassen - im katholisch geprägten Schwarzwald erteilen auch
Ordensschwestern im Habit staatlichen Unterricht.
Das Verbot religiöser Bekundungen, so die Leipziger Richter nun aber, müsse auf Grund des
Gesetzes in Baden-Württemberg für alle Religionen gelten. "Ausnahmen für bestimmte Formen
religiös motivierter Kleidung in bestimmten Regionen", so das Urteil, "kommen daher nicht in
Betracht."
Schavans Gesetzesautor und Prozessvertreter, der Tübinger Juraprofessor Ferdinand Kirchhof, hält
dagegen, beim Nonnen-Habit handle es sich um eine "Berufstracht", die als solche von dem Verbot
religiöser Kleidung nicht erfasst sei.“ (SPIEGEL ONLINE 09.10.04)
„NONNEN AN SCHULEN
Nicht ohne meine Kutte
Auch Nonnen müssen laut Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ihre Ordenstracht im
Klassenzimmer ablegen. Baden-Württembergs Kultusministerin sieht das anders: Diese
"Berufskleidung" sei weiterhin erlaubt, glaubt die Katholikin Annette Schavan - eine windige
Argumentation.
Für Annette Schavan war es eine gute Nachricht: Am Freitag erklärte die muslimische Lehrerin
Fereshta Ludin, dass sie im zähen Rechtsstreit um das Kopftuchverbot an staatlichen Schulen BadenWürttembergs aufgibt. "Es ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, an dem ich dem gerichtlichen Weg ein
Ende setzen möchte", so Ludin. Kultusministerin Schavan (CDU) reagierte erfreut: "Frau Ludin hat
104
nun offenbar eingesehen, dass eine Verfassungsbeschwerde keinen Sinn haben würde", sagte
Schavan. Sie begrüßte den Rückzug als "Bestätigung unserer Vorgehensweise und des badenwürttembergischen 'Kopftuch-Gesetzes', das mit großer Mehrheit des Landtags verabschiedet worden
ist und abschließende Klarheit geschaffen hat".
Abschließende Klarheit? Nun ja. Das Gesetz hat so seine Tücken. Wie der SPIEGEL in seiner
aktuellen Ausgabe meldet, müssen auch Ordensfrauen ihr Habit ablegen oder den Schuldienst
quittieren; das gehe aus einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Kopftuchstreit hervor. Das
Verbot religiöser Bekundungen, so die Leipziger Richter, müsse auf Grund des Gesetzes in BadenWürttemberg für alle Religionen gelten. "Ausnahmen für bestimmte Formen religiös motivierter
Kleidung in bestimmten Regionen", so das Urteil, "kommen daher nicht in Betracht."
Gesetz könnte auf das Land zurückfallen
Mit ihrer Gesetzesnovelle hatte die katholische Kultusministerin versucht, zwar das Tragen
islamischer Kopftücher durch Lehrerinnen zu verbieten, christliche Symbole aber weiterhin
zuzulassen - im katholisch geprägten Schwarzwald erteilen auch Ordensschwestern im Habit
staatlichen Unterricht.
Mit der strikten Neutralität des Staates und dem Verbot aller religiösen Symbole ist es in BadenWürttemberg nicht weit her. Auch andere Bundesländer haben Gesetze verabschiedet, die
Kopftuchtragen vereiteln, aber zugleich die Vermittlung "christlicher und abendländischer
Kulturwerte" weiter zulassen sollen.
Dieser Balanceakt könnte rechtlich unangenehme Folgen haben. Annette Schavan aber hält das
Tragen einer Nonnentracht im öffentlichen Schuldienst weiterhin für möglich. Das baden-württembergische Kopftuchverbot stimme "völlig mit dem Grundgesetz überein", sagte Schavan. Über das
"Tragen einer Berufskleidung von Ordensschwestern" habe das Bundesverwaltungsgericht "nicht
ausdrücklich entschieden, weil diese Frage nicht Ausgangspunkt des Prozesses war". Die Darstellung
christlicher Traditionen als historische Wurzeln des Landes" sei erlaubt, dazu zähle "nach
Auffassung des Landes das Tragen einer Ordenstracht".
Bumerangeffekt wahrscheinlich
Auch Schavans Gesetzesautor und Prozessvertreter, der Tübinger Juraprofessor Ferdinand Kirchhof,
hatte argumentiert, beim Nonnen-Habit handle es sich um eine "Berufstracht", die als solche vom
Verbot religiöser Kleidung nicht erfasst sei.
Das Bundesverfassungsgericht hatte nicht einfach das Kopftuchverbot abgelehnt oder durchgewinkt,
sondern die Landesparlamente aufgefordert, erst einmal eine Gesetzesregelung zu verabschieden.
Damit hat sich Baden-Württemberg besonders beeilt. Und wie andere Länder versucht, bei
gleichzeitiger Verbannung muslimischer Symbole die christlichen Traditionen zu wahren. Nach
Auffassung der Kopftuchgegner ist Ordenskleidung nicht gleichzusetzen mit einer Kopfbedeckung,
die neben einer rein religiösen Haltung auch andere Botschaften transportiere und etwa Zustimmung
zum muslimischen Fundamentalismus signalisiere.
Juristisch indes ist die Interpretation einigermaßen verwegen, die Kluft der Nonnen sei keine religiös
motivierte Kleidung, sondern "Berufskleidung" - wie etwa der Overall eines Automechanikers, eine
Kochmütze oder die Schutzweste eines Straßenarbeiters. Früher oder später dürfte sich das
Bundesverfassungsgericht abermals damit beschäftigen.“ (Jochen Leffers SPIEGEL ONLINE
14.10.04)
„SCHULE
Unterricht ohne Haube
Der Kopftuch-Streit geht in die nächste Runde - damit könnten auch lehrende Nonnen Opfer
des baden-württembergischen Verbotsgesetzes werden.
Es ist ja nicht so, dass niemand sie gewarnt hätte. Doch die baden-württembergische
Kultusministerin Annette Schavan ließ sich bei ihrem Vorhaben, muslimischen Lehrerinnen das
Tragen eines Kopftuchs an der Schule per Gesetz zu verbieten, von niemandem beirren - nicht
einmal vom ehemaligen Verfassungsrichter Ernst-Gottfried Mahrenholz, der prophezeite: "Wenn Sie
das Kopftuch nicht in Kauf nehmen, dürfen Sie auch nicht die Nonnentracht dulden."
Jetzt sieht es so aus, dass die "Amtsaskese", die die Katholikin Schavan muslimischen Lehrerinnen
verordnet hat, zum Bumerang wird und Bekennende aller Glaubensrichtungen trifft. Und das nicht
nur in Baden-Württemberg, sondern auch in Bayern, Hessen und im Saarland, wo ähnliche Gesetze
verabschiedet oder vorbereitet worden sind.
Denn das Leipziger Bundesverwaltungsgericht hat in der jetzt nachgereichten schriftlichen
Begründung seines Kopftuchverbot-Urteils die "strikte Gleichbehandlung" der Religionen verordnet
105
und "Ausnahmen für bestimmte Formen religiös motivierter Kleidung" ausgeschlossen.
Kein Wunder also, dass Maria Bernadette Hein, Äbtissin des Zisterzienserklosters im BadenBadener Stadtteil Lichtenthal, beunruhigt ist. Die Grundschule im altehrwürdigen Kloster im
Nordschwarzwald ist eine von zwei staatlichen Schulen in Baden-Württemberg, an denen Nonnen im
Habit normalen Unterricht erteilen - noch. Die Äbtissin glaubt fest daran, dass das so bleibt: "Die
Ministerin hat sich eindeutig geäußert, dass unsere Schwestern die Ordenstracht nicht ausziehen
müssen", sagt Hein. "Sie hat uns das versprochen."
Dieses Versprechen zu halten dürfte schwer fallen: "Auch Frau Schavan muss sich an die
Rechtsprechung halten", fürchtet Klaus Hälbig, Sprecher der Diözese Rottenburg-Stuttgart.
Tatsächlich ist das "Ende des Kopftuch-Rechtsstreits", das Schavan nach dem Rückzieher der
Klägerin Fereshta Ludin per Pressemitteilung ausrufen ließ, noch lange nicht in Sicht. Zwar sieht die
aus Afghanistan stammende Lehramtsbewerberin, an deren Fall sich die Kopftuch-Debatte entzündet
hatte, von weiteren gerichtlichen Schritten ab. Doch schon in Kürze könnte ein weiterer Rechtsstreit
mit einer Kopftuch tragenden Lehrerin die Ministerin zwingen, mit der Gleichbehandlung der
Religionen Ernst zu machen.
Es geht um die Lehrerin Doris G., die an einer Grund- und Hauptschule in Stuttgart unterrichtet. Seit
1973 ist Doris G. Lehrerin, seit 1978 Beamtin auf Lebenszeit. 1984 konvertierte sie zum Islam, seit
1995 trägt sie im Schuldienst ein Kopftuch, allerdings bedeckt sie nur locker die Haare.
Doris G. erklärte im März 2000 im Ludin-Verfahren, auch sie trage ihr Kopftuch aus religiösen
Gründen, ohne dass sie von der Schulaufsicht behelligt worden wäre. Diesem Bekenntnis folgten
prompt mehrere "Personalgespräche", danach kam die Order des Oberschulamts, "ihren Dienst
immer dann ohne Kopfbedeckung zu versehen, wenn sie in Kontakt mit Schülern ist". Doris G.
klagte vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart. Dort ließ man die Sache bis zum Abschluss des Falls
Ludin ruhen - jetzt soll es im Dezember zur Verhandlung kommen.
Sollten Schavans Beamte darauf bestehen, dass Doris G. ihr Kopftuch abnimmt, könnten auch
lehrende Nonnen ein Problem bekommen. Denn dann, so der Freiburger Staatsrechtler und ExVerfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde, könne Doris G. "einwenden, dies sei eine
unzulässige Diskriminierung", die das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes verletze.
Schavan wäre in der Zwickmühle: Entweder geht sie auch gegen die Nonnen vor - oder sie lässt das
Verdikt gegen Doris G. fallen.
Verzweifelt sucht die Ministerin nach Argumenten, die einseitige Praxis zu retten - und richtet damit
weiteren Flurschaden an. Die Behauptung, der Nonnenhabit falle als "Berufstracht" nicht unter das
Verbot religiös motivierter Kleidung, empört die Gottesfrauen. Äbtissin Hein fühlt sich durch solch
eine Verkürzung beleidigt. Der Habit sei "ein Zeichen der Religiosität und der Beziehung zu Gott",
findet auch die Vorsitzende der Vereinigung der Ordensoberinnen in Deutschland, Aloisia Höing.
Um ihre katholische Klientel zu befrieden, lenkte Schavan vergangene Woche ein: Ob die
Ordenstracht nur ein Berufskleid oder ein religiöses Zeichen sei, spiele "keine Rolle". Sie verbiete
das Kopftuch wegen seiner "politischen Mehrdeutigkeit", und die sei dem Habit nicht zu
unterstellen.
Verfassungsrechtler Mahrenholz sieht als einzigen Ausweg für Schavan, eine Einzelfallprüfung ins
Gesetz aufzunehmen, für Nonnen wie für Muslima.
Dass genaues Hinsehen sinnvoll sein kann, zeigt ein Fall an einer Grundschule in NordrheinWestfalen: Dort war eine Kopftuch tragende Lehrerin, die sogar in Sachen Kopftuch politisch aktiv
war, lange Jahre als Konrektorin tätig. Erst als sie Schulleiterin werden wollte, musste sie auf die
Bedeckung ihres Hauptes verzichten.
DIETMAR HIPP, CAROLINE SCHMIDT“ (SPIEGEL ONLINE 20.10.04)
Das BVerwG hat nicht nur entschieden, dass Lehrer „… in der Schule keine Kleidung oder sonstigen Zeichen
tragen dürfen, die ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft erkennen lassen. …
Ausnahmen für bestimmte Formen religiöser Kleidung in bestimmten Regionen kommen nicht in Betracht.“
Bei einer so klaren kann Aussage kann man sich nur über den Bundestagspräsidenten und andere Ignoranten wie
die baden-württembergische Kultusministerin und ihre Rechtsberater wundern!
Dieses unsere Gerichte und nun manche Länderparlamente beschäftigende Grundsatzproblem der Abwägung
zwischen einerseits der Religionsfreiheit der ein Kopftuch tragenden Lehrerinnen und andererseits der
Neutralitätspflicht des Staates besteht auch in anderen Ländern der EU und wird unterschiedlich gelöst:
In der laizistischen Republik Frankreich mit ihren rund 4 Mill. Muslimen und 600.00 Juden ist die Frage seit fast
106
einem Jahrhundert durch das Gesetz zur Trennung von Staat und Kirche von 1905 entschieden – aber, wie die
Spannungen in den Vorstädten und der »Kleinkrieg« in den Schulen zwischen Schülern verschiedener religiöser
Bekenntnisse zeigt: nicht gelöst. Insbesondere in den Kämpfen islamischer Schüler gegen jüdische spiegeln sich
die Spannungen des Nahen Ostens wider. Der Staatsrat erklärte 1989 das Tragen religiöser Zeichen als "nicht
vereinbar mit der religiösen Neutralität öffentlicher Schulen" und verbot "diskriminierende, den Unterricht
störende oder prahlerisch-angeberische religiöse Zeichen". Doch kein Gesetzgeber kann den Übergang vom
neutralen Zeichen zum "prahlerisch-angeberischen" oder "offenkundigen" zweifelsfrei definieren. Darum
wurden die Bestimmungen neu gefasst und verschärft. So ist es nunmehr allen Beschäftigten im öffentlichen
Dienst während der Ausübung ihrer öffentlichen Funktion und den Schülern in den staatlichen Schulen
untersagt, irgendwelche Zeichen ihrer jeweiligen religiösen Zugehörigkeit zu tragen. Muslimische Lehrerinnen
mit Kopftuch gibt es deshalb in Frankreich nicht, und Schülerinnen mit Kopftuch werden auch nicht (mehr)
geduldet. Der strikte Laizismus18, seit der Französischen Revolution von 1789 einer der Pfeiler der
französischen Staatsphilosophie, soll gewährleisten, dass der Staat sich aus jedem religiösen Streit heraushält.
KOPFTUCHVERBOT IN FRANKREICH
Schülerinnen vom Unterricht ausgeschlossen
Das Verbot religiöser Symbole an Frankreichs Schulen beginnt zu greifen. Nun sind erstmals fünf
muslimische Schülerinnen des Unterrichts verwiesen worden, weil sie sich weigerten, ihr Kopftuch
abzulegen. Unterdessen klagen Sikhs gegen die brisante Vorschrift, die auch Turbane erfasst.
Erstmals seit Inkrafttreten des Kopftuchverbots an französischen Schulen sind mehrere muslimische
Mädchen des Unterrichts verwiesen worden. Nach einer Anhörung schlossen Schulen im
elsässischen Mulhouse (Mülhausen) am Mittwoch zwei 17-Jährige aus, weil sie sich weigerten, ihr
Kopftuch abzulegen. Eine weitere Schülerin in Flers, Normandie, darf ebenfalls nicht mehr am
Unterricht teilnehmen. Bereits am Dienstag wurden in Mulhouse zwei 12 und 13 Jahre alte Mädchen
der Schule verwiesen.
Das im Februar erlassene Gesetz, das an Frankreichs staatlichen Schulen "Symbole und
Kleidungsstücke" verbietet, die "ostentativ die Religionszugehörigkeit der Schüler zur Schau
stellen", ist hoch brisant. In der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend auf ein Kopftuchverbot
verkürzt, hat es nicht nur zu Protesten muslimischer Schüler geführt, sondern auch zu einem
außenpolitischen Problem für die Regierung in Paris. Die Entführer, die im Irak die beiden
französischen Journalisten Georges Malbrunot und Christian Chesnot als Geiseln genommen haben,
begründen ihre Tat mit dem französischen Gesetz und fordern dessen Abschaffung.
Zwar haben sich die meisten muslimischen Verbände in Frankreich mittlerweile demonstrativ hinter
die Bemühungen um eine Freilassung der beiden Journalisten gestellt. Auch unterstützen viele
islamische Vereine den in der Verfassung vorgeschriebenen strikten Laizismus. Doch in der Praxis
führt das Gesetz dennoch zu handfesten Problemen im Schulbetrieb.
Sikhs klagen
So waren zu Beginn der Woche landesweit 72 Schülerinnen und Schüler vom Schulverweis bedroht.
Das Erziehungsministerium gab den Schulbezirken grünes Licht, gegen die Betroffenen vorzugehen.
Meist handelt es sich dabei um muslimische Schülerinnen, die sich weigern, ihr Kopftuch abzulegen.
Betroffen sind aber auch einige Sikhs. Deren Religionsgemeinschaft reichte vor einem Pariser
Verwaltungsgericht im Fall von drei Schülern Klage ein, die seit Beginn des Schuljahres nicht am
18
Den in Frankreich an sich sehr strikt gehandhabten Laizismus sahen manche seiner Verfechter in Frage gestellt, als zum
Tod des Papstes Johannes Paul II. Trauerbeflaggung angeordnet worden war: „Die Trauerbeflaggung zu Ehren des toten
Papstes hat in Frankreich eine hitzige Debatte ausgelöst. Kritiker werfen der Regierung vor, mit zweierlei Maß zu messen:
Während muslimische Kopftücher in Schulen verboten seien, werde die Trennung von Kirche und Staat bei der Trauer um
Johannes Paul II. ignoriert. ... ’Wir leben in einer Zeit, in der wir sehr vorsichtig mit der genauen Trennung von Kirche
und Staat sind, besonders nach dem Erlass eines Gesetzes, das religiöse Symbole aus Schulen verbannt hat’, sagte der
sozialistische Senator Jean-Luc Melenchon. Andere Kritiker warfen der französischen Regierung Scheinheiligkeit vor und
forderten eine strikte Einhaltung der 100-jährigen Säkularismus-Tradition. ... Innenminister Dominique de Villepin
rechtfertigte die öffentliche Trauerbekundung mit der Tradition des Landes. Auch beim Tod vorherige Päpste seien die
Fahnen auf halbmast gesetzt worden. Für die Beisetzung des Papstes ist erneut Trauerbeflaggung angeordnet. Auch in der
Schweiz gibt es derweil öffentlichen Streit um die Staatstrauer. Der Kanton Genf hat aus seiner calvinistischen Tradition
heraus eine Trauerbebeflaggung abgelehnt. Man werde die geltende Regel nicht brechen, die besage, dass die Fahnen nur
beim Tod eines Schweizer Bürgers auf halbmast gesetzt würden, sagte eine Sprecherin des Kantons.“ (SPIEGEL
ONLINE 08.04.05)
107
Unterricht teilnehmen dürfen, weil sie einen Turban tragen. Eine Entscheidung wird am Freitag
erwartet.
Das Gesetz verbietet neben dem muslimischen Kopftuch unter anderem auch die jüdische Kippa und
auffallende christliche Kreuze.
Künftige Konflikte um das umstrittene Gesetz sind programmiert. Bildungsminister Francois Fillon
bezifferte am Dienstag die Streitfälle zu Beginn des Schuljahres im September auf rund 600. Die
Mehrzahl habe aber in Gesprächen mit den betroffenen Schülern beigelegt werden können.
Reibungen im Schulbetrieb
Dass sich die Fälle der ausgeschlossenen Schüler jetzt häufen, geht auf eine Anweisung der
Regierung zurück. Offenbar mit Rücksicht auf die entführten Journalisten hatte die Regierung in
Paris das Verbot bislang nur sehr zurückhaltend durchgesetzt.
Wenn Schüler sich dem Gesetz aufgrund ihres Glaubens nicht beugen wollen, sind sie mit
weitreichenden Schwierigkeiten konfrontiert, die ihren Ausbildungsweg erschweren können. Zwar
können sie bei der Schulaufsicht Beschwerde einlegen, doch verspricht dies kaum Erfolg. Sind sie
unter 16 Jahre alt, müssen sie ihre Ausbildung an Privatschulen oder per Fernunterricht fortsetzen
und dies nachweisen, um die Schulpflicht zu erfüllen. (SPIEGEL ONLINE 22.10.04)
Trotz der kompromisslos durchgesetzten religiösen Neutralität des Staates im Schulwesen ist die französische
Gesellschaft mit ihrem relativ hohen Bevölkerungsanteil an Muslimen nicht frei von (teilweise nicht mehr nur)
unterschwelligen Spannungen, die sich aber meist in den muslimischen Ghettos der Vorstädte großer
Bevölkerungsmetropolen abspielen: Im Frühling 2003 gab es nun einen viel beachteten Aufstand junger Frauen
in Paris. Sie brachen das Gesetz des Schweigens. Darüber, dass sie in den mehrheitlich islamischen Vorstädten
von ihren Vätern, Brüdern und Nachbarn terrorisiert und aufgeteilt werden in "Heilige oder Huren", als lebten
sie in Kabul. Durchgesetzt wird das islamische Gesetz der islamischen Männer mit Gewalt:
Gruppenvergewaltigungen seien an der Tagesordnung, und jüngst wurde die 17-jährige Sohane Benziane bei
lebendigem Leibe verbrannt.19
Nach der Ermordung des niederländischen Filmemachers van Gogh 2004 wurde nun auch international bekannt,
dass in den Niederlanden auf den Straßen „herumhängende“, in ihren jeweiligen Ethnien „versäulte
Niederländer“, wie der Mörder van Goghs meist aus voll integrierten Familien marokkanischer Herkunft
stammend, unter Anleitung radikalisierter islamischer Brigaden anstreben, dass in »ihren« Vierteln nicht mehr
die niederländischen Gesetze, sondern die »ihren« gelten; es gebe „No-go-areas“ und Stadtviertel mit einem
erschreckend niedrigen Bildungsniveau marokkanisch- und türkischstämmiger Kinder und Jugendlicher, denen
in den dortigen Ghettos die Lehren des Ibn Taimija, eines der Urväter des puristischen Islam, der den „heiligen
Krieg“ als Lebensart predigte, beigebracht werden. In diese Stadtviertel mit regelrecht marodierenden
Jugendbanden, wo die Gegengewalt zu groß sei und Puppen mit den Namen von Polizisten an Bäumen und
Laternenpfählen aufgehängt seien, traue sich selbst die Polizei nicht mehr rein (ARD Presseclub 14.11.04).
Diese radikalisierten Muslime sehen es als »tugendhaft« an, wenn sie mit Todesdrohungen Kritiker und Gegner
des Islams zum Schweigen bringen. Hilft die Drohung nicht, erfolgt notfalls der Vollzug; wie bei van Gogh.
Nach dem Mord an dem Filmemacher, der wegen des mit van Gogh zusammen gedrehten und über das
Fernsehen ausgestrahlten Films über Gewalt islamischer Männer gegenüber Frauen auf die ehemals
muslimische,
dann
aber
zum
Christentum
konvertierte
somalischstämmige
niederländische
Parlamentsabgeordnete Ali zielte – in van Goghs Leiche steckte ein Messer mit einer diesbezüglichen Botschaft
an Ayaan Hirsi Ali -, brannten in den Niederlanden Moscheen und von Muslimen besuchte Schulen; und als
darauf antwortende Gegengewalt christliche Kirchen. Nun war Holland in Not. Der Luftraum über Den Haag
wurde gesperrt: Die Feuerzeichen des Menetekels einer gescheiterten Multikulti-Parallelgesellschaft waren im
ganzen Land zu sehen. Beängstigend für die Niederländer ist, dass auf Grund der wesentlich höheren
Geburtenrate der muslimischen Staatsbürger – Mohammed ist schon 2004 der häufigste Vorname der in
Amsterdam geborenen Babys gewesen – in sechs bis acht Jahren in den vier größten Städten der Niederlande
19
Gruppenvergewaltigungen zur Disziplinierung islamischer Mädchen zur Wahrung der so empfundenen Familienehre
scheint keine nur in Frankreich praktizierte Vorgehensweise zu sein. So berichtete der SPIEGEL vom 29.09.03 von einem
in dritter Generation in Deutschland lebenden 18-jährigen türkischen Mädchen, das bis zu ihrem 14. Lebensjahr außer zur
Schule nur in Begleitung eines Bruders oder der Mutter aus dem Haus durfte. Als ihr Onkel sie vergewaltigt hatte,
schwieg sie aus Scham. Der Vergewaltiger machte ihr das Leben danach weiterhin zur Hölle, indem er der Mutter immer
wieder erzählte, er habe ihre Tochter mit Jungs herumstehen sehen. „Die Mutter glaubte es und drohte, wenn ihre Tochter
nicht aufhöre, ihr Schande zu machen, hole sie ’fünf Männer, die vergewaltigen dich dann, und ich selbst werde dabei
deine Hände festhalten.’“
108
eine muslimische Bevölkerungsmehrheit zu erwarten ist; das schreit geradezu nach rechtlichen Regelungen
gegen Einwanderung aus insbesondere Marokko, weil von dieser Bevölkerungsgruppe den Niederländern die
größten Schwierigkeiten erwachsen. Und die Niederlande sind in dieser Beziehung kein europäischer Einzelfall,
denn ein französischer Minister griff diesen Punkt auf und tat nach dem zweiten Attentat in den Niederlanden
ebenfalls Ende 2004 kund, dass es in Frankreich in großen Städten rund 500 »eurabische«20 Stadtviertel gebe, in
denen faktisch nicht mehr die französischen Gesetze gelten würden! In diesen nicht mehr kontrollierbaren
Parallelgesellschaften gelte nur die Scharia (ARD Presseclub 14.11.04)!
In diesen Vierteln stellt sich für die Bewohner schon (fast) gar nicht mehr die Frage des mit allen(!) gesetzlich
zugelassenen Mitteln durchzusetzenden staatlichen Gewaltmonopols! Für alle anderen Franzosen hingegen stellt
sich die Frage des islamistischen Gebietsbeherrschern gegenüber mit allen(!) Mitteln durchzusetzenden
staatlichen Gewaltmonopols ausgesprochen dringlich – selbstverständlich unter demokratischer Zügelung!
In der Schweiz war einer seit 1990 im staatlichen Schuldienst unterrichtenden Lehrerin nach ihrem 1991
erfolgten Übertritt zum Islam und dem damit verbundenen späteren Tragen eines Kopftuches 1996 von den
Behörden das demonstrative Tragen des Kopftuchs im Unterricht verboten worden. Das Schweizer
Bundesgericht bestätigte 1997 die Entscheidung der Behörde. Eine daraufhin von der Muslimin beim
Europäischen Gerichtshof eingereichte Klage wurde 2001 dort ebenfalls abschlägig beschieden. Das behördliche
Verbot verstoße weder gegen die Religionsfreiheit noch gegen das Diskriminierungsverbot.
Aus allen anderen Ländern der EU sind bisher keine die Bekleidung für öffentlich Bedienstete einschränkenden
Regelungen bekannt.
In dem Vereinigten Königreich von Großbritannien darf man auf dem Haupte tragen, was man will, gleichgültig
ob Muslim oder Sikh; es gibt keinen Kopftuch- oder Turbanerlass. Das wird als Ausfluss der – von manchen
überdehnten - Religionsfreiheit gesehen.
ENGLISCHE SCHULEN
Muslimin darf bodenlanges Gewand tragen
Britische Schüler tragen normalerweise Schuluniform. Das kann gegen die Menschenrechte
verstoßen, entschieden Richter im Fall von Shabina Begum, 16. Die Schülerin kämpft für das Recht,
mit einem Umhang ihren Körper bis auf Hände und Gesicht ganz zu bedecken. Ihre Anwältin: Cherie
Blair, die Frau des Premierministers.
Seit über zwei Jahren prozessiert Shabina Begum dafür, dass sie in einem traditionellen Gewand in
den Unterricht kommen darf. 2002 wurde sie nach Hause geschickt, weil sie die Kleidungsregeln der
Denbigh High School in Luton nicht befolgte. Anschließend ging die britische Muslimin nicht mehr
zur Schule. Jetzt hat das zweithöchste britische Gericht in einem Musterverfahren entschieden, dass
die 16-Jährige den "Dschilbab" tragen darf. Dieses Gewand reicht bis auf den Boden und lässt nur
Gesicht und Hände unbedeckt.
Nach Auffassung der Richter wurde Shabina Begum das Recht verweigert, sich durch die Kleidung
zu ihrer Religion zu bekennen; sie hätte nicht vom Unterricht ausgeschlossen werden dürfen. Über
dem Berufungsgericht stehen nur noch die Lordrichter des Oberhauses. Der Richter forderte das
Bildungsministerium auf, für mehr Klarheit zu sorgen, wie die Schulen mit ihren Verpflichtungen
unter Menschenrechtsaspekten umgehen sollen.
In vielen Ländern Europas ist umstritten, welche Kleidung in den Schulen getragen werden darf, um
religiöse und möglicherweise auch politische Überzeugungen auszudrücken. So gibt es in
Deutschland eine anhaltende Debatte über Kopftücher muslimischer Lehrerinnen. Frankreich hat
Kopftücher, Kippas und Turbane auch für Schülerinnen und Schüler verboten, ebenso wie große
christliche Kreuze in den Schulen; die Türkei hält religiöse Symbole ähnlich strikt aus den Schulen
und Universitäten fern.
20
Der Ausdruck „Eurabien“ wurde von der italienischen Journalistin und Schriftstellerin Oriana Fallaci geprägt, die mit
ihren polemischen Bestsellern „Die Wut und der Stolz“ (1990) und "Die Kraft der Vernunft" (2004) Europa aufzurütteln
und vor der ihm durch den Islamismus drohenden Gefahr zu warnen versucht.
109
Schutz vor fundamentalistischem Druck
Gebums Fall sorgt in Großbritannien seit Jahren für Aufsehen und dürfte nach dem neuen Urteil zu
weiteren Streitigkeiten an anderen Schulen führen. In erster Instanz hatte die Schule noch Recht
bekommen. Damals verwies der Richter darauf, dass 79 Prozent der insgesamt 1000 Schüler an der
Denbigh High School Muslime seien und diese sich nicht diskriminiert fühlten; zudem seien auch
Kopftücher bereits erlaubt.
Die Schule hatte argumentiert, das Gewand sei ein Gesundheits- und Sicherheitsrisiko. Außerdem
könne es zu Spannungen kommen, weil Schüler mit dem traditionellen Gewand als "bessere
Muslime" angesehen werden könnten. Nach Darstellung der Schule berücksichtigen ihre
Kleidungsregeln alle Glaubensrichtungen und Kulturen. Erlaubt seien beispielsweise Kleider oder
weite Hosen und eine Tunika. Auch Shabina Begum hatte diese Form islamischer Kleidung zunächst
an der High School getragen, bis sie sich im Dezember 2002 für den bodenlangen "Dschilbab"
entschied und dies - gemeinsam mit ihrem Bruder Shuweb Rahman - der Schulleitung mitteilte.
Die Direktorin Yasmin Bevan sagte, es gehe bei den Kleidungsregeln auch darum, die Kinder vor
den Rekrutierungsbemühungen extremistischer muslimischer Gruppen zu schützen. Unterstützt
wurde sie dabei vom Verband britischer Schuldirektoren, der ebenfalls fundamentalistischen Druck
auf die Schüler befürchtet.
Ein "Sieg für alle Muslime"?
In Großbritannien können die Schule ihre Bekleidungsregeln selbst festlegen. Die meisten setzen auf
die traditionellen Schuluniformen, manche multikulturell geprägte Schulen lassen ihren Schülern
größeren Spielraum. Welche Kleidungsregeln jeweils vernünftig und angemessen seien, müsse den
Schulen überlassen bleiben, argumentierte der Verband.
Beim
Berufungsverfahren
berief
sich
Shabina
Begum
auf
die
europäische
Menschenrechtskonvention. Artikel 9 garantiert die "Freiheit, die eigene Religion oder den Glauben
auszudrücken". Vertreten wurde die Schülerin von Cherie Blair, der Frau des britischen
Premierministers. Es gehe um "grundsätzliche Fragen" der Bildung und der Religionsfreiheit, trug
Cherie Blair dem Berufungsgericht bei einer Anhörung im Dezember vor. Einer Schulleitung stehe
es nicht zu, sich die ihr genehmen religiösen Überzeugungen "herauszupicken".
Nach der Gerichtsentscheidung am Mittwoch sagte Begum, das Vorgehen der Schule sei die "Folge
einer Atmosphäre, die nach den Anschläge vom 11. September 2001 in den westlichen
Gesellschaften entstand, einer Atmosphäre, in der der Islam im Namen des 'Anti-Terror-Krieges'
kriminalisiert wurde". In ihrer vorbereiteten Stellungnahme sprach sie von einem "Sieg für alle
Muslime, die ihre Identität und Werte trotz aller Vorurteile und Borniertheit bewahren wollen". Es
sei "erstaunlich", dass sie in der "so genannten freien Welt für ihr Recht auf diese Kleidung
kämpfen" müsse. Die Dachorganisation Muslim Council of Britain begrüßte das Urteil.
Inzwischen besucht Shabina Begum, deren Vater und Mutter tot sind, eine andere Schule. Dort ist
der "Dschilbab" erlaubt.
(SPIEGEL ONLINE 03.03.05)
2004 hatte das BVerwG über die Rechtmäßigkeit der ersten »Landeskopftuchgesetze« zu entscheiden, u.a. in der
nächsten Runde der Sache der Klägerin Ludin gegen das Land Baden-Württemberg. Bei der Verhandlung in
Leipzig ging es nun vor allem darum, ob die Änderung des baden-württembergischen Schulgesetzes rechtmäßig
ist. Baden-Württemberg verbietet darin "politische, religiöse, weltanschauliche oder ähnliche äußere
Bekundungen", die "geeignet sind, den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu
gefährden". Allerdings werden christliche und abendländische Symbole davon ausgenommen, weil sie dem
"Erziehungsauftrag der Landesverfassung" entsprächen.
Die Leipziger Richter erklärten das baden-württembergische Kopftuchverbot für rechtens. "Dieses Gesetz
entspricht den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts und bietet eine ausreichende Rechtsgrundlage, die
Unterrichtserteilung mit Kopftuch zu untersagen", hieß es in der Urteilsbegründung des Gerichts. Es enthalte
trotz der Erwähnung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte keine Bevorzugung christlicher
110
Religionen - meinten die Richter. Es biete eine ausreichende Grundlage, um das Tragen eines Kopftuches in der
Schule zu untersagen, sagte der Senatsvorsitzende Hartmut Albers. Weiter argumentierten die Richter durchaus
fragwürdig: Da die Klägerin nicht bereit sei, dem Kopftuchverbot nachzukommen, fehle ihr die für die
Einstellung als Beamtin erforderliche Eignung.
Hätte die Klägerin Ludin ihre zunächst erwogene Absicht in die Tat umgesetzt – sie gab gut einen Monat nach
der Entscheidung des BVerwGs seelisch ermüdet auf und wollte nicht ein zweites Mal vor dem BVerfG klagen,
aber es wird mit Sicherheit irgendwann eine andere Muslimin ein ihrem (auf jeden Fall angeblichen) religiösen
Bedürfnis entgegenstehendes Landesgesetz wegen des Kopftuchverbots mit einer Verfassungsbeschwerde
angreifen – und sollte dann in dieser Sache das BVerfG die Ansicht der Klägerin teilen und die entsprechende
Bestimmung im baden-württembergischen oder einem anderen ähnlich lautenden Landesschulgesetz mit Blick
auf die Religionsfreiheit der Klägerin als nicht ausreichend für die vorgenommene Einschränkung ansehen, dann
verfügt die jeweilige Klägerin plötzlich doch wieder über die ihr vom BVerwG aus grundsätzlichen Erwägungen
heraus höchstrichterlich abgesprochene und für eine Einstellung als Beamtin erforderlich angesehene Eignung,
ohne dass sie sich geändert hätte!
In Baden-Württemberg ist das Tragen von Kopftüchern und anderen religiösen Symbolen trotz des Leipziger
Urteils nicht generell untersagt. Bei der Verhandlung in Leipzig räumte der Prozessvertreter des Landes ein, es
könne "regionale Ausnahmen" für Kopftuchträgerinnen geben: In einer Stadt mit hohem muslimischen
Bevölkerungsanteil etwa könne die Prognose, ob das Kopftuch einer Lehrerin den Schulfrieden störe, anders
ausfallen als im katholisch geprägten Schwarzwald. Dies gelte allerdings nur für Lehrerinnen, die bereits in den
Schuldienst eingestellt seien. Hintergrund ist, dass in Baden-Württemberg an einigen Schulen Ordensschwestern
im Habit »normalen« Unterricht geben, das Bundesverfassungsgericht aber auf einer Gleichbehandlung der
Religionen bestehen wird. Das Gesetz sei "bewusst abstrakt" gehalten, um auch den "Turban von Sikhs" bei
Lehrern in öffentlichen Schulen zu verhindern, betonte der Vertreter des Landes Baden-Württemberg.
Ordenstrachten von Nonnen hingegen seien eine "Berufsbekleidung für einen religiösen Beruf". Eine mehr als
gewagte Behauptung!
„NONNENTRACHT AN SCHULEN
’Eindeutig religiös motivierte Kleidung’
Baden-Württemberg hat Kopftücher bei Lehrerinnen verboten, will Nonnen aber weiter in ihrer
Tracht unterrichten lassen - das sei nur ’Berufskleidung’, so die eigenwillige Definition von
Kultusministerin Schavan. Ein ehemaliger Verfassungsrichter widerspricht energisch. Und
Deutschlands oberste Ordensschwester ebenfalls.
Der Streit um die Reichweite des Kopftuchverbots in Baden-Württemberg spitzt sich zu. Der
ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde vertritt im Gegensatz zum Land
die Auffassung, dass das Verbot sich auch auf die Nonnentracht erstrecke. Das inzwischen schriftlich
vorliegende Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom Juni, das der muslimischen Lehrerin Fereshta
Ludin den Zugang zum Schuldienst des Landes verwehrte, sei in dieser Frage ’eindeutig’, betonte
Böckenförde am Mittwoch: ’Es trifft das Kopftuch und das Ordensgewand, das Kreuz am Revers
und die jüdische Kippa’, so Böckenförde in der ’Süddeutschen Zeitung’.
Der Versuch des Landes Baden-Württemberg, das Ordensgewand als ’Berufskleidung’ zu
deklarieren, tue ’allen Nonnen einen Tort an’, sagte der Staatsrechtler weiter. Wer das Ordenskleid
zur Berufskleidung umdeute und ihm damit ’den Charakter des religiösen Bekenntnisses nehmen’
wolle, beleidige alle Nonnen: ’Der sollte sich mal über den Ritus der Einkleidung informieren, wenn
die Ordensschwestern ihre Gelübde ablegen und ihren Ordenshabit überreicht bekommen, als
Zeichen dafür, dass sie ihr Leben in besonderer Weise Gott widmen.’
Auch die oberste Ordensschwester in Deutschland bewertet das Ordensgewand anders als das Land.
Die Nonnentracht sei ’eindeutig eine religiös motivierte Kleidung’, sagte die Vorsitzende der
Vereinigung der Ordensoberinnen Deutschlands (VOD), Schwester Aloisia Höing, im thüringischen
Heiligenstadt. Die Auffassung vom Habit als ’Berufskleidung’ sei hingegen ‘zu eng’ und ‘etwas
komisch’.
‘Land muss sein eigenes Gesetz befolgen’
Kultusministerin Annette Schavan (CDU) hatte am Montag Darstellungen zurückgewiesen, wonach
das Kopftuchverbot auch Nonnen trifft. Das Bundesverwaltungsgericht habe zwar den Grundsatz der
111
strikten Gleichbehandlung der Religionen betont. Über das Tragen einer ‘Berufskleidung’ von
Ordensschwestern habe es aber nicht ausdrücklich entschieden, da diese Frage nicht Ausgangspunkt
des Prozesses gewesen sei. Böckenförde verwies jedoch auf eine Urteilspassage, in der es heißt:
‘Ausnahmen für bestimmte Formen religiös motivierter Kleidung in bestimmten Regionen’ kämen
‘nicht in Betracht’.
Der Jurist sieht das Land jetzt in einem Dilemma. ‘Befolgt es sein eigenes Gesetz so, wie es nach
dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts verfassungsrechtlich nur Bestand haben kann, muss es
den Nonnenhabit verbieten’, sagte er. Ansonsten nähme das Land ‘sein eigenes Schulgesetz nicht
ernst’. Eine muslimische Lehrerin, der das Kopftuch verboten werde, könne nun gerichtlich
durchsetzen, dass Nonnen in der Schule den Schleier ausziehen müssen.
Höing sagte, wenn man an Schulen ‘generell jede Religiosität ausblenden’ wolle, wäre auch ein
Verbot des christlichen Ordensgewands nur folgerichtig. Sie könne sich aber ‘nicht vorstellen, dass
dies in unserer Gesellschaft stillschweigend hingenommen’ würde. Höing, die Generaloberin der
Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel (SMMP) ist, betonte, dass Nonnen das Ordenskleid
auch privat tragen. Es sei ‘ein Lebenskleid’. Der Habit sei ‘ein Zeichen der Religiosität und der
Beziehung zu Gott’. Die Tracht verweise auf ‘eine Lebensform in Gelübden’.
Die VOD vertritt knapp 28.000 Ordensfrauen aus mehr als 300 verschiedenen Gemeinschaften. Als
Lehrerinnen sind nach Angaben Höings 693 Nonnen tätig, die meisten jedoch nicht an staatlichen,
sondern an ordenseigenen oder kirchlichen Schulen.
Von Norbert Demuth, ddp“ (SPIEGEL ONLINE 13.10.04)
Vor dem BVerwG war gleichzeitig die Klage einer niedersächsischen muslimischen Lehrerin verhandelt worden.
Niedersachsen hatte ähnlich der Formulierung in dem baden-württembergischen Gesetz zunächst auch an eine
Formulierung gedacht, die dezidiert christliche Bekleidung oder Symbole von der Neutralitätspflicht freigestellt
hätte, dann aber die Ausnahmeklausel wegen verfassungsrechtlicher Bedenken wieder gestrichen. Dort heißt es
im Schulgesetz nun: "Das äußere Erscheinungsbild von Lehrkräften in der Schule darf, auch wenn es von einer
Lehrkraft aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen gewählt wird, keine Zweifel an der Eignung der
Lehrkraft begründen, den Bildungsauftrag der Schule überzeugend erfüllen zu können." Deswegen konnte die
gegen das Land klagende Lehrerin Iyman Alzayed nicht obsiegen. Sie zog während der Verhandlung die Klage
zurück, sicherte zu, dass sie in der Schule kein Kopftuch tragen würde und erhielt auf Grund dieser »negativen
Bekleidungszusage« noch im Gerichtssaal eine Einstellungs- und Verbeamtungszusage.
Den Ausschlag für ihren »Teilerfolg durch Aufgabe« gab laut "Focus" ihre finanzielle Situation: Die Klägerin ist
keine Einwanderin, sondern gebürtige Deutsche. Sie hieß früher Iris Pörtge, wurde in Hamburg geboren und
wuchs in einem Dorf nahe Hannover auf. Nach ihrem Studium der Pädagogik für das Lehramt an Grund- und
Hauptschulen sattelte sie noch Waldorfpädagogik und Arabistik drauf. Später heiratete sie einen Syrer und
konvertierte 1990 vom evangelischen zum islamischen Bekenntnis. Alzayed unterrichtete an einer Privatschule
für verhaltensgestörte Kinder, an Waldorfschulen und an der Volkshochschule. 1999 schien ihr eine Stelle an
einer staatlichen Grundschule in Soltau in der Lüneburger Heide bereits sicher. Der Personalrat beschrieb sie als
"kompetente, offene und sehr aufgeschlossene Pädagogin, die rasch unsere Herzen gewann", trotz Kopftuch.
Und auch der Schulleiter sagte, Alzayed sei "hervorragend für die Arbeit an unserer Schule qualifiziert". Im
Stundenplan war sie bereits für die Klasse 3b eingeteilt, durfte die Stelle dann aber nicht antreten, weil die
Lüneburger Bezirksregierung wegen ihres Wunsches, im Unterricht ein Kopftuch tragen zu können, gegen sie
entschieden hatte. Die Eltern bangten um den geregelten Unterricht. Mitsamt den Drittklässlern reisten Mütter
und Väter nach Hannover, wo die Schüler sich Kopftücher aufsetzten und vor dem Kultusministerium
demonstrierten. Die Proteste fruchteten nicht. Obwohl es keine Indizien dafür gab, dass Alzayed den
Schulfrieden gefährdete, stellte das Land sie vor die Wahl "Kopftuch oder Klassenzimmer". Die Muslimin
wehrte sich gegen das "Berufsverbot" und kämpfte für ihr "Recht auf Unterricht". Ob sie Kopftuch trage oder
barhäuptig unterrichte, hält sie für ihre Privatsache: "Ich habe immer nur positive Resonanz von Seiten der
Eltern und Schüler erhalten und nie versucht zu indoktrinieren. Das Kopftuch ist einfach meine Art mich zu
kleiden. Dass ich meine Haare nicht zeige, ist selbstverständlich religiös und nicht politisch motiviert."
Nach der Scheidung kämpfte sie um das materielle Überleben, schlug sich bis dahin als Honorarkraft durch und
hatte mit 46 Jahren - einem Alter, in dem seit einigen Jahren in der Privatwirtschaft schon viele mehr oder
minder rücksichtslos aus dem Berufsleben ausgemustert werden - wegen ihrer auf Grund der vom Land
verweigerten Anstellung weiterhin unsicheren Berufsaussichten nicht mehr die Kraft für weitere grundsätzliche
Kämpfe: "Ich bin sehr glücklich, dass ich den Schlussstrich unter das Verfahren gezogen habe", sagte sie, "ich
bin nun sehr gespannt darauf, wie es sich anfühlt, ohne Kopftuch in die Schule zu gehen. Die Umstellung wird
112
mir sicher nicht leicht fallen." Zwar lasse das niedersächsische Gesetz viele Deutungen zu, "aber ich habe nicht
mehr die Kraft, die genaue Interpretation durch sämtliche Gerichte prüfen zu lassen". Obwohl in diesem Fall der
Grundsatzstreit irgendwann bis zur letztmöglichen Instanz gerichtlich geklärt werden muss, um genau zu wissen,
was fürderhin „Sache sein soll“, wird an dem persönlichen Schicksal der Klägerin die Tendenz von Behörden,
Versicherungen und großen Firmen andeutungsweise deutlich, einen Rechtsstreit möglichst so lange
hinzuziehen, bis dem armen Würstchen auf der Gegenseite die Luft zum Atmen, das Stück Brot zum Überleben
fehlt; das kann keiner bis hinab auf den abgrundtief ängstigenden Grund der Seele verstehen, der nicht selber
eine ähnliche Situation hatte durchleiden müssen – wie sie auch der Autor in seinem siebeneinhalbjährigen
juristischen Kampf gegen das Land Hamburg nach durch Landesverrat im Bundesamt für Verfassungsschutz
durch den „Fall Tietge“ verursachter Beendigung seiner Doppelagententätigkeit gegen das MfS und für das Land
Hamburg um seine Wiedereinstellung als Lehrer selber jahrelang hatte durchleiden müssen (SPIEGEL 39/85 S.
103).21
Unter Muslimen herrsche nach dem Leipziger Urteil zunächst große Enttäuschung, die sich aber nach zwei
Monaten legte und in erneute Begeisterung umschlug:
„Eine deutsche Heldin des Islam aus Hannover
Fünf Jahre kämpfte Iyman Alzayed vergeblich für das Recht auf Kopftuch in deutschen
Klassenzimmern. Nun wandert sie aus - nach Österreich
von Till-R. Stoldt
Furchtbar waren Iyman Alzayeds Nächte zwischen dem 13. und dem 16. August. Immer wieder
wachte die deutsche Muslima schweißgebadet auf. Schlief sie wieder ein, kamen sofort die
unruhigen Träume, in denen es stets um eine Frage ging: Durfte sie das Kopftuch ablegen, um eine
Stelle als Lehrerin in ihrer Heimatstadt Hannover zu bekommen - oder sollte sie nach Wien
auswandern, wo sie mit Kopftuch lehren dürfte? Nun hat sich die Deutsche, die vor 15 Jahren zum
Islam konvertierte und vor ihrer Ehe mit einem Syrer Pörtge hieß, für Wien entschieden. Seitdem gilt
sie unter Muslimen als Heldin der islamischen Sache.
Im Juni war das noch anders. Gemeinsam mit der muslimischen Lehrerin Fereshta Ludin wartete sie
im Leipziger Bundesverwaltungsgericht auf das vorerst letzte ‘Kopftuch-Urteil’. Die Richter hatten
über zwei Schulgesetze zu entscheiden, denen zufolge muslimische Lehrerinnen entweder aufs
Kopftuch oder aufs staatliche Klassenzimmer verzichten müssen. Das in Baden-Württemberg
erlassene Gesetz betraf Frau Ludin, das niedersächsische Frau Alzayed. Nachdem das
württembergische Schulgesetz für rechtens erklärt worden war, kam Alzayed an die Reihe.
Die 46-Jährige hatte mit ihrem Anwalt auf der Sitzbank gegenüber den Richtern Platz genommen,
neben ihr saßen die Prozessvertreter Niedersachsens. Plötzlich erhob sie sich und sagte, sie habe nie
beabsichtigt, geltendes Recht zu missachten. Anders als Frau Ludin sei sie bereit, ohne
Kopfbedeckung zu lehren, ihr Fall müsse nicht verhandelt werden. Die überraschten Mienen der
Prozessteilnehmer dürften nicht in allen Fällen spontan gewesen sein, schließlich hatte Alzayed ihren
Entschluss dem Kultusministerium zuvor schriftlich mitgeteilt.
Noch im Saal versprach ihr der Vertreter Niedersachsens daraufhin eine Anstellung. Die deutsche
Muslima freute sich über die späte Aussicht auf eine Beamtenstelle, steckte sie doch nach der
Scheidung von ihrem syrischen Mann in einer finanziellen Notlage. Und: Sie war des Streitens
müde. Die anderen Muslime im Gerichtssaal, zum Beispiel Ali Kizilkaya, Vorsitzender des
deutschen Islamrats, waren indes enttäuscht von der kapitulierenden Kopftuch-Kämpferin. Dennoch:
‘Von dem Moment an’, erzählt Alzayed, ‘waren alle bemüht, mir entgegenzukommen.’ Umgehend
bekam sie die Stelle an einer Hauptschule in Hannover angeboten. Die Vorstellungsgespräche mit
den Schulleitern wurden auf den Nachmittag gelegt - wenn nur wenige Menschen die Schule
bevölkerten und Alzayeds offenes Haar sehen konnten.
Denn zu diesen Gesprächen musste sie schon ohne Tuch erscheinen. ‘Es war ein ziemlich
befremdliches Gefühl, nach 15 Jahren unbedeckt durch die Öffentlichkeit zu laufen’, erinnert sie
sich. Die Kollegen in spe waren freundlich und einfühlsam, niemand ließ Zweifel aufkommen, ob die
neue Lehrerin willkommen sei, und keiner sprach sie auf ihr Kopftuch an.
Durfte sie die Chance ausschlagen? Zumal die studierte Orientalistin, Deutsch- und Kunstlehrerin
Erfolge in Sachen Integration vorweisen kann. So bewegte sie schon manch muslimisches
Elternpaar, ihre Tochter selbst entscheiden zu lassen, ob die das Kopftuch tragen wolle. ‘Denn der
21
Näheres zu dem Fall, in den vier Gerichtszweige mit teilweise jeweils mehreren Instanzen eingebunden waren, siehe
7.16 Gerichtswesen.
113
Gott des Islam verwirft jeden Zwang in Glaubensfragen’, argumentierte Alzayed mit Koran und
Propheten-Worten. Sie konnte mit einem Moslem-Bonus arbeiten. Was lag da näher, als diese Arbeit
fortzusetzen?
Doch zur gleichen Zeit spürte sie leisen Widerwillen aufsteigen gegen den Traumjob ohne Kopftuch.
Wenn sie früh morgens ihren blauen Gebetsteppich auf den beigen Holzboden des Wohnzimmers
legte, zum Gebet niederkniete und Zwiesprache mit ihrem Schöpfer hielt, beschlich sie eine Sorge:
‘Werde ich ohne Kopftuch mein Glaubensleben weiterführen? Wird es verfallen? Werde ich dann
eine andere?’ Auch wurde ihr zusehends klarer, dass sie nicht nur im Klassenzimmer, sondern auch
auf Schulfahrten, auf dem Schulhof oder bei Elternbesprechungen ihre Haare würde lüften müssen.
Je näher der Tag ihrer Beamten-Vereidigung rückte, umso unbehaglicher war ihr zu Mute.
Doch dann, am Freitag, den 13. August, klingelte das Telefon. Es meldete sich ein Politiker aus
Österreich, dessen Namen Alzayed nicht nennen möchte. Er schlug ihr vor, bei der Islamischen
Akademie für Religionspädagogik in Wien zu arbeiten. Dort werde ein Abteilungsleiter bei der
Ausbildung islamischer Religionslehrer gesucht.
Alzayed war hin und her gerissen. Binnen zwei Tagen musste sie entscheiden, am Montag stand die
Vereidigung an. Hektische Telefonkonferenzen mit ihrer Mutter und ihrer Tochter begannen. ‘Kind,
sei nicht dumm, nimm die Beamtenstelle an’, riet die 81-jährige Mutter Alzayeds. ‘Ich freue mich
auf die Besuche in Wien’, jubelte dagegen ihre Tochter.
In den Telefonpausen saß Alzayed auf ihrem bunt bepflanzten Balkon und wog Argumente ab. Vor
allem ein Gedanke kam ihr dabei in den Sinn: Fünf Jahre lang hatte sie durch mehrere Instanzen
prozessiert, seit ihr die Stelle an einer öffentlichen Schule wegen des Kopftuchs verweigert worden
war. Fünf Jahre war sie bei Podiumsdiskussionen und Fernseh-Talk-Shows (unter anderem mit Alice
Schwarzer) als verklemmt oder reaktionär verunglimpft worden, wurde ihr Verfassungs- und
Frauenfeindlichkeit, Naivität oder gleich alles zusammen unterstellt. Fünf Jahre kämpfte sie für das
Recht auf Kopftuch im Klassenzimmer und für eine Botschaft, die sie damit einhergehen sah: dass
Deutschland eine gute Heimat auch für gläubige Muslime sei, und ‘dass integrationswillige
muslimische Frauen eine berufliche Chance bekommen, auch wenn sie ihrer Religion treu bleiben
wollen.’
Nach all dem sollte sie selbst nun ohne Kopftuch lehren?
Am Tag der Vereidigung trat sie vor den Direktor der Hauptschule, der sie in bester Laune empfing,
und sagte ab. ‘Aber der Direktor wurde nicht im geringsten wütend oder unwirsch’, erzählt Alzayed,
während sie an ihrem vielleicht 15 Zentimeter niedrigen arabischen Wohnzimmertisch auf dem
Boden sitzt und ziemlich gerührt in ihren Café schaut. ‘In dem Moment stiegen mir wirklich Tränen
in die Augen’, sagt sie. Und während sie das ausspricht, steigen ihr die Tränen gleich noch einmal
hoch. Es hat sie beeindruckt, wie wohlwollend eigentlich alle auf Seiten der ‘Kopftuch-Gegner’
waren - ob in der Schule, in der Bezirksregierung oder im Kultusministerium.
Diesen Mittwoch wird sie vieles, das ihr lieb ist, hinter sich lassen: Familie, Freunde, ihre schöne
Wohnung mit den zwei kleinen Balkons und ihre Heimatstadt, an der sie ‘jämmerlich hängt’, wie sie
sagt. Dann fliegt sie nach Wien, um den Vertrag zu unterschreiben und ihre Bleibe, die Wohnung
einer Freundin, zu besichtigen.
Nun gilt sie wieder als Heldin der Gläubigen. Auf manchen islamischen Websites wird ihr Umzug
gar als ‘kleine Hidschra’ gefeiert. ‘Hidschra’ heißt die Auswanderung des Propheten Mohammed,
der 622 aus seiner Heimat Mekka floh, weil er dort wegen seines Glaubens verfolgt wurde. Alzayed
will von diesem Vergleich allerdings nichts wissen. Was ihr Prophet erlebt habe, sei ‘doch etliche
Nummern größer.’ Dabei könnte ihr die Geschichte des Propheten Mut spenden: Mohammed kehrte
acht Jahre später zurück in seine Heimatstadt - im Triumphzug.“ (DIE WELT 29.08.04)
Nach dem Urteil des BVerwGs hatte der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland noch erklärt,
christliche und jüdische Traditionen würden privilegiert, die islamische Religionsausübung benachteiligt. Das ist
aber ausweislich des nächsten Falles nicht immer so ist:
Zweit- und Drittfrauen kostenlos mitversichert
Kritik an Regelung für Moslems …
Hamburg - Von der Familienversicherung der gesetzlichen Krankenkassen profitieren nicht nur der
Ehepartner und alle Kinder, auch Zweit- und Drittfrauen sind kostenlos mitversichert. Frauen, die
mit einem moslemischen Mann nach nicht-deutschem Recht wirksam in polygamer Ehe verheiratet
seien, hätten auch einen Unterhaltsanspruch gegenüber dem Ehemann, heißt es laut dem
114
Nachrichtenmagazin "Spiegel" in einer Stellungnahme des Gesundheitsministeriums für den
Petitionsausschuß des Deutschen Bundestags.
Es sei daher rechtlich nicht zu beanstanden, wenn diese Frauen beitragsfrei familienversichert sind.
Um wie viele Fälle es sich handelt, ist unbekannt. Kritik an der Praxis übte der FDPBundestagsabgeordnete Volker Wissing. Die Ehe mit mehreren Harems-Frauen sei mit westlichen
Werten unvereinbar. Die Bundesregierung müsse darauf achten, diese nicht über den Umweg der
Sozialversicherung zu stützen. … (HH A 18.10.04)
Allerdings können sich solche Leute keinerlei Hoffnung darauf machen, dass ihrem Antrag auf Einbürgerung in
Deutschland stattgegeben wird. Sie müssen sogar in Kauf nehmen, dass sie ihre irgendwann irgendwie
erworbene deutsche Staatsangehörigkeit verlieren, wenn sie in (nur) vom Koran erlaubter Vielehe leben:
„Wer Doppelehe führt, darf nicht Deutscher sein
Lüneburg - Eingebürgerte Ausländer verlieren bei Doppelehe die deutsche Staatsangehörigkeit. Das
hat das Oberverwaltungsgericht Lüneburg entschieden (Az.: 14 LA 58/04). Es ging um einen 1998
eingebürgerten Mann, der zu der Zeit in Niedersachsen mit einer Deutschen und in Pakistan mit
einer Pakistani verheiratet war. Das OVG: Dem Mann fehle die ’Einordnung in die deutschen
Lebensverhältnisse’. dpa“ (HH A 02.11.04)
Der Zentralrat der Muslime in Deutschland sieht eine einseitige Erlaubnis zum Tragen christlicher oder
jüdischer Symbole zu Recht als verfassungswidrig an.
Inzwischen bat die Generaldirektion Beschäftigung und Soziales der EU-Kommission um nähere Auskünfte. Die
EU-Kommission äußerte die Sorge, dass die Anti-Kopftuch-Gesetze verschiedener Bundesländer mit dem
Diskriminierungsverbot des europäischen Rechts unvereinbar sein könnten. Grundlage dafür seien drei
Gleichbehandlungs-Richtlinien der EU sowie die Europäische Konvention der Menschenrechte.
Nun steht für die Klägerin Ludin der nächste Gang nach Karlsruhe vor das BVerfG an; vielleicht wird dann
zusätzlich der Europäische Gerichtshof in Straßburg angerufen – und dann könnte sich bei gegensätzlichen
Urteilsaussprüchen erneut das spannende juristische Problem auftun: Welche Rechtsprechung hat in
Grundrechtsfragen in Deutschland Vorrang: die des BVerfGs oder die des EuGH?
Zum Schluss dieses Kapitels noch ein albernes Beispiel, das deutlich machen soll, dass der in mehreren
Grundrechtsartikeln geregelte, den Staat verpflichtende Gleichbehandlungsgrundsatz im reinen Zivilrecht
zwischen Privatpersonen nicht immer gilt, auch gar nicht immer gelten kann: Wenn ein Mann eine attraktive
Frau durch eine Heiratsannonce kennen gelernt hat, so kann er nicht von ihr verlangen, dass sie ihn heiraten
müsse, weil er der erste passable Bewerber gewesen und ihr wegen der Geltung des speziellen Gleichheitssatzes
eine Differenzierung verboten sei. U.a. in diesem Bereich des Privatrechts kann Art. 3 GG keine Geltung
beanspruchen. Da gilt die »Vertragsfreiheit« uneingeschränkt: Man kann sich aussuchen, wo man »Haussklave«
sein, wen man als »Haussklaven« um sich haben möchte.
Für die genaueren Bedingungen, unter denen man »Haussklave« oder frau »Haussklavin« sein möchte hingegen,
gilt die »Vertragsfreiheit« in Eheverträgen nicht uneingeschränkt. Die Gerichte der USA scheinen da eine
größere »Vertragsfreiheit« zu akzeptieren als bei uns, denn die Latino-Diva Jennifer Lopez wollte sich von
ihrem Zukünftigen Ben Affleck per Ehevertrag vier Mal pro Woche Sex versprechen lassen und für jeden
Seitensprung fünf Millionen Dollar. Ob solche Sex-Klauseln in Deutschland wirksam wären, ist umstritten. Der
BGH hat bereits vor Jahren entschieden, selbst der „Gebrauch empfängnisverhütender Mittel“, mit denen einer
Schwangerschaft und den damit verbundenen Unterhaltszahlungen im Falle des Scheiterns der Ehe von
vornherein vorgebeugt werden sollte, sei „einer rechtsgeschäftlichen Regelung nicht zugänglich“.22
In Amerika scheint das mit der Geltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes im Zivilrecht anders zu sein. Da
scheint eine staatliche Institution die Rechtsmacht zu haben, anordnen zu können, dass der
Gleichbehandlungsgrundsatz auch im Zivilrecht außerhalb des Monopolbereiches zwischen völlig willkürlichen
Vertragspartnern zu gelten habe:
22
SPIEGEL 08.12.03
115
„Gleichberechtigung
SAD New York – Steigen die Preise für Herrenhaarschnitte beim Friseur und für Oberhemden in der
Reinigung jetzt auf Damen-Niveau? Die Stadt New York hat jedenfalls per Gesetz verboten, daß
Frauen beim Haar-Stylisten und für die Säuberung ihrer Blusen mehr bezahlen müssen als Männer.“
(HH A 14.01.98)
Was meinen Sie: Wurde da von dem Gesetzgeber gemäß dem dort wohl auch zum Tragen kommenden
Gleichbehandlungsgebot wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches seiner Eigenart entsprechend
ungleich behandelt?
Ich habe da so meine Zweifel: Hinsichtlich der Blusen vermag ich die Gleichbehandlung so zu sehen, aber wie
wenige Frauen sind bei ihrem Friseur nach spätestens einer Viertelstunde wieder draußen, wie ich? Wenn
allerdings eine Frau eine sportliche Kurzhaarfrisur trägt wie viele andere Männer außer mir, dann vermag ich
ebenfalls keine Berechtigung für abzockende überhöhte Preise zu erkennen.
Und noch ein »obiter dictum«: Ich würde als Arbeitgeber nicht gleichen Lohn für gleiche Arbeit an Männer und
Frauen zahlen. Welcher Mann muss schon z.B. hinreißend schöne Spitzen-BHs, Nagellack, teure Dessous und
Lippenstifte kaufen und rund fünffach so teure Friseurrechnungen bezahlen? Von den Kosten für die Anti-BabyPille und andere periodisch notwendige Aufwendungen fast zu schweigen. Ich finde, dass Frauen wegen ihres
erhöhten »Renovierungsaufwandes«, der dann uns Männer verstohlen oder offen bewundernd hinschauen lässt,
bei gleicher Arbeit einen »Frauenzuschlag« für »Kunst am Bau« bekommen müssten!
Die in
Art. 3 II
GG
angeordn
ete
Gleichber
echtigung
von Frau
und Mann
als
Konkretis
ierung
des
allgemein
en
Gleichhei
tssatzes
1.3.2.2 Gleichberechtigungsproblematik
1.3.2.2.1 Die in Art. 3 II GG angeordnete Gleichberechtigung von Frau und Mann als Konkretisierung
des allgemeinen Gleichheitssatzes
Nach der an dem letzten Beispiel für ein relativ unwichtiges juristisches Problemfeld exemplarisch aufgezeigten
Bedeutung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 I GG nun zu dessen als Konkretisierung angesehenem
Absatz 2. Der auf Vorschlag der Sozialdemokratin Selbert nach zwei Abstimmungsniederlagen doch noch in das
GG gebrachte und bis 1994 ausschließlich so formulierte
Art. 3 II GG
"Männer und Frauen sind gleichberechtigt."
ist eine (zur stärkeren Betonung der immer noch nicht voll verwirklichten juristischen Gleichberechtigung der
Frauen) der Neuformulierung unterliegende Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes für das spezielle
Gebiet der rechtlichen Behandlung der beiden Geschlechter: Dem »kleinen Unterschied« soll unter der Geltung
des Grundgesetzes grundsätzlich keine rechtliche Bedeutung mehr zukommen, obwohl es Unterschiede auch
weiterhin geben wird: Ein Mann, der nur mit einem Mantel bekleidet ist und ab und zu »etwas« blicken lässt,
kann gemäß
„§ 183 StGB Exhibitionistische Handlungen
(1) Ein Mann, der eine andere Person durch eine exhibitionistische Handlung belästigt, wird mit
Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft.“
strafrechtlich verfolgt werden. Wenn aber Frauen nicht nur in tief ausgeschnittenen Kleidern ohne BH, sondern
im Sommer 1999 vorzugsweise »slipless« rumliefen und auf Grund äußerst kurzer Kleidchen bewusst tiefe
Einblicke nehmen ließen, dann war das in dem Sommer Zeitschriften zufolge eine von den USA auf Europa
rüberschwappende Modewelle, die aber nicht strafbewehrt ist. Der Gesetzgeber mochte den Frauen nicht unter
die Röcke kucken. Als aber die bauchfreie Mode und das Tragen der Tanga-Strings überhand nahmen, erließ
2004 in den USA ein Bundesstaat ein Gesetz gegen zu knappe Hüfthosen, aus denen die Unterwäsche
ansatzweise hervorlugt. Ein anderer Bundesstaat folgte:
116
„Zu knappe Jeans – erstes Verbot?
Washington – Tief sitzende Hosen werden im US-Bundesstaat Louisiana möglicherweise bald
strafbar. Mehrere Abgeordnete wollen Hosen, die Slips herausragen lassen, per Gesetz verbieten.
Geplante Strafe: 175 Dollar. (afp)“ (HH A 13.05.04)
Also doch slippless: Dann spart man nicht nur das Geld für die ansonsten fällige Strafe. (Und
weniger infizierend als ein zwischen den Schamlippen besonders tief einschneidender Tanga-String
soll diese gewollt mangelhafte Be- oder besser: Entkleidung einer 2004 veröffentlichten
medizinischen Untersuchung zufolge auch noch sein!)
Aber nicht alle us-bundesstaatlichen Gesetzgeber waren so prüde wie die in Sachen
Bekleidungsmoral vorpreschenden:
„Tangas dürfen weiter blitzen
Washington - Teenager im US-Staat Virginia dürfen ihre Hüfthosen weiter so tief tragen, daß sie
den Blick auf Shorts und Tangas erlauben. Das Parlament wollte das, wie berichtet, wegen
"Unzüchtigkeit" unter Strafe stellen (50 Dollar). Doch der Senat kippte den Entwurf. ap“
(HH A 12.02.05)
Die Männer der Königinnen von Großbritannien, Dänemark und die inzwischen verstorbenen Ehemänner der
Königinnen der Niederlande sind in diesen Adelsstand erhobene Prinzen. Der französischstämmige dänische
Prinzgemahl äußerte darum gegenüber Reportern mehrfach sein Unverständnis - und wohl auch ein bisschen
seinen Unwillen: vielleicht auch, weil dänische Staatsrechtler seine Rolle im dänischen Staatsgefüge einmal als
die eines „nichtexistierenden Gastes“ definiert hatten - darüber, dass eine Frau durch Heirat mit einem Regenten
zur Kaiserin oder Königin wird, er und seine Leidensgenossen jedoch nur zu Prinzen ernannt worden seien.
Aber in Großbritannien, Dänemark und den Niederlanden gilt halt nicht das Grundgesetz.
Aber auch dort gelten Antidiskriminierungsgesetze, wie einer anderen Zeitungsmeldung zu entnehmen ist:
Mediziner sagt
Jetzt können auch Männer schwanger werden
SAD London - ... Für Lord Robert Winston (58), Professor an der Londoner Universitätsklinik
Hammersmith Hospital, sind schwangere Männer keine Utopie mehr. Mit der von ihm entwickelten
Methode ... werden Männer zu Müttern. ... Und so funktioniert es: ...
Es gibt sogar schon Freiwillige, die sich dieser revolutionären Behandlung, die die Evolution der
Menschheit auf den Kopf stellt, unterziehen wollen. ...
Tim Hedgley, Direktor der britischen Gesellschaft für Fruchtbarkeitsbehandlungen, zeigte sich
erfreut: ‘Das ist keineswegs pervers. Schon unter dem Gesichtspunkt der Gleichberechtigung wäre es
nicht möglich, einen Mann daran zu hindern, so etwas zu tun – das wäre Diskriminierung.‘“
(HH A 22.02.99)
Trotz der eindeutigen Regelung im GG gibt es in unserer Gesellschaft Konservative, denen die ganze Richtung
der Gleichberechtigung nicht passt. Damit ist nicht der Ehemann der folgenden Meldung gemeint:
„Rotlichtposse
Ehemann traf Frau im Bordell
ddp Aachen – Dumm gelaufen: Einem 37-jährigen Aachener wird sein jüngster Bordellbesuch wohl
in dauerhafter Erinnerung bleiben. Der Mann hatte ein einschlägiges Etablissement in der Kaiserstadt
aufgesucht. Dabei traf er zu seiner großen Überraschung auf seine 30-jährige Ehefrau, die als
Gelegenheits-Prostituierte ihr Haushaltsgeld aufbesserte. ...“ (HH A 26.05.01)
Das kommt davon, wenn Mann zu knickerig ist und seine Frau zu knapp hält! Aber gemeint waren eben
Konservative der nachfolgend zum Ausdruck kommenden (Un-)Geisteshaltung:
„Konservative
Der Vorsitzende der Deutschen Evangelischen Allianz, Rolf Hille, hat bekräftigt, daß eine
117
Unterordnung von Frauen unter ihre Ehemänner ‘von der Schöpfung her begründet‘ sei. Es bestehe
ein ‘Gefälle‘ in der Rangordnung zwischen Mann und Frau. ...“ (HH A 05.01.96)
Damit steht er nicht nur national, sondern auch international nicht allein: Im niederländischen Parlament gab es
2004 eine christliche Partei, in der Frauen qua Satzung keine öffentlichen Ämter übernehmen dürfen.
Solche Leute können zur Begründung ihrer frauenfeindlichen Haltung zwar - für sie: ärgerlicherweise - auf kein
diesbezügliches Jesus-Wort verweisen, da Jesus eine solche diffamierende Geisteshaltung nicht eigen war. Es
wäre für sie natürlich am schönsten, da am »beweiskräftigsten«, wenn ein »Gotteswort« ihre verquere
Argumentation stützen könnte! Doch in der sich durch das Fehlen eines »Gotteswortes« auftuenden
Argumentationsnot helfen Bibelstellen mit Aussagen des Heidenapostels Paulus als Begründer des erst durch
seine Missionsreisen über den jüdischen Kulturkreis hinausgreifenden Christentums als beginnende
Weltreligion. Der nur in seiner Glaubensausrichtung, nicht aber in seiner sonstigen Geisteshaltung vom
Judentum zum Christentum gewandelte Saulus verkündete und schrieb (laut älterer, inzwischen sprachlich ein
wenig abgemilderter Bibelübersetzung ) als Paulus, die Weiber sollen den Männern „untertan sein, wie auch das
Gesetz sagt“ (1. Korinther 14/34) – wobei unklar bleibt, ob der aus streng pharisäischer Familie stammende
römische Bürger Saul/us das damals geltende römische Gesetz meinte, das dem „pater familias“ (Plural, da
Vater der - ihm untergeordneten - Familien) als Familienoberhaupt absolute Gewalt über die seinem Willen und
seiner Willkür unterstellten anderen Familienangehörigen, auch in den Familien seiner Nachkommen(!),
einräumte, oder das jüdische Gesetz, von dem er das Christentum ja abgelöst hat. „Einem Weibe aber gestatte
ich nicht, dass sie lehre, auch nicht, dass sie des Mannes Herr sei, sondern stille sei“ (1. Timotheus 2/12). „Ich
lasse euch aber wissen, dass Christus ist eines jeglichen Mannes Haupt; der Mann aber ist des Weibes Haupt ...“
(1. Korinther 11/3). „Denn der Mann ist nicht vom Weibe, sondern das Weib ist vom Manne. Und der Mann ist
nicht geschaffen um des Weibes Willen, sondern das Weib um des Mannes willen“ (1. Korinther 11/8 und 9),
„denn Adam ist am ersten gemacht, darnach Eva. Und Adam ward nicht verführt; das Weib aber ward verführt
und hat die Übertretung eingeführt“ (1. Timotheus 2/13 und 14). Weil es in der Thora im 1. Buch Moses
(„Genesis“) in Kapitel 2 so steht, dass Gott als ersten Menschen Adam geschaffen habe, der Herr dann befand:
„Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei“ (1. Moses 2/18),
er unter dem Getier nichts Passendes fand und deswegen dem in tiefen Schlaf versetzten Adam eine Rippe
entnahm und daraus als seine „Gehilfin“ Eva formte, wurde daraus Jahrtausende lang - und von einigen
Unverbesserlichen bis in unsere heutige Zeit - eine rechtliche Minderwertigkeit der Frauen gegenüber den
Männern abgeleitet!
Diese kirchlich geprägte Haltung der Frauendiffamierung und die darauf fußende Jahrtausende lange Benachteiligung der Frauen hat in der christlichen Kirche eine sehr lange zölibatär veranlasste Tradition, wobei sich die
Verfechter dieser unchristlichen Geisteshaltung, einige Versatzstücke – teilweise ohne Rücksicht auf den
Zusammenhang oder nachfolgende Sätze zu berücksichtigen – als Scheinargument aus dem Bibeltext23
herausgreifen.
Ranke-Heinemann weist in ihrem verdienstvollen Buch „Eunuchen für das Himmelreich - Katholische Kirche
und Sexualität“ durch belegte Zitate nach, wie Frauen durch Kirchenlehrer diffamiert und der Bibeltext zu
diesem Zweck teilweise verfälscht wurde. So wird die Frau Junia, von Paulus in Römer 16/7 als „berühmt unter
den Aposteln“ charakterisiert, sogar in meinem von der Deutschen Bibelstiftung Stuttgart 1975 als auf der
Übersetzung Martin Luthers fußender „Revidierter Text“ herausgegeben, in den Worten Ranke-Heinemanns „...
durch transsexuelle Manipulation zu einem Mann namens Junias umfunktioniert. Aber die alte Kirche wußte es
besser. Für Hieronymus und Chrysostomus († 407) z. B. ist es ganz selbstverständlich, daß Junia eine Frau war.
Chrysostomus schreibt: »Was muß das für eine erleuchtete Tüchtigkeit dieser Frau gewesen sein, daß sie des
Titels eines Apostels würdig erachtet wurde, ja sogar unter den Aposteln hervorragend war« (... [Belegstelle; der
Autor]). Bis in das späte Mittelalter hinein gab es keinen einzigen Ausleger, der in Römer 16,7 einen
Männernamen gesehen hätte (...). Aber in dem anhaltenden Frauenverdrängungsprozeß der Kirche ist dieser
Frauenname inzwischen von den Männern vereinnahmt. Die Geschichte des Christentums ist auch eine
Geschichte des fortschreitenden Totschweigens und Entmündigens der Frauen. Und wenn diese Entmündigung
sich heute im christlichen Abendland nicht mehr fortsetzt, so nicht dank, sondern trotz der Kirche und schon gar
nicht in der Kirche. Der Frauendiffamierung in der Kirche liegt die Idee zugrunde, daß Frauen dem Sakralen als
etwas Unreines entgegenstehen. Frauen waren nach klerikaler Einschätzung Menschen zweiter Klasse. Clemens
Alexandrinus († vor 215) schreibt: Bei der Frau »muß schon das Bewußtsein von dem eigenen Wesen
23
Vgl. dazu Ranke-Heinemann, Uta: Eunuchen für das Himmelreich Katholische Kirche und Sexualität, Hamburg 1988,
insbesondere S. 131 ff
118
Schamgefühl hervorrufen« ...“24
Diese von Clemens postulierte Wesensschande der Frauen, die in der frühen christlichen Kirche in rechtliche
Form gegossen wurde und sich dann wegen der christlichen Leitwerte Europas für die Frauen in Europa und der
von Europa beeinflussten oder beherrschten Welt zu einer nicht nur kirchlichen, sondern auch staatlichen
Leidkultur - bis zum Wahnsinn der abergläubischen Hexenverbrennungen - auslebte, die sich in der
Bundesrepublik Deutschland über die Schaffung des Grundgesetzes hinaus bis zum 31.03.1953 in den
zahlreichen offenen rechtlichen Benachteiligungen der Frauen niedergeschlagen hat – die über diese vom
BVerfG gesetzte Datumsfrist hinaus noch Jahrzehnte weiterhin fortlebenden Benachteiligungen der Frauen, z.B.
im Ehegattennamensrecht, sollen einen Augenblick unberücksichtigt bleiben -, wurde von christlichen
Theologen, u.a. im von den fanatischen deutschen Dominikanern Institoris und Sprenger 1487 publizierten
„Hexenhammer“, der sich als Kommentar der „Hexenbulle“ des Papstes Innozenz VIII. von 1484 verstand und
als Anleitung für die Folterungen im Namen der Inquisition die Grundlage für die sadistischen und perversen
Frauenverfolgungen der Zeit der Hexenverfolgungen bildete, als diffamierendstes, von Frauen weder biologisch
noch theologisch entkräftbares Totschlagsargument damit begründet, dass Gott selbst das männliche Geschlecht
ganz offensichtlich bevorzugt habe und damit die Bevorzugung der Männer gottgewollt sei, weil Gott, wie jeder
gläubige Christ im Glaubensbekenntnis anerkennt, in Jesus als Mann habe wiedergeboren und leiden wollen, das
auch so getan und dieser Art die Sünden der Welt auf sich genommen habe, um so die Menschheit von ihrer
Erbsünde zu befreien. Der Mann sei der Frau ganz offensichtlich auf göttlichen Willen hin auch deswegen
übergeordnet, weil Gott in Adam zunächst einen Mann geschaffen habe, für den er dann aus dessen Körper eine
Gefährtin moduliert habe, damit sie ihm diene. Außerdem ergebe sich die Minderwertigkeit der Frau gegenüber
dem Mann aus ihrer lateinischen Bezeichnung „femina“: »Das Wort femina nämlich kommt von fe und minus.
Fe = fides, Glaube, minus = weniger, also femina = die weniger Glauben hat; ...«“25 Das letztere,
jahrhundertelang nicht mit einem Augenzwinkern, sondern wirklich ernsthaft vorgebrachte Argument setzt allem
die Dornenkrone auf. Es ist ein schönes Beispiel für einen diabolisch-sophistischen, schnöden juristischen
Scheinbeweis, mit dem etwas zur Wahrung des äußeren Scheins zu rechtfertigen versucht wird, was keine innere
Rechtfertigung besitzt und auch nie erlangen kann, aber aus nacktem Machtinteresse heraus trotzdem
durchgesetzt werden soll: die Unterdrückung der Frauen durch in ihrem Urgrund ängstliche Männer, die vor der
Weiblichkeit und der ihr innewohnenden Kraft erzittern!
„Von allen zeitbedingten Anordnungen des Neuen Testaments hat die katholische Kirche diejenigen, die sich
auf eine Minderstellung der Frau beziehen, am sorgfältigsten bewahrt und noch aufgestockt.“26 Als ein Beleg für
die unbiblisch-repressive Haltung der katholischen Kirche unter vielen wird darauf verwiesen, dass die Synode
von Elvira am Anfang des 4. Jahrhunderts bestimmte, Frauen dürften im eigenen Namen weder Briefe schreiben
noch empfangen. „Frauen hatten in der Kirche nach dem Willen ihrer geistlichen Hirten still zu sein, so still, daß
sie nur tonlos die Lippen bewegen durften. ... Auch im Osten, auf einer persischen Synode in Nisibis 485,
verboten der Metropolit Barsamus und seine Bischöfe den Frauen das Betreten des Baptisteriums und das
Zuschauen bei der Taufe, weil daraus Unzuchtvergehen und unerlaubte Heiraten entstanden seien. ... Frauen
dürfen nicht in der Kirche singen, bestimmten die Synodalstatuten des hl. Bonifazius († 754)“ (die im Hinblick
auf den Frauengesang in der katholischen Kirche erst von Pius XII. 1958 vorsichtig geöffnet wurden, wenn die
Frauen außerhalb des dem Priester und seinen männlichen Helfern vorbehaltenen Presbyteriums oder der
Altarschranke singen; es stehen halt keine in z.B. der Sixtinischen Kapelle noch zu Beginn des 20 Jahrhunderts
eingesetzte Kastraten mehr für die Sopran- und Altstimmen zur Verfügung, da braucht man für manche
kirchlichen Gesänge nun doch Frauen). Wurde in den katholischen Kirchen das Singverbot für Frauen in
Erinnerung an die männermordenden (weiblichen) Sirenen und die Versuchung des Odysseus propagiert und
ausgesprochen? Dieses Verbot wurde noch 1903 von Pius X. bekräftigt, weil die Sänger in der Kirche ein
liturgisches Amt bekleiden.27
Der 263. Papst Johannes Paul II. hat 1980 in einer Instruktion mit dem Titel »Das unschätzbare Geschenk«
angeordnet: „Frauen sind nicht die Funktionen eines Meßdieners gestattet.“28 „Nimmt man die Repressionen
gegen die Frauen, ihre Zurückdrängung, Diffamierung und Verteufelung alles in allem, so bedeutet die ganze
Kirchengeschichte eine einzige lange Kette männlicher bornierter Willkürherrschaft über die Frau.“29
Wenn es nicht das von Hitler mit dem Apostolischen Stuhl geschlossene Konkordat und in religiösen Belangen
24
ebenda S. 132 f
ebenda S. 245 f
26 ebenda S. 135
27 ebenda S. 137 ff
28 Vgl. ebenda S. 139
29 ebenda S. 140
25
119
den Rückgriff auf die Weimarer Verfassung gäbe, wäre das alles in Deutschland nach meinem Dafürhalten ganz
offensichtlich und ohne jede weitere juristische Argumentationsnotwendigkeit grundgesetzwidrig! Nun wird aber
in Art. 140 GG bestimmt, dass einige genau genannte Artikel aus der Weimarer Verfassung (WV) Bestandteil
des Grundgesetzes seien. Art. 140 GG ist wie ein "Mantel-Gesetz" zu sehen, das alles von ihm Umhüllte ohne
(nochmalige) nähere Ausführung auch im Grundgesetz zur Geltung bringt. Deswegen gilt u.a.
"Art. 137 III WV
Jede Religionsgemeinschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der
Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder
der bürgerlichen Gemeinde."
Da jedoch in der Bundesrepublik das Grundgesetz für alle gilt und in Art. 3 II 1 steht:
"Männer und Frauen sind gleichberechtigt."
habe ich keinerlei juristische Schwierigkeiten damit, eine solche, die Frauen diskriminierende päpstliche
Anordnung und kirchliche Praxis trotz des über Art. 140 GG mit Rückgriff auf Art. 137 III WV zugestandenen
Rechtes, die kirchlichen Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde zu verleihen, als
grundgesetzwidrig anzunehmen, da durch päpstliche Anordnung und kirchliche Praxis das Grundrecht, in diesem
Fall der Frauen, aus Art. 3 II 1 GG nicht gewahrt ist! Und Grundrechte sind die höchsten juristischen Normen in
unserem Staat. Außerdem wurde durch die Übergangsregelung des Art. 117 I GG bestimmt, dass dem
Gleichberechtigungsgebot des Art. 3 II GG entgegenstehendes (niederrangiges) Recht bis zum 31.03.1953
angepasst zu sein habe. Da müsste die Bundesrepublik im Vatikan vorstellig werden, dass das Konkordat den
Forderungen des Grundgesetzes angepasst werden müsste, weil es sonst wegen seines Grundrechtsverstoßes
einseitig von der Bundesrepublik Deutschland als nichtig erklärt werden müsste. Aber dieses Rückgrat hat keine
Bundesregierung!
In der evangelischen Kirche gibt es von den zuständigen Gremien gewählte Bischöfinnen! Wie soll da bei
solchen gegensätzlichen Auffassungen eine Ökumene zwischen Protestanten und Katholiken gelebt werden?
Die von Ranke-Heinemann sehr eindringlich nachgewiesene kirchlich veranlasste und über fast zwei
Jahrtausende erfolgte repressive Frauendiffamierung und dann darauf gegründete Entmündigung der Frauen hat
sich selbstverständlich in den eineinhalb Jahrtausenden seiner Praktizierung an Sonn- und kirchlichen Festtagen,
von denen es in früherer Zeit wesentlich mehr gab, auch in dem Bewusstsein der Männer, die die Gesetze
machten, festgesetzt und zu der die Männer viele, viele Jahrhunderte lang bevorzugenden Gesetzgebung geführt!
Wir sehen wieder einmal: Letztlich waren und sind Gesetze oft (auch) durch religiöses Bewusstsein gegründet,
auch heute noch, gleichgültig, ob es sich um Abtreibungsregelungen, das Embryonenschutzgesetz oder ...
handelt. Und mein Gerechtigkeitsempfinden packt die kalte Wut auf die die Frauen diffamiert habenden - und
die, wie aus der vorstehenden Zeitungsnotiz über den Vorsitzenden der Deutschen Evangelischen Allianz
ersichtlich, die Frauen immer noch diffamierenden - Männer, wenn ich mir das Wissen erarbeite, dass die
Sozialdemokratin Selbert bei der Schaffung des Grundgesetzes 1948/49 zwei Abstimmungsniederlagen
hinnehmen musste, bevor die Männer - wenigstens mehrheitlich - nachgaben und im Grundgesetz stehen konnte:
Art. 3 II GG
"Männer und Frauen sind gleichberechtigt."
Was »be-recht-igt(e)« die Männer zu einer dem Wortlaut entgegenstehenden, die Frauen benachteiligenden
Haltung? Wie kann es sein, dass ein solcher Mann mit einer solchen, in den Jahren seines gesellschaftlichen
„Aufstiegs“ bestimmt nicht verheimlichten, sondern sicher offensiv vertretenen „Denke“ auf Grund einer solchen
Geisteshaltung an die Spitze des von ihm vertretenen Verbandes gewählt und Rolf Hille als Vorsitzender der
Deutschen Evangelischen Allianz 1996, nach 50 Jahren der Geltung des Grundgesetzes, solche „bekräftigende“
Frauendiffamierung absondern konnte, ohne noch am selben Tag von seinem Amt zurücktreten zu müssen? Was
tummelt sich da selbst in der evangelischen Kirche noch für ein an seit Jahrtausenden veraltetem Denken
orientierter Verband und wagt es, heute noch mit solchen grundgesetzwidrigen Verlautbarungen an die
bundesrepublikanische Öffentlichkeit zu treten? Eine Unterordnung von Frauen unter ihre Ehemänner sei „von
der Schöpfung her begründet. Es bestehe ein Gefälle in der Rangordnung zwischen Mann und Frau“. KirchenMacho!
Ich gebe allerdings auch zu, gleichermaßen Schwierigkeiten mit den religiös gebundenen Feministinnen zu
120
haben, die - in psychologisch nachvollziehbarer Überreaktion auf die Jahrtausende lang praktizierte
Zurücksetzung - beten: „Vater und Mutter unser, ...“ und die „Heilige Geistin“ anrufen; was die katholische
Kirche im Mai 2001 für ihren Bereich ausdrücklich verbot.
Und selbst in den USA, wo man so sehr auf »political correctness« achtet und sie selbst im nicht-öffentlichen
Bereich durch horrende Strafgelder auch erzwingen kann, werden aus übergeordneten Gesichtspunkten
Abweichungen vom Grundsatz der Gleichberechtigung vorgenommen:
„Der König hört nicht auf Frauen
Washington – Saudische Vertretet haben im Vorfeld des US-Besuchs von Kronprinz Abdullah den
Flughafen von Waco aufgefordert, Frauen aus dem Tower zu verbannen, damit das Flugzeug nicht
von Frauen angesprochen wird. Der Bitte sei entsprochen worden. (afp)” (HH A 23.04.02)
Doch wenden wir uns wieder der Gleichberechtigungsproblematik des Grundgesetzes zu.
"Neutrale Sprache
ddp Bonn - Der Bundestag hat sich dafür ausgesprochen, geschlechtsspezifische Formulierungen in
der Rechtssprache künftig zu vermeiden. Bezeichnungen wie Vertrauensmann oder Lehrherr sollen
durch neutrale Begriffe ersetzt werden." (HH A 16.01.93)
Und damit kann man sich schwer tun:
Nebenwirkinnen
Hamburg · 13. März · dpa · Die Bundesregierung will die Pharmaindustrie zwingen, die
Gleichstellung von Mann und Frau auch bei der Reklame für Arzneimittel zu beachten. Mussten die
Pillenhersteller den Verbrauchern bislang anraten, den "Arzt oder Apotheker" zu befragen, soll es
künftig nach einem Bericht des Magazins Der Spiegel den "geschlechtergerechten" Hinweis geben:
"Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage, holen Sie ärztlichen Rat ein und
fragen Sie Ihre Apothekerin oder Ihren Apotheker."
Arzneifirmen und Werbewirtschaft gefalle der neue Text überhaupt nicht, schreibt das Magazin: Der
Warneffekt gehe verloren, wenn der Satz noch länger werde. Befürchtet werde zudem, Drogistinnen
und Drogisten könnten ebenfalls verlangen, erwähnt zu werden.
(FR 14.03.05)
Das kann man aber auch übertreiben und ins Groteske übersteigern. Dabei hat sich die Stadt Buchholz in der
Nordheide hervorgetan und das Kind gleich mit dem Bade ausgeschüttet:
"Die Bürgermeisterin ist ein Mann
Buchholz will künftig ausschließlich weibliche Amtstitel benutzen
Die Stadt Buchholz schafft die männlichen Formen im Behörden-Deutsch ab. Die Ratsmitglieder
beschlossen mit klarer Mehrheit, künftig nur noch die weiblichen Formen für Amtsbezeichnungen zu
benutzen - zumindest in der Gemeindeverfassung. Bisher kamen in dem Schriftstück Frauen nicht
vor. Bürgermeister, Ratsherr, Stadtdirektor, Beamter - in der Sprache der Satzung waren die Männer
unter sich. In Zukunft fehlen sie.
Von der niedersächsischen Landesregierung kam zuvor die Empfehlung, in Rechts- und
Verwaltungsvorschriften beide Geschlechter zu benennen. So schlug Stadtdirektor Andreas Bendt in
der Sitzung vom 22. November eine `Schrägstrich-Regelung' vor, also zum Beispiel
`Beamter/Beamtin'. Doch dieser Vorschlag wurde von der CDU mit dem Argument, solche
Schreibweisen seien zu umständlich und schwerfällig, abgelehnt.
Daraufhin stellte der FDP-Ratsherr Jürgen Kempf den Antrag, künftig nur noch die rein weibliche
Form in der Hauptsatzung zu verwenden. Von den 30 Ratsmitgliedern stimmten 24 dafür.
Bürgermeister Joachim Schleif, der auf dem Papier nun `Bürgermeisterin' heißt, ist von dem
Beschluß nicht begeistert, er stimmte dagegen: `Ich gehe nicht davon aus, daß weibliche
Ratsmitglieder sich beleidigt fühlen, nur weil in der Satzung Ratsherr steht. Diese ganze
Vokabeldiskussion halte ich nicht für sehr förderlich.' Dennoch unterschrieb er die Hauptsatzung:
`Dagegen kann ich nichts machen, es war eine eindeutige Entscheidung.'
121
Die Frauenbeauftragte Martha Vogelsang wehrt sich gegen den Vorwurf, das Ganze sei ein Jux. Es
sei ein Signal für alle Männer, sich einmal über die diskriminierende Behandlung von Frauen in der
Sprache Gedanken zu machen.
Derzeit wird die Hauptsatzung von der Kommunalaufsicht bei der Kreisverwaltung in Winsen
juristisch überprüft. `Wir haben von denen aber telefonisch schon grünes Licht bekommen', sagte
Rathaus-Sprecherin Ingrid Fischer.
Wird das Schriftstück dann im `Amtsblatt für den Kreis Harburg' veröffentlicht, tritt die Verfassung
offiziell in Kraft. Dann können Männer, die sich durch die neue Regelung eventuell diskriminiert
fühlen, zumindest juristisch nichts mehr einwenden. ... (HH A 08.12.94)
Sicher haben auch Sie sich schon wiederholt über die »vermännlichte« Sprache geärgert, die Frauen sprachlich
nicht ausreichend berücksichtigt - eine Spracheigentümlichkeit, die z.B. im sprachlich ausgesprochen
machohaften Spanischen noch wesentlich ausgeprägter gegeben ist und manch kämpferische Frauen in Spanien
und Hispano-Amerika in die Nähe zum (hoffentlich nur geistig bleibenden) Amok-Lauf treibt. Da ist mit
mancher Maria oder Carmen ob dieser sprachlichen Benachteiligung der Frauen nicht mehr zu spaßen!
Betrachten Sie es als (Ihnen möglicherweise nicht hinreichend erscheinenden) Ausgleich - und von mir als von
meiner Mutter vor über 60 Jahren mit durchaus passablem Erfolg angelerntem „Frauenversteher“, der »Frauen«
mag und den charmanten unter ihnen keinen Wunsch abschlagen kann, verabreichten Trost - , dass das Gesetz,
wenn es eine strafbar handelnde Person nicht ganz allgemein als „Wer“, sondern nur noch ziemlich allgemein
bezeichnet, immer nur von »dem alten Adam« spricht: Z.B. in § 211 StGB „Der Mörder wird mit lebenslanger
Freiheitsstrafe bestraft. Mörder ist, wer ...“ oder in § 212 StGB „Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu
sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.“ Als wenn »Frauen« nicht töten
oder gar morden würden! Sie machen es zwar seltener, aber auch, und dann bevorzugt lieber »weicher« und
diskreter: mit Gift.
Hoffentlich ist es mir mit diesem Hinweis gelungen, Sie ob der sprachlichen Ungerechtigkeit ein wenig getröstet
zu haben.
1.3.2.2.2 Benachteiligung von Frauen unter der Geltung des GG seit 1949 im niederrangigeren Recht
trotz Art. 3 II GG und allmähliche rechtliche Angleichung
Die volle rechtliche Gleichstellung der Frauen ist aber in der gesellschaftlichen Wirklichkeit noch längst nicht
verwirklicht, obwohl das GG seit 1949 in Kraft ist. Zwar ist es inzwischen nicht mehr so, dass das Vermögen
einer Frau bei Heirat automatisch dem Ehemann zufällt, der Ehemann ein von seiner Ehefrau eingegangenes
Arbeitsverhältnis nach eigenem Belieben kündigen kann, die Antibabypille ausschließlich verheirateten Frauen
erst dann verschrieben wird, wenn zuvor die Einverständniserklärung ihres Ehemannes vorliegt, oder dass der
Vater in Sachen der Kinder den sogenannten »Stichentscheid« hat: Konnten sich die beiden Eltern über ein
Erziehungsproblem nicht einigen, so wurde gemacht, was Vatern sagte. (Das wurde natürlich nur rein rechtlich,
nicht aber unbedingt tatsächlich so gehandhabt. Im privaten Bereich gilt eher das Wort von Oscar Wilde:
„Männer, die behaupten, sie seien die uneingeschränkten Herren im Haus, lügen auch bei anderer Gelegenheit.“)
Die juristische Benachteiligung der Frauen hatte selbstverständlich auch einen schönen juristischen Namen:
„Letztentscheid des Vaters“. Diese gesetzliche Regelung des BGB ist erst 1959 durch BVerfGE 10/59 für
grundgesetzwidrig erklärt worden, obwohl Art. 117 1 GG von Anfang an bestimmt hatte:
Art. 117 GG
„(1) Das dem Artikel 3 Abs. 2 entgegenstehende Recht bleibt bis zu seiner Anpassung an diese
Bestimmung des Grundgesetzes in Kraft, jedoch nicht länger als bis zum 31. März 1953.
..."
Doch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Bundesrepublik vollständig durchgesetzt war die
Gleichberechtigung damit noch längst nicht. So wurden nach dem stringenten Beamtenrecht Frauen bis 1953,
wenn sie heirateten, aus dem Beamtenverhältnis entlassen. Bis dahin hatte z.B. eine Lehrerin „Fräulein“ zu
bleiben – was auch für den privaten Lebenswandel galt: Es wurde zwar nicht als Einstellungsvoraussetzung
überprüft, ob sie noch eine »virgo intacta« sei, aber wenn ruchbar wurde, dass ein Mann ihrem schönen Leib
nach Meinung ihres Dienstherrn zu nahe gekommen war, dann konnte sie bei einem bei ihrem Dienstherrn
Anstoß erregenden Lebenswandel disziplinarisch bestraft und notfalls sogar aus dem Beamtenverhältnis entfernt
werden! Es galt kein gleiches Recht für alle: Es ist mir nicht bekannt, dass ein Kollege, der den Lockungen des
schönen Leibes einer Kollegin nicht hatte widerstehen können, disziplinarisch belangt, jedenfalls nicht aus dem
122
Benachteili
gung von
Frauen
unter der
Geltung des
GG seit
1949 im
niederrangi
geren Recht
trotz Art. 3
II GG
Beamtenverhältnis entfernt worden wäre! Und wenn es das gegeben haben sollte, dann bestimmt nicht so häufig
wie bei Frauen. Im Bereich der Politik z.B. gab es erst im 4. Kabinett Adenauer mit Elisabeth Schwarzhaupt im
November 1961 die erste Bundesministerin, nachdem die Frauen innerhalb der CDU lange in dieser Richtung
ihre Forderung angemeldet hatten und mit Hinweis auf den übergroßen Frauenstimmenanteil der CDU bei
Wahlen, der der CDU erst die überragenden Wahlerfolge beschert hatte, eine Repräsentantin mit Ministerrang
einforderten. Das Bundesgesundheitsministerium erschien dann lange Jahre unbedeutend genug, die den
Männern innerhalb der CDU mit der Zeit doch lästigen Quengeleien der Frauen mit einem Leckerli resignierend
abwürgen zu können - wie Eltern seufzend nachgeben, wenn ihre Kleinen vor der Kasse des Supermarktes etwas
von der dort ganz bewusst aufgebauten „Quengelware“ erbetteln.
Es gibt immer noch genügend zu tun, wenn die Gesellschaft der Bundesrepublik ihre „human resources“ zum
gesellschaftlichen Gesamtnutzen weiter ausschöpfen will:
"Gesetz-Entwurf ein `Treppenwitz'
`Der Entwurf des Gleichstellungsgesetzes von Frauenministerin Angela Merkel wird als Treppenwitz
in die Frauengeschichte eingehen', sagt Christa Randzio-Plath, Vorsitzende der Hamburger
Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen. Hier werde den Arbeitnehmerinnen 'mal wieder
`die Möglichkeit vorgegaukelt, berufliche Chancen per Gesetz zu verbessern.' Randzio-Plath fordert
Frauensenatorin Traute Müller auf, `dazu beizutragen, daß die Gleichberechtigung keine Leerformel
bleibt.'" (Morgenpost 19.01.93)
Nun soll eventuell in Art. 3 II 1 GG die Reihenfolge der Nennung der Geschlechter
„Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“
geändert und es sollen dadurch die Frauen vor den Männern genannt werden, um dem Gesetzgeber das zwar
schon seit langem grundgesetzlich aufgetragene aber noch immer nicht voll durchgesetzte
Gleichberechtigungsgebot auch deklaratorisch vor Augen zu stellen. Welcher Kavalier sollte etwas dagegen
haben? Außerdem ist Art. 3 II GG 1994 durch den Satz 2 erweitert worden:
"Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern
und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin."
Auf jeden Fall ist nun durch die vorstehende Formulierung in Art. 3 II 2 GG die Reihenfolge der
Geschlechternennung im Gegensatz zu dessen Satz 1 umgestellt worden. Vielleicht bleibt es in Art. 3 II GG ja
nun dabei: ein schlicht, ein kraus.
In manchen Bundesländern sind zur Beseitigung der Benachteiligung von Frauen und zu ihrer prozentual
angemessenen Repräsentation auch in höheren und Spitzenpositionen des Öffentlichen Dienstes spezielle
Quotenregelungen durch Gesetze beschlossen worden. Bis zur Erfüllung der Quote seien Frauen bevorzugt bei
Stellenbesetzungen zu berücksichtigen. Dagegen haben männliche Bewerber geklagt, wenn sie bei gleicher
Befähigung „nur“ wegen ihres Geschlechts unterlegen waren. Lag ein Verstoß gegen die Euro-Richtlinie
76/20/EWG „zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich
des Zugangs zur Beschäftigung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen“ aus
dem Jahr 1976 vor? Die 15 obersten (männlichen) europäischen Richter des Europäischen Gerichtshofes haben
solche gesetzlichen Bestimmungen gekippt, in denen die Bevorzugung von Frauen „absolut und. unbedingt“
ohne eine Härtefallregelung für Männer vorgesehen gewesen waren, wie z.B. die rigide Regelung 1995 in
Bremen. Das Grundrecht eines einzelnen auf Gleichbehandlung dürfe nicht verletzt werden, um zurückliegende
Benachteiligungen einer Gruppe zu bekämpfen. War das Ziel der ausgleichend bevorzugenden Frauenförderung
wie im Frauenförderungsgesetz von NRW im Gesetz nur als Absicht formuliert, die auch ein Abweichen zuließ,
wurde die Bevorzugung von Frauen bis zur Erreichung einer angemessenen Repräsentanzquote als mit der EUGleichheitsrichtlinie vereinbar angesehen, wenn die objektive Beurteilung jedes Bewerbers gewährleistet und
die Beförderung eines Mannes nicht von vornherein ausgeschlossen ist. In der nordrhein-westfälischen
Bestimmung heißt es in einer Härteklausel, dass Frauen bei gleicher Eignung, Befähigung und fachlichen
Leistung bis zur Erreichung einer 50-%-Quote bevorzugt befördert werden sollen, solange sie unterrepräsentiert
sind, falls nicht „in der Person eines Mitbewerbers liegende schwerwiegende Gründe überwiegen“.
Welch ein ungeheurer Weg ist durch mühseligste Kämpfe der "Blaustrümpfe" gegen die ignorante Männerwelt
schon zurückgelegt worden! Ein Blick zurück belegt das:
123
"Bestimmend
Das Landrecht von 1794 machte den Ehemann zum gerichtlichen Vormund, `schuldig und befugt,
die Person, die Ehre und das Vermögen seiner Frau in und außer Gerichten zu verteidigen'. Dasselbe
Landrecht wies Mütter an: `Eine gesunde Mutter ist ihr Kind selbst zu säugen verpflichtet. Wie lange
sie aber dem Kinde die Brust reichen solle, hängt von der Bestimmung des Vaters ab!" (HH A)
Das „Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten“ von 1796 mit seinen zwei Teilen, 43 Titeln und rund
19.000 Paragraphen ist das erste moderne Gesetzbuch Deutschlands. Es galt (in weiten Teilen Deutschlands) bis
zu der Einführung des BGB zum 01.01.1900.30 Bis dahin war ein Ehemann also »Vormund« seiner Frau, wie es
bis vor kurzem die Eltern gegenüber ihren noch minderjährigen Kindern waren (nun sind sie „Sorgeberechtigte“)
- oder es ein Amtsvormund gegenüber einem Geisteskranken ist.
Wenn eine vor der Heirat schon volljährige Frau zunächst voll rechtsfähig gewesen war und durch die Heirat ihr
nunmehriger Ehemann zu ihrem Vormund geworden ist, dann muss durch den Akt der Eheschließung
zwangsläufig eine rechtliche Entmündigung der Frau eingetreten sein! Das kann auch ich als Mann empörend
empfinden. Es gab keinen Grund für eine solche dümmliche zivilrechtliche Regelung außer reinem
Machodenken!
Und auch das Strafgesetz ordnete für eine Frau, die heiratete, einen erheblichen Rechtsverlust an: Vor dem
Eingehen einer Ehe war eine Frau in ihrem sexuellen Selbstbestimmungsrecht durch Strafnormen vollständig
geschützt, durch Eheschließung ging sie plötzlich eines Teiles dieses Schutzes verlustig. Durch das "Ja-Wort",
das vor dem Standesbeamten und eventuell auch dem Pfarrer abgegeben worden war und sich nur auf den
Willen zur Eheschließung bezog, soll eine »Nunmehr-Ehefrau« automatisch auch ihr Einverständnis zu
Vergewaltigungen in der ehelichen Lebensgemeinschaft durch den »Nunmehr-Ehemann« gegeben haben, denn
die Möglichkeit einer Vergewaltigung durch einen Ehemann wurde in § 177 StGB tatbestandlich
ausgeschlossen. Durch diese Strafnorm war eine Frau ab Eheschließung nur noch gegen erzwungenen
außerehelichen „Beischlaf“ geschützt. (Wenn der Ehemann der Täter war, wurde das außerhalb der Ehe als
einschlägig angenommene Verbrechen der Vergewaltigung zu dem Vergehenstatbestand einer - sexuellen Nötigung herunterformuliert. Der BGH belehrte noch 1966 eine Ehefrau dahingehend, dass die Ehe die
Gewährung des Geschlechtsverkehrs „in Zuneigung und Opferbereitschaft“ und „ohne Gleichgültigkeit und
Widerwillen“ verlange - auch wenn die Ehe schon nicht mehr prickelnd war, die Frau ihren Mann inzwischen
vielleicht schon hasste wie die Pest und ein Scheidungsverfahren lief. Natürlich war Gewalt gegenüber einer
physisch meist Schwächeren nicht so ganz in Ordnung, aber als ein Verbrechen mochte es der Gesetzgeber nicht
werten. Ein bisschen Gewalt gegenüber einer unwilligen Ehefrau wurde - unausgesprochen - vielleicht wie eine
Art Notwehrrecht gegen die Verweigerung von „natürlicher und legitimer Befriedigung“ angesehen.) Erst 1995
bahnte sich nach über 20-jährigem Bemühen insbesondere der SPD in diesem Punkt eine Besserung an. Nach
Rückzugsgefechten um die Ausgestaltung einer »Verzeih-Klausel«, mit der der durch eine Anzeige der
vergewaltigten Ehefrau angeworfene Justizmotor vor Ausspruch eines Urteils "mit Freiheitsstrafe nicht unter 2
Jahren" noch wieder hätte abgewürgt werden können, wurde in einem Entwurf auch eine Vergewaltigung durch
den Ehemann durch Streichung nur eines Wortes - „durch Gewalt ... zum außerehelichen Beischlaf nötigt“ unter Strafe gestellt. So einfach kann Rechtsgüterschutz sein; wenn Mann nur will!
Inzwischen wurde „Vergewaltigung“ im Verlauf der parlamentarischen Beratung völlig umdefiniert: Unter
Vergewaltigung versteht man jetzt nicht mehr nur die weitestgehende Einschränkung, eine Frau zum
außerehelichen Beischlaf zu zwingen, auch nicht nur, eine Frau überhaupt zum Beischlaf zu zwingen, sondern
erweiterte den Rechtsgüterschutz auf das unerlaubte Eindringen mit irgend etwas in den Körper eines anderen mit der Konsequenz, dass jetzt nicht nur von ihnen ungewollte »Fingerspiele« an Frauen durch diese Strafnorm
miterfasst sind, sondern nunmehr auch Männer strafrechtlich relevant vergewaltigt werden können, wie es in
Gefängnissen durch Analverkehr oder das Reinrammen von Gegenständen in den Anus ja schon öfters passiert
war, ohne dass den männlichen Opfern wegen der bisherigen, die Männer ausschließenden Legaldefinition im
vormaligen § 177 StGB der Rechtsgüterschutz des Vergewaltigungsparagraphen mit seiner Mindeststrafdrohung
von zwei Jahren Freiheitsstrafe zur Seite gestanden hätte.
„Fünf Jahre Haft für Vergewaltiger
Itzehoe – Das Landgericht Itzehoe hat einen 17-Jährigen wegen Vergewaltigung und räuberischer
Erpressung zu fünf Jahren Jugendstrafe verurteilt. Er hatte in Heide zwei Jungen (13) ausgeraubt und
in einen Müllcontainer gesperrt und einen von ihnen sexuell missbraucht. (dpa)“ (HH A 24.03.04)
30
In anderen Teilen Deutschlands galten bis zum 31.12.1899 andere Gesetze. In Thüringen und Anhalt wurde durch die
Einführung des BGB der um 1224 geschaffene Sachsenspiegel abgelöst: Fast 700 Jahre Geltung des Sachsenspiegels in
Teilen Deutschlands!
124
»Vergewaltigung« wird nicht in jeder Gesellschaft gleich gesehen, gleich definiert und rechtlich gleich gewertet.
Als Beispiel dafür, dass die jeweilige Definition eines Straftatbestandes die Strafbarkeit in einer Weise
begründet, wie wir sie nicht kennen, sei ein berühmter Fall aus Amerika angeführt, der bei uns nicht unter die
Strafbestimmung einer „Vergewaltigung“ im Sinne des § 177 StGB gefallen wäre:
VERBOTENE LIEBE
Lehrerin und ihr Ex-Schüler träumen von Hochzeit
Als 34-jährige Lehrerin hatte Mary Letourneau Sex mit einem Sechstklässler - und musste wegen
Vergewaltigung hinter Gitter. Kaum ist sie wieder frei, hat das Gericht die lebenslange
Kontaktsperre aufgehoben. Mit 21 ist Vili Fualauu immer noch verrückt nach Mary, und sie denkt
sogar an ein weiteres gemeinsames Kind.
Mary Letourneau ließ sich auf eine Affäre mit ihrem zwölfjährigen Schüler Vili Fualauu ein, und die
ganze Welt schaute zu. Nach siebeneinhalb Jahren Haft wurde sie am letzten Donnerstag aus einem
Frauengefängnis entlassen. Nur wenige Stunden später reichte der Anwalt von Fualauu einen Antrag
auf Aufhebung des Kontaktverbotes ein, das 1997 das Gericht verhängt hatte. Die Entscheidung fiel
schnell, die beiden dürfen wieder "uneingeschränkten Kontakt" miteinander haben.
Die einzige Basis für die Anklage sei das Alter des Schülers gewesen, schrieb Anwalt Scott Stewart
in seinem Antrag: "Mr. Fualauu ist jetzt 21 Jahre alt, er hat keine Angst vor Mary L. Letourneau."
Die Staatsanwaltschaft verzichtete auf einen Einspruch; es gebe "keine Rechtsbasis", das
Kontaktverbot aufrecht zu erhalten. So sah es auch Linda Lau - dieselbe Richterin, die Letourneau
zuvor verurteilt hatte.
Aus der Beziehung zwischen Mary Letourneau, inzwischen 42, und Vili Fualauu entstanden zwei
Töchter, die fünf und sieben Jahre alt sind. Letourneau hat vier weitere Kinder aus ihrer früheren
Ehe.
Die Affäre zwischen der Lehrerin und ihrem Schüler hatte in den neunziger Jahren weltweit für
Schlagzeilen gesorgt und zu einem spektakulären Prozess geführt. 1997 wurde Letourneau zunächst
wegen "Vergewaltigung eines Kindes in einem leichteren Fall" zu sechs Monaten Haft verurteilt.
Nach ihrer Freilassung traf sie sich trotz Verbots sofort wieder mit dem Jungen - und nur einen
Monat später wurden die beiden beim Sex im Auto erwischt. Die Lehrerin, im sechsten Monat
schwanger, musste daraufhin abermals ins Gefängnis, wo sie eine Tochter zur Welt brachte.
Er habe lange auf die Freilassung von Letourneau gewartet, sagte Fualauu dem Sender NBC: "Ich
möchte sehen, wer sie ist und ob sie der gleiche Mensch ist, in den ich mich verliebt habe - und ob
sie meine Gefühle erwidert. Wenn wir uns noch lieben, werden wir heiraten." Sich mit gleichaltrigen
Frauen zu treffen, habe ihn nicht glücklich gemacht. Er habe alle Mädchen oder Frauen mit Mary
verglichen und immer nur an sie gedacht, so Fualauu. Nun wolle er bis Ende des Monats
herausfinden, ob die Beziehung eine Zukunft hat.
Fualauu ist derzeit arbeitslos und lernt für den Abschluss an einer weiterführenden Schule. Mary
Letourneau musste sich unmittelbar nach ihrer Haftentlassung als Triebtäterin bei den Behörden
registrieren lassen. Sie hatte stets betont, es handele sich um eine romantische Beziehung, um wahre
Liebe.
Über ihre Zukunftspläne hat Letourneau bisher wenig verraten. Dem Sender Komo-TV sagte sie nur,
ihr Hauptziel sei eine "Wiedervereinigung" ihrer Familie. Auch ein weiteres Kind mit Fualauu hält
sie für möglich: "Wenn wir das Glück haben, eine Beziehung fortsetzen zu können, und wenn es das
ist, was er will, dann würde ich es für ihn tun", sagte Letourneau in einem Interview noch vor ihrer
Entlassung aus dem Gefängnis. Inzwischen wohnt sie bei einem Ehepaar in einem Haus in der Nähe
von Seattle.
Reporter setzten sich sogleich auf ihre Fährte. Der Medienrummel um das ungleiche Paar ist
ohnedies ungebrochen, die moralische Bandbreite der öffentlichen Kommentare enorm - die einen
bedauern Letourneau und Fualauu für ihre unglückliche, romantische Liebe, die anderen sehen die
Beziehung ein schlichtes Verbrechen mit lebenslangen Folgen. So beschreibt die Kolumnistin Susan
Payntner den Fall in der Zeitung "Seattle Post" als klassischen Missbrauch und sexuelle Ausbeutung.
Kapital schlagen können beide daraus allemal. Bereits während ihrer Haft hatte Letourneau
gemeinsam mit Fualauu ein Buch veröffentlicht ("Einziges Verbrechen: Liebe"). Über die beiden
entstanden auch eine Biographie ("If Loving You Is Wrong") sowie ein Fernsehfilm. Eine
Hollywood-Verfilmung scheint angesichts der drehbuchtauglichen Geschichte ziemlich naheliegend.
Die Kinderschutzorganisation "Team Amber Alert" hat die Filmindustrie bereits davor gewarnt:
Amerika werde jeden Film boykottieren, wenn es um die Verherrlichung des Falles gehe, in dem
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eine 35-jährige Frau einen zwölfjährigen Jungen verführe und später eine glücklich vereinigte
Familie gezeigt werde.
(Spiegel Online 10.08.04)
2005 haben die zu dem Zeitpunkt 37-Jährige und der 21-Jährige geheiratet.
Ein anderes Beispiel für eine gesetzlich so definierte »Vergewaltigung«, das außerdem zeigt, dass es notwendig
ist, dass der Gesetzgeber bei der Formulierung eines Straftatbestandes sehr sorgfältig nach allen Seiten hin
abwägen und möglichst alle denkbaren Fallvarianten im Blick haben muss, war der Presse zu entnehmen, als es
vor dem BVerfG um die Rechtmäßigkeit der Auslieferung eines Deutschen an ein anderes EU-Land auf Grund
eines dort ergangenen europäischen Haftbefehls ging. In der Anhörung fragte der Richter am BVerfG Udo da
Fabio den Sachverständigen der Bundesregierung: "Wenn ein Deutscher im Kölner Karneval einer Holländerin
einen Zungenkuss aufnötigt, gilt das in den Niederlanden als vollendete Vergewaltigung. Ist es richtig, dass ein
Deutscher, der das nicht wusste, in den Niederlanden vor Gericht gestellt wird?" Die Antwort fiel ausweichend
aus.
Wenn man »Vergewaltigung« als ungewolltes In-denKörper-Eindringen definiert, dann werden davon nicht nur
u.a. die in Altersheimen sich wiederholt ereignenden gravierenden Fälle erfasst,
„97jährige von Heim-Mitarbeiter sexuell mißbraucht
Köln
Eine 97jährige Bewohnerin eines Seniorenheims in Köln ist von einem leitenden Mitarbeiter des
Heims sexuell mißbraucht worden. Der 43jährige sei durch eine DNA-Probe überführt worden,
berichtete die Kölner Polizei am Montag. Auf die Spur des Verbrechens war die Polizei gekommen,
als bei einer routinemäßigen Untersuchung im Urin der alten Dame Spermien gefunden wurden. Der
Gesundheitszustand der Seniorin ließ eine Befragung nicht zu. Eine Altenpflegerin gab dann den
Hinweis auf den Stationsleiter, in dessen Obhut sich die Seniorin befand. Eine Speichelprobe des
Tatverdächtigen zeigte, daß die DNA des 43jährigen mit dem genetischen Fingerabdruck der
Spermien übereinstimmte, wie die Polizei mitteilte. AP“ (DIE WELT 19.04.05)
sondern auch ein in Karnevalslaune aufgenötigter Zungenkuss. Aber dafür dann ebenfalls eine Mindeststrafe von
zwei Jahren Freiheitsstrafe?
1.3.2.2.3 Art. 3 II GG und Ehenamensrecht
Wie die Überschrift deutlich macht, geht es in diesem Kapitel nicht um das Recht der Vornamensgebung, das
wesentlich mehr Freiräume lässt als das Recht der Ehenamensfindung. Im Bereich des Vornamensrechts können
sich die Eltern in fast schrankenloser Willkür austoben – und ihr Kind hat dann ein Leben lang darunter zu
leiden: das Vornamensrecht ist zu oft die Lieblingsspielwiese spinnert ausgelebter elterlicher Willkür!
„Standesamt: Kinder dürfen Keanu-Neo, Pumuckl, Fanta und Gneisenauette heißen
Eltern aus Halle haben vor einigen Tagen vom Standesamt die Erlaubnis bekommen, ihren Sohn
Keanu-Neo zu nennen. Der Name ist zurückzuführen auf den Schauspieler Keanu Reeves, welcher
im Film 'Matrix' 'Neo' darstellt.
Doch es gibt weitere Namen, die Eltern ihren Kindern geben dürfen. Bei den Jungen sind es
beispielsweise Pumuckel, Rasputin sowie Leonardo da Vinci Franz. Mädchen hingegen dürfen
Fanta, Gneisenauette und Pepsi-Carola genannt werden.
Auf der Liste der nicht erlaubten Namen für Jungen stehen unter anderem Atomfried, Bierstübl und
Crazy Horse. Bei Mädchen wurden die Namen Nagina, Gift, Emma-Tiger sowie Pfefferminze
verboten.“ (stern shortnews 08.02.05)
Früher bremsten Standesbeamte allzu willkürliche Vornamensfindungen und -gebungen ziemlich rigoros. Doch
dann gestand das BVerfG den Eltern sehr weitgehende Rechte zu, sogar auf erfundene, selbst konstruierte
Namen, wenn sie denn männlichen oder weiblichen Anklang haben. Allerdings bekräftigten die
Verfassungsrichter am 20.02.2004, dass es Willkürschranken gebe: „Der Staat hat die Pflicht, das Kind als
Grundrechtsträger vor verantwortungsloser Namenswahl durch die Eltern zu schützen.“ Das BVerfG schränkte
außerdem das Recht der Eltern auf die Vergabe einer beliebigen Anzahl von Vornamen ein; es handelt sich ja
schließlich nicht um Mitglieder des britischen Königshauses. Fünf Vornamen wurden für ausreichend erachtet,
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als eine Mutter aus Nordrhein-Westfalen, die in ihrer Jugend offensichtlich zu viele Indianergeschichten gelesen
hatte, ihrem Kind die zwölf Vornamen geben wollte: Chenekwahow Tecumseh Migiskau Kioma Ernesto Inti
Prithibi Pathar Chajara Majim Henriko Alesandro.
Art. 3 II GG Im Gegensatz zu der fast schrankenlosen Namensgebungsfreiheit im Vornamensrecht ist in Deutschland im
und
Ehenamensrecht - im Gegensatz zu den entsprechenden gesetzlichen Regelungen in anderen Staaten wie z.B.
Ehenamens Großbritannien, wo die Eheleute bei der Eheschließung völlig frei einen Ehenamen wählen können, der sogar
recht
keinem der bisher geführten Nachnamen entsprechen muss - die Wahl des Ehenamens seit dem Ende des
18.Jahrhunderts wesentlich reglementierter; bis dahin brauchten die Eheleute in Deutschland keinen
gemeinsamen Ehenamen zu führen und ihre Kinder nicht diesen (nicht vorhandenen) Ehenamen zu übernehmen,
so dass Harry alias Heinrich Heine (* 1797) mit dem Nachnamen seiner Mutter einen anderen Nachnamen führte
als seine Brüder, die den Nachnamen ihres Vaters angenommen hatten.
Das deutsche Ehenamensrecht ist ein anderes Beispiel für die bis in unsere Tage gültig gewesene
Ungleichbehandlung der Frauen durch den Bundesgesetzgeber, sprich die (männliche) Mehrheit der
Parlamentsabgeordneten. Das Ehenamensrecht war wegen seiner rigiden Reglementierung bis zu seiner vom
BVerfG in mehreren Entscheidungen angeordneten jetzigen relativen Wahlfreiheit auf den jeweiligen Etappen
der gesetzlichen Neuregelung aus ideologischen Gründen und auf Grund des starken Einflusses der Vereinigung
der Deutschen Adelsverbände sehr umkämpft.
In der aktuellen Diskussion war die x-te erneute Neuregelung des Ehenamensrechts, bei dessen Neufassung auch
in der vor dem Erlass des Verfassungsgerichtsurteils gültigen, schon mehrfach geänderten Form des
„§ 1355 BGB
(1) Die Ehegatten führen einen gemeinsamen Familiennamen (Ehenamen).
(2) Zum Ehenamen können die Ehegatten bei der Eheschließung durch Erklärung gegenüber dem
Standesbeamten den Geburtsnamen des Mannes oder den Geburtsnamen der Frau bestimmen.
Treffen sie keine Bestimmung, so ist Ehename der Geburtsname des Mannes. Geburtsname ist der
Name, der in die Geburtsurkunde der Verlobten zur Zeit der Eheschließung einzutragen ist. ..."
bisher von dem in Art. 3 II GG geregelten Diskriminierungsverbot keine ausreichende Notiz genommen worden
war.
"Urteil zum Namensrecht - Ein Richter sagt:
Ein Stück des Obrigkeitsstaates ist abgeschafft
Von Christian Bommarius
Ohne das Bundesverfassungsgericht wäre die Ehe vermutlich noch immer Männersache. Die
Zerstörung des Leitbildes von der Hausfrauenehe, in der die Frau die Schlüsselgewalt, der Mann
jedoch die Bankvollmacht hat - die Realisierung also des verfassungsrechtlichen Gleichheitsgebots ist vom Bonner Gesetzgeber immer wieder verschleppt, erst vom Karlsruher Gericht vorangetrieben
worden.
In keinem anderen Bereich wird dies deutlicher als im Ehenamensrecht. Seit Inkrafttreten des
Bürgerlichen Gesetzbuchs 189631 galt auf unterschiedliche Weise: Der Name des Mannes hat
Vorrang, die Frau in der Regel das Nachsehen. Obwohl seit 1949 in Artikel 3 Absatz 2 des
Grundgesetzes (GG) verbindlich vorgeschrieben, hat sich die Gleichberechtigung auf diesem Gebiet
erst jetzt mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts durchgesetzt.
Die Diskussion um das Ehenamensrecht spiegelt die Geschichte der Diskriminierung und der
einsetzenden Emanzipation der Frau. Von 1896 bis zum Erlaß des Gleichberechtigungsgesetzes vom
18. Juni 1957 erhielt die Frau bei der Eheschließung automatisch den Namen des Mannes.
Doch auch die neue Regelung - die nur nach ungeduldigem Drängeln der Karlsruher Richter
zustande kam - wollte von einer vollständigen Gleichstellung der Frau nichts wissen. Die Frauen
bekamen lediglich das Recht, ihren Mädchennamen dem gemeinsamen Familiennamen anzufügen.
Erst 21 Jahre später stellte das Bundesverfassungsgericht am 31. Mai 1978 fest, daß auch das
Gleichberechtigungsgesetz mit dieser Regelung gegen Artikel 3 Absatz 2 verstieß.
Doch schon kurz vor diesem Verdikt hatte sich der Bonner Gesetzgeber zu einer Reform des
Ehenamensrechts aufgeschwungen. Dieses erhielt die Fassung, die nunmehr wiederum vom
31
Das BGB ist 1896 im Reichstag verabschiedet worden und dann, nach 4jähriger Vorlauf- und Vorbereitungszeit, zum
01.01.1900 in Kraft getreten.
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Karlsruher Gericht für verfassungswidrig erklärt wurde: Zwar war die Wahl des Ehenamens den
Partnern freigestellt, doch sollte stets dann der Name des Mannes dazu werden, wenn die Gatten
keine Bestimmung trafen.
Auf vielen tausend Seiten haben - überwiegend männliche - Juristen diese Benachteiligung der
Frauen mit angeblich soziologischen Unterschieden gerechtfertigt. Vor allem die geringere
Berufstätigkeit der Frauen war herangezogen worden, um `objektive funktionale Unterschiede
zwischen den Geschlechtern' zu begründen. Das hieß im Klartext: Der Name zählt nur im
Berufsleben - und dort stehen vor allem Männer.
Ganze elf Seiten benötigten die Richter (nur), um diesen juristischen `Nominalismusstreit' zu
entscheiden. Zwar seien tatsächlich weniger Frauen als Männer berufstätig, erkannten sie, doch das
beruhe wohl eher auf einer `traditionell typischen Arbeitsteilung', die das Grundgesetz `gerade nicht
verfestigen will'.
Auch die geringere Präsenz von Frauen in höheren beruflichen Positionen sei `teilweise selbst das
Ergebnis ungerechtfertigter Benachteiligung'. Alles in allem - es gibt keinen Grund, warum der
Name der Frau im Fall der Ehe hinter dem des Mannes zurückstehen sollte.
Die Karlsruher Entscheidung ist nicht nur ein Triumph der Frauen, sondern auch ein Erfolg der
Hartnäckigkeit des Tübinger Amtsrichters Udo Hochschild.
Hätte er nicht die verfassungswidrige Benachteiligung im Ehenamensrecht erkannt und zwei Fälle
dem Verfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt, wären gewiß noch Jahre bis zur Entscheidung
vergangen.
So aber konnte Hochschild schon 41 Jahre nach Einführung der Gleichberechtigung von Mann und
Frau feststellen: `Mit dieser Entscheidung wurde ein Stück obrigkeitsstaatlicher Bevormundung
abgeschafft.'" (HH A 15.03.91)
Der Tübinger Amtsrichter konnte auf Antrag einer Kieferorthopädin, die sich gegen den gesetzlichen Zwang
gewehrt hatte, den Namen ihres Mannes vollständig oder zumindest hinter dem Bindestrich zu übernehmen, so
verdienstvoll rechtsfortbildend tätig werden, weil durch
Art. 100 I GG
„Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für
verfassungswidrig, so ist das Verfahren auszusetzen und, wenn es sich ... um die Verletzung dieses
Grundgesetzes handelt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen. ..."
und dem darauf fußenden § 13 Nr. 11 BVerfGG das sogenannte "konkrete Normenkontrollverfahren" eröffnet
ist. Hätte der Amtsrichter die zwei Sachen nicht vorgelegt, hätte das BVerfG nicht seine die Verfassung zur
Geltung bringenden Entscheidungen fällen und die grundgesetzwidrigen rechtlich tieferrangigen weil
einfachgesetzlichen, mit einfacher parlamentarischer Mehrheit änderbaren Regelungen des BGB und seiner
Nebengesetze wegen Verstoßes gegen die höherrangige Norm des GG verwerfen können, denn das BVerfG hat
nicht die Möglichkeit, analog den Strafverfolgungsbehörden bei ihm bekannt werdenden Verfassungsverstößen
eine Sache von sich aus zu verfolgen, an sich zu ziehen und für Abhilfe zu sorgen. Es muss warten, bis es
angerufen wird und dann die Vereinbarkeit der mit dem Rechtsmittel angegriffenen niederrangigeren mit unserer
obersten rechtlichen Norm, den im GG getroffenen Bestimmungen, prüfen. (Ein anderes Rangverhältnis
rechtlicher Normen ist in Art. 31 GG: "Bundesrecht bricht Landesrecht“ geregelt. Ein solcher Normenkonflikt,
z.B. bezüglich der in der hessischen Verfassung trotz der letzten, 2002 in Kraft getretenen Verfassungsänderung
in Artikel 21 I 2 noch immer nicht gänzlich getilgten Erwähnung der Todesstrafe, bedarf nach der in Art. 31 GG
getroffenen eindeutigen Regelung nicht mehr der Klärung durch das BVerfG.)
Nun war der Gesetzgeber gefordert, ein neues »Ehenamen-Recht« zu verabschieden.
"Die Männer verzögern das neue Namensrecht
Von ULRIKE BRENDLIN
Bonn - Mit Nachdruck drängt Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP)
darauf, daß das von ihrem Ministerium entworfene neue Namensrecht nun rasch in den zuständigen
Bundestagsausschüssen beraten wird. `Ich habe den Rechtsausschuß gebeten, er möge den
Gesetzentwurf gleich Anfang des Jahres auf seine Tagesordnung setzen', sagte die Ministerin dem
Hamburger Abendblatt.
Bislang aber verzögern die Männer in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Verabschiedung des
neuen Namensrechts. Sie ließen erst kürzlich die Beratung im Ausschuß für Frauen und Jugend
absetzen.
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Ebenso wie die FDP wollen auch die Frauen der CDU/CSU-Fraktion und die SPD-Fraktion den
Gesetzentwurf unverändert lassen. `Demzufolge dürfen beide Eheleute nach der Heirat ihren
jeweiligen Geburtsnamen weiterführen', sagte die Justizministerin. Verfassungsrechtliche Bedenken
gegen diesen Vorschlag gebe es nicht: `Denn das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber ein
weites Ermessen eingeräumt.'
Der Gesetzentwurf des Justizministeriums sieht weiter vor: Bei der Geburt eines Kindes muß sich
das Ehepaar über dessen Familiennamen verständigen. Können sie sich nicht einigen, bekommt das
Kind beide Namen, also den der Mutter und den des Vaters. Über die Reihenfolge des
Doppelnamens soll der Standesbeamte durch Los entscheiden. Gegen diese `Willkür' regt sich - wie
es heißt - bei den männlichen Unions-Abgeordneten `erheblicher Widerstand'.
Das bisherige Namensrecht, das den Geburtsnamen des Mannes als gemeinsamen Familiennamen
eindeutig bevorzugte, war vom Bundesverfassungsgericht am 5. März 1991 für unvereinbar mit dem
Gleichheitsgebot des Grundgesetzes erklärt worden. Bereits der erste Entwurf für ein neues
Namensrecht war von Unions-Seite heftig kritisiert worden, weil er auf den Zwang zum
gemeinsamen Namen verzichtete. Danach wurde die Vorlage in ihre jetzige Form gebracht: Die
Formulierung, Eheleute `können' einen gemeinsamen Familiennamen tragen, wurde in `sollen'
geändert.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger geht nunmehr davon aus, `daß der Entwurf in den
Ausschüssen zügig beraten wird und alsbald in Kraft treten kann. Der Rechtssicherheit wäre damit
ein großer Dienst erwiesen.'" (HH A 02.01.93)
Man hätte ja ein bisschen über den Zaun blicken können - so etwas weitet den geistigen Horizont -, wie
partnerschaftlich andere Länder das Problem gelöst haben. Und ich bin sicher, dass das auch in den
Expertenanhörungen zur Sprache gebracht worden sein wird. Wir bringen uns auf den im Ausschuss sicher
erarbeiteten Sachstand durch (auszugsweise) Lektüre der nächsten beiden Zeitungsartikel:
"Namensrecht in Europa:
Um eine Nasenlänge voraus
Das Bundesverfassungsgericht hatte das deutsche Namensrecht vor zwei Jahren als patriarchalisch
und unvereinbar mit dem Gleichheitsgrundsatz gerügt. ...
Um so erstaunlicher muten die Argumente an, erlaubt man sich einen Blick auf das Namensrecht in
den anderen Staaten Europas: Er nämlich zeigt, daß - was bei uns jetzt angekündigt ist - fast überall
schon Praxis ist. Und das selbst in Ländern, deren Standard in Sachen Gleichberechtigung von
deutscher Seite gemeinhin als unterentwickelt wahrgenommen wird. Daß in Skandinavien jeder
Ehepartner seinen Geburtsnamen behalten, ebenso aber auch einen gemeinsamen Ehenamen wählen
kann, mag noch niemanden sonderlich verwundern, zumal sich der Norden Europas immer schon
besonderer Progressivität rühmte.
Daß aber auch die Südländer Deutschland in puncto Namensrecht voraus sind, dürfte erstaunen:
Rechtlich gilt in Frankreich ebenso wie in Griechenland, Portugal und Spanien das
Trennungsprinzip, d.h., die Eheschließung bleibt ohne Auswirkung auf die Nachnamen der
Beteiligten. Im praktischen Leben bleibt dies jedoch dem Beobachter zumeist verborgen: Kraft
Gewohnheitsrecht nämlich ist es `Madame Boucher', der Gattin von `Monseur Grande', gestattet,
sich in der Gesellschaft `Madame Grande' zu nennen - und damit allen deutlich zu bekunden, daß sie
eben nicht bloß eine `Lebensabschnittsgefährtin', sondern die gesetzlich angetraute Ehepartnerin ist.
Was die Tatsache, daß sie vor dem Gesetz und möglicherweise auch etwa am Arbeitsplatz weiter
unter ihrem Mädchennamen firmiert, keinesfalls berührt.
Die Alternative, zwischen dem Trennungsprinzip und einem gemeinsamen Familiennamen wählen
zu können, gab und gibt es selbst in den Ländern des ehemaligen Warschauer Paktes, dort also, wo
der Staat in jeden Bereich reglementierend eingreift. Eine Ausnahme bildete die DDR: Hier galt es,
sich für einen gemeinsamen Nachnamen - den des Mannes oder der Frau - zu entscheiden. ..."
(Das Parlament 07.05.93)
"In der vergangenen Woche hat der Bundestag das neue Namensrecht verabschiedet.
Die Chance zum Neubeginn wurde verspielt.
Im Namen der Bürokratie
Von Christoph J. Partsch
...
Das jetzt vom Bundestag verabschiedete Namensrechtsänderungsgesetz erfüllt nur das Minimum
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dessen, was das Verfassungsgericht forderte. Die im April ausgetüftelte Koalitionsabsprache bleibt
selbst hinter dem ursprünglichen Regierungsentwurf weit zurück. Der hatte noch die Bildung von
echten Doppelnamen vorgesehen, die als Ehenamen daher auch auf die Kinder übergehen konnten.
Doch diese Doppelnamen waren der Koalition nicht geheuer. Sie malte bereits das Schreckgespenst
des Vierernamens in der nachfolgenden Generation an die Wand - ein Schreckgespenst, mit dem im
übrigen Spanier und Portugiesen schon seit Jahrhunderten problemlos leben. Die Spanier etwa lassen
sich im täglichen Leben mit ihrem ersten Namen anreden, während ihr Ehename aus je einem
Namensteil der Elterndoppelnamen zusammengesetzt wird. Auf Visitenkarten und Briefumschlägen
führen viele aber auch Vierernamen. Neuerdings dürfen die Spanier sogar wählen, welcher Teil des
Vaternamens und welcher Teil des Mutternamens zum neuen Kindesnamen zusammengefügt wird.
...
So gibt es in Dänemark die Möglichkeit, den nicht übernommenen Namen als Mittelnamen zu
erhalten; in den USA wird er oft zum neuen Vornamen. ... Das Wall Street Journal machte sich denn
auch über die deutsche Namensbürokratie lustig: Selbst Hillary Rodham Clinton dürfte in
Deutschland nicht so heißen. ...
In Preußen wurde ein fester Familienname erst 1816 eingeführt - zur besseren Erfassung für die
frisch eingeführte Wehrpflicht. Davor konnte man sich tatsächlich nennen wie man wollte. ... Die
jetzt beschworene Tradition des Namensrechts entstand erst mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch zur
Jahrhundertwende - und mit den Gesetzen zur Namensänderung der Nazizeit. ... 1938 verboten die
Nazis, den Namen der Frau als Kindesnamen zu wählen. Nur wenn der Familienname ausstarb oder
ein Hof übernommen wurde, gestatteten sie eine Ausnahme. Namensänderungen durften nur noch
auf wichtigen Grund hin erfolgen, etwa wenn der Vor- oder Familienname jüdisch oder slawisch
klang, der Namensträger aber `arisch' war. Die Bundesrepublik Deutschland hat die Bestimmung
über die jüdischen Namen schamhaft gestrichen, alle anderen Traditionen aber 1957 übernommen. ...
Der erzwungene, von allen Familienmitgliedern getragene, aus dem Mannesnamen gebildete
Familienname stigmatisiert nichteheliche Kinder oder solche aus geschiedenen Ehen, die aus
achtbaren Gründen ihren Namen fortführen wollen. Der Dichter Heinrich Heine nannte sich nach
seiner Mutter, der Bruder nach dem Vater. Auch dieses ist heute nicht mehr möglich und soll es nach
dem neuen Gesetz auch nicht werden. Völlig widersinnig werden dann aber die Kinder verschiedener
Staatsangehöriger behandelt. So zwang der Bundesgerichtshof 1990 ein deutsch-spanisches Ehepaar,
ihrem dritten Kind einen anderen Familiennamen zu geben, als dessen älteren Geschwistern, obwohl
alle drei in Spanien geboren worden waren. Die Rechtsprechung habe sich geändert, so stellte das
Gericht lapidar fest, es sei nunmehr deutsches Namensrecht auf das Kind anzuwenden.
Ob den Deutschen doch noch wieder mehr Freiheit, etwa bei der Vornamensbildung oder in Form
des Doppelnamens zugetraut wird, darf bezweifelt werden. Daß echte Doppelnamen einer
eigenständigeren Rolle der Frau eher gerecht werden, daß sie sich im Ausland seit Jahrhunderten
bewährt haben, ja daß selbst die Germanen sie kannten, wird im Namen obskurer Traditionen und
Ordnungsprinzipien beiseite gewischt. ..." (Die Zeit 05.11.93)32
Es war also in dem zuständigen Parlamentsausschuss ein neues, das Diskriminierungsverbot des
Bundesverfassungsgerichts achtendes Ehenamensrecht zu entwickeln. Die Bandbreite dafür war, wie die
vorstehenden Artikel zeigen, sehr groß. Doch so etwas geht nicht nüchtern, nicht ohne ideologische
Grabenkämpfe ab. Als Lehrstück, wie ein Gesetz entsteht, wird der Artikel aus FR 17.09.93 wiedergegeben:
"Frau Zimmerfrau - eine Groteske mit viel Schall und Rauch
Seit zweieinhalb Jahren tobt in Bonn der Kampf um den Ehenamen, zuweilen über die Grenze der
Lächerlichkeit hinaus
Von Charima Reinhardt (Bonn)
... Vor zweieinhalb Jahren, am 5. März 1991, hat das Bundesverfassungsgericht das seit dem
Ehereformgesetz 1976 geltende Namensrecht für unvereinbar mit dem Gleichheitsgebot des
Grundgesetzes erklärt, weil im Zweifel der Name des Mannes zum Zuge kam. Seitdem tobt in den
zuständigen Ausschüssen des Bundestages ein erbitterter, bisweilen grotesker Streit um ein neues
Gesetz, das die derzeit geltende Übergangsregelung des Verfassungsgerichts ablösen soll. ...
32
Die in dem Artikel angesprochene Befürchtung hinsichtlich einer Vierernamensregelung kann – wie das spanische
Beispiel zeigt, wo »nur« der erste Vater- und der erste Muttername zur Nachnamensbildung für die Kinder verwendet
werden – leicht ausgeräumt werden. Es muss nicht zu einer solchen, von einigen als Schreckgespenst ausgemalten,
massierten Namensteilanhäufung kommen.
130
Bereits am 24. Juli 1991 legt das FDP-geführte Justizministerium einen Gesetzentwurf vor. Doch
dessen Inhalt erregt konservative Gemüter derart, daß sie das `Ende der Familie' nahen sehen.
Nachgerade erschüttert reagiert die Union im Rechtsausschuß des Bundestages auf die in ihren
Augen allzu liberale Auslegung des Verfassungsgerichtsurteils im zu beratenden Entwurf: Mann und
Frau können nach der Heirat den jeweils eigenen Namen beibehalten. Das darf nach Meinung der
Union nicht sein. Paare sollen sich gefälligst auf einen Ehenamen verständigen, sonst muß der
Standesbeamte die Eheschließung verweigern, empfehlen Konservative allen Ernstes. `Wer sich
nicht auf einen gemeinsamen Namen einigen kann, braucht eigentlich gar nicht erst zu heiraten',
findet der CDU-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Hermann Freiherr von Stetten immer noch. `Wir
hätten am liebsten im Gesetz drinstehen gehabt, daß Eheleute einen gemeinsamen Familiennamen
haben müssen.'
Zum Glück scheitert die Union an sich selbst. Monatelang zermartern sich Unionspolitiker das
Hirn, wie ein gemeinsamer Familienname auch dann hinzukriegen ist, wenn das Paar selbst sich
nicht einigen kann. CDU-Familienministerin Rönsch schlägt vor, der Standesbeamte soll
entscheiden. Die FDP wirft ihr daraufhin ein `antiquiertes Eheverständnis' vor, wenn sie den
Ehenamen durch `autoritäre Fremdbestimmung' regeln wolle. Folgende weitere Vorschläge werden
ernsthaft geprüft: Der ältere des Paares bestimmt den Ehenamen. Das wird als unzumutbar für die in
der Regel jüngeren Frauen verworfen. Der an einem geraden Tag geborene Partner entscheidet. Aber
was, wenn beide an einem ungeraden Tag geboren sind? Die alphabetische Reihenfolge ist
ausschlaggebend. Doch dann, so die Befürchtung, stirbt irgendwann der letzte Buchstabe des
Alphabets in der Namensgebung aus, und alle heißen Adam. Das Los entscheidet. Aber wie?
Würfeln? Kegeln? Streichholz ziehen? Weniger ernst gemeinte Vorschläge lauten: Preis-Schafkopf
oder Elfmeterschießen. `Irgendwie war das alles ziemlich lächerlich', gesteht CDU-Mann von
Stetten. ...
Die (Union) sieht besonders dann Probleme, wenn ein Ehepartner sich scheiden läßt, erneut heiratet
und den alten Ehenamen auf die neue Ehe überträgt: `Das darf nicht sein, daß der geschiedene
Ehename auf das corpus delicti, nämlich den Scheidungsgrund übertragen werden kann', empört sich
von Stetten stellvertretend für seine Fraktionskollegen. `Es geht doch nicht, daß der Gehörnte seinem
eigenen Namen begegnet', schickt er hinterher.
Dem offensichtlich in diesem Punkt nicht ganz einsichtigen Vorsitzenden des Rechtsausschusses,
seinem Parteifreund Horst Eylmann, versucht von Stetten die ganze Tragweite an einem Beispiel zu
verdeutlichen: `Stell dir vor, deine Frau läßt sich wegen eines Studenten, mit dem sie ein Verhältnis
hat, von dir scheiden, und der nimmt dann bei einer Heirat mit ihr deinen Namen an!' Die Sache mit
der Übernahme des Namens aus einer geschiedenen Ehe hat einen weiteren Haken: Der deutsche
Adel befürchtet eine wundersame Vermehrung von Adelstiteln. Daß eine geschiedene Baronin den
Titel auf einen popeligen Herrn Meier übertragen kann, muß verhindert werden! Gehörnte und
Adelige können aufatmen: Im Falle einer Wiederheirat muß der oder die Geschiedene den Namen
aus der Altehe aufgeben. ..."
Die wichtigsten Ergebnisse der auf Grund der vielen divergierenden Interessen teilweise erbittert geführten
Auseinandersetzung über das bis 2005 geltende Namensrecht gibt nachfolgend der zusammenfassende Artikel
wieder:
"Namensrecht geändert
Eheleute müssen künftig nicht mehr einen gemeinsamen Familiennamen als Ehenamen führen. Sie
können demnach nach der Heirat ihre jeweiligen Namen beibehalten. Treffen sie eine Bestimmung
über den Familiennamen, so können sie nur jeweils einen der jeweiligen Geburtsnamen zum
Ehenamen wählen. Geschiedene oder verwitwete Ehegatten können demnach einen in einer Vorehe
‘erheirateten‘ Namen nicht zum Ehenamen in einer neuen Ehe bestimmen. ...
Das Gesetz sieht darüber hinaus vor, daß die Bestimmung eines Ehenamens bis zum Ablauf von
fünf Jahren nach der Eheschließung nachgeholt werden kann. Eine Kombination beider Namen mit
dem Resultat eines Doppel- oder Mehrfachnamens ist nicht möglich. Bestimmen die Ehegatten einen
gemeinsamen Ehenamen, kann der `verlierende Teil' seinen Geburtsnamen oder den aktuell
geführten Namen dem Ehenamen voranstellen oder anfügen. Besteht der hinzuzufügende Name aus
mehreren Namen, muß er sich nach dem Gesetz für einen entscheiden. Eheliche Kinder sollen den
Ehenamen der Eltern als Geburtsnamen erhalten. Führen die Eltern keinen Ehenamen und können sie
sich über den Familiennamen des Kindes binnen eines Monats nach der Geburt nicht einigen, muß
das Vormundschaftsgericht das Bestimmungsrecht einem Elternteil übertragen." (Das Parlament
131
03.12.93)
Es wurde vergessen hinzuzufügen: Übt der Elternteil, dem vom Vormundschaftsgericht die Bestimmung des
Geburtsnamens des Kindes übertragen wurde, dieses Recht nicht binnen eines Monats aus, so wird nach Ablauf
der Frist der Name dieses Ehegatten automatisch zum Geburtsnamen des Kindes.
Eltern, die sich nicht auf einen gemeinsamen Ehenamen einigen konnten oder wollten und ihren Kinder die
Addition ihrer beiden Nachnamen zukommen lassen wollten, klagten mit Hilfe des Amtsgerichts gegen diese
Regelung des Namensrechts vor dem BVerfG. Das AG hatte in dem geltenden Namensrecht eine Verletzung des
allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Kindes und des Elternrechts in solchen Fällen für möglich gehalten. „Den
Eltern müsse die Möglichkeit gegeben werden, die Verwandtschaft ihres Kindes zu beiden Elternteilen mit Hilfe
des Namens zu dokumentieren.“ Ein nachvollziehbares Argument. Das BVerfG sah das aber anders. Es
befürchtet »Namensketten« und entschied darum am 30.01.02: Der Gesetzgeber habe das Namensrecht in
verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise geregelt. Nach dieser Regelung seien Doppelnamen für
Kinder aus den beiden Namen der Eltern ausgeschlossen. Durch Namensketten würde der Nachname seinen
Sinn als „identifikationsstiftender Bezugspunkt“ verlieren.
Die spanische Lösung, dass jedes Kind den ersten Nachnamen des Vaters und der Mutter als neuen
Doppelnamen erhalte und so die Herkunftslinien im Namen erhalten bleiben, wurde nicht zugelassen.
Wir sehen an dem vorstehenden Beispiel, dass das GG als oberste staatliche Norm - eventuell erst unter
Zuhilfenahme des BVerfGs als "Wächter des Grundgesetzes" - selbst den Gesetzgeber, das Bundesparlament
(konkret: die Parlamentsmehrheit der Regierungspartei oder der Regierungskoalition) zu einem bestimmten, an
den im GG getroffenen Wertentscheidungen, Regelungen und ihrer Interpretation durch das BVerfG
ausgerichteten gesetzgeberischen Verhalten zwingen kann. Das BVerfG kann sogar mit seiner in § 31 II 1
BVerfGG
"In den Fällen des § 13 Nr. 6, 11, 12 und 14 hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Gesetzeskraft."
geregelten »Verwerfungskompetenz mit Gesetzeskraft« von der Legislative beschlossene Gesetze verbieten.
(Das große Bevölkerungsteile aufwühlendste Urteil in dieser Hinsicht war bisher das am 25.02.75
ausgesprochene Verbot der - von der Parlamentsmehrheit unter Zurückweisung des Einspruchs des Bundesrates
beschlossenen - Fristenregelung im Bereich des § 218 StGB.)
In dem die Entscheidung des BVerfGs auslösenden Fall des Ehenamensrechts, dessen Prüfung nach Vorlage
durch den Tübinger Amtsrichter vom BVerfG im Zuge eines konkreten Normenkontrollverfahrens nach § 13 Nr.
11 BVerfGG vorgenommen worden ist, ist die trotz mehrfacher Änderungen die Frauen bis zuletzt immer noch
diskriminierende Regelung des § 1355 BGB auch gegen den Widerstand konservativer Abgeordneter
abgeschafft worden.
"Künftig kann man anhand des Familiennamens nicht mehr zwischen verheirateten und
unverheirateten Paaren unterscheiden. Denn jetzt dürfen nicht nur Männer ihren Mädchennamen
behalten."
(Aus dem ‘Gießener Anzeiger', aufgespießt in den ‘Fundsachen' des STERN vom 12.03.92.)
Das ist eine Auswirkung des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 I GG in seiner auf den kleinen
Unterschied abzielenden Konkretisierung in Art 3 II GG.
Erstaunlich ist, dass bei den jahrelangen Beratungen der Änderung des Ehenamensrechts eine solche Panne oder ist es vielleicht doch keine, sondern eine gewollte diskriminierende Entscheidung? -, wie aus der
nachfolgenden Pressenotiz ersichtlich, möglich war:
„Namenswirrwarr
Mehrere Elternpaare haben beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde eingereicht, weil ihre
Kinder unterschiedliche Nachnamen tragen müssen. Hintergrund: Seit einem 1991 in Kraft
getretenen Gesetz dürfen Ehepaare einen Doppelnamen führen, mithin auch ihre Kinder: Das 1994
geänderte Gesetz bestimmte, daß weitere Kinder entweder den Namen des Vaters oder der Mutter
tragen. Der eineinhalbjährige Julian aus Freiburg heißt beispielsweise Rößler - nach dem Namen der
Mutter, seine vierjährige Schwester Melanie dagegen Rößler-Weis. Manche Kinder haben überhaupt
keinen Nachnamen, etwa der einjährige Jasper aus Tübingen. Eine Geburtsurkunde kann nicht
132
ausgestellt werden - die Eltern streiten sich mit dem Vormundschaftsgericht über den Nachnamen.
Bundesweit sind schätzungsweise 1000 Kinder vom Namenswirrwarr betroffen.“ (STERN 03.04.96)
Mir fallen viele gute pädagogische, aber auch juristische Gründe ein, Kindern zu ermöglichen, so zu heißen, wie
ihre Geschwister. Hoffentlich vermag auch das BVerfG in der momentanen gesetzlichen Regelung einen
Grundgesetzverstoß zu erkennen, wenn schon der Gesetzgeber zu blöd dazu ist!
Zum Abschluss der in Deutschland bis 2005 gültig gewesenen gesetzlichen Regelung einige statistische Werte
über die Auswirkung der Änderung des Ehenamensrechts: Zehn Jahre nach der Liberalisierung des
Ehenamensrechts entschieden sich im Jahr 2000 noch immer 80 % der Paare auf dem Standesamt für den Namen
des Mannes, 4 % wählten den der Frau und 16 % behielten ihren Geburtsnamen bei.
Aber nicht allen Frauen wird der Name des Mannes als Ehename genehmigt: Eine Dame aus Mühlhausen hatte
im Frühjahr 01 im amerikanischen Reno den Indianer Ed Walkinstik-Man-Alone geheiratet, so dass ihr neuer
Familienname zu deutsch: „das Hermelin, das alleine läuft“, heißt. Trotz erfolgtem Namenseintrag im Pass
machte das Standesamt neun Monate später einen Rückzieher, um die rechtliche Zulässigkeit überprüfen zu
lassen. Als Begründung wurde angegeben, dass es sich um einen Eigennamen handle, der erfunden sein könne.
Und so etwas dürfe in Deutschland kein Familienname sein. Nun hat das Familiengericht zu entscheiden.
Und damit wir nicht vor der neuen gesetzlichen Regelung des Namenrechts in Ehrfurcht erstarren und die
nunmehr getroffene Regelung zwingend als der Weisheit letzten Schluss ansehen, sollten wir zum Abschluss
dieses Punktes noch einen kurzen Blick über den Zaun zu zwei europäischen Nachbarn werfen, ohne dass wir
deren jeweilige Regelung anstreben müssten. Aber ein Blick über den Zaun auf andere rechtliche
Gestaltungsmöglichkeiten weitet den gedanklichen Horizont:
„Menschlich gesehen
... Kristjan Kr istj ansso n ist der Sohn des isländischen Kapitäns Kristjan Oskarsson und verbrachte
die ersten Jahre seines Lebens auf Frachtschiffen. Kristjansson ist kein Künstlername, sondern
Brauch: Der Nachname von Kindern wird in Island aus dem Vornamen des Vaters abgeleitet. ...“
(HH Abendblatt 17.02.00)
Und in Spanien, das war in den Zeitungsartikeln zuvor nicht ganz klar herausgekommen, gilt das
Trennungsprinzip derart, dass eine Frau auch nach der Heirat ihre beiden Nachnamen behält, von denen der
erste vom Vater, der zweite von der Mutter ererbt wurde. Entsprechend erhalten die gemeinsamen Kinder als
ersten Nachnamen den ersten Nachnamen des Vaters und als zweiten Nachnamen den ersten Nachnamen der
Mutter. Halbgeschwister können demzufolge nur dann den gleichen Namen haben, wenn rein zufällig bei
Wiederverheiratung die jeweiligen Mütter und die Väter den gleichen ersten Nachnamen haben. Früher war das
auch in Deutschland selbst bei vollbürtigen Geschwistern vielleicht unüblich, aber rechtlich nicht unmöglich. So
nannten sich (im 19. Jahrhundert) in der Familie von Heinrich Heine die Kinder teils nach der Mutter, teils nach
dem Vater – ohne dass dadurch das deutsche Rechtssystem zusammengebrochen oder der Untergang der
deutschen Rechtskultur eingeläutet worden wäre.
Dieses geschichtliche Beispiel der Ehenamensbildung in Deutschland als von den damaligen männlichen
Gesetzgebern ganz selbstverständlich, fast mit naturrechtlicher Unabdingbarkeit beanspruchtes (Vor-)Recht,
ausschließlich den Mannesnamen als Ehenamen weiterzugeben, zeigt sehr schön, dass man keineswegs
bestehende rechtliche Regelungen in einem nach dem – teils unerfindlichen - Ratschluss des Gesetzgebers dann
eintretenden Denkverbot fraglos hinzunehmen hätte. Der Papst kann auf Grund des zu seiner Machterhaltung
ausgedachten und beinahe 2000 Jahre nach der Gründung des Stuhles Petri erst 1870 in das katholische
Kirchenrecht eingeführten Unfehlbarkeitsdogmas nach dem Motto handeln: „Roma locuta, causa finita!“33
Dieses Motto kann aber nicht für staatliche Rechtschöpfung in einer Demokratie gelten – was zu sein die
römisch-katholische Kirche auch nie beansprucht hat! Gesetze sind keine Glaubensdogmen! Sie verpflichten uns
nicht unter Androhung von Höllenqualen, das für richtig zu halten, was sich eine relativ zufällige
Zusammensetzung eines Gesetzgebungsorgans ausgedacht hat. Ein Blick auf rechtliche Regelungen gleicher
gesellschaftlicher Problemfelder in anderen Ländern bewahrt vor geistiger Einseitigkeit, denn er zeigt, dass es
durchaus auch anders gehen könnte, in anderen Ländern - oftmals durchaus mindestens genau so gut - auch
anders geht. Irgendwann getroffene gesetzliche Regelungen sind nicht eo ipso sakrosankt, nicht unabdingbar 33
„Rom (= der Papst) hat gesprochen, damit ist die Rechtssache (letztgültig) entschieden.“
133
geschweige denn eo ipso »gerecht«, nur weil irgendwann ein Rechtssatz geschaffen wurde. (Das wird später
noch durch Verweis auf die Nazi-Unrechts-Gesetzgebung exemplarisch verdeutlicht.) Es lohnt sich durchaus,
bei sich einstellendem rechtlichen Unbehagen eine als anstößig empfundene rechtliche Regelung auf ihren – an
welcher »rechtlichen Elle« auch immer zu messenden - Gerechtigkeitsgehalt hin zu hinterfragen!
Und das tat das BVerfG bei nächst sich bietender Gelegenheit. Doch bevor Sie den nächsten Zeitungsartikel
lesen, sollten Sie noch einmal drei Seiten zurückblättern und an Hand des Artikels aus der FR vom 17.09.93
nachlesen, was der Gesetzgeber – insbesondere in der Person des CDU-Abgeordneten von Stetten - sich bei der
Neuregelung des Ehenamensrechts 1993 vorstellen konnte – und was nicht: Keine Weiterreichung des
angeheirateten Ehenamens an einen neuen Ehepartner, insbesondere dann nicht, wenn es sich um einen
Adelsnamen handelt. Und nun die Entscheidung des BVerfGs 2004:
„Neue Ehe im Namen des Ex-Partners
Urteil: Geschiedene dürfen erheirateten Namen weitergeben. Wird Ex-Minister Scharping jetzt Graf?
Karlsruhe - Geschiedene dürfen ’erheiratete’ Namen aus früheren Ehen künftig auch dem neuen
Partner geben, wenn sie einen gemeinsamen Familiennamen wählen. Das Bundesverfassungsgericht
in Karlsruhe erklärte die bisherige Regelung für verfassungswidrig, wonach als gemeinsamer Name
nur die Geburtsnamen der Partner möglich sind (Az.: 1 BvR 193/97). In der Begründung verwiesen
die Richter auf die Persönlichkeitsrechte und auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Folge:
Der Gesetzgeber muss bis 31. März 2005 eine Neuregelung schaffen, aber auch für zurückliegende
Fälle Änderungen möglich machen, wie das Gericht erklärte.
In dem zu Grunde liegenden Fall hatte die Designerin Elke Arora Verfassungsbeschwerde
eingereicht, weil sie nach ihrer Heirat 1993 ihren Namen nicht an ihren neuen Mann weitergeben
durfte. Arora hatte geltend gemacht, dass sie ihren Namen bereits seit 35 Jahren trage und er ihre
Identität bedeute. Standesamt und ein Kammergericht hatten den Wunsch abgelehnt.
Bundesjustizministerin Brigitte Zypries erklärte in Berlin, die Regierung werde dem Auftrag aus
Karlsruhe nachkommen. Das Ministerium hatte vor dem Urteil für die Beibehaltung des bisherigen
Rechts plädiert - und unter anderem mit dem Schutzbedürfnis der Namensgeber aus einer Vorehe
argumentiert.
Die Bundesrichter sahen dies anders: Auch ein bei der Heirat angenommener Ehename sei ein
eigener und nicht etwa nur ein ’geliehener’ Name. Wenn ein Partner nach der Scheidung den alten
Ehenamen behalte, ihn aber in einer neuen Ehe nicht auch zum Familiennamen machen dürfe,
komme das einem Entzug des Namensschutzes gleich. ’Ein Recht auf Namensexklusivität enthält die
Verfassung nicht’, urteilten die Richter. Zudem habe sich die bisherige Regelung einseitig zu
Gunsten des Mannes ausgewirkt, der seinen Geburtsnamen als Ehenamen beibehalten durfte.
Ausdrücklich wiesen die Richter Bedenken über eine Missbrauchsgefahr als ’nicht ausreichend’
zurück. Weder die Nutzung ’besonders schöner Namen’ oder von Adelsnamen seien missbräuchlich.
Das Justizministerium hatte unter anderem vor Scheinehen gewarnt.
Das Urteil betrifft auch die Ehe des ehemaligen Verteidigungsministers Rudolf Scharping (56), der
sich nun Graf Pilati nennen könnte, obwohl seine Frau diesen Namen selbst durch Heirat erworben
hat. Kristina Gräfin Pilati (55) stellte gestern aber klar, dass dies nie zur Diskussion gestanden habe.
ap/dpa“ (HHA 19. Feb 2004)
Das Schutzbedürfnis eines Namensgebers aus einer Vorehe wird also geringer gewertet als das sich auch in dem
neuen Namen manifestierende Persönlichkeitsrecht des geschiedenen Ehepartners. Die Argumentationskette des
BVerfGs lautete: Der Name sei ein Ausdruck der Identität eines Menschen. Die Identität eines Menschen münde
in sein Persönlichkeitsrecht. Auch ein neu erheirateter Name könne zu der nun neuen Identität so untrennbar
dazugehören, dass sich daraus eine neue Persönlichkeit bilde, die bei einer Ehescheidung nicht aufgegeben
werden müsse. Auch diese neue Persönlichkeit unterliege dem grundgesetzlich geschützten Persönlichkeitsrecht,
so dass der erheiratete Name bei einer erneuten Eheschließung nicht aufgegeben werden müsse, sondern an den
neuen Ehepartner weitergegeben werden könne.
Die Bundesverfassungsrichter sahen zudem das Gleichbehandlungsgebot deswegen verletzt, weil der erheiratete
Name nach geltendem Recht zwar nicht an neue Ehepartner weitergegeben werden konnte, dafür aber durchaus
an Kinder mit dem neuen oder anderen Partner weitergegeben werden kann. Das Gericht wertete die bisherige
Regelung auch als Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichberechtigung, da vor allem Frauen bei der Heirat
ihren Geburtsnamen aufgeben. Nach bisherigem Recht waren sie bei einer neuen Eheschließung gezwungen,
ihren Namen erneut zu ändern - während ihr Exmann eine neue Frau unter seinem gewohnten Namen heiraten
134
konnte. All diese Gesichtspunkte führten dazu, dass das BVerfG die vom Bundesgesetzgeber nach langwierigen
Erörterungen 10 Jahre zuvor getroffene Entscheidung als einen Verfassungsverstoß wertete.
Da dem Gesetzgeber bei der Abfassung der Gesetze ein Ermessensspielraum zusteht, den das BVerfG dem
Parlament nicht einengen darf, wurde darauf verzichtet, an Stelle des Gesetzgebers eine verfassungskonforme
Neuregelung zu verkünden. Es wurde aber – aus schlechten Erfahrungen gewitzigt – dem Deutschen Bundestag
eine Frist von einem Jahr zur Erledigung der ihm von unseren obersten Richtern oktroyierten Hausaufgabe
gesetzt.
„Ehepartner bekommt Namen ’geschenkt’
Gesetz: Geschiedene dürfen angeheirateten Namen mit in die neue Ehe bringen
Von Wolfgang Janisch
Karlsruhe - Der Bundestag hat ein weiteres Kapitel bei der Liberalisierung des Namensrechts
abgeschlossen - eine Geschichte, bei der es letztlich um die Gleichberechtigung von Frau und Mann
geht. Fortan gilt: Geschiedene, die wieder heiraten, dürfen den angeheirateten Nachnamen des ExPartners auch zum gemeinsamen Familiennamen in der neuen Ehe machen. Und wer bereits in
zweiter Ehe verheiratet ist, kann die neue Möglichkeit der Namenswahl nachholen und innerhalb
eines Jahres von der Neuregelung Gebrauch machen. Der Bundestag verabschiedete jetzt ein
entsprechendes Gesetz und setzte damit ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts um. Vor dem
Bundesrat ist es nicht zustimmungspflichtig.
Mit der Neuregelung ist nun klargestellt, daß der angeheiratete Name nicht nur ’geliehen’, sondern
’geschenkt’ wird. Das Verfassungsgericht formulierte es so: ’Er ist Teil und Ausdruck der eigenen
Persönlichkeit’ geworden. Die Konsequenzen dürften den Adelsverbänden mißfallen, die im Vorfeld
vor Titelmißbrauch gewarnt hatten, vor allem aber den verlassenen Ehemännern. Läßt sich nämlich
die angeheiratete Frau Meier scheiden, dann darf sie nicht nur "seinen" Nachnamen mitnehmen; sie
darf ihn auch, wenn sie wieder heiratet, an den Rivalen ihres Ex-Mannes weitergeben, der dann
ebenfalls Meier hieße.
Auch Freunde des Doppelnamens profitieren von dem Gesetz. Heiratet Frau Müller-Schulze nach
der Scheidung von Herrn Schulze erneut, dann darf der neue Gatte auch Müller-Schulze heißen.
Seinen bisherigen Namen muß er aber aufgeben, denn das Gesetz untersagt die Bildung
dreigliedriger Ungetüme. Außerdem gilt die Novelle für eingetragene schwule oder lesbische
Partnerschaften. Die bisherige Regelung, wonach Geschiedene nur ihren Geburtsnamen an den neuen
Ehepartner weitergeben dürfen, war im Februar von den Karlsruher Richtern für verfassungswidrig
erklärt worden. Damit beseitigten sie eine faktische Benachteiligung der Frauen: Denn Eheleute steht
es zwar längst frei, ihren oder seinen Namen zu wählen, beide zu behalten oder sich für eine
Bindestrich-Lösung zu entscheiden. In der Praxis setzen sich aber immer noch die Männer durch.
Laut Untersuchungen tragen in etwa vier Fünftel der Fälle Paare einen gemeinsamen Namen, der
vom Mann stammt.
Der damals in Karlsruhe entschiedene Fall illustriert die Folgen der alten Regelung besonders
deutlich. Die Beschwerdeführerin, eine international erfolgreiche Designerin, hatte ihren Namen
zwar seit ihrer ersten Heirat im Jahr 1968 mehr als die Hälfte ihres Lebens geführt. Um in der neuen
Ehe einen gemeinsamen Nachnamen führen zu können, hätte sie ihn dennoch aufgeben müssen - es
sei denn, sie hätte den oftmals ungeliebten, weil sperrigen Doppelnamen in Kauf genommen.
Das alte Namensrecht war seit jeher patriarchalisch geprägt. 1896 bestimmte das Bürgerliche
Gesetzbuch, daß die Frau mit der Eheschließung nach dem Manne zu heißen habe. 1957 durfte sie
immerhin ihren Geburtsnamen per Bindestrich anfügen. Und ab 1976 durften sich die Eheleute einen
der beiden Namen aussuchen - wobei der Mann allerdings im Streitfall den Vorrang behielt. Diese
Regelung kippte das Bundesverfassungsgericht 1991, und seither gilt freie Namenswahl. Aber nur in
vier Prozent der Fälle machen Paare den Geburtsnamen der Frau zum Familiennamen.
Heiratet Frau Müller-Schulze nach der Scheidung von Herrn Schulze erneut, darf der neue Gatte
auch Müller-Schulze heißen. Nur dreigliedrige Namensungetüme bleiben weiterhin verboten.“
(HH A 13.11.04)
135
"Schwang
erschaftsu
rlaub"
und der
Gleichhei
tssatz des
Art. 3 II
GG
1.3.2.2.4 »Schwangerschaftsurlaub« und die Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes in
Art. 3 II GG
Wenden wir das über die grundgesetzlich geforderte Gleichbehandlung von Mann und Frau bisher Gelernte
einmal in einer einfachen Überlegung an: Wie ist es, wenn ein werdender Vater - vielleicht an Stelle seiner Frau,
weil ihn das alles mehr mitnimmt als sie - »Schwangerschaftsurlaub« haben möchte, weil nicht nur seine Frau,
sondern auch er Familienzuwachs erwartet?
Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet, "wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches
entsprechend seiner Eigenart ungleich" zu behandeln.
Da es nun einmal so ist, dass bestimmungsgemäß grundsätzlich Frauen die Kinder gebären (teilweise müssen: an
moslemischen Frauen in Bosnien-Herzegowina wiederholt bis mindestens zur erwarteten Befruchtung
begangene Massenvergewaltigungen mit Geburtszwang durch freiheitsberaubende Inhaftierung bis zum sechsten
Schwangerschaftsmonat, damit eine Abtreibung nicht mehr möglich ist), kann der entnervte Vater keinen
Schwangerschaftsurlaub erhalten. Der Schwangerschaftsurlaub ist nur zum Austragen der Schwangerschaft
vorgesehen - das ist keine sachfremde Differenzierung - und kann von Männern nur im extremsten Ausnahmefall
beansprucht werden:
"Mutterschutz
afp Manila - Edwin Bayron (32) erhält 45 Tage Mutterschaftsurlaub wie eine weibliche Angestellte.
Das erklärte das Ministerium in Manila. Der Hermaphrodit `Carlo' ließ sich 1988 operieren, um
Kinder zu bekommen. Er ist im siebten Monat schwanger." (HH A 05.06.92)
Erziehung
surlaub
und
Gleichhei
tssatz des
Art. 3 II
GG
1.3.2.2.5 Erziehungsurlaub und die Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatz in Art. 3 II GG
Und wie ist es mit dem halben Jahr Erziehungsurlaub nach der Geburt?
Weil idealtypisch beide Eltern die Erziehung gemeinsam und einverständlich wahrnehmen sollen, dürfen sie sich
den gesetzlich zugestandenen Gesamt-Erziehungsurlaub völlig nach eigenen Vorstellungen einteilen, auch wenn
verschiedene Arbeitgeber betroffen sind. Jedes Elternteil kann wie bisher - in Absprache mit dem Ehepartner –
den Urlaub ganz für sich allein beanspruchen; der andere Ehepartner arbeitet dann voll weiter. Die Eltern
können sich den Erziehungsurlaub aber auch nach eigenem Belieben in einer ihnen genehmen Stückelung
aufteilen. Nach einer Anfang 2000 geplanten Gesetzesänderung sollen Eltern den Erziehungsurlaub bald auch
gemeinsam nehmen dürfen.
1.3.2.2.6 »Mittelbare Drittwirkung« der Grundrechte, insbesondere des Gleichheitssatzes, im
Arbeitsrecht
Es wäre ein zum Schadensersatz verpflichtender Verstoß gegen die Grundrechte, wenn ein Arbeitgeber (noch
immer) so dumm wäre, einer Bewerberin zu schreiben, dass ihre Bewerbung um die ausgeschriebene Stelle von
ihm trotz gleichwertiger oder sogar besserer Qualifikation nur deswegen abgelehnt werde, weil sie eine Frau sei.
Da kämen dann doch die im ersten Abschnitt der Verfassung normierten Grundrechte, die vorrangig den Staat
verpflichten, sich aus der Privatsphäre des Bürgers herauszuhalten, auch zwischen Privatleuten
diskriminierungshemmend in “mittelbarer Drittwirkung“ zum Tragen. Deswegen werden solche Absagen von
Arbeitgebern inzwischen natürlich geschickter formuliert. Die Geltung des Grundgesetzes spricht sich ja auch
unter den konservativsten Arbeitgebern herum. Dafür sorgen u.a. die an Art. 3 GG ausgerichteten Urteile des
BAG. So war das BAG u.a. angerufen worden, weil (bis 1955) die Entlohnung von Frauen mit der sogenannten
»Frauenabschlagsklausel« verbunden war. Nach dieser Klausel erhielten Frauen einen um ca. 25 % geringeren
Lohn als mit gleicher Tätigkeit beschäftigte Männer, weil ihre Beschäftigung mit einem größeren Kostenrisiko,
z.B. durch den Eintritt einer Schwangerschaft, behaftet ist.
Mit dieser Argumentation wurde den Frauen von den Arbeitgebern »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit«
verweigert, obwohl viele Frauen die einzigen Ernährer ihrer Restfamilie waren, nachdem ihre Männer ihr Leben
im Zweiten Weltkrieg gelassen hatten. Dieser ungerechten Entlohnungspraxis versuchte das BAG mit seinem
Urteil vom 15.01.55 einen Riegel vorzuschieben, indem es sie für verfassungswidrig erklärte. In den
Urteilsgründen heißt es u.a.:
136
»Mittelba
re
Drittwirk
ung« des
Gleichhei
tssatzes
im
Arbeitsre
cht
„Der Gleichberechtigungsgrundsatz und das Benachteiligungsverbot umfassen auch den Grundsatz
der Lohngleichheit von Mann und Frau bei gleicher Arbeit.
Der Lohngleichheitsgrundsatz bindet als Grundrecht nicht nur die staatliche Gewalt, sondern auch
die Tarifvertragsparteien.
Eine Tarifklausel, die generell und schematisch weiblichen Arbeitskräften bei gleicher Arbeit nur
einen bestimmten Hundertsatz der tariflichen Löhne als Mindestlohn zubilligt, verstößt gegen den
Lohngleichheitsgrundsatz und ist nichtig.
Der Grundsatz der Lohngleichheit schließt es aus, daß die Arbeit der Frau mit Rücksicht auf die zu
ihren Gunsten erlassenen Schutznormen geringer entlohnt wird.
Nur solche Lohndifferenzierungen sind zulässig, die auch bei Männern vorgenommen werden, wenn
und soweit es sich um Arbeiten handelt, die in gleicher Weise für Männer und Frauen tariflich
vorgesehen sind.“
Ich weiß nicht, ob Sie eben die Begründung des BAG aufmerksam genug gelesen und dann gleich mitgedacht
haben; es wäre zwar erfreulich, aber doch verwunderlich, denn schließlich sind Sie ja gerade erst am Anfang
dieses Buches und noch nicht auf »juristische Zwischentöne« geeicht: Das BAG sprach von
Tarifvertragsparteien, zwischen denen der vom Gleichberechtigungsgrundsatz und dem Benachteiligungsverbot
abgeleitete Grundsatz der Lohngleichheit von Mann und Frau bei gleicher Arbeit zu gelten habe. Über die
Entlohnung außertariflich eingestufter Mitarbeiter ist damit überhaupt nichts entschieden worden. Da herrscht
darum ein halbes Jahrhundert später immer noch der Grundsatz der Lohnungleichheit:
„Bekannter Aufreger
Frauen verdienen viel weniger
Frauen verdienen einer Studie zufolge trotz gleicher Qualifikation im gleichen Job bis zu 30 Prozent
weniger als ihre männlichen Kollegen. Für die Untersuchung der Vergütungsberatung Personalmarkt
im Auftrag des Magazins "stern" seien mehr als 250 000 Gehälter in 22 Berufen analysiert worden.
So bekomme ein 45-jähriger Controller durchschnittlich 61 744 Euro brutto im Jahr, eine gleich alte
Controllerin aber nur 42 480 Euro, ein Unterschied von 31 Prozent. Eine 40-jährige Ingenieurin
verdiene mit knapp 40 000 Euro im Schnitt ein Viertel weniger als ihr Kollege. Eklatant seien die
Unterschiede bei Unternehmensberatern: Eine 35- Jährige verdiene durchschnittlich 48 255 Euro,
der gleichaltrige Kollege mit 68 850 Euro 30 Prozent mehr.
Auch bei Führungsjobs sehe es nicht besser aus: Eine Frau, die mehr als 30 Mitarbeiter leitet,
bekomme durchschnittlich ein Drittel weniger als ein Mann mit gleicher Qualifikation im gleichen
Job. Eine 45-Jährige erhält 77 464 Euro, ihr gleichaltriger Kollege 113 706. Im europäischen
Vergleich der Abstände zwischen den Gehältern von Männern und Frauen lande Deutschland mit 24
Prozent auf den hintersten Rängen.
Die Untersuchung zeige auch, dass die Unterschiede beim Eintritt ins Berufsleben noch nicht so groß
seien. Aber in fast allen untersuchten Berufen öffne sich ab Mitte dreißig die Gehaltsschere - wenn
viele Frauen sich zwischen Kind und Karriere hin- und hergerissen fühlten.“
(n-tv.de 03.11.04)
Zurück zum Eingangsfall dieses Kapitels: Die Frauen, die nach der zitierten BAG-Entscheidung gehofft hatten,
dass ihre Löhne nun angehoben würden, wurden bitter enttäuscht. Es stellte sich heraus, dass sie nur einen
Etappensieg errungen hatten, denn die nach dem Urteil anstehende Erhöhung der Frauenlöhne wurde durch die
Einführung neuer Lohngruppensysteme mit Leichtlohngruppen für typischerweise von Frauen verrichtete
Arbeiten umgangen. Das gab dem BAG Anlass, seine Grundsatzentscheidung »Gleicher Lohn für gleiche
Arbeit« in weiteren Urteilen zu bekräftigen und auch im Einzelfall durchzusetzen.
Ein solcher Fall wird nachfolgend dargestellt. Es werden die wichtigsten auf den Gleichheitssatz des Art. 3 GG
bezogenen Urteilserwägungen aus dem Urteil zitiert:
Fall: In einem Betrieb wurde in der Abteilung Filmentwicklung in mehreren sich teilweise
überschneidenden Schichten gearbeitet. In dem abgeschlossenen Manteltarifvertrag (MTV) wurde
als zulagenpflichtige Nachtarbeitszeit die Zeit von 20.00 - 06.00 Uhr vereinbart. In der Spätschicht
von 18.00 - 24.00 Uhr arbeiteten fast ausschließlich Frauen, in der Nachtschicht von 22.00 - 06.00
Uhr ausschließlich Männer.
137
Für die Spätschicht zahlte der Arbeitgeber den dort beschäftigten Frauen eine geringe übertarifliche,
gestaffelte Zulage von DM 0,42 - 1,42 pro Stunde, für die Arbeit während der Nachtschicht zahlte
der Arbeitgeber den dort beschäftigten Männern eine Zulage von DM 0,70 - 2,00 pro Stunde, die im
Mittelwert aber mehr als DM 1,50 betrug.
Der Arbeitgeber begründete in seiner Stellungnahme vor dem Arbeitsgericht die erhöhte Zulage für
die Nachtschicht - und damit nur für die Männer - mit der enormen gesundheitlichen Belastung durch
die Nachtarbeit, der insbesondere die Arbeitnehmer ausgesetzt seien, die eine volle Nachtschicht
ableisten.
Die Frauen aus der Spätschicht begehrten die finanzielle Gleichstellung in der Bezahlung mit ihren
männlichen Kollegen für die Stunden von 20.00 - 24.00 Uhr, weil sie laut des abgeschlossenen MTV
teilweise ja auch Nachtarbeit leisteten. Wie war zu entscheiden?
Das Arbeitsgericht (ArbG) hatte der Klage stattgegeben, das Landesarbeitsgericht (LAG) hingegen
hatte in der Berufung die Klage abgewiesen. Die daraufhin von den Klägerinnen eingelegte Revision
führte zur Aufhebung des LAG-Urteils und zur Wiederherstellung des ArbG-Urteils.
Aus den Gründen des BAG:
"I.1. Der Anspruch auf Zahlung einer übertariflichen Zulage in Höhe von DM 1,50 je Arbeitsstunde
ist aus dem arbeitsrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung begründet.
Dieser wird inhaltlich vom Gleichberechtigungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 2 GG und vom
Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG geprägt. Art. 3 Abs. 2 und 3 GG verbieten jede
Differenzierung nach dem Geschlecht. Aus diesem Verfassungsgebot hat das Bundesarbeitsgericht
den Grundsatz der Lohngleichheit von Mann und Frau hergeleitet. Danach darf der Lohn nur nach
der zu leistenden Arbeit ohne Rücksicht darauf bestimmt werden, ob sie von einem Mann oder einer
Frau erbracht wird (so die ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts).
2. ... Der Gleichbehandlungsgrundsatz gebietet es dem Arbeitgeber, bei freiwilligen Leistungen die
Leistungsvoraussetzungen so abzugrenzen, daß kein Arbeitnehmer seines Betriebes hiervon aus
sachfremden oder willkürlichen Gründen ausgeschlossen bleibt. ... Auch im Schrifttum ist anerkannt,
daß der Gleichbehandlungsgrundsatz dem Arbeitgeber zwar die Freiheit läßt, den Personenkreis
abzugrenzen, dem freiwillige Leistungen zukommen sollen, er kann also Gruppen bilden; diese
Gruppenbildung muß jedoch sachlich gerechtfertigt sein. Eine Differenzierung, die auf der
Geschlechtszugehörigkeit beruht, ist nicht zulässig. ...
II. 1. In dem Betrieb der Beklagten liegt eine allgemein geltende Zulagenregelung vor. ... Das LAG
ist davon ausgegangen, daß eine generelle Zulagenregelung im Betrieb der Beklagten nicht besteht.
... Das LAG hat angenommen, von einer einheitlichen Zulagenregelung könne schon deshalb keine
Rede sein, weil die Beklagte allein an die männlichen Arbeitnehmer sieben unterschiedlich hohe
Zulagen zwischen 0,70 DM und 2,- DM je Stunde zahle, ... . Die Zulagen an die Männer heben sich
deutlich von den Zahlungen an die Frauen ab. Es kann nicht darauf ankommen, ob alle Männer
einheitlich hohe Zulagen erhalten. Wolle man darauf abstellen, dann könnte die Anwendung des
Gleichheitsgrundsatzes schon dadurch verhindert werden, daß der Arbeitgeber die Höhe der an eine
Gruppe von Arbeitnehmern gezahlten Zulagen staffelt. ...
2. Die von der Beklagten vorgenommene Differenzierung der Zulagen an Männer und Frauen ist
sachlich nicht gerechtfertigt. ...
...
4. Nach alledem kann nur davon ausgegangen werden, daß den männlichen Arbeitnehmern Zulagen
oder höhere Zulagen deshalb gewährt wurden, weil sie nicht bereit waren, zum Tariflohn zu arbeiten.
Dies hat die Beklagte auch selbst eingeräumt. Die Klägerinnen, die für die gleiche Arbeit mit dem
Tariflohn oder geringeren Zulagen bezahlt wurden, sind daher allein deshalb ungünstiger behandelt
worden, weil ihre Arbeitskraft nicht ebenso bewertet wurde wie die der Männer. Darin liegt gerade
die Diskriminierung, die Art. 3 Abs. 2 GG verbietet.
III. Da die Klagen schon aus dem Grundsatz der Gleichbehandlung Erfolg haben, konnte
dahinstehen, ob auch andere Rechtsgrundlagen ... den Klageanspruch ebenfalls stützen konnten."
(Der Betrieb 2/82 S. 119)
Der Gleichheitssatz kommt im Arbeitsrecht natürlich nicht nur dann zum Tragen, wenn es bei gleicher Arbeit um
Lohngerechtigkeit zwischen Männern und Frauen geht. So hat z.B. das OLG Düsseldorf 1999 entschieden, dass
Funktaxizentralen ausländische Arbeitnehmer nicht von bestimmten (lukrativen) Touren ausschließen dürfen.
Geklagt und gewonnen hatten türkische Fahrer aus Duisburg, von denen einer sogar einen deutschen Pass hatte.
Entscheidungsgrundlage kann nur der allgemeine Gleichheitsgrundsatz und seine Anwendung im Arbeitsrecht
gewesen sein.
138
Ein weiterer Fall einer »mittelbaren Drittwirkung« der Grundrechte im Arbeitsrecht wurde 2003 vom BVerfG
entschieden, als eine türkische muslimische Verkäuferin gegen ihre Entlassung aus dem (privatrechtlich
eingegangenen) Arbeitsverhältnis in einem deutschen Kaufhaus klagte: Sie war – ohne zu der Zeit der Aufnahme
des Arbeitsverhältnisses ein Kopftuch zu tragen – als Verkäuferin eingestellt und in der Kosmetikabteilung
eingesetzt worden. Wie Sie durch Augenscheinseinnahme überprüfen können, werden auf solchen Positionen
üblicherweise fast ausschließlich hübsche, zumindest aber meist sehr gepflegt wirkende Frauen eingesetzt.
(Wenn es sich um Kosmetik für junge Frauen handelt, können allerdings auch sehr »schräg« gestylte Typen dort
beschäftigt sein.) Nach der Baby-Pause brach bei der jungen Türkin eine fundamentalistische Haltung ihrem
islamischen Glauben gegenüber durch, so dass sie ab dem Zeitpunkt ihrer Wiederbeschäftigung ein Kopftuch zu
tragen begehrte. Das wollte die Arbeitgeberin nicht hinnehmen, weil die Verkäuferin auch Andersgläubige aus
dem ländlich-konservativen Umkreis bedienen müsse und die sich beim Kauf hochwertiger Kosmetika von der
fundamentalistischen Verkleidung gestört fühlen könnten. Das Tragen des Kopftuches könnte zu
Geschäftseinbußen führen. Vom Arbeitgeber wurde wohl so etwas wie eine »Neutralitätspflicht« den Kundinnen
gegenüber gesehen und angemahnt, die durch die ostentative äußerliche Glaubensbekundung mittels des
demonstrativ getragenen Kopftuches verletzt sei. Die Türkin gab nicht nach, woraufhin ihr gekündigt wurde.
Das Kaufhaus obsiegte in der ersten und zweiten Instanz, nicht aber beim BAG. Das ließ das ursprünglich gegen
staatliche Eingriffe erkämpfte Grundrecht der Glaubensfreiheit in mittelbarer Drittwirkung auch in dem
privatrechtlichen Arbeitsverhältnis zu Gunsten der Muslimin durchgreifen. Hierzu führte das nach
Ausschöpfung des üblichen Rechtsweges wegen der intendierten Grundrechtsproblematik zuletzt angerufenen
BVerfG in seinem ablehnenden Beschluss, das Urteil des BAG zu revidieren, aus:
„Privatpersonen unterliegen grundsätzlich nicht der Bindung der Grundrechte. Gleichwohl sind die
Grundrechte auch in privatrechtlichen Beziehungen von Bedeutung. Sie beeinflussen die Auslegung
der zivilrechtlichen Vorschriften, die im Geiste der Grundrechte ausgelegt und angewandt werden
müssen, was sich vor allem auf die zivilrechtlichen Generalklauseln und die sonstigen
auslegungsfähigen und auslegungsbedürftigen Begriffe auswirkt. Dies gilt auch im Arbeitsrecht.“
Da sich die Verkäuferin auf ihr Grundrecht der Glaubensfreiheit aus Art. 4 GG berief und erklärte, dass das
Tragen des Kopftuches für sie eine Glaubensäußerung darstelle, bewirke die »mittelbare Drittwirkung« der
Grundrechte im Arbeitsrecht, dass der Arbeitgeber das religiös motivierte Tragen des Kopftuches hinzunehmen
habe, auch wenn in einer »Gummi-Klausel« des Arbeitsvertrages ganz allgemein das Tragen „dezenter
Kleidung“ vertraglich vereinbart worden war.
Da die Türkin aber sicher ganz allgemein als Verkäuferin eingestellt worden sein wird, bestimmt auch mit der
Maßgabe, dass sie nach dem Willen der Leitung des Kaufhauses überall eingesetzt werden könne – und nicht
ausschließlich als Fachverkäuferin für Kosmetik –, kann sie unter Berufung auf das Direktionsrecht des
Arbeitgebers sehr wohl dort eingesetzt werden, wo aus Hygienegründen eine Kopfbedeckung getragen werden
muss. Die Verkäuferin könne ja auch weniger exponiert als in der Parfümerieabteilung des Kaufhauses
eingesetzt werden: Also ein bisschen mehr Kreativität - und ab in die Fischabteilung! Dann kündigt sie vielleicht
von sich aus. Oder zum Verkauf der Fleisch- und Wurstwaren. (Die Arbeitgeberin wird sich ärgern, nicht gleich
diesen Weg beschritten zu haben, denn dann hätte sie sich die gerichtlichen Scherereien und all die Kosten
gespart.)
Schwieriger ist das gleichgelagerte Problem für den Staat im Fall einer zum Islam konvertierten und daraufhin
ein Kopftuch tragenden Lehrerin zu lösen, denn die kann der Staat ja nicht als Putzfrau, sondern höchstens als
Hauswirtschaftslehrerin einsetzen.
Art. 3 II
GG
schützt
auch die
Männer
1.3.2.2.7 Art. 3 II GG schützt auch die Männer
Trotz der Geltung des in Art. 3 I GG festgeschriebenen Gleichheitssatzes und insbesondere seiner weiteren
Konkretisierungen in dessen Absätzen 2 und 3 und der durch ihn gebotenen Gleichbehandlung der Geschlechter
sind nicht nur die Frauen, sondern ist auch eine spezielle Gruppe der Männer - vom BVerfG in mehreren
Entscheidungen abgesegnet - von staatlichen Stellen, insbesondere den Staatsanwaltschaften und Gerichten,
jahrzehntelang aufs Äußerste benachteiligt und verfolgt worden: die männlichen Homosexuellen. Bis zur 4.
Reform des Gesetzes zur Änderung des Strafrechts Ende 1973 galt die Homosexualität selbst unter erwachsenen
Männern als strafwürdig und wurde mit Gefängnisstrafe, in schweren Fällen gar mit (der mit der 1. Reform des
Gesetzes zur Änderung des Strafrechts Ende 1969 abgeschafften) Zuchthausstrafe geahndet. Wo ist aber bitte
der qualitative Unterschied, der männliche Homosexualität so schwer bestrafen, weibliche Homosexualität
139
hingegen völlig straffrei ließ? Was war an der männlichen gleichgeschlechtlich gelebten Sexualität soviel
»ungleicher«, dass damit im Gegensatz zu praktizierter weiblicher gleichgeschlechtlicher Sexualität eine
Ungleichbehandlung zu rechtfertigen gewesen wäre – und zu rechtfertigen ist? Denn der mehrfach neugefasste §
175 StGB bedroht weiterhin einen „Mann, über achtzehn Jahre, der sexuelle Handlungen an einem Mann unter
achtzehn Jahren vornimmt oder von einem Mann unter achtzehn Jahren an sich vornehmen lässt ... mit
Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe.“ Als durch den § 175 StGB geschütztes Rechtsgut wird
zwar nicht mehr ganz allgemein die früher als „unsittlich“ betrachtete gleichgeschlechtliche Betätigung unter
Männern angegeben, sondern nur noch die ungestörte sexuelle Entwicklung männlicher Jugendlicher: Ein durch
einen Älteren verführter Jugendlicher solle nicht »an das andere Ufer« abdriften. Aber was ist mit der
ungestörten sexuellen Entwicklung einer weiblichen Jugendlichen? Wenn eine 20-Jährige ihre Lust mit einer 17Jährigen lebt, die durch diese Erfahrungen für die Männerwelt verloren geht, dann bleibt das straffrei! Der
Erwerb einer möglicherweise durch Verführung umgepolten sexuellen Neigung ist nicht auf männliche
Jugendliche beschränkt! Die Vorschrift des § 175 StGB verstoße aber trotz der nicht in gleicher Weise unter
Strafe gestellten lesbischen Betätigung nach Meinung des BVerfGs nicht gegen Art. 3 GG. Egal, welche
Argumentationsklimmzüge da gemacht worden sind: Es ist eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung! Wegen
ungefähr eines Teelöffels voll »vergeudeten«, jederzeit wieder reproduzierbaren milchig-weißen männlichen
Samens? Dahinter stecken wohl noch die durch Erziehungstradition tief verwurzelten, aus der christlichen
Religion und falschem medizinischem Wissen herrührenden religiösen Vorbehalte und damit verbundenen
Abneigungen gegenüber männlicher gleichgeschlechtlicher Aktivität: Als weibliche Eizellen noch gänzlich
unbekannt waren, hielt man den durch Ejakulation sichtbaren männlichen Samen für die alleinige
lebensspendende göttliche Gabe, die in das bloße Gefäß Frau gegossen werde. Und nach jüdischer und dann
christlicher Anschauung durfte dieses Göttliche nicht unsachgemäß verschleudert werden. So durfte Onan nicht
durch einen coitus interruptus »in der Kurve abspringen« und nicht seinen Samen beim ihm aus jüdischreligiöser Verpflichtung auferlegten Coitus mit seiner verwitweten Schwägerin in den Sand tropfen lassen, wo er
verdorrte. Diese Einstellung hat sich im Gegensatz zu ihrer Bewertung in romanischen Ländern in Deutschland
erhalten und schimmert noch immer durch die Ungleichbehandlung von männlicher und weiblicher
gleichgeschlechtlich praktizierter Sexualität durch.
Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 I GG und seine Konkretisierung in Art. 3 II GG schützt aber nicht nur
die Rechte der Frauen vor Ungleichbehandlung. Auch die Männer können sich bei sachfremder
Ungleichbehandlung auf das Grundrecht der Gleichbehandlung berufen. Das tat z.B. ein Mann, der Hebamme
werden und das für Männer (jedenfalls damals) bestehende Zugangsverbot zu dieser Berufsausbildung nicht
hinnehmen wollte.
Dieser Fall wiederholte sich 1993:
"Streit um ‘Hebammer'
dpa Oldenburg - Eine Einigungsstelle unter Vorsitz des Präsidenten des Landesarbeitsgerichts
Bremen, Martin Bertzbach, muß über den Wunsch eines Oldenburger Krankenpflegers (36)
entscheiden. Er möchte zum ‘Hebammer' ausgebildet werden. Die Leitung der städtischen Kliniken:
Das ist den werdenden Müttern nicht zuzumuten." (HH A 26.05.93)
Da fragt sich der (nur) logisch denkende Zeitgenosse: "Wieso nicht, da die meisten Gynäkologen (noch) Männer
sind?"
Und wenn man regelmäßig Zeitung liest und die Reporter an selbst einem kleinen Thema dranbleiben - das ist
aber leider nur selten der Fall -, dann kann man manchmal auch noch die Auflösung mitbekommen:
"Mann als Hebamme
dpa Oldenburg - Endlich darf er Babys zur Welt bringen. Eine Einigungsstelle am Bremer
Landesarbeitsgericht bescheinigte einem Krankenpfleger (36) den Anspruch auf einen
Ausbildungsplatz an der Hebammenschule der Städtischen Kliniken. Er sei besser qualifiziert als
seine Mitbewerberinnen." (HH A 10.06.93)
Ein anderer Fall:
Das "Gesetz des Landes Nordrhein-Westfalen über Freizeitgewährung für Frauen mit eigenem Hausstand" vom
27.07.48 besagte in seinem
§ 1 HATG NRW
140
"In Betrieben und Verwaltungen aller Art haben Frauen mit eigenem Haushalt, die im Durchschnitt
wöchentlich mindestens 40 Stunden arbeiten, Anspruch auf einen arbeitsfreien Wochentag
(Hausarbeitstag) in jedem Monat."
Ähnliche gesetzliche Regelungen bestanden zu der Zeit in Bremen, Hamburg und Niedersachsen.
M (= Mann), Krankenpfleger im Dienst des Landes NRW, war ledig und wohnte allein in einer Wohnung von
ca. 80 qm. Er arbeitete 40 Stunden an 6 Tagen in der Woche. Sein Arbeitgeber lehnte seinen Antrag vom
01.10.77 ab, ihm von Oktober 1977 an einen Hausarbeitstag zu gewähren. Im arbeitsgerichtlichen Verfahren
beantragte M daraufhin zuletzt, das Land NRW zu verurteilen, ihm für einen arbeitsfreien Hausarbeitstag eine
Abgeltung von DM 120,- brutto zu zahlen.
Das Land NRW berief sich in seiner Ablehnung auf den damals schon seit mehr als 29 Jahren unangefochten
bestehenden Wortlaut des § 1 HATG NRW, in dem nur "Frauen" als begünstigter Personenkreis aufgeführt
waren, und auf die fast drei Jahrzehnte lang geübte Praxis, nur diesem Personenkreis die in der Vorschrift
geregelte Vergünstigung zukommen zu lassen. (Als wenn es ein durchschlagendes Argument sein könnte, dass
etwas jahre- oder sogar jahrzehntelang lang möglicherweise falsch gemacht worden ist!)
M hielt diese Vorschrift für verfassungswidrig, da sie seiner Meinung nach gegen Art. 3 II GG verstoße.
Wie war zu entscheiden?
Das Arbeitsgericht hat die Klage in Verfolgung der Rechtsprechung des BAG abgewiesen. Nach der in mehreren
Prozessen erstrittenen und zwischenzeitlich gefestigten Rechtsprechung des BAG konnten nicht nur die auf
Grund der Kriegsbelastung 1943 ursprünglich vorgesehenen verheirateten, sondern auch alleinlebende
Arbeitnehmerinnen, die unter den im Gesetz genannten Voraussetzungen einen eigenen Haushalt führten, einen
Hausarbeitstag beanspruchen, aber eben nur Frauen, nicht jedoch Männer. Das an sich oft recht fortschrittlich
eingestellte BAG hielt die Vorschrift in dieser Auslegung mit dem Gleichberechtigungsgebot des Art. 3 II GG
für vereinbar. Sie knüpfe an die typische Arbeitsteilung der Geschlechter an und sei als Arbeitsschutzrecht für
erwerbstätige Frauen anzusehen.
(Wie ein weiblicher Single in seinem Einpersonen-Haushalt eine typische Arbeitsteilung mit einem - von gewissen Stunden vielleicht abgesehen - nicht vorhandenen Mann vornimmt, hatte das BAG aber nicht erklärt!)
Das ArbG Köln führte darum in Anlehnung an die BAG-Rechtsprechung aus:
Der von dem Kläger geltend gemachte Anspruch finde weder in dem Hausarbeitsgesetz NRW (HATG NRW )
noch in Art. 3 II GG eine Rechtsgrundlage. In § 1 HATG NRW seien als Anspruchsberechtigte nur Frauen
genannt. Wenn das Gesetz wegen Verstoßes gegen Art. 3 GG unwirksam wäre, weil es Frauen unzulässig
begünstige, habe das nicht die von dem Kläger erhoffte Rechtsfolge, dass Männer die gleichen Rechte erhielten.
Es sei Sinn des Gleichberechtigungsgrundsatzes, die Frauen, die bisher rechtlich benachteiligt gewesen seien,
auf den Status der Männer anzuheben. Aus Art. 3 GG könne jedoch nicht abgeleitet werden, dass den Männern,
wenn der Gesetzgeber in seinem Bestreben, die Frauen den Männern gleichzustellen, über das Ziel
"hinausgeschossen" sei und die Frauen "überprivilegiert" habe, die den Frauen gewährten Rechte auch
eingeräumt werden müssten. (Hinter diesen Ausführungen des ArbG steht als Überlegung der allgemein
anerkannte Grundsatz, dass es keinen Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht geben könne.)
Diese vorstehend referierte Auslegung des ArbG ist eine Auslegung des § 1 HATG NRW, die starr am Wortlaut
dieses Gesetzes orientiert war. Doch wie wir noch sehen werden, brauchen sich Gesetz und Recht nicht zu
entsprechen. Darum die Kontrollfrage: War diese Gesetzesauslegung des § 1 HATG NRW durch das Kölner
ArbG auch am höherrangigen Grundgesetz und ganz allgemein am Recht - was immer das auch sei; zunächst:
was jeder dumpf in sich zu fühlen glaubt - ausgerichtet?
Der Rechtsanwalt des Klägers meinte nein und machte die Sache gemäß
„Art. 93 GG
Das Bundesverfassungsgericht entscheidet
...
4a. über Verfassungsbeschwerden, die von jedermann mit der Behauptung erhoben werden können,
durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte ... verletzt zu sein."
und des auf Art. 93 GG basierenden, fast wortgleich lautenden § 13 Nr. 8 a BVerfGG bei unserem höchsten
Gericht anhängig (BVerfGE 52/369 ff). Er argumentierte:
Die Nichtgewährung des Hausarbeitstages an männliche Arbeitnehmer könne mit dem Hinweis auf die
141
traditionelle Arbeitsteilung der Geschlechter nicht gerechtfertigt werden. Zwar werde eine Arbeitsteilung, nach
der die Frau den Haushalt führe und der Mann im Berufsleben stehe, noch häufig praktiziert. Als
gesellschaftliches Prinzip sei dieser Grundsatz jedoch längst überwunden. Es gelte heute gesellschaftlich
keineswegs mehr als anrüchig, wenn eine Frau am Berufsleben teilnehme. Auch sei es nicht mehr typisch, dass
die alleinstehende Frau ihren Haushalt selbst führe, während bei dem Mann das Gegenteil der Fall sei. Es sei
ausschließlich eine Frage der finanziellen Situation oder der persönlichen Neigung, ob eine alleinstehende
Person, gleichgültig ob Mann oder Frau, sich selbst versorge oder gegen Bezahlung durch Dritte versorgen lasse.
Entscheide sie sich für die Selbstversorgung, sei die Situation für Mann und Frau gleich. Im übrigen komme dem
Gleichberechtigungsgrundsatz eine gewisse korrigierende Funktion hinsichtlich dessen zu, was bisher als
typische Rollenverteilung angesehen worden sei.
Das BVerfG hatte, wie üblich, alle in die zu entscheidende Rechtsproblematik irgendwie Involvierten für seine
anstehenden Beratungen um eine Stellungnahme gebeten. Die Bundesregierung, der Ministerpräsident des
Landes NRW und das BAG haben daraufhin aber nur auf die bisherige Rechtsprechung des BAG hingewiesen
und im übrigen von Stellungnahmen abgesehen. Und das BAG hatte im zuvor abgehandelten "LohnzulagenFall" doch gezeigt, dass es den Art. 3 GG kennt, ernst nimmt und zur gezielten, am Geist des Grundgesetzes
orientierten Rechtsfortbildung einsetzt.
Nun erhielten die im Vergleich zu vielen anderen Richtern an sich schon recht fortschrittlich eingestellten
obersten Arbeitsrichter der Bundesrepublik eine Nachhilfestunde in richtiger Grundgesetzinterpretation von den
hierzu berufenen BVerfG-Richtern:
"Die Regelung des § 1 HATG NRW knüpft bei der Bestimmung, welchen Personen der
Hausarbeitstag zu gewähren ist, allein an den Geschlechtsunterschied an und nimmt damit eine
verfassungsrechtlich unzulässige Differenzierung vor. ... Eine Doppelbelastung durch Berufstätigkeit
und Haushaltsführung kann auch bei Männern in Betracht kommen. Dies gilt insbesondere für
Alleinstehende, die sich in einer eigenen Wohnung selbst versorgen, da bei ihnen Berufstätigkeit und
Haushaltsführung zwangsläufig in einer Person zusammentreffen. Soweit ein alleinstehender
Arbeitnehmer die Doppelbelastung durch Beruf und Haushalt trägt, ist es nicht gerechtfertigt, ihn bei
der Gewährung des Hausarbeitstages anders als eine alleinstehende Arbeitnehmerin zu behandeln. ...
Der Umfang der zu erledigenden Hausarbeit ist nicht geringer, wenn der Haushalt von einem Mann
statt von einer Frau geführt wird. Bei dieser Sachlage kann die Gewährung des bezahlten
Hausarbeitstages nur an Frauen mit den biologischen Unterschieden der Geschlechter nicht
begründet werden. ... Jedenfalls verletzt die einseitige Hausarbeitsregelung zugunsten der
alleinstehenden Frauen den Grundsatz der Gleichberechtigung nach Art. 3 Abs. 2 GG. Diese Frauen
unterscheiden sich in keinem wesentlichen Punkt von Männern in gleicher Lage. ... Es verstößt
gegen den Gleichberechtigungsgrundsatz, wenn den privaten Interessen der weiblichen
Arbeitnehmer an einer bestimmten außerbetrieblichen Tätigkeit durch eine Ungleichbehandlung
Rechnung getragen wird. ...
Das BVerfG kann die Vorschrift des § 1 HATG NRW nicht für nichtig erklären, sondern muß sich
darauf beschränken, ihre Verfassungswidrigkeit festzustellen, da dem Gesetzgeber verschiedene
Wege offenstehen, die von der Verfassung geforderte Gleichheit herzustellen.
Das Urteil des Arbeitsgerichts Köln ist aufzuheben, da es auf der für verfassungswidrig erklärten
Vorschrift des § 1 HATG NRW beruht (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Die Sache ist an das Arbeitsgericht
zurückzuverweisen. ..."
Kein Argument des BAG wurde gelten gelassen! Das war eine »6:0-6:0-Höchststrafe« des BVerfGs an das
BAG, wie eine überragend spielende Steffi Graf sie in besonders erfolgreichen Spielen an Gegnerinnen austeilte,
wenn die »neben sich standen« und sie denen in einem Endspiel Tennisunterricht erteilte.
Und drei letzte Meldungen zu dem Problemkreis der Gleichberechtigungsproblematik:
Einen rechtskräftig als Mann anerkannten Transsexuellen muss die private Krankenversicherung in den
günstigeren Männertarif einordnen (OLG Köln Az. 5 U 80/93).
Der wegen seiner Transsexualität im November 1998 von seiner Gemeinde abgewählte Bürgermeister von
Quellendorf in Sachsen-Anhalt, Michael/a Lindner, der - wie ca. 300 Personen in der Bundesrepublik jedes Jahr
- eine mit DM 40.000 (auf Grund seiner Arbeitslosigkeit durch das Sozialamt) bezahlte Geschlechtsumwandlung
hinter sich brachte - „Es war eine Laseroperation. Und die neuen Körperteile funktionieren prächtig. Es ist
142
richtig schön im Bett“, gab er dem STERN zu Protokoll -, will seine Abwahl durch das BVerfG überprüfen
lassen. Übrigens hat die Kostenübernahme der Operationskosten durch das Sozialamt auch etwas mit
Grundrechten und Gesetz zu tun; aber das soll nicht weiter ausgeführt werden.
1999 verklagte die 22-jährige deutsche Elektronikerin Tanja Kreil vor dem VG Hannover die Bundesrepublik
Deutschland, in der Bundeswehr Dienst mit der Waffe - und nicht nur wie 4.340 andere (seit 1975 ) in Sanitätsund 60 (seit 1991) in Musikkompanien - tun zu dürfen. Sie war 1996 mit diesem Begehren von der Bundeswehr
abgewiesen worden. An waffentragende Polizistinnen ist man(n) inzwischen gewöhnt. Warum dann - unter dem
Gleichbehandlungsgebot des Artikels 3 GG - nicht auch in der Bundeswehr, da in anderen europäischen
Streitkräften Frauen Bomber fliegen, Schiffe kommandieren und Panzer steuern? In Österreich z.B. waren die
Frauen durch Parlamentsbeschluss mit Zweidrittelmehrheit schon seit dem 01.04.98 zum freiwilligen Dienst
beim Heer zugelassen. Ihnen stehen alle Karrierewege - und nicht nur der im Medizinal- und Musikchordienst bis hin zur Generalin offen. Warum ist das in der Bundeswehr nicht möglich? So wohl die Argumentation der
Klägerin. Aber eine solche Klage kann sich für ihre Geschlechtsgenossinnen als »Danaer-Geschenk« erweisen,
denn sie wirft - da wir im Gegensatz zu den meisten europäischen Staaten (noch?) keine Freiwilligen-, sondern
eine Wehrpflichtarmee haben - im Erfolgsfalle dann automatisch die Frage nach einer Wehrpflicht für Frauen
auf! Für einen Einsatz von Frauen in Kampftruppen musste dann zunächst einmal Art. 12 a GG geändert werden,
der bisher in Abs. I S. 1 bestimmte, dass (nur) Männer zum Dienst in u.a. den Streitkräften verpflichtet werden
können, und dessen Abs. IV letzter Satz ausdrücklich bezüglich im Verteidigungsfall dienstverpflichteter Frauen
bestimmt: „Sie dürfen auf keinen Fall Dienst mit der Waffe leisten.“; bisher ein Berufsverbot mit
Verfassungsrang! Das VG Hannover verwies die Klage der Tanja Kreil an den Europäischen Gerichtshof
(EuGH) in Luxemburg zur Entscheidung, weil außer der Verfassung der Bundesrepublik auch europäisches
Recht tangiert war. Seit 1999 ist dem EuGH außerdem mit dem Vertrag von Amsterdam auch die Zuständigkeit
für die Wahrung von Grundrechten in der EU übertragen worden und es waren die Grundrechte aus Art. 3 auf
Gleichberechtigung und Art. 12 auf Berufsfreiheit betroffen.
Von der militärischen Führung wurde während des beim EuGH laufenden Prozesses wegen des befürchteten
Obsiegens der Klägerin ein Kompromiss angedacht, da es sich bei dieser Frau um eine Elektronikerin handelte.
Sie könnte ja vielleicht innerhalb der Bundeswehr etwas für die Aufklärung tun, ohne dabei eine Handfeuerwaffe
in die Hand nehmen zu müssen. Allerdings gibt es keine Bundeswehreinheiten, in denen Soldaten ohne
Waffenausbildung und ohne generellen Waffenbesitz Dienst tun wie in den Baukompanien der DDR, wo - weil
es in dem Staat kein Recht auf Wehrdienstverweigerung gab - Waffendienstverweigerer zusammengezogen,
diskriminiert und schikaniert worden sind. Selbst Sanitätssoldaten der Bundeswehr tragen z.B. im Manöver eine
Waffe (Pistole), an der sie zuvor ausgebildet worden sind, um im Notfall ihre Patienten und/oder sich selbst
verteidigen zu können.
Plötzlich aber überschlugen sich die männlichen Vorstellungskräfte auf der Harthöhe; und die
Zeitungsmeldungen: Auf einmal war es denkbar, dass Frauen mit Waffen im Wachdienst eingesetzt werden
könnten. Mit Fortschreiten des Prozesses vor dem EuGH schritt auch der Denkprozess in der Spitze des
Bundesministeriums der Verteidigung voran und man dachte immer wieder ein Stückchen weiter: Schon im
Zweiten Weltkrieg gab es in der Wehrmacht ja z.B. Pilotinnen wie Beate Uhse. Und die Frau verstand was von
»Kampfeinsätzen«! (Damit ist sie später sehr reich und berühmt geworden!) Warum sollten Frauen nicht u.a.
auch Kampfjets fliegen dürfen?
Anfang des Jahres 2000 entschied dann der EuGH zu Gunsten der Klägerin, die damit Rechtsgeschichte schrieb.
Auf der Grundlage der „Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und
Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsausbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie
in Bezug auf die Arbeitsbedingungen“ vom 09.02.1976 und insbesondere seines
„Art. 2
(1) Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Sinne der nachstehenden Bestimmungen beinhaltet, daß
keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung auf Grund des Geschlechts ... erfolgen darf.
(2) Diese Richtlinie steht nicht der Befugnis der Mitgliedstaaten entgegen, solche beruflichen
Tätigkeiten und gegebenenfalls die dazu jeweils erforderliche Ausbildung, für die das Geschlecht auf
Grund ihrer Art oder der Bedingung ihrer Ausübung eine unabdingbare Voraussetzung darstellt, von
ihrem Anwendungsbereich auszuschließen.
(3) Diese Richtlinie steht nicht den Vorschriften zum Schutz der Frau, insbesondere bei
Schwangerschaft und Mutterschaft, entgegen.“
wurde die Ablehnung der Klägerin als rechtswidrig eingestuft: die deutsche Rechtslage (vor Erlass des Urteils)
143
gleiche einem „Berufsverbot für Frauen“. Das Verfahren wurde vom EuGH an das VG Hannover zurück
verwiesen, das nunmehr in seiner Entscheidung die Rechtsüberlegungen aus dem EuGH-Urteil zu
berücksichtigen hatte. Der Ausgang des zunächst unterbrochenen Verwaltungsgerichtsverfahrens war damit klar,
da die Klägerin nicht begehrt hatte, als Kampfschwimmerin ausgebildet und eingesetzt zu werden. (Der Zugang
zu dieser Spezialeinheit mit ihren übergroßen physischen Anforderungen wäre ihr vom EuGH eventuell verwehrt
worden, wie vor der Klage der Deutschen eine britische Klägerin vom EuGH ablehnend beschieden worden
war.)
In den Augen konservativer Kritiker, wie des Vorsitzenden des Bundestagsrechtsausschusses Rupert Scholz
(CDU), ist das in der Frage der Wehrberechtigung von Frauen ergangene EuGH-Urteil ein „unglaublicher
Skandal“. Die Kritiker des EuGH-Urteils bezüglich des Rechts der Frauen auf Dienst in der Bundeswehr auch
mit der Waffe weisen darauf hin, dass die EU, laut BVerfG ein "Staatenverbund neuer Art", für
Verteidigungspolitik gar nicht zuständig sei. Die Organisation der Bundeswehr sei eine Aufgabe der nicht
abgetretenen nationalen Souveränität der Bundesrepublik wie der anderen EU-Staaten, in die sich der EuGH und
das Europarecht nicht einzumischen hätten. Der bayerische Ministerpräsident Stoiber kommentierte die
Entscheidung sauertöpfisch: „Demnächst wird die Gleichstellungsrichtlinie erzwingen, dass der nächste
Bundeskanzler eine Frau ist.“ [Das hatte Stoiber als gemeinsamer Kanzlerkandidat von CDU und CSU bei der
Bundestagswahl 2002 schon im Ansatz verhindert, obwohl Angelika Merkel als seine Mitkonkurrentin um die
Kanzlerkandidatur der CDU/CSU in einem SPIEGEL-Interview hatte verlauten lassen, dass die deutsche
Gesellschaft nach ihrer Einschätzung „im Grundsatz reif für eine Kanzlerin“ sei.] Nach Stoibers Scheitern bei
der Bundestagswahl 2002 und dem Desaster der SPD in der nordrhein-westfälischen Landtagswahl mit der
daraufhin um ein Jahr auf 2005 vorgezogenen Bundestagswahl – der angeschossene Keiler Schröder brach aus
dem Unterholz und nahm seine Jäger direkt an - hat sie sehr gute Chancen, es zu werden.
Die Entscheidung des EuGH in dem ihm vorgelegten Einzelfall hinsichtlich des Rechts der Klägerin auf
gleichberechtigten Zugang zum Waffendienst in der Bundeswehr bedingte dann auch eine GG-Änderung, um
aus Gründen der Gleichberechtigung nunmehr allen Frauen diesen Zugang zu eröffnen. Der Deutsche Bundestag
hat mit der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit der Stimmen seiner gesetzlichen Mitglieder - und damit auch
mit den Stimmen von CDU-Abgeordneten - die grundgesetzliche Sperre des Satzes aus Artikel 12 a GG: „Sie
dürfen auf keinen Fall Dienst mit der Waffe leisten.“ abgeändert in die Formulierung: „Sie dürfen auf keinen
Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden.“
Ab 2001 konnten Frauen in (fast?) allen Kampfverbänden freiwillig Dienst an der Waffe verrichten, und es wird
durch ein seit 2005 geltendes Gleichstellungsgesetz bis 2010 ein Frauenanteil in allen Laufbahnen der
Bundeswehr von rund 15 % angestrebt, der dann in etwa dem Frauenanteil in der US-Armee (14 % 34)
entspräche. 2003 waren es bei einer Truppenstärke von rund 280.000 »Mann« aber erst 7.734 Frauen: 4.982
Soldatinnen im Sanitäts- und Musikdienst und 2.752 im normalen Truppendienst inklusive dem
Militärgeographischen Informationsdienst. Über kurz oder lang wird mit 20 % Frauen in der Bundeswehr
gerechnet.
Weil man nicht zum Vergnügen zum Bund geht, hat die Truppe mit dem steigenden Frauenanteil zu kämpfen:
Wo Menschen sind, menschelt es – besonders zwischen Männern und Frauen in Kampfeinsätzen! Das kann auch
nicht die Anlage zur Zentralen Dienstvorschrift 14/3 unterbinden; nur reglementieren, indem sie eine „sexuell
neutrale“ Dienstausführung fordert. Aber gegen das Menscheln helfen keine Erlasse, da ist die Natur stärker.
Darum gibt es seit Sommer 2004 einen "Kuschelerlaß", der Sex in der Bundeswehr erlaubt - im gegenseitigen
Einvernehmen, in der Freizeit und nur dann, wenn es den Dienstbetrieb nicht be- oder verhindert.
Natürlich gibt es "Delikte gegen die sexuelle Freiheit", wie sexuelle Übergriffe bei der Bundeswehr genannt
werden, bis hin zum Mord wegen verweigerten Geschlechtsverkehrs oder aus Eifersucht. Warum sollte sich das
Zusammenleben zwischen Männern und Frauen in der Bundeswehr problemloser gestalten als außerhalb der
Kasernenanlagen im »normalen« Leben?!
Die Klägerin gehört aber nicht zu den Frauen an der »Geschlechterfront« der Bundeswehr. Im August 2000 zog
sie nach gewonnenem Prozess ihre Bewerbung zurück.
Mit der Öffnung der Bundeswehr für Frauen zum Dienst mit der Waffe sind weitere Probleme aufgeworfen:
34
Der Frauenanteil in der Armee der USA liegt seit Jahren recht konstant bei rund 14 %, in der britischen bei etwa 7,5 %, in
Dänemark bei rund 4 % und in Frankreich bei etwa 5,5 Prozent.
144
Wenn Frauen nun dienen dürfen, aber nicht dienen müssen, warum sollen dann die Männer dienen müssen?
Dagegen klagte ein Wehrpflichtiger aus Göppingen - und das auch vor dem EuGH. Er sah in diesem nur
Männern gegenüber ausgeübten Zwang einen Verstoß gegen europäisches Recht, woraufhin das LG Stuttgart
diese Frage dem EuGH zur Entscheidung vorlegte, der die Klage aber abwies.
Hätte der EuGH dem Kläger Recht gegeben, hätte die Wehrpflicht abgeschafft werden müssen; insbesondere da
die Bundeswehr seit 2002 durch einen erhöhten Anteil freiwilliger Zeit- oder Berufssoldaten so umgebaut wird,
dass schätzungsweise nur noch die Hälfte bis ein Viertel der zur Wehrpflicht Anstehenden zwangsweise
eingezogen werden wird. Zu diesem Zweck muss der Prozentsatz der angeblich Dienstuntauglichen auf 22 %
eines Jahrganges willkürlich heraufgestuft werden. Da stellt sich verschärft die Frage der Wehrgerechtigkeit!
Soweit zunächst einmal zu Problemen der in Art. 3 II GG angeordneten Gleichberechtigung von Frau und Mann.
Mit den beiden angesprochenen EuGH-Entscheidungen sind zwar die beiden Einzelfälle der kampfbereiten Frau
und des sich der Wehrhaftmachung verweigernden Mannes erledigt und sogar so grundsätzlich beantwortet
worden, dass es im Sinne der Gleichberechtigung hinsichtlich des Rechts der Frauen zum Dienst mit der Waffe
zu den erforderlichen Grundgesetzesänderungen gekommen ist. Nicht aber sind alle damit im Zusammenhang
stehenden juristischen Probleme gelöst. Gemeint ist das damit im Zusammenhang stehende gravierende
juristische Problem der Verbindlichkeit der EuGH-Rechtsprechung in Grundrechtsfragen unter der Geltung des
Grundgesetzes!
Mit der Entscheidung des EuGH in den eben behandelten Fällen war das grundsätzliche Problem der Geltung
der supranationalen EuGH-Rechtsprechung in Grundrechtsfragen für Bundesbürger juristisch noch nicht in
trockenen Tüchern: Wessen Rechtsprechung solle gelten, wenn BVerfG und EuGH zu unterschiedlichen
Ergebnissen kommen? Wer ist dann Platzhirsch und darf in unserem Staat seine Ansichten in der Bevölkerung
mit seinen Ergüssen fortpflanzen - und wer muss das Revier räumen?
Bis 1986 lernten die Juristen in ihrer Ausbildung, dass entsprechend der Regelung in Art. 25 GG
„Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den
Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.“
europäisches Gemeinschaftsrecht (nur) einfaches bundesrepublikanisches Gesetzesrecht breche, nicht aber das
höherrangige bundesdeutsche Verfassungsrecht. Die diesbezüglichen Urteile des EuGH seien innerhalb der EU
für den nationalen Gesetzgeber der Bundesrepublik und alle seine Gerichte unterhalb der Schwelle der
Verfassung bindend. Nicht ausdrücklich, sondern nur implizit, war damit gesagt worden: Da der EuGH nur über
Recht entscheiden könne, dass sich in der Rangordnung der Gesetze unterhalb der Ebene des Verfassungsrechts
befindet, gehe im Zweifelsfall die die Vereinbarkeit von Gesetzen mit dem Grundgesetz kontrollierende
Rechtsprechung des BVerfGs vor und damit habe in Fragen einer möglichen Grundrechtsproblematik die
Rechtsprechung des BVerfGs Vorrang vor der EuGH-Rechtsprechung.
Das hatte das BVerfG 1974 - mit Geltung bis 1986 - u.a. deswegen so entschieden, weil es in seiner juristischen
Nachprüfung zu dem Ergebnis gekommen war, dass 1974 der Integrationsprozess der Gemeinschaft in
tatsächlicher Hinsicht noch nicht so weit fortgeschritten gewesen sei, „... daß das Gemeinschaftsrecht auch einen
von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthalte,
der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat sei.“ 1986 sah das BVerfG durch die inzwischen
ergangene EuGH-Rechtsprechung einen grundsätzlich qualitativ gleichwertigen Grundrechtsschutz gewährleistet
und entschied darum in seiner (später abkürzend so genannten) „Solange-II-Entscheidung“: Weil „im
Hoheitsbereich der EG mittlerweile ein Maß an Grundrechtsschutz erwachsen sei, das nach Konzeption, Inhalt
und Wirkungsweise dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes im Wesentlichen gleich zu achten sei“, sei
nunmehr der EuGH auch für den Grundrechtsschutz der Bundesbürger zuständig, der sich aus dem sekundären
Gemeinschaftsrecht ergebe, „solange“ sich der EuGH an die vom BVerfG in der Entscheidung BVerfGE 73/339
ff (378-381) gemachten Vorgaben halte. [Dahinter stand wieder die „Machtfrage“: Wir
Bundesverfassungsrichter räumen euch EuGH-Richtern (nur) solange Entscheidungskompetenz ein, wie wir
unseren Primat als Wächter der bundesrepublikanischen Grundrechte nicht durch euch als gefährdet ansehen!
Das Grundgesetz verzichte nicht auf „die im letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität“.
Auch wenn Rahmenbeschlüsse, EU-Richtlinien und Brüsseler Weisungen schon über die Hälfte unserer
Gesetzesvorhaben ausmachen, so gelte trotzdem der Souveränitätsvorbehalt, dass trotzdem das „letzte Wort“ in
den Bestimmungen des Grundgesetzes liegen müsse – und damit bei den Karlsruher Verfassungsrichtern!] Der
145
EuGH sei unter den in der Entscheidung genannten Voraussetzungen somit „auch für den Grundrechtsschutz der
Bürger der Bundesrepublik Deutschland gegenüber den Akten der nationalen (deutschen) öffentlichen Gewalt,
die auf Grund von sekundärem Gemeinschaftsrecht ergehen, zuständig.“ Vorlagen an das BVerfG zur
Überprüfung solchen Rechts seien danach unzulässig, solange die das BVerfG anrufenden Gerichte nicht
fundiert im Einzelnen darlegten, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des
EuGH generell unter den Grundrechtsstandard abgesunken sei, den das GG für die im Hoheitsbereich der
Bundesrepublik lebenden Menschen festgelegt hat. Erst dann und nur dann werde das BVerfG im Rahmen seiner
weiterhin fortbestehenden, aber nicht mehr ausgeübten Grundrechtsgerichtsbarkeit wieder tätig werden, wenn
der EuGH den vom BVerfG vorgezeichneten Grundrechtsstandard verlassen sollte, den der zuständige Senat in
seiner Entscheidung festgelegt habe. Insoweit gelte ein Souveränitätsvorbehalt des BVerfGs gegenüber der
EuGH-Rechtsprechung – den der natürlich nicht so zu sehen vermag!
Das BVerfG hielt sich in dem Rechtsstreit um die Bananenmarktordnung (BVerfGE 89/155) an diese von ihm
vorgezeichnete Linie, obwohl die Fruchtimport-Firmen nach einer Abfuhr beim EuGH beim BVerfG eine
Verletzung ihres Grundrechts auf den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb geltend machten.
Seit 1999 ist dem EuGH außerdem mit dem Vertrag von Amsterdam u.a die Zuständigkeit für die Wahrung von
Grundrechten in der EU übertragen worden. Das BVerfG beansprucht in Grundrechtsfragen der Deutschen aber
gleichwohl grundsätzlich immer noch das Recht des „letzten Wortes“. Der latent schwelende Konflikt brach auf,
als nach der Änderung des Art. 16 II GG mit seinem bis dahin geltenden Wortlaut
„Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden.“
durch einen angefügten Satz 2 Art. 16 II GG seit dem 02.12.00 nunmehr lautet:
„Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Durch Gesetz kann eine abweichende
Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen
internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind.“
Bis Ende 2000 bestand, wie gesagt, ein absolutes Auslieferungsverbot: Bis dahin durfte kein Deutscher unter
keinen Umständen an einen fremden Staat ausgeliefert werden, wobei man unter Auslieferung die zwangsweise
Überführung in den Hoheitsbereich eines fremden Staates auf dessen Ersuchen hin zur dortigen Strafverfolgung
versteht.
War z.B. ein Deutscher verdächtig, im Ausland eine Straftat begangen zu haben, und der jeweilige Staat hatte
einen Auslieferungsantrag gestellt, so konnte die beantragte Auslieferung unter Verweis auf Art. 102 GG als
absolutes Auslieferungshemmnis dennoch in keinem Fall stattfinden.
Durch Art. 16 II 2 GG wurde eine partielle Auslieferungsverpflichtung zur Strafverfolgung eines Deutschen
durch einen anderen Staat eingeführt, derzufolge nunmehr nur noch ein eingeschränktes Auslieferungsverbot an
andere Staaten besteht.
Nach der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag am 17.07.98, der für die Verfolgung der
vier Verbrechen a) Völkermord, b) Verbrechen gegen die Menschlichkeit, c) Kriegsverbrechen und d) das
Verbrechen der Führung eines Angriffskrieges zuständig ist, wenn entweder der Staat, in dem die Tat begangen
wurde, oder der Staat, dessen Angehöriger der mutmaßliche Täter ist, Vertragspartei des internationalen
Gerichtsstatuts sind, wurde der bisher absolute Schutz der Deutschen dergestalt eingeschränkt, dass sie an den
Internationalen Gerichtshof ausgeliefert werden (können).
Im Zuge der dafür erforderlichen Grundgesetzänderung wurde auch eine EU-Richtlinie umgesetzt, dass
Deutsche ebenfalls an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union ausgeliefert werden dürfen, „… soweit
rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind.“
Durch Art. 16 II 2 GG wurde somit bei Vorliegen eines europäischen Haftbefehls eine partielle
Auslieferungsverpflichtung zur Strafverfolgung eines Deutschen durch einen anderen Staat oder ein
internationales Gericht eingeführt, derzufolge nunmehr nur noch ein eingeschränktes Auslieferungsverbot an
andere Staaten besteht. Der EU-Haftbefehl listet 32 Straftaten auf, bei denen die Mitgliedstaaten "ohne
Überprüfung des Vorliegens beiderseitiger Strafbarkeit" ihre Bürger ausliefern. Darunter fallen Terrorismus,
Waffen- und Drogenhandel, vorsätzliche Tötung, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, aber auch unklare
Begriffe wie Betrug, Cyberkriminalität oder Sabotage.
Für viele Europa- und Verfassungs- und Strafrechtler ist der europäische Haftbefehl mit der deutschen
Verfassung nicht vereinbar, weil er ehernen Rechtsgrundsätzen widerspreche, insbesondere dem fundamentalen
Rechtssatz: „Keine Strafe ohne Gesetz“ („nulla poena sine lege“), gegen den während der Nazi-Diktatur so
eklatant verstoßen worden war.
146
Die neue Gesetzeslage sollte zum ersten Mal 2004 einem des Terrorismus verdächtigten ehemals syrischen
Staatsbürger gegenüber angewandt werden, der 1990 eine Deutsche geheiratet hatte und sich dann auf Grund
seiner anschließend irgendwann erfolgten Einbürgerung hier als nunmehr deutscher Staatsbürger vor
Auslieferung sicher fühlen konnte. Der nunmehr deutsche Staatsbürger syrischer Herkunft stand im Verdacht,
die Terrorpiloten des 11.09.01 unterstützt zu haben, konnte aber nicht an die USA ausgeliefert werden, weil er
erstens Deutscher war und zweitens in den USA in 38 Staaten immer noch die Todesstrafe verhängt werden
kann. Da die Todesstrafe gemäß Art. 102 GG in Deutschland abgeschafft ist, darf niemand, auch kein
Ausländer, von Deutschland an einen Staat ausgeliefert werden, wenn ihm dort die Todesstrafe droht. Eine
Auslieferung eines Ausländers war nur dann möglich, wenn der Staat, der die Auslieferung beantragte, zuvor
schriftlich versichert hatte, auf die Verhängung der Todesstrafe zu verzichten.
Deutsche konnten wegen des in Art. 16 II (a.F.) GG geregelten absoluten Auslieferungsverbotes sowieso nicht
ausgeliefert werden.
Der eingedeutschte Syrer Darkazanli wurde über die Unterstützung der Terrorpiloten von New York hinaus von
Spanien verdächtigt, die Madrider U-Bahn-Terroristen vom 15.03.04 finanziert zu haben. Er galt als
Schlüsselfigur von Al Queida in Spanien, Frankreich und der BRD. Als Spanien wegen des Anschlags auf die
Madrider U-Bahnen auf Grund der auch von Deutschland umgesetzten EU-Richtlinie mittels eines europäischen
Haftbefehls seine Auslieferung beantragte, wurde dem Ersuchen der Auslieferung eines Deutschen zur
Strafverfolgung im Ausland durch den I. Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg am
23.11.04 zum ersten Male stattgegeben. Das Hanseatische OLG begründete die von ihm so gesehene
Rechtmäßigkeit der Auslieferung in seinem Beschluss mit u.a. den ziemlich apodiktisch vorgetragenen
Argumenten:
„Da keine Auslieferungshindernisse bestehen, ist dem zulässigen Ersuchen nach § 79 I RG
stattzugeben. Die beiderseitige Strafbarkeit im ersuchenden und im ersuchten Staat ist nach § 81
Abs. I Nr. 4 IRG nicht zu prüfen, wenn - wie hier - die dem Ersuchen zugrundeliegende Tat nach
dem Recht des ersuchenden Staates eine Strafbestimmung verletzt (vorliegend: Art. 515.2 und 516.2
des spanischen StGB), die den in Art. 2 Abc. 2 des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002
über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in
Bezug genommenen Deliktsgruppen (hier: Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung und
Terrorismus) zugehörig ist. Auf eine Strafbarkeit des Verfolgten nach deutschem Recht kommt es
danach nicht an....
Die Auffassung des Beistands, die Vollstreckung einer in Spanien gegen den Verfolgten verhängten
Freiheitsstrafe in Deutschland verstoße gegen den ordre public, beruht ausschließlich auf der vom
Senat nicht geteilten Prämisse, dass schon die Auslieferung unzulässig sei, weil hier ein deutscher
Staatsangehöriger wegen ausschließlich in Deutschland begangener Handlungen, die zur Tatzeit im
Inland nicht strafbar waren, nach Spanien überstellt werden soll. Das aber ist hier nicht der Fall.
Nach dem im Haftbefehl geschilderten Sachverhalt, dessen Grundlage zu überprüfen der Senat
keinen Anlaß hat (§ 10 Abs. 2 IRG), soll der Verfolgte die terroristische Vereinigung u.a. auch im
Kosovo unterstützt und zum Zwecke der Förderdung dieser Organisation bei seinen Aufenthalten
(u.a.) in Madrid und Granada persönlich Verbindung zu Mitgliedern der Al Qaida-Zelle in Spanien
gehalten haben. Soweit der Verfolgte einwendet, daß die Straflosigkeit seines Verhaltens in
Deutschland zur Tatzeit wegen seiner deutschen Staatsangehörigkeit dazu führe, daß er vor
Strafverfolgung sicher sei, solange er nur die Bundesrepublik Deutschland nicht verlasse, trifft dies
in dieser Allgemeinheit nicht zu. Vielmehr kann ein Deutscher auch dann an einen Mitgliedstaat der
Europäischen Union ausgeliefert werden, wenn er - wie hier - (auch) außerhalb Deutschlands eine
Straftat begangen haben soll und sich dadurch nach dem Recht des ersuchenden Staates strafbar
gemacht hat. ...
Denn es trifft - wie bereits ausgeführt - nicht zu. daß der Verfolgte als Deutscher wegen einer Tat,
die ausschließlich auf deutschem Hoheitsgebiet verübt wurde und die nach deutschem Recht zur
Tatzeit nicht strafbar war, ausgeliefert werden soll (vgl. S. 4 Abs. I des Schriftsatzes). Vielmehr soll
er seine nach spanischem Recht strafbaren Aktivitäten zur Förderung der terroristischen Vereinigung
auch in Spanien und im Kosovo entfaltet haben. Das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG
wird durch die Auslieferung - entgegen den Ausführungen unter II. 1. im Schriftsatz der
Rechtsanwältin Pinar vom 31. Oktober 2004 - nicht verletzt. Auslieferungsrecht ist Verfahrensrecht,
in dem das im materiellen Strafrecht geltende Rückwirkungsverbot grundsätzlich keine Anwendung
findet (OLG Stuttgart in NJW 2004, 3437, 3438). Der Verfolgte soll zudem nicht von einem
deutschen Gericht wegen einer Tat, deren Strafbarkeit vor ihrer Begehung nicht gesetzlich bestimmt
147
war, bestraft werden. Vielmehr soll er an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union überstellt
werden, gegen dessen Strafnormen er im Ausland zu einem Zeitpunkt verstoßen haben soll, als die
Tat dort nach dem Recht des ersuchenden Staates strafbar war. Insoweit widerspräche die
Auslieferung nicht wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung, die eine solche
Rechtshilfe nach § 73 IRG unzulässig machte. ...
Die verfassungsrechtlichen Bedenken des Verfolgten gegen die Neuregelung des Auslieferungsrechts
teilt der Senat aus den Gründen seines Beschlusses vom 5. November 2004, an denen er nach
nochmaliger Überprüfung festhält, nicht.“
Das sah das BVerfG aber wesentlich kritischer und stoppte die Auslieferung auf Antrag der Anwälte des
Beschuldigten im Eilverfahren für zunächst ein halbes Jahr bis zur Behandlung der eingereichten
Verfassungsbeschwerde. Der Zweite Senat des BVerfGs plante – Az.: 2. BvR 2236/04 –, nicht nur die justizielle
Zusammenarbeit der EU-Mitgliedsländer, sondern ganz Europa zur Disposition zu stellen.
Für die damit befassten Verfassungsrichter stellt sich neben dem Problem des europäischen Haftbefehls die
Grundsatzfrage der demokratischen Legitimation der EU. Die höchsten deutschen Richter befassen sich ganz
grundsätzlich mit der Frage, inwieweit nationalstaatliche Kernkompetenzen auf die EU-Ebene verlagert werden
können. Die Themen "Schrittweise Entstaatlichung durch Übertragung von Kernkompetenzen" und "Identität
des deutschen Verfassungsstaates und sekundäres Unionsrecht" sind auf der Verhandlungsgliederung des
BVerfGs ausdrücklich genannt. Es geht u.a. darum, ob europäisches Recht, das von den EU-Regierungen
verabschiedet wird, ohne die Möglichkeit der Änderung durch die deutschen Verfassungsorgane in deutsches
Recht umgesetzt wird. So geschieht es bei beispielsweise EU-Richtlinien. Es geht um die in ihren Auswirkungen
gravierende juristische Frage, ob die EU-weite Zusammenarbeit an der „dritten Säule“ Justiz und Inneres
schrittweise zu einem europäischen Superstaat geführt habe, ohne dass die nationalen Parlamente so etwas
beschlossen haben, sodass durch den schleichenden Entstaatlichungsprozess insoweit ein Verstoß gegen das
Rechtsstaats- und das Demokratieprinzip vorliege: Sind durch den Umfang der schleichend übertragenen
Aufgaben und Befugnisse auf die Zentralbehörde in Brüssel, durch die Einräumung von Kompetenz-Kompetenzen auf die EU, die Kontroll- und Entscheidungszuständigkeiten des Deutschen Bundestages so weit ausgehöhlt
worden, dass ein Verstoß gegen das über Art. 79 III GG mit einer „Ewigkeitsgarantie“ versehene, aus Art. 20 I 1
GG – „Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ - abgeleitete Demokratieprinzip
vorliegt? Rechtsstaats- und Demokratieprinzip des GG verpflichten den Bundesgesetzgeber, wesentliche
Entscheidungen selbst zu treffen und nicht der jeweiligen Verwaltung - sei es der der Länder, des Bundes oder
der EU – zu überlassen. Insoweit bestehe ein unbedingt zu beachtender Parlamentsvorbehalt! Ist möglicherweise
durch eine schleichende schrittweise europafreundliche Aufweichung des Grundgesetzes dagegen verstoßen
worden, sodass wir uns nach dem Willen der »Richterkönige« aus Karlsruhe in weiten Teilen aus der EU
verabschieden müssten, wie es der Bundesjustizministerin schwant? Hauptargument: Der Vertrag übertrage der
EU zuviel Kompetenz, Europa werde zum Staat. Soviel Macht dürfe der Bundestag nicht abgeben. Darüber
müsse das Volk abstimmen.
Den Richtern des Bundesverfassungsgerichts stieß aktuell insbesondere sauer auf, dass seit August 04
Deutschland auf Anforderung anderer Mitgliedstaaten eigene Staatsbürger wegen Taten ausliefern muss, die in
der Bundesrepublik gar nicht strafbar waren oder strafbar sind. Damit wird gegen das Grundgesetz verstoßen
und die Garantiefunktion unseres Strafrechts unterlaufen, die u.a. besagt, dass ein Deutscher nur dann bestraft
werden kann, wenn sein Verhalten unter einer deutschen Strafnorm subsumiert werden kann: Verhalten, das
keiner deutschen Strafnorm unterfällt, hat damit straffrei zu bleiben! Der Syrer mit inzwischen deutschem Pass
soll in Spanien wegen der Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung angeklagt werden, eine
in Spanien verfolgte Straftat, die bei uns in dem Zeitraum, der von dem spanischen Richter verfolgt wird, aber
gegen keine bundesdeutsche Strafnorm verstieß! „Besonders problematisch erscheint solche Rechtshilfe, wenn
es um Dinge geht, die der Verdächtige gar nicht in dem Land getan hat, in das er ausgeliefert werden soll. Wenn
es möglich ist, so die Verteidiger Darkazanlis, dass ein Deutscher wegen einer in Deutschland begangenen und
in Deutschland rechtmäßigen Handlung ohne weitere Prüfung in die Fremde ausgeliefert wird, um dort bestraft
zu werden, verliere das Strafrecht seinen Sinn. Denn kein Bürger könne wissen, ob das, was er guten Gewissens
tut, nicht irgendwo in einem der 25 EU-Mitgliedsländer strafbar ist. Auch Strafrechtswissenschaftler wie der
Münchner Ordinarius Bernd Schünemann kritisieren, dass das ’Prinzip der gegenseitigen Anerkennung’, das
dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegt, zu ’einer europaweiten Exekutierbarkeit’ der jeweils schärfsten
Strafrechtsnorm führt. Noch gibt es eklatante Unterschiede. So ist beispielsweise das Verwenden einer
manipulierten Fotokopie in Deutschland keine Urkundenfälschung, in Großbritannien schon. Und wir hatten
zuvor schon das Beispiel des Bundesverfassungsrichters da Fabio anlässlich der Verhandlung um den
europäischen Haftbefehl gehört, dass es in den Niederlanden als vollendete Vergewaltigung gelte, wenn ein
Mann einer Frau im Karneval einen Zungenkuss aufnötige. ...
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Die Verfolgung der sogenannten Auschwitz-Lüge, des Leugnens des Holocaust, ist eine deutsche Spezialität.
Gerade in heikelsten Fragen der Moral und der nationalen Kultur verbietet sich das Barbieren über den
europäischen Löffel: Sterbehilfe gilt in manchen Ländern als Totschlag, in anderen ist es Mildtätigkeit.
Abtreibung ist in Teilen Europas ein Tötungsdelikt, in anderen nicht. ’Die Vorstellung, dass die Niederlande
künftig ihre Abtreibungsärzte nach Madrid ausliefern würden, hat etwas Beängstigendes’ wendet der DarkazanliAnwalt ein. ... Nicht nur Strafrechtler sehen die staatliche Hoheit bei der Entscheidung über Gut und Böse,
Schuld und Strafe, über Freiheit und Eigentum der Bürger als Kernbestand nationaler Souveränität. Wenn ein
Staat seine Bürger nicht mehr vor der Verfolgung durch andere Mächte bewahrt, hat die Staatsbürgerschaft ihre
zentrale Funktion verloren: als steuerpflichtige Mitgliedschaft in einer schutzgewährenden Vereinigung. Die
klassische Staatsidee des durch seine pure Macht die schwachen Menschen schützenden Leviathan ist dann
ebenso wenig aufrechtzuerhalten wie das daraus sich rechtfertigende staatliche Gewaltmonopol“ (SPIEGEL
14.03.05).
Die Position der Bundesregierung lautet: Der europäische Haftbefehl beruhe auf zwingendem weil vorrangigem
europäischen Recht und könne deswegen vom BVerfG nicht überprüft werden. Angesichts des Standes der
europäischen Integration sei der Haftbefehl "nicht am Maßstab des deutschen Grundgesetzes zu prüfen". Es gebe
keinen nationalen Verfassungsvorbehalt.
Das aber sehen die Bundesverfassungsrichter möglicherweise völlig anders!
Wir haben schon gehört, dass das BVerfG sich nur solange zurückzunehmen gewillt gewesen war, wie die
europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des EuGH nicht unter den
Grundrechtsstandard absinke, den das GG für die im Hoheitsbereich der Bundesrepublik lebenden Menschen
festgelegt hat. EU-Recht gelte nur, "solange" die deutschen Grundrechte gewahrt bleiben. Sollte das nicht mehr
der Fall sein, und nur dann, werde das BVerfG im Rahmen seiner von ihm so gesehenen weiterhin
fortbestehenden, aber nicht mehr ausgeübten Grundrechtsgerichtsbarkeit wieder tätig werden, wenn der EuGH
den vom BVerfG vorgezeichneten Grundrechtsstandard verlassen sollte, den der zuständige Senat in seiner
Entscheidung festgelegt habe. Mit dem Fall Darkazanli sahen die Richter des BVerfGs den Rubikon als
möglicherweise überschritten an.
„Die Europäische Union wurde zum Binnenmarkt. Doch zu einem Raum des Rechts wurde Europa
nicht. Als EU-Richtlinien gegen Grundrechte verstießen, begann der Dauerclinch zwischen den
Verfassungsrichtern aus Karlsruhe und ihren EU-Kollegen in Luxemburg. Erst 1986 urteilten dann
die Deutschen: Solange die EU und ihre Gerichte die Grundrechte generell wahren, verzichte
Karlsruhe auf das letzte Wort.
Doch die europäische Integration erschloß sich immer neue Bereiche. Das Maastricht-Urteil ist
durchwoben vom Unbehagen gegen einen Überstaat Europa. Beim Strafrecht, also jenem
Rechtsgebiet, das die Freiheit der Bürger am weitesten beschneidet, könnte die Zeit des Zuschauens
nun wieder vorbei sein. Vor allem der Strafrechtler im Zweiten Senat, Vizepräsident Hassemer, hat
im Vorfeld bereits deutlich gemacht: Eine gerichtliche Vergewisserung sei notwendig, "wo die
unverzichtbaren Bestandteile der nationalen Rechtsordnungen liegen".
Der Europäische Haftbefehl zum Beispiel höhlt gleich mehrere rechtsstaatliche Grundsätze aus.
"Keine Strafe ohne Gesetz" etwa, diese alte Säule des Strafrechts wird brüchig, wie gerade der Fall
Darkazanli zeigt. Die Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung war in den
Jahren, die in seinem Fall eine Rolle spielen, in Deutschland noch nicht strafbar. Jedoch ist
"Terrorismus" im Auslieferungskatalog des EU-Rahmenbeschlusses zum Haftbefehl genannt, wie
andere schwammige Begriffe, die eher gesellschaftliche Phänomene als klare Straftatbestände
beschreiben.
Ohnehin sind die gemeinsam nach Straftätern jagenden Europäer oft uneins, was ihnen denn als
strafwürdig erscheint. So kann in Deutschland als Betrug gelten, was in anderen Ländern als cleveres
Geschäftemachen durchgeht. Sterbehilfe wird in Holland als mildtätig gewertet, andernorts aber als
Totschlag. Kiffen ist in Amsterdam erlaubt, Cannabisbesitz in München verboten.
...
(DIE WELT 10.04.05)
1.3.2.2.8 Beispiele für den Kampf um Gleichberechtigung in einigen anderen Ländern
Frauen-Diskriminierungsverbote gibt es - auch ohne Grundgesetz - ebenfalls in anderen Staaten. Trotzdem
werden Frauen immer wieder diskriminiert. Und nicht immer helfen dann die Gerichte wie im nachfolgenden
Fall:
149
"Benachteiligt: Frau erhält zehn Millionen
dpa Los Angeles - Ein ungewöhnliches Urteil fällte ein Gericht in Los Angeles: Der USMineralölkonzern Texaco muß einer Angestellten zehn Millionen Mark Schadenersatz zahlen. Das
ist die höchste Summe, die jemals in einem Diskriminierungsprozess zugesprochen wurde. Janella
Martin (48) hatte geklagt, weil sie zweimal wegen ihres Geschlechts bei einer Beförderung
übergangen worden war." (HH A 27.09.91)
Beispiele
für den
Kampf
um
Gleichbe
rechtigu
ng in
einigen
anderen
Ländern
Da lacht das Herz des us-amerikanischen Anwalts, denn im Gegensatz zu unserem Rechtssystem
erhalten in den USA Rechtsanwälte üblicherweise ein Drittel der ausgeurteilten Summe, was im
Falle der Verurteilung von Tabakwarenkonzernen wegen verharmlosender, bewusst falscher, die
Gefahren des Rauchens negierender35, verführender Werbung zu Anwaltshonoraren von bis zu 5
Milliarden(!) Dollar geführt hatte und von einem Teil selbst der US-amerikanischen Öffentlichkeit
nicht mehr hingenommen wurde.
Die hauptsächlich mit amerikanischen Rechtsanwälten geführten Verhandlungen wegen der
Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern zogen sich zuletzt u.a. auch wegen dieser von deutscher
Seite befürchteten „Gebührenschneiderei“ in die Länge.
Nur durch solche schmerzenden Urteile lernen Machos die Grundprinzipien der Gleichberechtigung - oder das
geschicktere Abfassen von Ablehnungen.
Eine uns eher zum Schmunzeln reizende, aber auf einem für konservativ eingestellte Japaner sehr ernsten weil
religiösen Hintergrund basierende Meldung zu dem Problemkreis der noch längst nicht überall durchgesetzten
Gleichberechtigung der Geschlechter:
"Mädchen im Sumo-Ring Fall für Regierung
Tokio (dpa). Die Siegesserie einer zehnjährigen japanischen Schülerin als Sumo-Ringerin hat jetzt
die Regierung in Tokio auf den Plan gerufen. Nach japanischen Presseberichten vom Samstag läßt
das Büro von Premierminister Toshiki Kaifu untersuchen, ob der Ausschluß des Mädchens von
einem nationalen Nachwuchsturnier eine unzulässige Diskriminierung ist. Sumo-Ringen ist ein
uraltes japanisches Ritual, das bislang allein von Männern betrieben wurde. Die Kämpfer, die ein
Gewicht von bis zu 150 Kilogramm erreichen, versuchen, sich gegenseitig aus dem Ring zu stoßen
oder sich gegenseitig zu Fall zu bringen. Die Frauenbeauftragte der Regierung, Mitsuko Horiuchi,
will klären, ob der kleinen Ringerin der Auftritt im Kokugikan-Sumo-Stadion von Tokio aus
religiösen Gründen verwehrt wird oder ob es um eine Benachteiligung der Frau geht." (Allgäuer
Zeitung 15.07.91)
Noch eine Anmerkung zum Sumo-Ringen:
"’Der Klops aus Hawaii’. Weil der amerikanische Sumo-Ringer Salevaa Atisanoe mit 262 Kilo
Kampfgewicht seine Gegner serienweise niederwalzt und nach dem Titel eines ’yokozuna’
(Großmeisters) strebt, wofür in einer Zweierserie je zwanzig Siege in Folge erforderlich sind, tobt in
Japan ein Kulturkampf. Die Traditionalisten wollen ihn laut einiger Drohbriefe am liebsten ’zu Sushi
schneiden’ denn mit ihm ist ein ’Keto’, ’ein ausländischer Teufel’ - schlimmer noch: ein
amerikanischer - in das Zentrum der japanischen Seele getrampelt. Die ’Yuppies’ dagegen, die
ohnehin amerikanischen Moden hinterherlaufen, unterstützen den Ami-Eindringling. An sich hatte
’Konishiki’ (’Kleiner Brokat’), wie sich der Amerikaner in Japan nennt, sein Ziel eigentlich schon
erreicht, als er bei seinem letzten Kampf nach 39 Siegen auch dieses Mal seinen Gegner umwarf.
Doch der Schiedsrichter, gekleidet wie ein Shinto-Priester, machte aus Konishikis Sieg ein
Unentschieden, damit die ausländische Bulette nicht sozusagen Burger King wird. Schließlich
erwartet ihn als Großmeister eine besondere traditionelle Ehre: Die jüngeren Sumo-Ringer müssen
ihm als Yokozuna nach jedem Stuhlgang den Hintern abwischen.“ (STERN 21.05.92)
Letzteres Beispiel für ein durch Leistung erworbenes ehemals anerkanntes Recht, das sich auf Grund
35
Die Zigarettenindustrie hatte jahrelang dem Tabak heimlich suchtsteigernde (u.a. Aceton) und letztlich krebsauslösende
Stoffe (zur Versüßung des Rauches hinzugegebener Zucker und hinzugegebene Schokolade verbrennen unter Freisetzung
von u.a. krebsauslösendem Acetaldehyd) beigemischt und diese sucht- und krankheitsverursachenden Praktiken vehement
bestritten.
150
seines nicht mehr zeitgemäßen, antiquierten Ursprungs heutzutage in ein Vor-Recht verwandelt hat,
hinter dem die Mühsal steht, wenn man sich so viele siegnotwendige Kilo angefressen hat, zum
Abputzen um den unförmig gewordenen Leib rumlangen zu müssen: Der Leib wird dicker, die Arme
wachsen aber nicht mit. Da kann man bei fünf Zentnern schlecht rumfassen. Aber man muss ja nicht
jedes Vorrecht ausnutzen.
Bedenkenswert ist in diesem Zusammenhang das kluge Wort von Marie von Ebner-Eschenbach:
„Der größte Feind des Rechts ist das Vorrecht.“
Vielleicht hängt dieses Recht, das der Zeitungsmeldung zu Folge noch nicht als antiquiertes Vorrecht
empfunden wird, auch mit dem mythisch-religiösen Ursprung des Sumo-Ringens zusammen: Zwei
Götter, die sich um das japanische Volk stritten, fochten ihren jeweils erhobenen Anspruch in einem
Sumo-Ringkampf aus. Wegen dieses mythischen Ursprungs dieses Sports, der auch heutzutage noch
von den traditionsbewussten Japanern als religiöser Ursprung empfunden wird, wollte die damalige
Frauenbeauftragte der Regierung klären, ob der kleinen Ringerin der Auftritt im Kokugikan-SumoStadion von Tokio aus religiösen Gründen verwehrt wird oder ob es um eine Benachteiligung der
Frau gehe. Wegen dieses mythischen Ursprungs ihres Sports - und seiner wenigen sehr einfachen,
klaren Regeln - ist das Sumo-Ringen noch heute so populär in Japan. Und die Funktionäre des
Sumo-Verbandes sind so traditionsverhaftet, dass sie der Bürgermeisterin einer japanischen
Millionenstadt nicht erlaubten, den Ring zu betreten und dort dem Sieger den Pokal zu überreichen,
weil sie eine Frau ist!
Und noch eine Anmerkung zu dem sehr fülligen Ringer: Er wird es als Wiedergutmachung für alles
in Japan vormals erlittenes Wettkampf-Unrecht empfunden haben, dass - nach seiner einige Zeit
zuvor vollzogenen Einbürgerung - er es als nunmehriger Großmeister Akebond (in Vertretung für
einen erkrankten japanisch gebürtigen Großmeister) sein durfte, dem die ganze Welt zur Eröffnung
der letzten Winter-Olympiade in Japan als schwerstgewichtigem Sumo-Ringer im
Eröffnungsprogramm bei den rituellen Bewegungen der Reinigungszeremonie der Sumo-Ringer
zuschauen durfte. Nun kämpft er als Yokozuna (Großmeister) Musashimaru.
Nach dem Fall der japanischen Ringerin nun ein Beispiel für das andere Extrem im Geschlechterkampf:
Unsinnig fortschrittlich in puncto Gleichberechtigung scheinen manche Australier zu sein, denn
"Mann wurde ‘Miß'
ap Sydney - Der 24jährige Surfer Damien Taylor wurde in Queensland zur `Miß Wintersonne'
gekürt. Neben Aussehen zählten Persönlichkeit und Allgemeinwissen. Nun will der Kämpfer für die
Gleichberechtigung (1,82 Meter, 77-66-88) den Titel `Miß Australia' gewinnen." (HH A 17.06.93)
Ob da unter den Juroren ungewöhnlicherweise nur Damen saßen? Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet,
wesentlich Gleiches gleich, aber wesentlich Ungleiches seiner Eigenart entsprechend ungleich zu behandeln.
Und es gibt nun einmal den kleinen Unterschied!
Da scheint in dem vorstehenden Fall eine sachfremde Nivellierung vorgenommen worden zu sein: Wozu gibt es
neben den jährlichen Wahlen der schönsten Frau der Welt die Wahl zum Mister Universum? Man lässt bei
olympischen Wettkämpfen ja auch nicht Damen gegen Herren starten, denn das wäre genau so missverstandene
Gleichberechtigung.
Es gibt, wie gesagt, nun einmal den kleinen Unterschied – auch wenn manche Frauen ihn nicht gelten lassen
wollen:
„Frauen auf die Pissoirs!
Der norwegische Ombudsmann für Gleichberechtigung hat die Klage einer Frau gegen die Gebühren
für die Toilettenbenutzung abgewiesen. Die Zeitung "Dagbladet" berichtete am Dienstag, eine
Studentin habe geklagt, dass sie für die Benutzung der Toilette im Zentrum von Trondheim 65 Cent
zahlen muss, Männer aber umsonst ans Pinkelbecken treten dürften.
Frauen und Männer können gleichermaßen wählen
Die Antwort verblüffte nicht nur die Klägerin: Der Hersteller der Unisex-Toilette stellte klar, dass
auch Frauen die Urinale benutzen dürften. Dazu müssten sie nur in die Hocke gehen. Es gebe in der
Stadt Trondheim nachweislich Frauen, die das auch täten. Der Klageausschuss beim Ombudsmann zusammengesetzt aus vier Frauen und zwei Männer - wies daher die Eingabe der Studentin ab:
’Frauen und Männer können gleichermaßen wählen, ob sie für ihren Toilettenbesuch zahlen wollen
151
oder nicht.’"
mdr.de boulevard 29.04.2003 14:02 Uhr
1.3.3 Art. 3 III GG und Asylrecht
Art. 3 III
GG und
Asylrech
t
Weil dem Staat eine sachfremde Benachteiligung von einzelnen Bevölkerungsgruppen aus einem der in Art. 3
III GG angeführten Verbotsgründe untersagt ist, konnte keine Regierung der (ehemaligen Rumpf-)Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung unter der vor seiner Neufassung in keiner Weise einschränkend formulierten
Geltung des
Art. 16 II 2 GG
„Politisch Verfolgte genießen Asylrecht."
bestimmen, dass nur deutschstämmige Asylanten aus z.B. Osteuropa in unserem Staat aufgenommen werden
dürften, weil die Mütter und Väter des Grundgesetzes auf Grund der historischen Erfahrungen der NS-Zeit den
Wortlaut des Art. 16 II 2 GG bewusst umfassend weit gefasst hatten und es bis dahin mangels der für eine in
diesem Punkte an sich zulässigen Verfassungsänderung nicht zu der hierfür erforderlichen Zweidrittelmehrheit
gekommen war. Nach der in dem neuen Artikel 16 a GG vorgenommenen einschränkenden Neuregelung des
Asylrechts - des einzigen Grundrechts, das schon begrifflich keinem Deutschen zustehen kann - äußerten
Kritiker ihre Meinung dahingehend: "Mit dieser Neuregelung ist das Asylrecht trotz seiner weiterhin
bestehenden Nennung in Art. 16 a I GG faktisch abgeschafft, denn Asyl kann jetzt nur noch erhalten, wer mit
einem Drachen über die Alpen kommt, mit einem Fallschirm über der Lüneburger Heide abspringt oder
schwimmend von seinem Land kommend an der Küste angespült wird." Und die Süddeutsche Zeitung
kommentierte:
"Der bisherige Artikel 16 Absatz 2 war ein kompromißloses Grundrecht. Der Asylkompromiß nimmt
dem Asylgrundrecht nicht nur diese Kompromißlosigkeit, sondern damit auch die
Grundrechtsqualität. Wenn beschwichtigend von einer bloßen Beschränkung dieses Grundrechts die
Rede ist, so führt dies in die Irre. Andere Grundrechte lassen sich einschränken, ohne daß dieses den
Grundrechtscharakter verändert: Wird etwa das Grundrecht auf Freizügigkeit beschränkt, so bleibt
das Grundrecht als solches prinzipiell erhalten; Menschenwürde, Freiheit, körperliche Unversehrtheit
werden nicht berührt - nur die Bewegungsfreiheit begrenzt. Beim Asylgrundrecht ist dies anders:
Wird einem politisch Verfolgten, wie das künftig der Fall sein wird, der Aufenthalt in Deutschland
von vornherein verweigert, dann handelt es sich für ihn nicht um eine bloße Beschränkung, sondern
um eine Vernichtung seines Asylrechts - mit potentiellen Folgen für Leib und Leben. Das künftige
Asylrecht nimmt dies in Kauf. Die großen Parteien sollten dies deutlich sagen: Das Asyl steht künftig
nur noch aus Gründen der Tradition im Grundrechtsteil der Verfassung. Es wird zu kleiner Münze
geschlagen." (SZ 22.01.93)
1995 hat sowohl die damalige Präsidentin des BVerfGs wie auch die (katholische) Deutsche Bischofskonferenz
gegen die Neufassung des Asylrechts Front gemacht. Das hat aber gegen u.a. die Überfremdungsängste
rechtskonservativer Kreise und Parteien und die Kassenlage der Bundesländer, die für den Unterhalt der
Asylsuchenden aufkommen müssen, nichts ausrichten können. Eine Lockerung der einschränkenden
Neuregelung ist erst zu erwarten, wenn sich selbst bis zu den Stammtischen die Erkenntnis herumgesprochen
haben wird, dass Deutschland nach Berechnungen der UNO für alle wichtigen Industriestaaten wegen der
Vergreisung seiner Bevölkerung und der mit Platz 185 von 191 UN-Staaten zu geringen Geburtenrate in einigen
Jahren eine jährliche Quote von rund 500.000 Ausländern als Zuwanderungsgewinn benötigt, um nur den
jetzigen Stand seiner uns alle absichernden Sozialsysteme bewahren zu können!
Eine von der SPD-geführten Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission unter der Leitung der CDUPolitikerin Süssmuth erarbeitete Vorschläge zur Änderung des Asylrechts. Die auf Grund dieser Vorlage
erarbeitete Gesetzesänderung wurde im Bundestag mit rosa-grüner Mehrheit beschlossen und in einem Kraftakt
der SPD-geführten Länder auch durch den Bundesrat gepaukt, aber die CDU-geführten Länder kündigten
dagegen eine Klage vor dem BVerfG an, falls der Bundespräsident das Gesetz unterschreiben werde. So sollte
auf unser höchstes Staatsorgan politischer Druck ausgeübt werden. Der Bundespräsident zögert, prüft jedenfalls
152
(ungewöhnlich) lange und bedächtig, voraussichtlich bis zu dem ein halbes Jahr später anstehenden Wahltermin.
Bei einem Wahlsieg der CDU/CSU wird eine neue Regierungskoalition das Gesetz in ihrem Sinne ändern - und
die angekündigte Klage hat sich dann durch Zeitablauf erledigt.
1.3.4 »Wesensgehaltssperre« bei Grundrechtseinschränkungen und Asylrecht
Bezüglich der die Existenz des Asylrechts sehr stark einschränkenden bis faktisch fast abschaffenden
Grundrechtsänderung könnte ein Verstoß gegen die »Wesensgehaltssperre« des
Art. 19 II GG
„In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt eingeschränkt werden."
"Wesensg
ehaltssper
re" bei
GREinschrän
kungen
vorliegen. Dieser Begriff besagt, dass nach der Interpretation des BVerfGs jedes Grundrecht aus einem seinen
Wesensgehalt ausmachenden Kernbereich und einem unterschiedlich weit interpretierbaren Randbereich
bestehe. Ein Grundrecht dürfe bei Vorliegen hinreichender Gründe nur in seinen den Kernbereich wie eine Hülle
umgebenden Randbereichen eingeschränkt werden. Der Kernbereich hingegen, der seinen Wesensgehalt
ausmache, müsse immer unangetastet erhalten bleiben, damit der durch dieses Grundrecht angestrebte
Grundrechtsschutz erhalten bleibe und das Grundrecht nicht faktisch leer laufe. Selbst von kollidierenden
anderen Grundrechten dürfe ein in Frage stehendes Grundrecht nicht in seinem – im Konfliktfall letztlich vom
BVerfG zu interpretierenden und damit für alle unter der Rechtsordnung des GG Lebenden rechtsverbindlich
festzulegenden - Wesensgehalt verletzt, sondern nur irgendwo in seinem Randbereich einschränkend tangiert
werden: Grundrechtsdelle ja, substanzieller Grundrechtsschaden, Grundrechtstotalschaden gar, nein!
„Keine Witze mehr über Lisa Loch
Forderung nach Berufsverbot für Raab unerfüllt
Die Scherze über die 17-jährige Lisa Loch kommen TV-Star Stefan Raab teuer zu stehen. Er musste
wegen Beleidigung eine "stattliche Summe" an eine gemeinnützige Einrichtung in München
überweisen. Im Gegenzug sei das Ermittlungsverfahren gegen den Entertainer eingestellt worden,
teilte die Staatsanwaltschaft München I mit. Die genaue Höhe der Summe wollte die Behörde nicht
nennen.
Raab hatte sich in seiner Sendung "TV total" mehrfach über den Namen der Jugendlichen lustig
gemacht hatte. So zeigte er zum Beispiel am 8. Mai ein Plakat, auf dem ein Paar Sex hatte und warb
damit für die "Lisa Loch Partei". Oberstaatsanwalt August Stern sagte: "Es war ganz eindeutig eine
Beleidigung. Das hat mit Satire nichts mehr zu tun." Raab könne sich auch nicht auf die
grundgesetzliche Freiheit der Kunst berufen, da der Schutz der Menschenwürde schwerer wiege.
Der Bescheid der Staatsanwaltschaft wurde Raab und seinen Anwälten bereits Mitte Dezember
zugestellt. Die Zahlung an die nicht näher benannte gemeinnützige Einrichtung erfolgte am Dienstag.
Damit war dann das Erfahren offiziell eingestellt. Oberstaatsanwalt Stern begründete seine
Entscheidung mit dem nicht so großen öffentlichen Interesse an einer Strafverfolgung.
Der Forderung des Anwaltes der Schülerin, Frank Roeser, Raab ganz vom Bildschirm zu verbannen
und mit einem Berufsverbot zu belegen, folgte die Staatsanwaltschaft erwartungsgemäß nicht. Dies
hatte nach Aussage von Stern nie Aussicht auf Erfolg. Anwalt Frank Roeser hatte argumentiert, Raab
missbrauche seine Stellung als Moderator für Straftaten wie Beleidigung, gefährliche
Körperverletzung, Verleumdung und Nötigung.“
(N24.de 10. Januar 2003)
Das Strafrechtliche ist aber nur die eine Seite der Medaille. Zivilrechtlich musste Raab nach
mehreren Instanzen für seine bekannt geschmacklosen bis beleidigenden und ehrverletzenden Späße
auf Kosten anderer in dieser Sache (statt der zunächst geforderten 300.000 € schlussendlich) 70.000
€ Schmerzensgeld zahlen.
Das Grundrecht der Menschenwürde der Diffamierten aus Art. 1 GG steht gegen die Grundrechte
Freiheit der Kunst – wenn man eine Raab-Sendung juristisch so einordnen will – aus Art. 5 III GG
und die Berufsfreiheit aus Art. 12 I GG des Satirikers. Letztlich müssen sich Freiheit der Kunst und
Berufsfreiheit dem obersten Wert unserer Verfassung, der Menschenwürde, unterordnen.
Aber das anwaltlich geforderte Berufsverbot schießt weit über das Ziel des Schutzes der
Menschenwürde hinaus. Und das muss ein Anwalt wissen – und trotzdem forderte er es (angeblich).
Das ist nur als juristische Schaumschlägerei zu werten, mit der wohl versucht werden sollte, den
153
Richter unter Druck zu setzen.
Bezüglich der Einschränkung des Asylrechts durch die neugeschaffene „Drittstaaten-Klausel“, die nach der
Grundgesetzänderung die Abschiebung eines Asylsuchenden in das Drittland erlaubt, das er – ohne dort
Verfolgung zu erleiden, wenn er dort geblieben wäre - durchquert hat, um auf dem größten Arbeitsmarkt der EU
mit einem der höchsten Sozialhilfesätze innerhalb der Europäischen Gemeinschaft eine Überlebens- und neue
Existenzgrundlage zu finden, müsste aber erst einmal ein Betroffener vor dem BVerfG gegen die
Neufassungsregelung klagen. Doch wie sollte er das vom Ausland aus tun?
Kritische Verwaltungsrichter kritisieren außerdem, dass durch die Asylgesetzgebung mit der ohne vorheriges
Gerichtsverfahren vorgesehenen Abschiebung der Asylbegehrenden in ein sicheres Drittland, aus dem sie in die
Bundesrepublik gekommen sind, der Rechtsschutz der "Rechtsweg-Garantie" des Art. 19 IV 1 GG
"Rechtsw
egGarantie"
des Art.
19 IV 1
GG
Art. 19 IV 1 GG
„Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg
offen."
stillschweigend unterlaufen werde. Wer Art. 19 IV 1 GG ändern wolle, der müsse das auch durch eine
Verfassungsänderung expressis verbis deutlich zum Ausdruck bringen.
1995 beschwerte sich die damalige Präsidentin des BVerfGs öffentlich, dass das BVerfG mit Eilanträgen gegen
drohende Abschiebungen überschüttet werde und auch an Wochenenden tagen müsse, weil der
Verfassungsgesetzgeber den Art. 16 a GG mit zu heißer Nadel genäht habe und die unteren Gerichte den
neugeschaffenen Asylrechtsartikel nicht verfassungskonform weit genug auslegten. Das BVerfG verkommt so
zur unnötigerweise im großen Stil tätig werden müssenden Reparaturinstanz für falsche unterinstanzliche
Entscheidungen einfacher Verwaltungsgerichte.
1.3.5 Auslegung von Grundrechtsbestimmungen am Beispiel von Art. 6 GG Ehe und
Familie und Art. 16 GG Asylrecht
So, wie zuvor am Beispiel der Gleichberechtigungsproblematik von Frau und Mann aufgezeigt, regelt das GG
direkt oder indirekt viele Bereiche der in seinem Geltungsbereich Lebenden. Aber die vom Gesetzgeber
getroffenen Regelungen sind oder scheinen nicht immer zweifelsfrei, weder im Grundgesetz, noch in anderen
Gesetzen. Dann muss »ausgelegt« werden, um den mutmaßlichen Sinn einer gesetzlichen Regelung und deren
zweifelhafte Anwendungsmöglichkeit auf den zu entscheidenden Fall auszuloten. Das soll an zwei Fällen zu dem
der staatlichen Ordnung in Art. 6 GG als besondere Verpflichtung auferlegten Schutz von Ehe und Familie auch wenn sie zwischen einem 86-jährigen Deutschen und einer 19-jährigen Frau aus Hongkong in Freiburg
geschlossen wurde (13.01.00) - aufgezeigt werden.
Zunächst der Wortlaut der fallerheblichen Grundgesetzbestimmung:
"Art. 6 GG
(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen
obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von
der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus
anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.
(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.
(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre
leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den
ehelichen Kindern."
Eine klar gefasste, in ihrer Handhabung einfach erscheinende Verfassungsbestimmung. Aber interne
Behördenrichtlinien versuchen oftmals, den für jeden juristisch Unverbildeten erkennbaren Sinn einer
gesetzlichen Bestimmung zu unterlaufen, um Geld zu sparen. Hinzu kann dann auch noch Ignoranz kommen:
154
Auslegun
g von
Grundrec
htsbestim
mungen
am
Beispiel
von Art.
6 GG
Ehe und
Familie
und Art.
16 GG
Asylrecht
"`Misere selbst verschuldet'
Nach der Hochzeit: Bezirksamt lehnt Dringlichkeitsschein für größere Wohnung ab
Von BIRGIT MÜLLER
Normalerweise gibt's zur Hochzeit Glückwünsche und Geschenke. Beim Bezirksamt Mitte ist das
anders. Da gilt die Eheschließung zweier Menschen als `selbstverschuldete Misere'. Und aus diesem
Grund verweigert das Bezirksamt Peter Rieck (48), der vor anderthalb Jahren eine Frau mit vier
Kindern geheiratet hat und in einer Ein-Zimmer-Wohnung lebt, einen Dringlichkeitsschein für eine
größere Wohnung. ...
Statt eines Dringlichkeitsscheines bekam Rieck einen Brief vom Bezirksamt. Tenor: Nur der
bekommt einen Dringlichkeitsschein, der seine Lage nicht selbst verursacht hat. `Nach Meinung des
Einwohneramtes haben Sie Ihre jetzige Wohnmisere eindeutig selbst zu verantworten', stand in dem
Schreiben. Die letzten drei Wörter waren gefettet und unterstrichen.
`Sie haben eine für sich ausreichend große Wohnung zur Verfügung. Sie haben dann Ihre Familie
nach Hamburg geholt, obwohl sie hätten erkennen müssen, daß Ihre gegenwärtigen
Wohnverhältnisse für nunmehr sechs Personen nicht ausreichend sein werden.' Dann wird noch
einmal belehrt: `Welche Beweggründe Sie auch immer zu diesem Schritt veranlaßt haben, Sie hätten
sich über seine Folgen im klaren sein müssen.' ...
Hilfe bekam Rieck von der CDU-Bürgerschaftsabgeordneten Birgit Schnieber-Jastram. Sie war
empört: `Ist es übliche Praxis, eine Eheschließung als Eigenverschulden zu bezeichnen und eine
notwendige Unterstützung bei der Wohnungssuche mit diesem Hinweis zu verweigern?' wollte sie
vom Senat wissen. Der antwortete knapp mit nein.
Geändert hat sich trotzdem nichts. ..." (HH A)
So ein Fall von Behördenbockbeinigkeit sei ein Ausnahmefall? Da hätten Sie regelmäßig die Sendung "Wie
bitte?" anschauen sollen! Da verging einem das Lachen - jedenfalls den Betroffenen; aber auch denjenigen, die
sich in die ohnmächtige Lage der Betroffenen hineinversetzen konnten. Und ich halte jede Wette, dass RTL der
Stoff für diese Alptraum-Sendung nie ausgegangen wäre! Aber der »geistige Dünnschiss« der »Spaßunkultursendungen«36 mit Kreti und Pleti, die als Akteure solcher schwachsinnigen Belanglosigkeiten von denjenigen, denen
laut Jesu’ in der Bergpredigt geäußerter Verheißung wegen ihrer geistigen Armut das Himmelreich gehören
solle, zu Semi-Prominenten hochgejubelt werden, die sie meist nicht einmal sind, denn ich kenne sie meist nicht,
und die so als gut honorierte »Fernsehaffen« allwöchentlich das Karl-Kraus-Wort: „Wenn die Sonne der Kultur
niedrig steht, werfen selbst Zwerge Schatten“ für ein Millionenpublikum erfahrbar personifizieren, die trotz ihres
von denselben Zuschauern in einer weiteren Sendung verliehenen Status’ als „nervigste Deutsche“
unerträglicherweise immer wieder zu bestimmten Sendungen herangezogen werden, über die dann auch noch am
nächsten Tag in schreiend großen Lettern (z.B. zur Wahl des deutschen Kurienkardinals Joseph Ratzinger zum
Papst Benedikt XVI. mit den drei Wörtern: „Wir sind Papst“) in genauso unerträglichen Zeitungen genauso
Unerträgliches für die berichtet wird, bei denen sich das einzige, was sich in ihrem Kopf länger als zehn Minuten
zu halten vermag, eine Erkältung ist, diese geistige Verarmung in unserer momentan spaßgegeißelten
Gesellschaft hat wohl zu der Einstellung der wesentlich gehaltvolleren Sendung "Wie bitte?" geführt. („Wir
amüsieren uns zu Tode“ hieß ein alarmierender Buchtitel, der auf die Gefahr einer allseits um sich greifenden
geistigen Verarmung aufmerksam machen wollte.)
Weitere illustrierende Intermezzi für nicht nachvollziehbare Behördenbockbeinigkeit gefällig?
"Der Fährmann und der Fiskus
joc/kg Hamburg - Der Fährmann versteht die Welt nicht mehr: Karl-Heinz Büchel (`Käpt`n Kuddel')
wurden 900 Liter Diesel aus dem Tank der `Spieker Möwe' gestohlen. Ein Verlust von 360 Mark.
Doch es kommt noch schlimmer: jetzt bittet ihn auch noch der Fiskus zur Kasse. Büchel, dessen
Fähre von März bis November zwischen Zollenspieker und Hoopte verkehrt, soll Steuern nachzahlen
- 558 Mark. Als Gewerbetreibender kauft Büchel Diesel steuerbegünstigt. Deshalb würde die
36
„Das Fernsehen ist eine große Wundertüte. Und zu den erstaunlichsten Mirakeln televisionären Schaffens zählt die
verblüffende Fähigkeit, Überflüssiges bis nahezu Schwachsinniges zu produzieren. Ja, einigen nimmermüden Koryphäen
der Zunft gelingt es tatsächlich, das kopfschüttelnde Publikum immer wieder dadurch zu faszinieren, dass sie die
nieveaulosesten Ergüsse ihrer Kollegen souverän unterbieten.“ (STERN tv-magazin zu einer Schwachsinnssendung am
09.09.04)
155
Oberfinanzdirektion ihre Forderung erst zurückziehen, `wenn der Dieb nachweisen würde, daß er
den Sprit gewerblich verwendet'. Büchel ist baff: `So etwas habe ich in 35 Jahren als Schiffsführer
noch nicht erlebt.'
Den Diebstahl hatte er umgehend der Polizei gemeldet. Die Schwierigkeiten begannen erst, als der
Zoll kontrollieren wollte, ob sein steuerbegünstigter Treibstoff gewerblich genutzt wird. Der Zöllner
wurde über den Diebstahl informiert, und deshalb muß Büchel nun blechen: `Weil diese Menge nicht
der Ihnen bewilligten, steuerbegünstigten Verwendung als Schiffsbetriebsstoff zugeführt wurde',
heißt es in der Begründung des Hauptzollamtes St. Annen, einer Unterbehörde der
Oberfinanzdirektion.
Günther Losse, Hamburger Zoll-Sprecher bestätigte den Sachverhalt: `Wir können nicht mehr
feststellen, wer den Sprit wie verwendet hat. Da wir den Dieb nicht kennen, hält sich die Steuer an
den Fährmann.' Auch er bedauere, daß Büchel nun doppelt geschädigt werde. Gleichzeitig deutet er
einen Ausweg an: `Wenn der Dieb nachweisen würde, daß auch er den Sprit gewerblich verwenden
würde ...' In dem Falle sähe wohl alles anders aus.
Karl-Heinz Büchel findet kaum Worte: `Das ist ein dicker Hund.' Gegen die `sittenwidrige
Forderung' des Fiskus legt er Widerspruch ein." (HH A 09.02.95)
„Familie W. will das Gelände ihres Reiterhofes in Brandenburg arrondieren und benötigt für den
Kauf eines Grundstücks einen Kredit. Die Bank bewilligt ihn problemlos, zahlt aber nicht aus. Der
Grund: Zwei Behörden streiten sich, wie der Kauf im Grundbuch einzutragen sei. Das Amt für
ländliche Entwicklung besteht auf der Schreibweise ’Flur 5/9’, die Grundbuchstelle des Amtsgerichts
fordert für den Eintrag ’Flur fünf/neun’. Die beiden Behörden ziehen mit ihrem Streit vor das
Verwaltungsgericht. Das dauert natürlich – den Bürokraten ist das egal. ...
Im bayerischen Degendorf zog ein Bauer mit dem Traktor einen PKW aus dem Graben. Daraufhin
schickte ihm das Finanzamt einen Gebührenbescheid über 29 Euro – pro Kilo Traktorgewicht einen
halben Cent. Begründung: missbräuchliche Benutzung einer steuerbefreiten landwirtschaftlichen
Zugmaschine.“ (STERN 18.09.03)
Doch zurück zu unserem Problemkreis Ehe und Asylrecht. Soll ein vom Verfassungsgesetzgeber ohne
Gesetzesvorbehalt gewährtes Grundrecht wie das Recht auf Ehe und Familie uneingeschränkt gelten, so dass mit
ihm auch Missbrauch getrieben werden kann?
„Scheinehe für Döner
dpa Nürnberg – Döner auf Lebenszeit hat ein türkischer Gastwirt einem Schüler (18) in Nürnberg
für die Heirat seiner in der Türkei lebenden Schwester versprochen. Zudem wollte der 35-Jährige
dem jungen Mann den Führerschein bezahlen und einen Urlaub sponsern, teilte die Polizei mit. Der
Schüler habe sich darauf eingelassen, aber kurz nach der Heirat ging er zur Polizei. Gegen die
Eheleute läuft ein Verfahren.“
(HH A 21.04.01)
"Scheinehen: Die erkaufte Sicherheit
Immer häufiger werden in Hamburg Scheinehen geschlossen. Der Leiter des Sachgebietes 1 der
Ausländer-Behörde, Gerhard Horter, deckt bei seiner Arbeit jede Woche `mindestens' eine Ehe auf,
die nur zu dem Zweck geschlossen wurde, daß ein Asylbewerber, dem die Abschiebung droht, in
Deutschland bleiben kann.
Denn Ausländer, die rechtmäßig mit einem Deutschen verheiratet sind, erhalten automatisch eine
fünfjährige Arbeitsgenehmigung. Danach können sie sogar die deutsche Staatsbürgerschaft
beantragen.
Ein Dokument, für das viele Asylbewerber teuer bezahlen. Horter schätzt, daß die deutschen
Partner, die meist in Kneipen oder Discos zu dem Deal überredet werden, Beträge von bis zu 10.000
Mark für eine Scheinehe kassieren.
`Bei Hamburgs Prostituierten gilt das als beliebte zusätzliche Einnahmequelle', sagt Horter.
`Oft heiraten aber auch Drogenabhängige, die ein paar hundert Mark verlangen, mit denen sie den
nächsten Druck bezahlen.'
Wenn die Ehen dann geschlossen sind, kommen die Schein-Eheleute zur Ausländerbehörde, um die
Arbeitserlaubnis zu beantragen. Dort werden sie von Horter und seinen Kollegen in die Pflicht
genommen.
156
Die Beamten überprüfen dabei nicht nur, ob die Eheleute einen gemeinsamen Wohnsitz haben. Sie
wollen zum Beispiel auch wissen, ob die Eheleute am Vorabend gemeinsam zu Hause waren.
Wird dieses bejaht, und die Eheleute geben beispielsweise an, gemeinsam Fernsehen geguckt zu
haben, fragt der Beamte die beiden getrennt, welchen Film sie sich angeschaut haben.
Kommt es bei dem Interview zu Widersprüchen, ‘geben die meisten deutschen Partner von selbst
zu, daß sie nur zum Schein geheiratet haben', berichtet Horter. ‘Sie wissen, daß ihnen sonst eine
Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr droht. Der Asylbewerber wird sofort abgeschoben.'"
(HH A 11.02.93)
Das GG als "Dealer- und Prostituierten-Geldeinnahme-Schutzgesetz"? Das wäre ja noch schöner! Ausländer, die
einer solchen Täuschung überführt werden, können nach dem Ausländergesetz (Paragraph 92) mit bis zu drei
Jahren Gefängnis bestraft werden und verlieren ihr Aufenthaltsrecht. Deutsche Staatsbürger machen sich dabei
der „Unterstützung eines illegalen Aufenthalts” strafbar, die bis zu einem Jahr Gefängnis eintragen kann. Diese
Strafbestimmung wird aber fast nie angewandt, geschweige denn ausgeschöpft. Auf Grund der
Strafbestimmungen des Ausländergesetzes § 92 I Nr. 7 Erschleichen von Berechtigungen durch falsche Angaben
wird in Verbindung mit §§ 45 und 46 AuslG meist die unverzügliche Ausweisung vorgenommen.
Einige Politiker fordern, wie einem Zeitungsartikel vom 11.02.98 zu entnehmen war, unter Berufung auf eine
entsprechende in Dänemark geltende gesetzliche Bestimmung ein Heiratsverbot für Asylbewerber, um so einem
Betrug mit Scheinehen entgegenwirken zu können.
Wenn die Partner des Scheinehen-Deals sich dann aus dieser oft leichtsinnig eingegangenen Verbindung mit
u.U. auch Nachteilen für sie selbst bezüglich des Verlustes staatlicher Unterstützungszahlungen, da ja z.B.
zunächst einmal der wenn auch aus Deutschland ausgewiesene Ehepartner unterhaltspflichtig ist, bevor "Stütze"
und Wohngeld beantragt werden können, lösen wollen, müssen sie sich – wie rund 90.000 andere pro Jahr auch scheiden lassen. Das kostet und dauert! Selbst ein noch in Deutschland sich aufhaltender ausländischer
Scheinehen-Partner ist oft nicht auffindbar. In der Zwischenzeit eine wirkliche Ehe einzugehen, wäre strafbare
Bigamie und wird nicht nur mit zwei Schwiegermüttern bestraft. Ganz besonders schwierig gestalten sich die
Lebensumstände zuvor schon Geschiedener, die durch das Eingehen der angebotenen Scheinehe ganz schnell ca.
€ 5.000,- zusätzlich verdienen wollten: Nach der Annullierung der Scheinehe lebt der alte Unterhaltsanspruch
gegen den vorherigen Ehemann nicht wieder auf! Das ist gesetzlich so festgelegt und nach
Billigkeitserwägungen wohl auch rechtens.
Das alles spricht für den von der Behörde ausgefochtenen Kampf gegen die Scheinehen mit Ausländern.
Andererseits aber wurde in der vorstehenden Zeitungsmeldung berichtet, dass eine Ehe formularmäßig rechtens
schon geschlossen worden war: " ... und erkläre Sie hiermit vor dem Gesetz für Mann und Frau." Es waren ja
nicht Brautleute in der Zeit des damals noch notwendigerweise zu bestellenden Aufgebotes zum Ausländeramt
einbestellt und befragt worden, sondern Eheleute. Und das GG schützt doch an sich die Ehe in Art. 6 GG! Soll
dann die Behörde in aus welchen Gründen auch immer geschlossenen Ehen herumschnüffeln dürfen? Ist das
kein Verstoß gegen das Grundgesetz?
Und es gab schon die Fälle weltberühmter verschwiegen homosexueller Schauspieler, die ihre weibliche FanGemeinde nicht vor den Kopf stoßen konnten oder wollten und deswegen auch eine Scheinehe eingegangen
sind. Da wird dann höchstens von der Klatsch-Presse nach dem fraglichen Vollzug der Ehe gefahndet, nicht aber
vom Staat. (Aber diese Leute wollten sich mit ihrer Scheinehe auch keine staatlichen Berechtigungen
erschleichen.)
Und wenn schon geschlossene Ehen offensichtlich nicht immer geschützt werden: Wie soll es dann bei den
juristisch viel lockerer gebundenen nichtehelichen Lebensgemeinschaften sein, wo die Partner relativ leicht
wieder auseinanderlaufen können? Da müssten doch erst recht Ausweisungen vorgenommen werden dürfen!
Auch wenn ein Kind bei der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit "abgefallen" ist und nicht nur eine Ehe
geschlossen, sondern sogar eine Familie gegründet worden sein kann. (Zur Bedienung von Stammtischen: Da
könnte sich ja sonst jeder Schwarze an einen weichen weißen Leib heranschmusen und eine Deutsche
schwängern, um die Gesetze zu unterlaufen und in Deutschland Bleiberecht zu erhalten.) Jedenfalls die beiden
Sätze vor der Klammer dachte die Hamburger Ausländerbehörde im nachfolgenden Fall; nicht ganz zu Unrecht,
wie ihr die Verwaltungsgerichte bestätigten - die dabei genau so wenig das Wesen der Familie inhaltlich
hinreichend berücksichtigten wie der Hamburger Staat durch seine Ausländerbehörde. Dabei hätte ein Blick in
einen Grundrechtskommentar z.B. die Erklärung finden lassen: "Art. 6 umfaßt nicht den Schutz der
Generationen-Großfamilie. Familie bedeutet hier die in der Hausgemeinschaft geeinte engere Familie, das sind
die Eltern mit ihren Kindern. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat die Familie im Sinne des
157
Art. 6 Abs. 1 GG nur als die umfassende Gemeinschaft zwischen Eltern und Kindern verstanden."
Der ghanesische Asylant der nachfolgenden Zeitungsmeldung lebte bis zum Zeitpunkt der
Ausweisungsverfügung mit einer Deutschen in nichtehelicher Lebensgemeinschaft zusammen und hatte mit ihr
ein Kind. Die an sich schon längere Zeit geplante Eheschließung konnte wegen fehlender und aus Ghana nur
äußerst mühsam zu beschaffender Papiere nicht vollzogen werden. Der Asylantrag des Ghanaers war
zwischenzeitlich rechtskräftig abgelehnt worden. Sämtliche gegen seine Abschiebung angestrengten
Verwaltungsprozesse hatte er schon verloren. Nach Ausschöpfung des Rechtsweges konnte der mit seiner
deutschen Braut und dem gemeinsamen Kind zusammenlebende Asylant aber noch das BVerfG anrufen:
"Aufschub statt Abschiebung
Heiratsabsicht: Darf Ghanaer in Deutschland bleiben?
Der Ghanaer Sulleimann Ahmed Toloba darf vorläufig in Deutschland bleiben. Das entschied das
Bundesverfassungsgericht. Der 28jährige sollte nach der Ablehnung seines Asylantrages
abgeschoben werden, obwohl er die Hamburgerin Heike Reimer, Mutter seines 15 Monate alten
Sohnes, heiraten will.
Wie berichtet, wollen Sulleimann Ahmed Toloba und Heike Reimer seit einem Jahr heiraten. Doch
die notwendigen Dokumente aus Ghana wurden von den Behörden bisher nicht anerkannt. Mal
galten sie als veraltet, mal gingen sie auf dem Weg von der deutschen Botschaft in Ghana nach
Hamburg verloren.
Dann kam das Urteil des Oberverwaltungsgerichtes Lüneburg: Abschiebung - und das, obwohl ein
Gutachten der Sozialen Dienste vorlag. Darin wurde bestätigt, daß es sich bei der Familie nicht um
eine `Schein-Familie' handele, sondern um eine stabile Gemeinschaft, in der der Vater eine wichtige
Rolle spiele. Die Anwältin des Ghanaers, Cornelia Ganten-Lange, wollte das Urteil nicht
akzeptieren. Sie rief das Bundesverfassungsgericht an. Sie sah in der Abschiebung trotz
Heiratswillens und trotz Familie einen Verstoß gegen den im Grundgesetz verankerten Schutz der
Familie.
Das Verfassungsgericht gab ihr recht. Dieser Schutz der Familie `verpflichtet die
Ausländerbehörde, bei einer Entscheidung über die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung die
familiären Bindungen des Aufenthalt begehrenden Ausländers ... in ihren Erwägungen zur Geltung
zu bringen'. Auch für einen nichtehelichen Vater gelte der Artikel 6 im Grundgesetz.
Das Bundesverfassungsgericht hob das Urteil des Oberverwaltungsgerichtes Lüneburg auf. Es muß
jetzt neu verhandelt werden." (HH A 16.11.92)
Da wundert es einen, dass es zu dem der folgenden Meldung zugrunde liegenden Prozess kommen konnte - aber
Behörden und selbst höhere Gerichte sind - jedenfalls in Asylsachen - oft verbockt und nicht unbedingt
lernwillig. Wenn sie auch nur eine unwesentliche Abweichung in der Fallgestaltung erkennen zu können
glauben, versuchen sie zunächst einmal, die für den Betroffenen rigidere Gesetzesauslegung anzuwenden, ohne
sich (zu große) Gedanken um den Sinn oder den Schutzzweck einer grundgesetzlichen Norm zu machen:
"Bundesverfassungsgericht entschied:
Türkischer Vater darf bleiben
Weil er mit einer Hamburgerin ein Kind hat, darf ein von Abschiebung bedrohter Türke vorerst in
der Hansestadt bleiben. Das entschied das Bundesverfassungsgericht und hob damit eine
gegenteilige Entscheidung des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts auf (Aktenzeichen: 2 BVR
1542/94).
Der Fall: Kerim B. lebt seit 1981 in der Bundesrepublik. 1987 heiratete er eine Deutsche. Die
eheliche Lebensgemeinschaft besteht aber nicht mehr, die Scheidung läuft.
Seit 6. Juni dieses Jahres hat der 37jährige eine Tochter mit einer Hamburgerin. Seit 19. Juli saß er
in Abschiebehaft, weil er sich nach Ansicht der Hamburger Behörden und Richter seit drei Jahren
illegal hier aufhält.
Die Wende in der juristischen Beurteilung des Falles brachte die neue eheähnliche Beziehung.
Zwar hat B. eine Wohnung in Altona, seine Freundin eine in Eimsbüttel. Doch sie verbrächten
nahezu jeden Tag gemeinsam, versicherte die Kindesmutter. Der Türke argumentierte in seiner
Verfassungsbeschwerde, auch für die nichteheliche Lebensgemeinschaft eines Ausländers mit einer
Deutschen und ihrem gemeinsamen Kind gelte der Grundgesetz-Artikel sechs.
Artikel sechs lautet: `Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen
Ordnung.' Für die Karlsruher Richter hat die Verfassungsvorschrift Vorrang. Kernsatz ihrer
Entscheidung: Könne die `Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und einem von ihm als
158
Vater anerkannten deutschen Kind nur in der Bundesrepublik stattfinden, weil dem deutschen Kind
wegen dessen Beziehung zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, so
drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange
zurück'.
Die rechtliche Beurteilung ändere sich auch nicht dadurch, daß der Beschwerdeführer vor
Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen
verstoßen habe. Jedenfalls könne sich auch ein nichtehelicher Vater grundsätzlich auf den Schutz des
Artikels sechs berufen, wenn er mit Kind und Mutter zusammenlebe.
Das Bundesverfassungsgericht verwies den Fall an das Oberverwaltungsgericht zurück. Das OVG
verfügte noch gestern eine Aussetzung der Abschiebung. Gestern wurde Kerim B. auch aus der Haft
entlassen. rup" (HH A 17.08.94)
Ob der Nachhilfeunterricht des BVerfGs in Sachen Beachtung des Art. 6 GG auch bei von Abschiebung
bedrohten Ausländern nun sitzt? Das BVerfG trägt dem geänderten Familienbild Rechnung und definiert
„Familie“ als eine „umfassende Gemeinschaft zwischen Eltern und Kindern, in der den Eltern vor allem Recht
und Pflicht zur Pflege und Erziehung der Kinder erwachsen“ - ohne dass dazu ein Trauschein gehören muss. So
sehen das auch die Grünen: „Familie ist da, wo Kinder sind.“ Aber so vermochten es 2002 die katholische
Deutsche Bischofskonferenz und konservativere Teile der CDU/CSU immer noch nicht zu sehen, die vor der
Bundestagswahl 2002 gemeinsam dagegen Front machten, dass eine 28-jährige ledige Mutter, die mit ihrem
Partner in einem „Konkubinat“ – schon allein das Wort ist anstößig! – zusammenlebte und weiterhin
unverheiratet ihr zweites Kind bekam, in der CDU/CSU an herausragender Stelle für „Familie“ zuständig sein,
eventuell die nächste Familienministerin werden sollte.
Und zum Schluss als anwaltlicher Rat für einen von Abschiebung bedrohten Ausländer: Es kommt nur darauf an,
sich mindestens neun Monate im Bett einer Deutschen versteckt zu halten und dabei schleunigst mit Fleiß und
Freude einen Bleibegrund zu produzieren; zu dem man(n) aber dann auch stehen muss.
Das ist praktizierte Juristerei!
Und das war vor 10 Jahren, als ich am Manuskript dieses Buches an dieser Stelle schrieb, als juristischer Gag für
meine Leser gedacht: Ich hatte nur die sich auftuenden Möglichkeiten juristisch gedanklich durchgespielt und zu
Ende gedacht. Aber da ich – zum Glück – kein Privileg aufs Denken besitze, wunderte es mich nicht, dass ich
zehn Jahre später im SPIEGEL vom 25.10.04 die Notiz fand, dass Islamisten und ausreisepflichtige Ausländer
das liberale Familienrecht in Dänemark ausnutzen würden, um in Sonderburg oder Tondern ohne zeitraubende
Formalitäten eine deutsche Frau zu heiraten.
Ein anderer, seit der Reform des Kindschaftsrechts 1988 häufig genutzter, viel eleganterer weil straffreier Trick
ist die Anerkennung von (angeblich bestehenden) Vaterschaften: (Schein-)Eheschließungen können behördlich
angefochten und gerichtlich geahndet werden, Scheinvaterschaften nicht! Wer als ausreisepflichtiger Ausländer
die Vaterschaft eines in Deutschland geborenen Kindes anerkennt, dem ist seit der Reform 1988 zumindest ein
vorläufiger Aufenthaltstitel sicher. So kommt es, dass in 70 % aller Fälle, in denen Ausländer zwischen April 03
und April 04 Kinder deutscher Frauen anerkannt hatten, die Väter ausreisepflichtig gewesen waren. Diese
(angeblichen) Väter konnten so mit dem Hinweis auf den Schutz der Familie ihre Abschiebung umgehen. Nun
wird erwogen, eine rechtliche Regelung zu schaffen, dass derartige Vaterschaftsanerkenntnisse von Behörden
angefochten werden können.
„Trägern öffentlicher Belange soll „ein befristetes Anfechtungsrecht bei Vaterschaftsanerkennungen
im Bürgerlichen Gesetzbuch” verschafft werden, das heißt, die Behörden sollen das Recht erhalten,
vor Gericht einen DNS-Test zu erstreiten. Die gleiche Forderung hatte die CDU/CSU-Fraktion schon
im Oktober in den Bundestag eingebracht. Die Union stellte in ihrem Antrag besonders „die
verheerenden Folgen für die betroffenen Kinder” heraus, denen durch den Mißbrauch des
Familienrechts das Recht auf Kenntnis ihrer Abstammung und der Umgang mit dem leiblichen Vater
verwehrt werde. Bundestag und Bundesrat haben bisher wenig Neigung gezeigt, sich mit der Sache
zu befassen. Die für den 11. November angesetzte Bundestagsdebatte über den Antrag der Union
entfiel; die vorbereiteten Reden wurden nur zu Protokoll genommen. Dort riet der GrünenAbgeordnete Winkler den Christlichen Demokraten, sie sollten sich bei diesem Thema „mal an die
Weihnachtsgeschichte - in der ja die Frage der Vaterschaftsanerkennung eine wesentliche Rolle
spielt - erinnern”, um sich in die verzweifelte Lage einer ausländischen Mutter zu versetzen, „wenn
sie die Abstammung ihres Kindes wegen einer Aufenthaltserlaubnis verleugnet”.
Die Abgeordneten der Koalition warfen der Union vor, das Phänomen der Scheinvaterschaften
aufzubauschen, Ausländer durch einen „Generalverdacht” zu diskriminieren und „vorschnell” nach
159
Gesetzesänderung zu rufen. Vorrang habe in jedem Fall „die Wertentscheidung der
Kindschaftsreform von 1998”, heißt es im Redemanuskript der SPD-Abgeordneten Lambrecht, „die
ganz bewußt die Rechtsstellung und die Verantwortung der Mutter eines nicht ehelich geborenen
Kindes stärkt”. Der Berliner CDU-Abgeordnete Gewalt hingegen gab zu Protokoll, die
Gesetzeslücke, die sich durch das Kindschaftsrecht aufgetan habe, sei „so groß wie ein
Scheunentor”. Der Bundesregierung sei das Problem seit 2001 bekannt. Dennoch spiele sie es in
unverantwortlicher Weise herunter. Nach dem gleichen Schema verlief die Debatte im
Rechtsausschuß des Bundestags, der das Thema Scheinvaterschaften schließlich unter Hinweis auf
die ausstehende Stellungnahme der Justizminister vertagte.
Gelebte Vaterschaften
Die Justizministerkonferenz wiederum wird sich nach Auskunft des nordrhein-westfälischen
Justizministers Gerhards (SPD) voraussichtlich überhaupt nicht mit den Scheinvaterschaften
befassen. Diesen Eindruck hat Gerhards zumindest aus den ersten Reaktionen seiner Justizkollegen
auf den Antrag der Innenminister gewonnen. Seiner Meinung nach ist dieser Vorstoß einfach
überflüssig: „Man ruft nach dem Gesetzgeber, obwohl man einfach nur die geltenden Gesetze
anwenden müßte.” Statt den umständlichen Weg zu beschreiten, Vaterschaften anzufechten, müßten
die Ausländerbehörden lediglich den Nachweis verlangen, daß erklärte Vaterschaften tatsächlich
gelebt und etwa durch Unterhaltszahlungen glaubhaft gemacht würden. Sei das nicht der Fall, gebe
es auch keinen Grund, einen Aufenthalt wegen familienrechtlicher Interessen zu verlängern. „Ich
negiere nicht das Problem”, sagte Gerhards dieser Zeitung, „nur die von der IMK vorgeschlagene
Lösung.”
Senator Röwekamp beharrt indes darauf, daß die Ausländerbehörden auch bei begründetem
Verdacht auf eine Scheinvaterschaft keinerlei Handhabe hätten, den Aufenthalt des Betreffenden zu
beenden. „In dem Augenblick, in dem beim Standesamt eine Vaterschaft angezeigt wird, kann sie
nicht mehr angezweifelt werden. In einem Anfechtungsverfahren dagegen könnte ein DNSGutachten eingeholt und die Fiktion der Vaterschaft durch Gerichtsbeschluß aufgehoben werden.”
Röwekamp weicht freilich dem Argument aus, daß die biologische Verwandtschaft nicht die
alleinige Voraussetzung für eine Vaterschaftsanerkennung ist. Neben der fehlenden biologischen
Verwandtschaft müßte die Behörde weiterhin das Fehlen einer sozialen Vater-Kind-Beziehung
nachweisen, um eine Scheinvaterschaft zu enttarnen.
Auf dem grauen Markt werden sowohl für die Vermittlung, als auch für die Übernahme von
Scheinvaterschaften beträchtliche Summen gezahlt. Der Abgeordnete Gewalt sieht darin bereits
einen neuen Geschäftszweig der organisierten Kriminalität. Dem Bundeskriminalamt liegen keine
entsprechenden Erkenntnisse vor. Auch Röwekamp, der für dieses Thema in der
Innenministerkonferenz zuständig ist, hat dafür keine Anhaltspunkte. Das könnte sich jedoch ändern,
wenn die Politik weiterhin zögert, sich des Problems anzunehmen.“
(F.A.Z. 01.03.05)
Auch von Abschiebung bedrohte (logischerweise ausländische) Frauen unterlaufen elegant und völlig risikolos
ihre Abschiebung, wenn sie – selbstverständlich gegen (der Behörde nicht bekannt gewordene) Bezahlung –
einen pekuniär »nicht ganz momentanen« Deutschen finden, der bereit ist, seine angebliche Vaterschaft an ihrer
»in statu nascendi« befindlichen Leibesfrucht anzuerkennen: Eine in Deutschland niederkommende Ausländerin
erwirbt ein Bleiberecht, sobald sie für ihr Kind einen deutschen Vater nachweisen kann. Das gilt sogar dann,
wenn sie hochschwanger eingereist ist und schon an der Hautfarbe des Kindes zu erkennen ist, dass der zum
Vater erklärte Mann nicht der Erzeuger gewesen sein kann, denn die biologische Vaterschaft ist nicht
Voraussetzung für die amtliche Anerkennung einer Vaterschaft. Das war bis 1998 noch anders. Vor der Reform
des Kindschaftsrechts wurde regelmäßig das Jugendamt zum Vormund nichtehelich geborener Kinder bestellt.
Der Amtsvormund befand unter anderem darüber, ob ein von der Mutter als Vater angegebener Mann in seine
Vaterrechte eingesetzt wurde. Das wurde zu Recht als Bevormundung der Mütter empfunden und mit der
Kindschaftsreform geändert. Seither ist Vater der, der sich dazu bekennt und von der Mutter als solcher
anerkannt wird. Dass diese Regelung zu Missbrauch führen könnte, ist damals niemandem in den Sinn
gekommen. Dem Staat scheint es neben der Abschaffung der Bevormundung von ledigen Müttern auch darum
gegangen zu sein, jemanden zu haben, der rechtlich für den Unterhalt des Kindes einzustehen hat. Die in
bürgerlicher Normalität lebenden Abgeordneten, der Gesetzgeber, hatte sich nicht hinreichend in die »Denke«
dieser eine Vaterschaft anerkennenden Looser hineinversetzt. Sie waren von ihren Lebensumständen
ausgegangen und in denen sind mit einer Vaterschaft mehr Pflichten als Rechte verbunden. Da aber die
Randständigen selber von »Stütze« leben, sie den kleinen Zuverdienst für die Anerkennung der angeblichen
160
Vaterschaft geheim halten, da er sonst auf ihre »Stütze« angerechnet würde, verfügen sie auch über keine
Einkünfte, aus denen heraus sie für den Unterhalt »ihres« Kindes aufkommen müssten. Das Ergebnis: nun
müssen sowohl die ohne vorgeschobene Anerkennung nicht aufenthaltsberechtigte Kindsmutter und ihr/e
Kind/der von der aus unseren Steuergeldern aufgebrachten Sozialhilfe durchgebracht werden.
Das Elegante dieser äußerst erfolgreichen Methode besteht auch hier darin, dass zwar das Eingehen von
Scheinehen strafbar ist, nicht aber die Anerkennung von Scheinvaterschaften! »Looser«, die auf Grund ihrer
wirtschaftlichen Lage nie die wirtschaftlichen Folgen ihrer Anerkenntnis tragen müssen, selber von »Stütze«
leben, nie Unterhalt zahlen werden und denen es völlig gleichgültig ist, dass durch ihre Vaterschaftsanerkenntnis
die deutschen Sozialkassen ausgeplündert werden, weil die Allgemeinheit über die Sozialhilfe für sowohl die
Mütter, die sich auf diesem Wege die Aufenthaltsberechtigung erschleichen, als auch deren Kinder aufkommen
muss, »Looser«, denen die Finanzierung ihrer täglichen Alkohol- oder/und Rauschgiftration durch eine heimlich
»cash in de Täsch« gewährte Prämie näher liegt, als die berechtigten Belange des Staates, erkennen angebliche
Vaterschaften im großen Stil an und bescheißen so unsere sozialen Sicherungssysteme. Das ist das Problem der
„Imbissbudenväter“. 2004 sind 1.694 Verdachtsfälle (Fakt 17.01.05) notiert worden. Die Fälle der von
deutschen Männern oder bei uns aufenthaltsberechtigten Ausländern durch Geldzuwendungen schwangerer
Ausländerinnen anerkannten (Schein-)Vaterschaften, um den Müttern und ihren Kindern den Aufenthalt und den
Anspruch auf Sozialhilfe zu ermöglichen, sind in dieser Zahl nicht enthalten. Sie übersteigen die
Erschwindelung des Aufenthaltes unter Missbrauch der Möglichkeiten des Familienrechts durch die Männer um
einiges. Für den Staat „lassen die Daten eine Dimension erkennen, die eine Vernachlässigung des Problems nicht
rechtfertigen”, heißt es in einem Bericht des Bremer Innensenators Röwekamp (CDU) an die
Innenministerkonferenz.
Volker Koop
Realität oder nur Phantome?
"Imbissväter" - Diskussion um erneute Reform des Kindschaftsrechts
Ein 31 Jahre alter Berliner dürfte derzeit in Deutschland einen wohl einsamen Rekord halten: Er ist
Vater von neun Kindern - allerdings nur auf dem Papier. Die Vaterschaft hat er für Kinder anerkannt,
deren Mütter, Migrantinnen, vor der Ausweisung standen. Die Kinder bekamen damit die deutsche
Staatsangehörigkeit, die Mütter ein Bleiberecht - und der Berliner für jede "Vaterschaft", wie er
einräumte, ein gutes Honorar. "Imbissväter" - so heißen im Alltagsjargon die deutschen Männer, die
ihre Vaterschaft verkaufen.
Gezielt wird an öffentlichen Plätzen eine gewisse Klientel - meist Sozialhilfeempfänger - für eine
Vaterschaftsanerkennung gesucht, und dies ist laut Jürgen Gehb kein Zufall. "Denn", so der CDUBundestagsabgeordnete, "aufgrund ihrer besonderen Lage müssen und können diese Männer ihre mit
der Anerkennung entstehenden Unterhaltsverpflichtungen für das Kind und selbstverständlich auch
für die Mutter nicht tragen. Stattdessen zahlt der Steuerzahler." Eine Handhabe gegen diese
"Vaterschaften" gebe es bisher nicht, die rechtliche Anerkennung nicht leiblicher Kinder sei legal. Es
sei kein Geheimnis, dass es hierfür regelrechte Tarife gebe: um die 50.000 Euro liege der Lohn für
den Scheinvater. Sei die Mutter ausreisepflichtige Ausländerin, sei darüber hinaus mit der
Vaterschaftsanerkennung eines deutschen Mannes das Bleiberecht für Mutter und Kind verbunden.
Der CDU-Parlamentarier verweist darauf, dass die Innenministerkonferenz davon ausgehe, dass es in
nicht unerheblicher Anzahl zu Vaterschaftsanerkennungen komme, die primär der Vermittlung eben
dieses Bleiberechtes dienten. Gehb: "Folgerichtig plädieren die Innenminister dafür, dass im
Bürgerlichen Gesetzbuch bei Vaterschaftsanerkennungen ein befristetes Anfechtungsrecht für einen
Träger öffentlicher Belange geschaffen werden soll." Die Union habe deshalb im Herbst des
vergangenen Jahres die Bundesregierung aufgefordert, einen entsprechenden Gesetzesentwurf
vorzulegen, passiert sei jedoch noch nichts.
Einen solchen Handlungsbedarf sieht der Grünen-Abgeordnete Josef Winkler aus mehreren Gründen
nicht. Für ihn ist unklar, wie die Union zu der Einschätzung komme, dass die Zahl von
Scheinvaterschaften seit 2001 zunehme, denn eine von der Innenministerkonferenz initiierte
Erhebung erfasse nur den Zeitraum Frühjahr 2003 bis Frühjahr 2004. Außerdem handele es sich um
Verdachts- und nicht um Missbrauchsfälle. "In der Erhebung der Ausländerbehörden wurde nämlich
allein die Zahl der Vaterschaftsanerkennungen erfasst, woraus noch lange nicht die Missbrauchsfälle
abzulesen sind." Dass es im Gegensatz zu anderen europäischen Rechtsordnungen eine
Anfechtungsbefugnis öffentlicher Stellen noch nicht gebe, liege unter anderem auch am reformierten
Kindschaftsrecht. Vor dieser Reform, habe auch ein nichteheliches Kind einer
Vaterschaftsanerkennung zustimmen müssen, was aber durch das Jugendamt in Amtspflegschaft
erfolgt sei. Diese Bevormundung der Mutter durch den Staat habe man jedoch gerade abschaffen
161
wollen. Winkler: "Die Feststellung der sozialen Beziehung kann nicht wie bei einer Scheinehe an
einer familiären Lebensgemeinschaft festgemacht werden. Väter kümmern sich heutzutage häufig
auch viel um ihre Kinder, ohne mit ihnen zusammen zu wohnen. Ein Abstellen auf die fehlende
Bereitschaft des Vaters, für das Kind zu sorgen, würde zu einer Diskriminierung und zu einem
Generalverdacht gegen Sozialhilfeempfänger führen." Der Grünen-Politiker wendet sich strikt gegen
ein Zurückdrehen der Kindschaftsrechtsreform. Der Gesetzgeber habe bewusst auf eine behördliche
Beteiligung bei der Vaterschaftsfeststellung unehelicher Kinder verzichtet und damit die Rechte der
Mütter gestärkt: "Staatliche Stellen haben weder bei ehelichen noch bei unehelichen Kindern von
Deutschen das Recht, die Vaterschaft des biologischen oder auch des sozialen Vaters in Zweifel zu
ziehen. Gleiches muss auch für die Kinder von ausländischen Vätern oder Müttern und binationale
Paare gelten."
Auf den erwähnten Bericht der Innenministerkonferenz geht auch Joachim Stünker als
rechtspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion ein. Die Erhebungen hätten zwar einen
hohen Anteil von Fällen ergeben, in denen die Vaterschaftsanerkennung für ein deutsches oder
ausländisches Kind mit der Ausreisepflicht der unverheirateten ausländischen Mutter (72 Prozent)
zusammengetroffen sei. Mit 83 Prozent sei der Anteil der Vaterschaftsanerkennungen durch deutsche
Männer ebenfalls hoch gewesen. Der Bericht räume jedoch ein, dass es sich bei diesen Zahlen nur
um ein Indiz handele. Es fehlten Kriterien, anhand derer festgestellt worden sei, ob die Anerkennung
"echt" oder nur zur Erlangung von Aufenthaltstiteln beziehungsweise Sozialleistungen vollzogen
worden sei. Die Rechtspolitiker der SPD-Bundestagsfraktion plädierten deshalb dafür, sich mit dem
Zahlenmaterial sachlich auseinanderzusetzen. Bei der Reform hätten sie sich mit gutem Grund gegen
eine behördliche Beteiligung bei der Vaterschaftsfeststellung entschieden. Joachim Stünker: "Es
besteht kein Anlass, diesen Grundsatz unüberlegt über Bord zu werfen. Hinzu kommt, dass die
geforderten Änderungen Ausländer und Ausländerinnen betreffen. Zur Begründung einer derartigen
Gesetzesänderung muss das Zahlenmaterial besonders belastbar sein." Sollten sich die
Befürchtungen jedoch bestätigen, werde sich die SPD-Bundestagsfraktion des Themas annehmen
und eine Lösung erarbeiten.
Unter Verweis auf ein nicht gesichertes Datenmaterial lehnt auch die FDP-Bundestagsabgeordnete
Sibylle Laurischk eine Änderung des derzeitigen Kindschaftsrechtes ab. Die Daten der
Innenministerkonferenz wiesen nur nach, wie viele ausreisepflichtige Ausländerinnen einen
Aufenthaltstitel erhalten hätten, nachdem ein Deutscher die Vaterschaft für ihr Kind anerkannt habe.
"Schon hier von vornherein zu unterstellen, dass diesen Vaterschaftsanerkenntnissen nicht auch eine
tatsächliche, biologische oder sozial-familiär vermittelte Vaterschaft zugrunde liegt, ist voreilig." Mit
der Reform des Kindschaftsrechtes 1998 sei die Rechtsstellung und Verantwortung der
nichtehelichen Mutter gestärkt worden. Für Sibylle Laurischk gilt: "Ein ausländerrechtliches
Problem mit den Mitteln des Zivilrechtes lösen zu wollen, ist abwegig, da die Auswirkungen auf in
der Mehrzahl legal verlaufende Fälle eine überbordende Schnüffelbürokratie bedeuten würde.
Vielmehr sollten die ausländerrechtlichen Instrumente voll ausgeschöpft werden, um im
Tatsächlichen zu ermitteln, ob die Vaterschaft auch sozial-familiär oder materiell durch
Unterhaltszahlungen
gelebt wird und damit der Artikel 6 unserer Verfassung tatsächlich einem Verlassen der
Bundesrepublik Deutschland entgegenstünde." Binationale Kinder dürften nicht mit dem
Generalverdacht der fehlenden Legitimation belegt werden. (Das Parlament 21.03.05)
Mit mehreren tausend Euro sind solche von schwangeren Ausländerinnen erkauften Vaterschaften keineswegs
überbezahlt. Die Käuferinnen erwerben damit nicht nur dauerhafte Ansprüche auf Sozialhilfe, sondern nach
einer gewissen Zeit auch die Möglichkeit, weitere Familienmitglieder nach Deutschland zu holen.
Etwas schwerer hat es ein Ausländer, der sich eine Vaterschaftsanerkennung von einer deutschen Frau kauft. Bei
ihm kann die Ausländerbehörde immerhin prüfen, ob er seinen Pflichten nachkommt. Ist das nicht der Fall,
erlischt auch sein Bleiberecht als Familienvater, denn in seinem Bleiberecht wird nicht geschützt, wer in
Verkennung der Rechtsprechung zwar – tatsächlich oder nur juristsich - einen grundsätzlichen Bleibegrund
produziert hat, ihn dann aber für sich selbst als nicht existent betrachtet:
Urteil: Vater wird abgeschoben
Braunschweig - Ein Kind mit einer Deutschen sichert einem Ausländer nicht in jedem Fall ein
Aufenthaltsrecht. Wenn der Vater sich nicht um das Kind kümmert und keinen Unterhalt zahlt, kann
er abgeschoben werden, urteilte das Verwaltungsgericht Braunschweig (Az.: 6 B 56/05). dpa
162
HH A 01.03.05
Daran wird die besondere Eleganz der den Frauen offen stehenden juristischen Möglichkeit noch einmal sehr
augenfällig: ein deutsche Scheinvater, der sich nach der Anerkenntniserklärung nicht um sein »anerkanntes
Kind« kümmert, kann nicht abgeschoben werden und die Mütter mit ihren »anerkannten Kindern« auch nicht.
Nach den Vorstellungen des innenpolitischen Sprechers der SPD-Fraktion während der 15. Legislaturperiode,
des ehemaligen Verwaltungsrichters und als MdB nebenbei als Rechtsanwalt tätigen Wiefelspütz, soll der
Bestandsschutz von Ehe und Familie für nachweislich gefährliche Ausländer selbst dann entfallen, „wenn sie
schon jahrelange bei uns leben, eine deutsche Ehefrau und Familie haben.“ Ob das BVerfG das in Ansehung von
Art. 6 GG „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz des Staates“ so mitmachen wird, wenn ein
nichtdeutscher Vater sich um seine Familie kümmert, bleibt abzuwarten!
Die vom Verfassungsgesetzgeber im GG getroffenen Regelungen müssen immer neu ernstgenommen,
interpretiert und oft auch fortentwickelt werden. U.a. das ist die Aufgabe des hierzu berufenen BVerfGs als
"Wächter des Grundgesetzes". Die Hamburger Ausländerbehörde, das Verwaltungs- und das jeweils zuständig
gewesene Oberverwaltungsgericht hatten den Wortlaut des Art. 6 GG "Ehe und Familie" wohl als Pleonasmus
oder Tautologie, als eine Bezeichnung derselben Sache durch zwei (oder mehrere) gleichbedeutende Ausdrücke,
angesehen. Vielleicht kam hier (in der Rechtssoziologie oft untersuchtes) schichtspezifisches Denken der Richter
zum Tragen. In ihrer Sozialschicht sind "Ehe" und "Familie" wohl überwiegend deckungsgleich. Das BVerfG
sah - und sieht - vermutlich jedes Wort einzeln und erkannte damit einen Unterschied zwischen "Ehe" und
"Familie".
„Asyl-Urteil: Familie darf getrennt sein
ap Karlsruhe – Angehörige einer Familie, die in verschiedenen europäischen Ländern Asyl
beantragen, haben keinen Anspruch auf Zusammenleben während der Dauer des Verfahrens. Das
Bundesverfassungsgericht entschied, eine solche zeitweilige Trennung verstoße nicht gegen den
Schutz von Ehe und Familie (2 BvR 99/97).“ (HH A 13.08.98)
2 »Gesetz« und »Recht«
Nachdem wir uns eine schwache Ahnung dazu erarbeitet haben, was das Grundgesetz für unser Leben in der
Bundesrepublik bedeutet, wie es - teilweise von uns völlig unbemerkt (z.B. beim „angemessenen“
Länderfinanzausgleich gemäß Art. 107 II GG mit seinen Transfer-Zahlungen von den reichen und reicheren an
die ärmeren, armen und ärmsten (LCD-)37Bundesländer zur Sicherung deren nackter Existenz, zur Herstellung
annähernd gleicher Lebenschancen in ganz Deutschland oder zur Umgestaltung der Länderstruktur) - unsere
Lebenswirklichkeit beeinflusst, wollen wir uns nun wieder unserer ganz zu Anfang aufgeworfenen
Eingangsfrage zuwenden: Was ist »Recht«, was »Gesetz« - zunächst einmal ruhig auch nur in einem
vorjuristischen Verständnis? Sind diese Begriffe deckungsgleich oder sinnlos verdoppelnde Redeweisen wie
z.B. "runder Kreis" oder "schwarzer Rabe"? Sind diese beiden zentralen Begriffe des Rechtslebens neben- oder
gegeneinandergestellt? Was sagt das Grundgesetz in Art. 20 III über "Gesetz und Recht"? Wie ist diese
Formulierung zu verstehen oder zu interpretieren?
Artikel 20 GG wird wegen der darin getroffenen Regelungen bezüglich der tragenden Grundsätze unseres
Staatsaufbaus auch als »Verfassung in Kurzform« bezeichnet. Er steht in dem Abschnitt "II. Der Bund und die
Länder". Der darin geregelte Absatz 3 lautet:
"Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die
Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden."
»Gesetz«
und
»Recht«
Leider nimmt die vollziehende Gewalt, die Verwaltung oder "Exekutive", mit der der Bürger es vorrangig zu tun
37
Damit Sie sich nicht über diese eigenmächtige Wortbildung wundern: Ich greife den von der UNO für die ärmsten der
Entwicklungsländer verwendeten Begriff der „LCDs“ (Least developed countries) auf.
163
hat, das Grundgesetz und die anderen Gesetze selbst trotz eindeutigen Gesetzeswortlauts nicht immer ernst
genug - und einer ihrer obersten Repräsentanten, der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl, stellte sogar sein
(angebliches) „Ehren“-Wort über Gesetz und Recht. (Kritisch wurde dazu von dem Finanzier des ersten
Parteispenden-Skandals, dem ehemaligen Flick-Manager von Brauchitsch, angemerkt: Es kann keine »Ehre«
geben, die über rechtmäßigen Gesetzen und dem Recht steht.)
Die Verwaltung interpretiert die ihr grundgesetzlich auferlegte Gesetzesbindung leider zu oft so, dass ihr die
zuständigen Gerichte auf die Finger sehen und oft auch hauen müssen. Das kann an leider zu vielen Beispielen
belegt werden. Um die dem Bürger wegen ihrer Machtmittel mindestens anfangs überlegene Verwaltung zu
zügeln und notfalls in die Schranken zu verweisen, wurde ein eigener Gerichtszweig geschaffen: die
Verwaltungsgerichtsbarkeit. Wenn ihre Gerichte in einer Entscheidung die Grundrechte verkennen, muss das
BVerfG Nachhilfeunterricht erteilen.
Weil uns der in Art. 4 GG geregelte Bereich der Glaubens- und Gewissensfreiheit – „Jeder soll nach seiner
Facon selig werden können“ (Friedrich II., der Große) - und dessen Auswirkung auf die in Art. 12 a GG
geregelte allgemeine Wehrpflicht schwerpunktmäßig später noch näher beschäftigen wird, sei für die eben
aufgestellte Behauptung, die Verwaltung nehme die Gesetze nicht immer im gebotenen Umfang ernst, unter der
Legion möglicher Fälle ein Beispiel aus diesem Bereich gewählt. Zum besseren Verständnis der Problematik
zunächst die Wiedergabe der einschlägigen gesetzlichen Normen. Die Artikel 4 und 12 a GG lauten
(auszugsweise):
„Art. 4 GG
(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen
Bekenntnisses sind unverletzlich.
(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.
(3) Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das
Nähere regelt ein Bundesgesetz."
„Art. 12 a GG
(1) Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im
Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden.
(2) Wer aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, kann zu einem
Ersatzdienst verpflichtet werden. Die Dauer des Ersatzdienstes darf die Dauer des Wehrdienstes
nicht übersteigen. Das Nähere regelt ein Gesetz, das die Freiheit der Gewissensentscheidung nicht
beeinträchtigen darf und auch eine Möglichkeit des Ersatzdienstes vorsehen muß, die in keinem
Zusammenhang mit den Verbänden der Streitkräfte und des Bundesgrenzschutzes steht.
(3) - (6) ..."
Eines der Gesetze, die das Nähere der in Art. 12 a normierten Wehr- und Dienstpflicht regeln, ist - z.B. neben
dem Zivildienstgesetz - das Wehrpflichtgesetz (WPflG). Dort sind in den §§ 9 – 13 b WPflG die
Wehrdienstausnahmen geregelt. In § 11 WPflG heißt es u.a.:
„§ 11 WPflG Befreiung vom Wehrdienst
(1) Vom Wehrdienst sind befreit
1. ordinierte Geistliche evangelischen Bekenntnisses
2. Geistliche römisch-katholischen Bekenntnisses, die die Subdiakonatsweihe empfangen haben,
3. hauptamtlich tätige Geistliche anderer Bekenntnisse, deren Amt dem eines ordinierten Geistlichen
evangelischen oder eines Geistlichen römisch-katholischen Bekenntnisses, der die
Subdiakonatsweihe empfangen hat, entspricht,
..."
Bei dieser Gesetzeslage ist man erstaunt, die folgende Zeitungsmeldung zu finden:
"Kein Wehr- oder Zivildienst für Prediger der `Zeugen Jehovas'
KOBLENZ; 7. Februar (dpa). Prediger der Religionsgemeinschaft `Zeugen Jehovas' müssen weder
Wehr- noch Zivildienst leisten. Das hat das Verwaltungsgericht Koblenz in einem jetzt
veröffentlichten Grundsatzurteil entschieden. Solche Personen seien hauptamtlich tätigen Geistlichen
der römisch-katholischen oder evangelischen Kirche gleichzustellen. Das Gericht gab damit der
Klage eines jungen Mannes, der Mitglied der Religionsgemeinschaft ist, gegen die Bundesrepublik
statt. Es komme nicht darauf an, befanden die Richter, ob es sich um ein Amt der großen
164
Glaubensgemeinschaften handele. Der Gesetzgeber habe auch Geistliche ‘anderer Bekenntnisse' von
Wehr- und Zivildienst freistellen wollen. (Aktenzeichen: 2 K 3953/91.) (FAZ 08.02.93)
Aber das steht doch so schon wörtlich in § 11 I Nr. 3 WPflG! Da fragt man sich, warum die wie alle anderen
Juristen nach dem deutschen Richtergesetz ausgebildeten Juristen der Verwaltung, die den jungen Mann
unbedingt einziehen wollten, selbst bei so eindeutiger Gesetzeslage von den Verwaltungsgerichtsjuristen
Nachhilfeunterricht im Lesen, Interpretieren und Ernstnehmen von Gesetzen erhalten müssen. Glaubte die
wehrfreudige Verwaltung, die Gesetze ignorieren zu können? Dann muss sie von den Verwaltungsgerichten,
soweit sie einen Gesetzesverstoß zu erkennen vermögen, eines Besseren belehrt werden. Und wenn die
Verwaltungsgerichte »daneben liegen«, muss das BVerfG Nachhilfeunterricht erteilen - und wenn das BVerfG
falsch entschieden hat, muss man das hinnehmen. "Rien ne va plus!"
Aus ähnlicher gedanklicher Tradition des begründeten Misstrauens der mächtigen Exekutive gegenüber merkte
der damals noch nur designierte amerikanische Präsident und Rechtsdozent Clinton anlässlich der von seinem
Vorgänger Bush in letzter Minute ausgesprochenen fragwürdigen weil die Aufklärung der Hintergründe
verdunkelnden Begnadigung des ehemaligen Verteidigungsministers Weinberger wegen dessen Verstrickung in
die "Iran-Contra-Affäre" (und vor seiner nach seiner Interpretation der Buchstaben des Gesetzes angeblich
nichtsexuellen Beziehung zu der weltberühmtesten Praktikantin) kritisch an:
"Es darf nicht der Eindruck erweckt werden, die Regierung stehe über dem Gesetz!"
Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber nicht jeder Regierungschef sieht das so:
„Ein Mann über dem Gesetz?
Silvio Berlusconi - Italiens Regierungschef ist Multimilliardär und wegen Bestechung angeklagt.
Nun will er die Verfassung ändern.
... Die italienische Justiz glaubt nachweisen zu können, dass Ministerpräsident Silvio Berlusconi ein
skrupelloser Verbrecher ist, der zusammen mit seinem bereits verurteilten Staatssekretär und
ehemaligen Verteidigungsminister Cesare Prevetti Italien schwer geschadet hat. ... Der
Multimilliardär verlangt sogar eine radikale Verfassungsänderung zu seinen Gunsten. ... Italien fragt
sich: Steht Silvio Berlusconi über dem Gesetz? ... Das Mailänder Gericht glaubt aber, dass
Berlusconi nicht nur einmal, sondern mehrfach einen Richter erfolgreich bestach. ... Prevetti wurde
dafür vor einer Woche zu acht Jahren Haft in erster Instanz verurteilt. ... Mit allen Mitteln will Silvio
Berlusconi verhindern, dass der Prozess gegen ihn weitergeführt werden kann. Er hat bereits mehrere
Gesetze durch das Parlament gepaukt, die die Kompetenzen der Gerichte betrafen und ihm
erhebliche Vorteile als Angeklagtem verschaffen. Seine Mindestforderung besteht darin, dass die
Verfassung dergestalt geändert werden muss, dass gegen die fünf obersten Repräsentanten Italiens
[während ihrer Amtszeit; der Autor] keine Strafverfahren angestrengt werden dürfen. Er will auch
noch Staatspräsident werden.“ (HH A 07.05.03)
Das Verfassungsgericht erklärte das von Berlusconis Parlamentsmehrheit beschlossene
Immunitätsgesetz anschließend aber für verfassungswidrig, sodass die Ermittlungen bis zur
Anklageerhebung weitergeführt werden konnten.
Und der amerikanische Präsident Bush jun. zeigt durch die von ihm vorgenommene »Guantanamoisierung« des
Rechts, dass er ähnlich denkt.
Ein solcher Satz, es dürfe nicht der Eindruck erweckt werden, die Regierung stehe über dem Gesetz, kann aber
nur für ein demokratisch organisiertes politisches System gelten, das sich den Normen der Menschenrechte grundsätzlich - verpflichtet weiß, denn in Diktaturen erlässt die jeweilige Regierung die ihr gerade ins Konzept
passenden Gesetze.
Die bewusst vorgenommene Einschränkung „grundsätzlich“ bezieht sich darauf, dass die USA mit der bei ihnen
in immer noch 38 Staaten mit Inbrunst zelebrierten Todesstrafe permanent gegen Artikel 3 der Konvention der
Menschenrechte verstoßen:
„Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“
165
2.1 »Gesetz« und »Recht« in Art. 20 III GG
„Gesetz«
und
»Recht« in
Art. 20 III
GG
Doch wieder zurück zu unserem Eingangsproblem, das wir bisher in seiner Problematik zu erahnen,
abzugrenzen und immer weiter einzukreisen versuchten: Was ist unter „Recht«, was unter »Gesetz« zu
verstehen?
Wir haben die einzige Verfassung der Welt, in der die Begriffe »Gesetz« und »Recht« als zwei verschiedene
Fixpunkte verwendet werden. Es handelt sich bei der Begriffsbildung "Gesetz und Recht" nicht um eine sinnlos
verdoppelnde Redeweise (Tautologie oder Pleonasmus) wie z.B. bei »alter Greis«. Die vier Mütter und
einundsechzig Väter des Grundgesetzes wollten nach den in der Zeit des NS-Terrors gesammelten Erfahrungen
mit dem von den Nazi-Richtern ausgeübten Justizterror durch die Formulierung „Gesetz und Recht“ z.B. den
Richtern ermöglichen, notfalls gegen ein verfassungswidriges Gesetz »das Recht« zur Geltung zu bringen. Die
Verfassung selbst macht es den Richtern zur Pflicht, notfalls ein Gesetz zu Gunsten dessen, was sie als »Recht«
ansehen oder diffus fühlen - und das kann sehr subjektiv(!) sein -, beiseite zu schieben. In solchen Situationen
gilt in dem Verhältnis von Gesetz und Recht das Wort von Hannah Arendt: „Keiner hat das Recht zu
gehorchen.“
In die Alltagssprache übersetzt, kann diese Grundidee des Spannungsverhältnisses zwischen Recht und Gesetz
zunächst an einem Beispiel außerhalb der staatlichen Gerichtsbarkeit deutlich gemacht werden:
In jedem Wettkampfsport gelten Regeln, um größtmögliche Fairness und Chancengleichheit zu gewährleisten:
Der zum Zeitpunkt des Wettstreits objektiv Bessere oder Glücklichere möge gewinnen und nicht die helfende
Spritze oder Medizin eines Arztes oder ein objektiver Platzvorteil für eine Seite, wie nur den Gegner oder die
gegnerische Mannschaft blendende Sonne oder eine widrige Windrichtung, und was es an sonstigen
Widrigkeiten gibt. Darum ist z.B. bei auf einem Spielfeld im Freien ausgetragenen Ballwettkämpfen nach einem
bestimmten Zeitablauf die jeweilige Spielfeldseite zu wechseln. Verstöße gegen die vorher feststehenden Regeln
werden geahndet. Anders ist Wettkampf nicht möglich. Über die Einhaltung der Regeln, auf deren jederzeitige
Geltung sich jeder Wettkampfteilnehmer verlassen können muss, wacht ein Schieds-Richter, notfalls mit sofort
zu ergreifenden Sanktionen. Er darf keine Binde vor den Augen tragen, wie Justitia! Es ist noch niemand auf die
Idee gekommen, das Symbol eines Schiedsrichters mit Augenbinde darzustellen. Es gilt das Gegenteil! Darum
gibt es ja Witze wie den: Nach einem verpfiffenen Spiel, nach dessen Ende der Schiri von Ordnern der
gastgebenden Mannschaft zum Schutz gegen »Fan«-Ausschreitungen vom Platz in seine Kabine geleitet werden
muss, versucht ein enttäuschter Fan, dem Schiedsrichter wenn nicht tätlich, so doch verbal einen beizupulen:
„Wie heißt denn ihr Hund?“, schreit er dem an ihm vorbeigeführten Schiedsrichter zu. Der antwortet perplex:
„Ich besitze gar keinen Hund.“ Woraufhin der Fan ätzt: „Ach Gott, wie traurig: So blind, und dann keinen
Blindenhund!“
Zur Vermeidung von verleumderischen Nachreden von Prozessverlierern mit zynischen Einsprengseln wie mir
sei es hervorgehoben: Aus dem gleichen Grund gelten auch im Bereich der Justiz streng zu beachtende Regeln.
Justitia trägt ihre Augenbinde auch nur in Bezug auf die vor ihr stehenden Personen. Sie hat – allein „dem
Recht“ und dem Gesetz verpflichtet - ohne Ansehen einer Person zu urteilen. Sie soll aber sehr wohl in
genauester Ansehung des Sachverhaltes urteilen, das bedeutet: ohne Augenbinde. Denn es ist ja ihre Aufgabe,
nach akkurater bis akribischer Sachaufklärung im Rahmen ihrer (sehr oft eingeschränkten)
Erkenntnismöglichkeiten Rechtsfrieden durch Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit herzustellen. Dazu
bedient sie sich der Hilfe von (durchaus fehlbaren!) Richtern; so kommen Fehlurteile zustande. In diesem Ziel
der Herstellung von Rechtsfrieden durch Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit ähneln sich alle
Richterämter. Ein Richter hat Streitfälle zu schlichten und nicht nur im Strafrecht, aber insbesondere dort den
Rechtsfrieden in einer Gesellschaft wiederherzustellen. Immer dann, wenn sich ein Mensch in Deutschland
durch die Staatsgewalt oder durch einen Mitmenschen in seinen Rechten verletzt glaubt, muss der Richter den
Sachverhalt unvoreingenommen klären, eine drohende Rechtsverletzung abwehren oder eine bereits eingetretene
Verletzung durch Ausgleichsmaßnahmen kompensieren. Als Strafrichter hat er über die Einhaltung der
Mindestnormen für ein gedeihliches Zusammenleben zu wachen.
Richter gibt es nicht nur im staatlichen Bereich, sondern auch im privaten. Am bekanntesten ist da insbesondere
die von den Sportverbänden in Eigenregie wahrgenommene Sportgerichtsbarkeit: Nach Abschluss eines Spiels
kann eventuell ein nachträglich einzuberufendes Gremium über die Rechtmäßigkeit eines Schiedsrichter-Urteils
befinden: ein von den ordentlichen Gerichten unabhängiges Verbandssportgericht, das nach einem formell
eingelegten Protest des sich benachteiligt Wähnenden eine Schiedsrichterentscheidung überprüft. So hatten z.B.
zwei der renommiertesten deutschen Fußball-Bundesligatrainer im Eifer eines laufenden Gefechtes mehr als die
pro Spiel erlaubten drei eu-ausländischen Fußballer in ihrer Mannschaft eingesetzt. Sie sahen nur ihre Spieler
166
mit deren Möglichkeiten, das Spiel ihrer Mannschaft durch u.a. öffnende Pässe druckvoller zu gestalten,
vergaßen aber leider deren staatliche Pässe. Obwohl sie nicht unfair gewesen waren und ihre Mannschaft nicht
zeitweise mit zwölf Spielern gespielt hatte – was auch schon vorgekommen ist -, wurde beide mir bekannte Male
das siegreiche Spiel wegen des Verstoßes gegen die Regel bezüglich der Zulässigkeit des Höchsteinsatzes von
eu-ausländischen Spielern nachträglich als verloren gewertet. So stringent werden die »Fußballgesetze«
gehandhabt.
Nun passierte es in einem Spiel der obersten italienischen Fußballliga, dass der zwar haar-, aber nicht hirn- und
schon gar nicht augenlose italienische Star-Schiedsrichter Pierluigi Collina, der als weltbester Fußballschiedsrichter gilt, nach der Pause des Spiels Foggia gegen Bari Ungleichheit anordnete, nicht die Seiten wechseln ließ
und damit gegen die auf Herstellung der Gleichheit der Wettkampfbedingungen und damit auf Gerechtigkeit
abzielende an sich eherne Grundregel des Seitentausches bewusst verstieß: Er wollte so verhindern, dass der
Torwart von Bari in das Tor musste, hinter dem Hooligans ihn mit Wurfgeschossen attackieren wollten. Die Fifa
akzeptierte die ungewöhnliche Maßnahme, obwohl sie eindeutig gegen die Statuten verstößt, die in dieser
Hinsicht keinen Ermessensspielraum eröffnen! Der die an sich zwingenden Fußballregeln in dieser
Ausnahmesituation mit viel Zivilcourage übergehende Schiedsrichter und anschließend die Berufungsrichter des
Sportgerichts sahen in diesem Ausnahmefall das Gesetz nicht als „eiserne Jungfrau“ an, die es der Idee nach
grundsätzlich zu sein hat - und wie es leider im Tatsächlichen manchmal auch zum Nachteil des Rechts so
angewandt wird. »Das Gesetz« sollte keine »das Recht« folternde eiserne Jungfrau sein, »das Recht« jedoch
sollte immer Ungerechtigkeit »foltern«! Der Intention des Art. 20 III GG nach sollten dem Recht
entgegenstehende rechtswidrige oder im Einzelfall das Recht konterkarierende Gesetze notfalls außer Acht
gelassen werden können; »das Recht« jedoch sollte nie zu Unrecht umgeschmiedet werden. Die Verfassung
selbst macht es den Richtern zur Pflicht, notfalls ein Gesetz zu Gunsten dessen, was sie als »Recht« ansehen
oder diffus fühlen - und das kann sehr subjektiv(!) sein -, beiseite zu schieben.
Das im Einzelfall richtig zu entscheiden, bedarf eines sicheren Instinkts, manchmal eines nicht unerheblichen
Maßes an Zivilcourage, auf jeden Fall eines großen Fingerspitzengefühls!
„Keine Haftstrafe für gestohlene Milchschnitte
Köln – Der Diebstahl einer Milchschnitte darf keine Freiheitsstrafe nach sich ziehen. Ein solches
Urteil ist nicht verhältnismäßig und damit rechtswidrig. Mit dieser Begründung hob das
Oberlandesgericht Stuttgart eine Entscheidung des Landgerichts Ravensburg auf, das einen
vorbestraften Dieb zu einem Monat Gefängnis verurteilte, weil er eine im Laden verzehrte 26-Cent
Milchschnitte nicht bezahlt hatte.
Die Stuttgarter Richter: ’Weder der Gedanke, weiteren Straftaten vorzubeugen noch die
Verteidigung des Rechtsstaates rechtfertigen eine so harte Strafe (Az.: Ss 138/02). (ddp)“
(HH A 09.11.02)
Die Richter des Landgerichts hatten nach den Buchstaben des Gesetzes entschieden und diese Entscheidung auf
ihr Gewissen genommen, die Revisionsrichter des OLG sahen „das Recht“, wie sie es subjektiv empfanden, als
verletzt an.
Um auf die Subjektivität des Rechtsempfindens eindrücklich hinzuweisen, sei daran erinnert, dass in einigen
Staaten der USA die gesetzliche Regelung besteht, dass jemand bei einer seiner zweiten Verurteilung in gleicher
Sache die doppelte Strafe zudiktiert erhält, bei einer dritten Verurteilung lebenslang eingekerkert wird,
gleichgültig, wie relativ unbedeutend der dritte Regelverstoß auch ist und ob er mit den vorher begangenen
Straftaten in einer inneren Beziehung steht: Wer sich Vorverurteilungen nicht zur Warnung dienen lasse, habe in
letzter Konsequenz die volle Härte des Gesetzes zu tragen: „Three strikes, and you’re out!“ Das lebenslange
Ausgeschlossensein aus der Gesellschaft wird in alttestamentarischer Strenge von Richtern als das auch von
ihnen so empfundene »Recht« verkündet!
Hinter einer solchen Sicht der Beziehung zwischen Recht und Gesetz, wie sie in Art. 20 III GG formuliert ist
und vom Oberlandesgericht Stuttgart vorbildlich entschieden wurde, leuchtet ein bisschen die (auch
germanische) Auffassung vom Recht als einer übernatürlichen Wertordnung durch, die der Verfügungsgewalt
der momentan gerade herrschenden irdischen Machthaber entzogen ist, da sie in Gott oder den Göttern gründet.
So wird sie auch in Schillers „Wilhelm Tell“ den nächtens auf dem Rütli versammelten Eidgenossen in den
Mund gelegt, wenn es dort heißt, dass sie gegen den Statthalter des Tyrannen das „ewige Recht von den Sternen
holen“ wollen.
So verstanden sind Gesetz und Recht durchaus nicht deckungsgleich. Sie stehen aber in einer Beziehung »sui
generis« (»eigener Art«), in der das als unverrückbar angesehene, letztlich nicht manipulierbar geglaubte
»Recht« mehr an gute alte Vätersitte, an (oftmals auf religiösen Überzeugungen fußende) Moral, als an das von
Menschen möglicherweise zu Missbrauchszwecken degenerierbare »Gesetz« grenzt.
167
Damit aber nicht einer Richterwillkür Tür und Tor geöffnet werde, ist in unserem Verfassungsstaat für den
Normalfall eines von einem Richter so gewerteten Auseinanderklaffens von Recht und Gesetz ein besonderes
Überprüfungsverfahren vorgesehen. Wie an einem Fall des Ehenamensrechts schon deutlich geworden war,
können Richter in einem sogenannten "konkreten Normenkontrollverfahren" gemäß Art. 100 I GG ein von ihnen
beanstandetes Gesetz durch die Richter des BVerfGs als die dazu bestellten "obersten Hüter der Verfassung"
überprüfen und eventuell aufheben lassen.
2.2 »Gesetz«, »Recht« und »Gerechtigkeit«
„Gesetz«,
»Recht«
und
"Gerechtig
keit"
Doch was ist nun - zunächst einmal ganz unjuristisch - „Gesetz«, was »Recht« und, als weitere Frage ergibt sich
dann daraus, was »Gerechtigkeit«?
Als 1992 wieder, wie 1963 und 1968, amerikanische Städte brannten, weil in einem Akt von Rassenjustiz eine
im angelsächsischen Recht zur Urteilsfindung vorgesehene zwölfköpfige Jury in - bis auf eine Latino-Frau ausschließlich weißer Besetzung in Los Angeles vier weiße Polizisten vom Vorwurf der "Polizeibrutalität"
wegen eines Angriffs mit einer gefährlichen Waffe sowie unverhältnismäßiger Anwendung körperlicher Gewalt
(entspricht unserer gefährlichen Körperverletzung im Amt) freisprach, die nach vorliegenden, unbestreitbar
beweiskräftigen Filmaufnahmen gemeinsam einen einzelnen schwarzhäutigen, nach einer Verfolgungsjagd
überwältigten und nun am Boden liegenden US-Amerikaner zusammengeschlagen hatten (der sich, so
behaupteten die vier Polizisten, - aus welchen Gründen auch immer - seiner Festnahme widersetzt haben soll),
zogen demonstrierende Farbige mit u.a. der auf Pappen gemalten Losung durch die Straßen: "No justice - no
peace!"
Solche Skandalurteile haben in den USA Tradition, und man wagt in Ansehung solcher Urteile nicht von einem
Rechtsstaat zu sprechen:
„US-JUSTIZ
Lynchmord kommt nach 50 Jahren vor Gericht
Von Roman Heflik
Der Junge hatte etwas getan, was man nicht tun durfte. Zumindest nicht als Schwarzer: Er hatte einer
weißen Frau hinterhergepfiffen. Der Junge wurde gelyncht. Seine Mörder wurden freigesprochen.
Doch jetzt rollen FBI und Staatsanwälte das Verbrechen an Emmett Till wieder auf.
Die Männer kamen in der Nacht. Sie kamen, um sich zu rächen. Um diesem Schwarzen eine Lektion
zu erteilen. Um ihn zu töten. Es war der August des Jahres 1955.
Ihr Opfer hieß Emmett Till, ein 14-jähriger Junge. Till war aus dem fernen Chicago nach Money,
Mississippi, angereist, um seinen Onkel und dessen Familie zu besuchen. Dass hier im tiefen Süden
der USA noch andere Gesetze herrschten, dass hier Schwarze vielerorts noch als vogelfreie SklavenNachfahren betrachtet wurden, wusste der Besucher nicht. Was für Konsequenzen es in dieser
Gegend haben konnte, aus der Rolle des demütigen Schwarzen zu fallen, davon hatte der Junge keine
Vorstellung.
Und so hatte sich Emmett Till an diesem Tag wie immer verhalten, so, wie es viele Halbwüchsige
seiner Heimatstadt und seines Alters eben taten: fröhlich und ein bisschen respektlos. Als er zum
Einkaufen den Laden der Bryants betrat, stieß er beim Anblick der attraktiven weißen
Ladeninhaberin, Mistress Bryant, einen bewundernden Pfiff aus.
Bryants Ehemann Roy schäumte vor Wut. Till hatte einen jahrhundertealten Verhaltenskodex
gebrochen. Vermutlich in der darauf folgenden Nacht drang Roy Bryant zusammen mit seinem
Halbbruder J.W. Millam in das Haus der Familie Till ein und schleppten Emmett aus seinem Bett.
Draußen schlugen die Männer solange auf den Jungen ein, bis sein Gesicht nur noch ein blutiger
Klumpen war. Als die Leiche drei Tage später gefunden wurde, glaubten viele, der Junge habe einen
Schuss mit einer Schrotflinte ins Gesicht bekommen. Später berichtete Millam, er habe dem Jungen
mit einer Pistole in den Kopf geschossen.
In ihrem Blutrausch wickelten die Männer dem sterbenden Kind Stacheldraht um den Hals,
befestigten ein Metallgewicht daran und warfen das blutende Bündel in den Tallahatchie River. Drei
Tage später fanden Fischer den verstümmelten Körper.
Die beiden Täter wurden zwar von der Polizei verhaftet; ihnen wurde der Prozess gemacht. Doch
bereits während der Verhandlung wurde deutlich, dass der Fall die weißen Zuschauer und den
168
weißen Richter eher amüsierte: Im Zuschauerraum wurde geplaudert und gelacht, auf den für die
Weißen bestimmten Plätzen wurden wahre Picknicks veranstaltet.
Nach fünf Verhandlungstagen und einstündiger Urteilsberatung kam die rein weiße, männliche Jury
zu einem Urteil: unschuldig in beiden Fällen. Dabei hatten die Verteidiger der beiden Mörder die Tat
gar nicht abgestritten. Sie hatten erklärt, der Schwarze sei noch nicht tot gewesen, als die
Angeklagten ihn in den Fluss geworfen hätten. Grinsend verließen Bryant und Millam das
Justizgebäude als freie Männer.
Das offensichtliche Versagen der Justiz, selbst grausamste Verbrechen an Schwarzen zu ahnden,
löste massive Proteste im Süden der USA aus. So wird der Prozess um Emmett Till oft als die
eigentliche Geburtsstunde der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung bezeichnet, die sich für die
Gleichberechtigung der afroamerikanischen Bevölkerung einsetzte. Drei Monate nach dem Mord
machte die Schwarze Rosa Parks Schlagzeilen, als sie sich weigerte, von ihrem für Weiße
reservierten Bus-Sitz aufzustehen.
Trotz mehrerer Anträge von Tills Mutter sah das US-Justizministerium jahrelang keinen Grund, den
Fall oder das Verfahren zu überprüfen. Nach dem Urteilsspruch galten die beiden Halbbrüder als
unschuldig und konnten nach dem Gesetz von Mississippi nicht mehr belangt werden - selbst, als
Millam sich nach der Verhandlung vor einem Reporter mit seiner Tat brüstete. "Chicago-Boy", habe
er dem Kind gesagt, "ich werde an dir ein Exempel statuieren, damit jeder weiß, wo ich und meine
Leute stehen."
Nun wird die Akte Emmett Till wieder geöffnet - nach fast fünfzig Jahren. Anlass waren Aussagen
des Dokumentarfilmers Keith Beauchamp, er habe Hinweise auf weitere Tatbeteiligte. Bei der
Recherche für seinen Film "Die nicht erzählte Geschichte von Emmett Louis Till" habe er zahlreiche
Augenzeugen befragt. Von ihnen habe er erfahren, dass sich in jener Augustnacht noch sieben andere
Männer an der Tat beteiligt hätten. Einige von ihnen sind immer noch am Leben. Daher müsse das
Verfahren neu eröffnet werden.
Unterstützt wurde Beauchamp bei dieser Forderung von dem Senator Charles Schumer und dem
Kongressabgeordneten Charles Rangel aus New York - mit Erfolg. Am Montag gab das
Justizministerium bekannt, FBI-Agenten und Bundesanwälte würden in Zusammenarbeit mit den
örtlichen Ermittlungsbehörden den Fall neu untersuchen. "Wir schulden es Emmett Till und uns
selbst, zu sehen, ob nach all den Jahren zusätzliche Justizmaßnahmen möglich sind", verkündete
Alexander Costa, Staatsanwalt der Bürgerrechtsabteilung des Justizministeriums.
Die Behörden von Mississippi sind darum bemüht, die Scharte von damals wieder auszuwetzen:
"Wir freuen uns, dass dieser ewige Alptraum dank der Zusammenarbeit von Bundes- und
Landesbehörden untersucht werden kann", antworte Joyce Chiles, zuständiger Staatsanwalt des
Bezirks Mississippi, auf die Anfrage aus Washington.
Diese Kooperation war es, die die Strafverfolgung überhaupt erst möglich gemacht hat: Denn nach
US-Bundesrecht sind die Taten längst verjährt - nicht jedoch nach den Gesetzen des Staates
Mississippi.
Anders als ihre mutmaßlichen Kumpane müssen die beiden Haupttäter indessen keine Strafe mehr
fürchten: Millam starb 1980, sein Halbbruder Roy zehn Jahre später.“ (SPIEGEL online 2004)
Die rund 12 % Afro-Amerikaner fühlen sich auf ihrem mühsam-langen Weg von der Sklaverei zur
Gleichberechtigung in ihrem Verlangen nach gerichtlicher und sozialer Gerechtigkeit nicht nur überwiegend als
Bürger zweiter Klasse, sie waren es auch - und sind es immer noch. Für die farbigen Amerikaner war die Lehre
aus dem Skandalurteil, dem eine lange Reihe ähnlicher Unrechtsurteile vorausgegangen (und leider auch
nachgefolgt) ist: Polizeibrutalität ist rechtlich nicht verfolgbar, ist nach Meinung der Jury "angemessene Härte",
wenn sie gegen Farbige gerichtet ist. Dieses über Jahrhunderte entstandene Unrechts-Erfahrungswissen der
farbigen US-Amerikaner brachte den satirischen Spötter Oscar Wilde in Anlehnung an die klassische
Demokratie-Definition seines großen Präsidenten Lincoln in dessen berühmter Gettysburger Rede
(„Gettysburger Address“), Demokratie sei die „Regierung über das Volk durch das Volk für das Volk“
(„Government of the people by the people for the people“), zu der bitterbösen Abwandlung: „Demokratie ist
nichts anderes als das Niederknüppeln des Volkes durch das Volk für das Volk.“ Wenn es stimmt, dass
Demokratie idealtypisch als „politische Form der Menschlichkeit“ (Tomas G. Masaryk) definiert werden kann,
dann sind die USA wahrlich nicht das, worauf die US-Amerikaner (dann zu Unrecht) so stolz sind: eine
Demokratie.
Die farbigen US-Amerikaner fordern zu Recht »Gerechtigkeit«, sowohl vor den Schranken der Gerichte, und das
bedeutet die Gleichheit aller vor dem Gesetz ohne Unterschied der Hautfarbe, wie auch - zur Lösung des dem
169
allen zugrunde liegenden wirtschaftlich-sozialen Konflikts - bei der Ausgestaltung der sie bisher grob
benachteiligenden Lebensverhältnisse: Schwarze haben in den USA die vergleichsweise schlechtesten
Schulabschlüsse. Sie erhalten auch eine schlechtere Berufsausbildung und verdienen weniger - wenn sie
überhaupt einen Arbeitsplatz finden; von einem angemessenen ganz zu schweigen. Die meisten Schwarzen
erreichen noch nicht einmal das unterste Lohnniveau der Weißen, und jeder zweite unter 30 ist noch nicht
einmal »auf dem Arbeitsmarkt«. Die Zahl der Schwarzen, die unter der Armutsgrenze leben, ist prozentual
dreimal so hoch wie die der Weißen. Sie haben die kürzeste Lebenserwartung. Für einen Schwarzen im New
Yorker Stadtteil Harlem liegt sie bei 46 Jahren. "Keine andere Gruppe", sagte der Historiker Roger Wilkins,
"hat unter dem Habgier-Boom der 80er Jahre so gelitten, und die Zukunft sieht noch wesentlich düsterer aus."
Die US-Amerikaner haben die Lehre ihres großen Präsidenten Abraham Lincoln vergessen oder verdrängt, der
erkannt hatte, dass Ungerechtigkeit der eigentliche Sprengstoff einer Gesellschaft ist und darum formuliert hatte:
"Nichts ist dauerhaft geregelt, was nicht gerecht geregelt ist."
Danach ist »Gerechtigkeit« das Recht der Schwächeren auf nicht nur lebenserhaltende, sondern auch
gleichberechtigte Teilhabe an gesellschaftlichen Möglichkeiten. „Ein Mensch fühlt oft sich wie verwandelt,
sobald man menschlich ihn behandelt“ (Eugen Roth).
Man kann mit seinen Begründern, ja man sollte die Idee des Kommunismus als Versuch einer Antwort auf die
ungerechten gesellschaftlichen Verhältnisse der Zeit seiner Entstehung im 19. Jahrhundert sehen – und den
Untergang der kommunistischen Systeme im 20. Jahrhundert als Folge der durch den historischen Materialismus
als Staatsdoktrin neu geschaffenen gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten:
„Gerechtigkeit ist das Brot des Volkes“
hieß es denn auch auf Spruchbändern in Leipzig, als die Ostdeutschen ihr kommunistisches System in den Orkus
der Geschichte verbannten.
Diese Sicht von »Gerechtigkeit« deckt sich mit der des griechischen Philosophen Heraklit (ca. 540 - 480 v.Chr.),
der glaubte und lehrte, dass (nur) eine “kosmische Gerechtigkeit“ in der Welt ein Gleichgewicht aufrecht erhalte.
Für Platon (427 - 347 v.Chr.) war »Gerechtigkeit« die Kardinaltugend, die alle anderen Tugenden verband; der
(Sklaven-)Staat (der attischen »Demokratie« seiner Zeit) wurde von ihm als Verkörperung der Idee der
Gerechtigkeit angesehen. Für seinen Schüler Aristoteles (384 - 322 v.Chr.) war die »Gerechtigkeit« keine
subjektive Tugend, sondern das objektiv zu sehende Leitprinzip des Rechts. Er formulierte die Erkenntnis, dass
das für eine politische Gemeinschaft geltende »Recht« aus einerseits dem natürlichen und andererseits aus dem
„gesetzlichen Recht“ bestehe, und letzteres nach aller Erfahrung auch ungerechte Gesetze beinhalte.
Kant sah »Gerechtigkeit« als so zentral an, dass er (ungefähr) formulierte: „Ohne Gerechtigkeit lohnte es nicht,
dass Menschen auf Erden leben.“
2.3 Gesellschaftliche Befriedungsfunktion des Rechts
Gesellsch
aftliche
Befriedun
gsfunktio
n des
Rechts
Ohne gerichtliche und gesellschaftliche »Gerechtigkeit« kann das verletzte »Recht« – was auch immer sich
hinter diesem Begriff, wenn man ihn näher untersucht, im Einzelnen verbergen mag - nicht der ihm zuvorderst
obliegenden gesellschaftlichen Befriedungsfunktion gerecht werden! Das gilt für alle Staaten und darum auch für
die Bundesrepublik:
"Gerechtigkeit verlangt
dpa Bautzen - Die DDR-Justiz hat nach Angaben des Parlamentarischen Staatssekretärs im
Bundesjustizministerium, Reinhard Döhner (CDU), insgesamt etwa 150.000 politisch motivierte
Strafurteile gefällt. 60.000 hätten Anträge auf Rehabilitation oder Kassation der Urteile gestellt. Er
räumte eine noch zu schleppende Bearbeitung der Anträge ein. Die Opfer verlangten schnellste
materielle und moralische Entschädigung. Die Zeit dränge, weil zwei Drittel der Betroffenen bereits
über 65 Jahre alt seien."38 (HH A 27.04.91)
38
Avenarius, H.: Kleines Rechtswörterbuch, Freiburg 1991, Lizenzausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung
(Bonn) des Herder-Tachenbuches Bd. 1733, Stichwort "Rehabilitierung":
"In Art. 17 des Einigungsvertrages haben die Vertragsparteien ihre Absicht bekräftigt, daß unverzüglich eine gesetzliche
170
In diesem Zusammenhang stellten sich einige Fragen, z.B.: Warum soll die Bundesrepublik die
Entschädigungsleistungen aufbringen, und nicht die SED-Nachfolgerin PDS mit allem übernommenen und dem
zum Teil rausgeschmuggelten oder an frühere Parteimitglieder verschobenen milliardenschweren
Parteivermögen der früheren Staatspartei an Immobilien, Firmenbesitz, anderen Geldanlagen und Bargeld - so
man die verschobenen Vermögenswerte finden konnte. Und wenn die Bundesrepublik, der dieses staatliche
Fehlverhalten der SED-geführten DDR wirklich nicht angelastet werden kann, großzügigerweise eine
Entschädigung für das von ihr nicht zu verantwortende Unrecht – die BRD ist nicht die Rechtsnachfolgerin der
DDR, wie sie sich als Nachfolgerin des mit den Nazis untergegangenen Deutschen Reiches verstand und darum
Entschädigungsleistungen an verschiedene Staaten, insbesondere an Israel zahlte, die ostdeutschen Länder sind
der BRD »nur« beigetreten - zu zahlen bereit ist: Wie viel an Ausgleichszahlung wäre angemessen und gerecht?
Wie viel davon ist bei der angespannten Haushaltslage – nur(?) - bezahlbar?
Kant sah es als Aufgabe der durch »das Recht« gebildeten Rechtsordnung in einer bürgerlichen Gesellschaft an,
dass sie dem einzelnen Staatsbürger ein Höchstmaß an - nur durch die Rechte der Anderen begrenzter - Freiheit
bescheren solle. Die Garantie dieser Freiheit und ihr Schutz vor Missbrauch sei der Sinn der Rechtsordnung.
»Das Recht« habe im gesellschaftlichen Zusammenleben die Funktion der öffentlichen Moral zu übernehmen.
Die gesellschaftliche Befriedungsfunktion durch »das Recht«, die auf seiner Allgemeinverbindlichkeit gegenüber
jedermann und seiner - ausschließlich durch das Gewaltmonopol des Staates gewährleisteten - Erzwingbarkeit
fußt, tritt nur ein, wenn das Recht sowohl den in seinen gesellschaftlichen Möglichkeiten Schwächeren schützt
als auch die Staatsmacht begrenzt. Die Geltung des Rechts verhindert einen durch den gerade gesellschaftlich
(eventuell auch nur partiell) Stärkeren im Eigeninteresse vorgenommenen Rechtsraub! Ein Rechtsstaat bändigt
die natürliche Macht des Stärkeren durch Gesetze: sei es die eines Einzelnen oder die des Staates. In einem
Rechtsstaat gibt es keine legitime außergesetzliche Gewalt: kein Faustrecht für Einzelne, wie z.B. durch
Warlords in Afghanistan, Somalia, Uganda und vielen anderen Bürgerkriegsstaaten Afrikas, oder nichtstaatliche
miteinander verfeindete Stammesgruppen, wie in vielen Staaten Afrikas, und keine Machtusurpation durch
staatliche Stellen. Die Überwindung des Faustrechts und die Einführung des durch Gesetze gebändigten
Gewaltmonopols des Staates, mit dem durch staatliche Stellen – siehe NS-Staat! - kein Schindluder getrieben
werden darf, sind mit die wichtigsten Errungenschaften des modernen liberalen Verfassungsstaates, der
Grundlage unserer heutigen Zivilisation. Eigene Maßstäbe mit noch so moralischer Begründung dürfen sich
nicht über den Rechtsstaat erheben, so lange er einer ist. Entartet er zu einer Diktatur, stellt sich das Problem des
Tyrannenmordes, das der einzelgängerische Kunsttischler Johann Georg Elser ohne Hilfe anderer am 08.
November 1939 mit dem ersten aus Gewissensnot auf Hitler verübten Attentatsversuch im Münchner
Bürgerbräukeller für sich bejaht hatte. Damit wollte er den von Hitler gerade verbrecherisch vom Zaune
gebrochenen Zweiten Weltkrieg beenden. Dafür wurde der Sondergefangene Hitlers am 09.04.1945, einen
Monat vor der bedingungslosen Kapitulation Großdeutschlands, im KZ Dachau hingerichtet.
Ihm folgten weitere Widerstandskämpfer, von denen z.B. der Leipziger Oberbürgermeister Gördeler durch den
geplanten Tyrannenmord ausdrücklich „der Majestät des Rechts zum Durchbruch verhelfen wollte“.
Was hier zunächst für die einzelnen Staaten ausgeführt wurde, gilt auch für die Staatengemeinschaft: Die
Staatengemeinschaft hat sich in Kapitel VII der UN-Charta darauf geeinigt, dass die vorstehend erläuterten
Prinzipien auch für das Verhältnis der Staaten untereinander gelten sollen und ausschließlich die UNO und in ihr
Grundlage dafür geschaffen wird, daß alle Personen rehabilitiert werden können, die Opfer einer politisch motivierten
Strafverfolgungsmaßnahme oder sonst einer rechtsstaats- und verfassungswidrigen gerichtlichen Entscheidung geworden
sind; die R. dieser Opfer des SED-Unrechts-Regimes soll mit einer angemessenen Entschädigungsregelung verbunden
werden. ... Nach dem ... Gesetz werden Personen, die wegen einer Handlung strafrechtlich verfolgt wurden, mit der sie
verfassungsmäßige politische Grundrechte wahrgenommen haben, rehabilitiert. Die R. bezweckt eine politisch-moralische
Genugtuung für den Betroffenen. Sie setzt einen Antrag des Betroffenen oder - nach seinem Tode - der nahen
Angehörigen voraus, der bei einem Gericht im Beitrittsgebiet zu stellen ist. ... Das Strafurteil ist aufzuheben, soweit die
Voraussetzungen der R. erfüllt sind. Die Rückerstattung oder Rückgabe von Vermögenswerten, die im Zusammenhang
mit rechtsstaatswidrigen Strafverfolgungsmaßnahmen dem Betroffenen oder Dritten entzogen worden sind, richtet sich
nach dem Vermögensgesetz. Die R. begründet einen Anspruch auf soziale Ausgleichsleistungen; für Art u. Umfang dieser
Leistungen gelten sinngemäß die Bestimmungen des Häftlingshilfegesetzes (für die ersten beiden Jahre ungerechtfertigter
Strafhaft 80 DM monatlich, danach 270 DM monatlich).
Wer durch ein Strafgericht der DDR wegen einer nicht politisch motivierten Straftat rechtsstaatswidrig verurteilt wurde,
kann die Aufhebung der Entscheidung im Wege der Kassation beantragen. Dem Antrag ist stattzugeben, wenn die
Entscheidung auf einer schwerwiegenden Verletzung des Gesetzes beruht oder im Strafausspruch gröblich unrichtig ist. ...
Vermögensrückerstattung und soziale Ausgleichsleistungen sind für den Fall der Kassation nicht vorgesehen."
171
der Weltsicherheitsrat über das Gewaltmonopol verfügen solle, über die Berechtigung eines Krieges zu
entscheiden. Ein Krieg ohne offensichtliche Selbstverteidigungshandlung ist nach dem Völkerrecht ein durch
internationale Abkommen geächteter Angriffskrieg, auch wenn er als Präventivkrieg zur Verteidigung gegen
eine – angeblich – bestehende Bedrohung des den Krieg führenden Staates ausgegeben wird: Als die USA gegen
den Irak ohne ein diesbezügliches Votum des UNO-Sicherheitsrates losschlugen, brachen sie die von ihnen
mitgeschaffene internationale Rechtskultur und kehrten zum internationalen Faust»recht« zurück; in diesem
Zusammenhang von Recht zu sprechen, ist nur eine euphemistische Bemäntelung des Zwanges durch den
Stärkeren – der im Falle der Ermordung tausender muslimischer Albaner durch die katholischen Kroaten und
insbesondere durch die orthodoxen Serben vielen Albanern das Leben gerettet hatte, als europäische Mächte
unter der Führung der USA ohne UN-Mandat im zerfallenden Jugoslawien einmarschierten, um das
Abschlachten der muslimischen Bevölkerung ohne UN-Mandat zu beenden.
2.4 Das »Brett des Karneades« und die Frage nach »Gesetz«, »Recht« und
»Gerechtigkeit«
Doch zurück zu dem Ausgangsproblem: Was ist »Gesetz«, was »Recht«, und wie stehen diese beiden zentralen
Begriffe zu der - woran zu messenden(?) - »Gerechtigkeit«? „Summa ius, summa iniuria!“ („Höchstes Recht
bedeutet höchste Ungerechtigkeit“; Cicero), wie die Römer meinten? Dieses Problem wurde von Heinrich von
Kleist in seiner bekanntesten Novelle „Michael Kohlhaas“ ausgearbeitet: „Die Welt würde sein Andenken haben
segnen müssen, wenn er in seiner Tugend nicht ausgeschweift wäre. Das Rechtsgefühl aber machte ihn zum
Räuber und Mörder.“
Und wie kommt es zu der negativen Ausprägung von »Gerechtigkeit«, von der Camus schrieb:
„Gerechtigkeit ohne Gnade ist nicht viel mehr als Unmenschlichkeit“,
so dass von Fridel Marie Kuhlmann die berechtigte Forderung erhoben wurde:
„Es darf der Geist der Menschlichkeit im Paragraphen nicht ersticken.“
Das „Brett
des
Karneades
" und die
Frage
nach
»Gesetz«,
»Recht«
und
Gerechtig
keit"
Das Problembewusstsein zur Beantwortung der Fragen nach »Gesetz«, »Recht« und »Gerechtigkeit« soll
zunächst an einer literarischen Vorlage erarbeitet werden, die ein strafjuristisches Problem aufgreift, das seit
2200 Jahren als das „Brett des Karneades" (214 - 129 v.Chr.) durch die Juristenausbildung geistert:
Ein Schiffbrüchiger hat sich auf ein Wrackteil gerettet, das - im Gegensatz zu der Planke, auf die Ben Hur den
Quintus Arius und sich während der Seeschlacht hochdramatisch rettet - nur einen(!) Menschen zu tragen in der
Lage ist. Ein anderer Schiffbrüchiger schwimmt hinzu, stößt, um sich mittels des schwimmenden Holzes selbst
retten zu können, den ersteren von dort herunter - wohlwissend, dass er durch diese Handlung den anderen dem
sicheren Tod preisgeben werde. (Die Juristen - besonders die Strafjuristen - argumentieren gerne an
Extrembeispielen, weil dort die Überlegungen und Abwägungen wie in einem Brennpunkt fokussiert werden.)
Die literarische Vorlage, auf deren Grundlage wir das Problem erörtern wollen, stammt von der Dame auf dem
letzten deutschen 20-Mark-Schein.
Die Vergeltung (Annette von Droste-Hülshoff)
Der Kapitän steht an der Spiere,
Das Fernrohr in gebräunter Hand,
Dem schwarzgelockten Passagiere
Hat er den Rücken zugewandt.
Nach einem Wolkenstreif in Sinnen
Die beiden wie zwei Pfeiler sehn,
Der Fremde spricht: "Was braut da drinnen?"
"Der Teufel", brummt der Kapitän.
Da hebt von morschen Balkens Trümmer
Ein Kranker seine feuchte Stirn,
Des Äthers Blau, der See Geflimmer,
Ach, alles quält sein fiebernd Hirn!
Er läßt die Blicke, schwer und düster,
Entlängs dem harten Pfühle gehn,
Die eingegrabenen Worte liest er:
"Batavia. Fünfhundertzehn."
Die Wolke steigt, zur Mittagsstunde
Das Schiff ächzt auf der Wellen Höhn,
Gezisch, Geheul aus wüstem Grunde
Die Bohlen weichen mit Gestöhn.
172
"Jesus, Marie! wir sind verloren!"
Vom Mast geschleudert der Matros',
Ein dumpfer Krach in aller Ohren,
Und langsam löst der Bau sich los.
Noch liegt der Kranke am Verdecke,
Um seinen Balken festgeklemmt,
Da kommt die Flut, und eine Strecke
Wird er ins wüste Meer geschwemmt.
Was nicht geläng der Kräfte Sporne,
Das leistet ihm der starre Krampf,
Und wie ein Narwal mit dem Horne,
Schießt fort er durch der Wellen Dampf.
Und immer näher schwankt's heran,
Und immer näher treibt die Trümmer,
Wie ein verwehtes Möwennest;
"Courage!" ruft der kranke Schwimmer,
"Mich dünkt, ich sehe Land im West!"
Nun rühren sich der Fähren Ende,
Er sieht des fremden Auges Blitz,
Da plötzlich fühlt er starke Hände,
Fühlt wütend sich gezerrt vom Sitz.
"Barmherzigkeit! ich kann nicht kämpfen."
Er klammert dort, er klemmt sich hier;
Ein heisrer Schrei, den Wellen dämpfen,
Am Balken schwimmt der Passagier.
Wie lange so? - er weiß es nimmer,
Dann trifft ein Strahl des Auges Ball,
Und langsam schwimmt er mit der Trümmer
Auf ödem glitzerndem Kristall.
Das Schiff! - die Mannschaft! - sie versanken.
Doch nein, dort auf der Wasserbahn,
Dort sieht den Passagier er schwanken
In einer Kiste morschem Kahn.
Dann hat er kräftig sich geschwungen
Und schaukelt durch das öde Blau,
Er sieht das Land wie Dämmerungen
Enttauchen und zergehn in Grau.
Noch lange ist er so geschwommen,
Umflattert von der Möwe Schrei,
Dann hat ein Schiff ihn aufgenommen,
Viktoria! nun ist er frei!
Armsel'ge Lade! sie wird sinken,
Er strengt die heisre Stimme an:
"Nur grade! Freund, du drückst zur Linken!"
2.
Drei kurze Monde sind verronnen,
und die Fregatte liegt am Strand,
Wo mittags sich die Robben sonnen,
Und Burschen klettern übern Rand,
Den Mädchen ist's ein Abenteuer,
Es zu erschaun vom fernen Riff,
Denn noch zerstört ist nicht geheuer
Das gräuliche Korsarenschiff.
Und vor der Stadt, da ist ein Waten,
Ein Wühlen durch das Kiesgeschrill,
Da die verrufenen Piraten
Ein jeder sterben sehen will.
Aus Strandgebälken, morsch, zertrümmert,
Hat man den Galgen, dicht am Meer,
In wüster Eile aufgezimmert.
Dort dräut er von der Düne her!
Welch ein Getümmel an den Schranken! -
"Da kommt der Frei - der Hessel jetzt Da bringen sie den schwarzen Franken,
Der hat geleugnet bis zuletzt." "Schiffbrüchig sei er hergeschwommen",
Höhnt eine Alte, "ei, wie kühn!
Doch keiner sprach zu seinem Frommen,
Die ganze Bande gegen ihn."
Der Passagier, am Galgen stehend,
Hohläugig, mit zerbrochnem Mut,
Zu jedem Räuber flüstert flehend:
"Was tat dir mein unschuldig Blut?
Barmherzigkeit! - so muss ich sterben
Durch des Gesindels Lügenwort,
O, mög die Seele euch verderben!"
Da zieht ihn schon der Scherge fort.
Er sieht die Menge wogend spalten Er hört das Summen im Gewühl Nun weiß er, dass des Himmels Walten
Nur seiner Pfaffen Gaukelspiel!
Und als er in des Hohnes Stolze
Will starren nach den Ätherhöhn,
Da liest er an des Galgens Holze:
"Batavia. Fünfhundertzehn."
Geschah dem Täter »Gesetz« - wie könnte es lauten? - oder geschah ihm „Recht«; menschliches oder göttliches?
Widerfuhr ihm "Gerechtigkeit"?
173
Zur Erörterung dieser Frage brauchen wir aber nicht erst auf das Gedicht "Die Vergeltung" zurückzugreifen. Da
genügt auch eine fast alltägliche Zeitungsmeldung, die auch mit dieser Überschrift versehen sein könnte:
"Vier Männer vergewaltigten eine Frau - sie hat Aids
HA Frankfurt - Sie entführten und vergewaltigten eine 34jährige Frau. Jetzt müssen sie selbst um ihr
Leben zittern: Vier bislang unbekannten Tätern droht nach ihrem Sex-Verbrechen ein qualvoller
Tod. Grund: Ihr Opfer leidet an Aids in fortgeschrittenem Stadium.
Die Männer hatten die junge Frau in Frankfurt in ein Auto gezerrt und in einen Wald im Hundsrück
entführt. Dort vergewaltigten sie sie immer wieder. Die vier zwangen ihr Opfer zu Sexualpraktiken,
die eine Infektion mit der tödlichen Immunschwäche so gut wie sicher machen - zumal die Frau bei
der Vergewaltigung blutige Verletzungen erlitt."
Wenn man bis dahin an das (sporadische) Walten einer göttlichen Gerechtigkeit zu glauben geneigt war, so
vergeht einem dieser Gedanke an Gottes langsam aber sicher mahlende Mühlen oder eine in unserer Welt
waltende göttliche Gerechtigkeit dann doch wieder, und man fällt vom (Irr-)Glauben ab, wenn man noch den
letzten Satz der Meldung liest:
"Die Polizei befürchtet jetzt, daß die ahnungslosen Sex-Täter auch noch ihre möglichen Partnerinnen
oder Ehefrauen anstecken werden."
2.5 Strafrechtliche Prüfung des Falles „Brett des Karneades“
Strafrechtl
iche
Prüfung
des Falles
"Brett des
Karneades
"
Unrechtst
atbestand
erfüllt
Vielleicht geschah dem »schwarzen Franken« aus der Ballade „Die Vergeltung“ göttliches Recht, was aber zu
bezweifeln ist, wenn man von der Vorstellung eines liebenden (und nicht eines rächenden) Gottes ausgeht. Aber
auf jeden Fall geschah ihm durch die falsche Aussage der mitangeklagten Seeräuber nicht menschliches Recht,
wenn man für die Abwägung der Schuldfrage die Strafbestimmungen unseres StGB zugrunde legt. Danach hätte
er, obwohl er den Tatbestand des § 212 StGB voll erfüllt hat, der lautet:
"§ 212 StGB Totschlag
Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter
fünf Jahren bestraft."
trotz der von ihm an dem kranken Schiffbrüchigen unstreitig begangenen Tötungshandlung straffrei bleiben
müssen. Die Strafrechtsprechung kann zwar nicht durchgängig unter dem Motto betrieben werden: "Wer
verurteilt, kann irren - wer verzeiht, irrt nie!" Es muss entschieden und wohl auch gestraft werden. Aber der
Gesetzgeber trägt dem psychischen Zwang in extremen Notlagen Rechnung. Die Handlung des »schwarzen
Franken« wäre zwar nicht gemäß
"§ 32 StGB Notwehr
(1) Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig.
(2) Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen
Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden."
gerechtfertigt gewesen. »Gerechtfertigt« bedeutet, dass mit einer Tathandlung kein strafjuristisch definiertes
Unrecht begangen worden ist, obwohl der objektive Tatbestand eines Strafgesetzes (z.B. in § 212 StGB: "Wer
einen Menschen tötet ...") zunächst einmal erfüllt, das in diesem Straftatbestand geschützte Rechtsgut (z.B.
"Leben" in § 212 StGB) verletzt worden ist. Trotzdem kann die geschehene Verletzung eines in einer
strafrechtlichen Bestimmung geschützten Rechtsgutes rechtmäßigerweise vorgenommen worden sein, nämlich
dann, wenn sie durch einen der möglichen Rechtfertigungsgründe, z.B. durch Notwehr, nicht unbedingt rechtlich
geboten - ein Opfer muss sich nicht wehren -, aber erlaubt und damit eben »gerechtfertigt« ist. Für einen
Rechtsstaat gilt: "Das Recht muss nicht dem Unrecht weichen!" - kann es aber tun.
„Schlägt dir jemand auf die linke Wange, so halte auch die Rechte hin“, lautet dagegen Jesu moralischer Appell.
Aber auf dieser extrem erduldenden Basis lässt sich das Zusammenleben in einer staatlichen Gemeinschaft nicht
organisieren.
174
Kein
Eingreifen
von
"Rechtfert
igungsgründen",
insbesond
ere kein
Unrechtsausschluß
durch
Notwehr
oder
rechtfertig
enden
Notstand
Die Notwehrüberlegungen auf die Ballade angewandt ergeben, dass der Kranke den »schwarzen Franken« nicht
angegriffen hatte. Eine Notwehrlage, in der sich der schwarze Franke gegen den Kranken bis zu dessen Tötung
berechtigt hätte wehren dürfen, war für den schwarzen Franken - anders als für den Kranken - somit nicht
gegeben. Der Rechtfertigungsgrund der Notwehr scheidet folglich aus. Aber es gibt ja noch weitere
Rechtfertigungsgründe, die zu prüfen sind, ob sie möglicherweise eingreifen könnten, um das zunächst
festgestellte Unrecht der Tat, hier der Tötung des Kranken, durch eine Kontrollüberlegung wieder
auszuschließen.
Die Tat des »schwarzen Franken« wäre auch nicht nach
"§ 34 StGB rechtfertigender Notstand
Wer in einer anders nicht abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein
anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt
nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen
Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das
beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel
ist, die Gefahr abzuwenden."
gerechtfertigt gewesen, weil das geschützte Interesse seines Lebens in der vom Gesetzeswortlaut des § 34 StGB
geforderten Rechtsgüterabwägung nicht das von ihm beeinträchtigte Interesse des Lebens des Kranken überwog.
Unter der Geltung des Grundgesetzes darf grundsätzlich nicht Leben gegen Leben abgewogen werden. Man darf
z.B. nicht gesundes gegen krankes Leben aufrechnen. (Das war unter den US-Amerikanern1 und den Nazis
anders. Diesbezügliche kommerzielle Nützlichkeitserwägungen gegenüber sogenannten "Ballastexistenzen"
wurden in der obersten Hierarchieebene erdacht und teilweise bis zu den Kindern im Rechenunterricht der
Grundschule weitergegeben!2) Man darf nicht einmal erlaubterweise ein Leben opfern, um zwei oder mehrere
1
2
Edwin Blake beschreibt in seinem Buch “War against the Weak“, dass eine von US-Pferde- und Rinderzüchtern
dominierte eugenische Bewegung um den Biologen Davenport aus Furcht vor Überfremdung der von Nordeuropäern
aufgebauten USA durch „kleinwüchsige Schwarzhaarige jenseits der Alpen“, Afro-Amerikaner, Mexikaner und Juden ein
Eugenik-Programm ersann, das von mehreren Eliteuniversitäten der USA getragen und verbreitet wurde. Mit diesem
Programm sollte das randständige Zehntel der us-amerikanischen Bevölkerung u.a. durch letztlich Zwangssterilisation
daran gehindert werden, sein als „minderwertig“ eingestuftes Erbgut an Nachkommen weiterzugeben. Der Chef des
Statistikbüros des „Eugenics Record Office“ (ERO), Laughlin, ließ durch gezielte Fragen von »Befragern« und die
Auswertung der Antworten feststellen, dass „70 bis 80 Prozent aller Schwarzen und Juden Trottel und Idioten“ seien. Der
Kampfslogan der Eugeniker lautet: „Einige Amerikaner sind nur geboren, um dem Rest der Gesellschaft zur Last zu
fallen.“ Die zu deren Unterhalt aufzubringenden Kosten in Höhe von damals jährlich 100 Mill. $ solle man durch
eugenische Maßnahmen einsparen. Viele der von den Befragern als „geistig verwirrt“, „blind“, „schwachsinnig“,
„epileptisch“, „verarmt“, unmoralisch“ oder „kriminell“ Katalogisierten, deren (angebliche) „Defekte“ von Ärzten als
„erblich“ eingestuft worden waren, wurden in „Kolonien“ mit extrem hohen Todesraten interniert, in „Heilanstalten“
abgeschoben und Tausende wurden mit erschlichener oder ohne Zustimmung der Betroffenen auf der Grundlage von
Einzelstaatsgesetzen in 33 Staaten der USA sterilisiert. Zu diesem Zweck hatte Laughlin als Vorlage für die Gesetzgebung
ein »Modell«-Gesetz zur Zwangssterilisation von „Geisteskranken“ entwickelt. Hitlers Rassenhygieniker des
Rassenpolitischen Amtes der NSDAP übersetzten das »Modell«-Gesetz ins Deutsche und verwandten Teile daraus für die
eigenen eugenischen Gesetze wie insbesondere das “Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“
(„Erbgesundheitsgesetz“) vom 14.07.1933, das “Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“
(„Blutschutzgesetz“) vom 15.09.1935 und das „Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes“
(„Ehegesundheitsgesetz“) vom 18.10.1935, auf deren Grundlage dann ca. 350.000 Menschen »legal« zwangssterilisiert
worden sind. Laughlin erhielt für seine diesbezüglichen »Verdienste« 1936, im Jahr der Olympiade in Berlin, in der die
deutschen Sportler mit Abstand die meisten Medaillen holten und so die Überlegenheit der »nordischen Rasse« für die
Weltöffentlichkeit sehr augenscheinlich nachgewiesen hatten, 1936 die Ehrendoktorwürde der Universität Heidelberg.
Einige der us-amerikanischen Eugenik-Gesetze blieben trotz des Wissens um deren Missbrauch bis etwa 1970 in Kraft.
Auf ihrer Grundlage wurde bis zum Schluss u.a. vielen Indianerinnen zur Verhinderung »minderwertigen« Nachwuchses
ganz »legal« auf der Grundlage dieser Schandgesetze ihre Gebärmutter herausoperiert – teilweise als Übungsprogramm für
angehende (weiße) Gynäkologen.
Hitlers Leibarzt Morell hatte im Juli 1939 nach Unterredungen mit Hitler in einer Denkschrift festgehalten: „Es spielt
schließlich der Gedanke der Menschenrechte eine Rolle. (...) An dem Gedanken ist etwas Richtiges, als Prinzip ist er
falsch. Ein subjektives Recht dieser Art mit uneingeschränktem Eigenbereich gibt es genauso wenig wie beim Eigentum.
(...) Die dringenden Bedürfnisse der Gemeinschaft lassen sich aber nicht aus der augenblicklich günstigen Lage
entwickeln, sondern sie müssen auf einen längeren Zeitraum abgestellt (werden) und insbesondere auch künftige
Möglichkeiten berücksichtigen. 5000 Idioten mit Jahreskosten von je 2000 RM = 10 Millionen jährl. 5 Prozent
Verzinsung entspricht das einem reservierten Kapital von 200 Millionen. ... Dabei müssen auch noch das Freiwerden von
175
andere Leben zu retten. Eine solche Handlung wäre gegenüber dem/den jeweiligen Opfer/n nicht gerechtfertigt!3
Weitere Rechtfertigungsgründe sind nicht ersichtlich. Damit ist die Tat mit der Rechtsordnung nicht vereinbar.
Sie ist somit objektiv rechtswidrig.
Schuldtatbe Der "schwarze Franke" war schuldfähig und handelte vorsätzlich. Damit ist nach dem Vorliegen des objektiven
stand erfüllt Tatbestandes auch das Vorliegen des subjektiven Tatbestandes zu bejahen. Der Schuldtatbestand ist (wieder nur
als Zwischenergebnis) als erfüllt festzustellen.
Aber auf eine solche vorsätzlich begangene Handlung wie die des schiffbrüchigen »schwarzen Franken« wird
unter bestimmten, extremsten Voraussetzungen trotzdem nicht mit einem Strafausspruch reagiert: Obwohl der
»schwarze Franke« eine rechtswidrige Tötungshandlung begangen hat, würde er nicht verurteilt werden, weil
sein Handeln in dieser Situation gemäß
"§ 35 StGB entschuldigender Notstand
Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit eine
rechtswidrige Tat begeht, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer anderen ihm
nahestehenden Person abzuwenden, handelt ohne Schuld. ..."
zwar als rechtswidrig - denn man darf einen »Nicht-Angreifer« nicht gerechtfertigt umbringen - aber trotzdem
als nicht vorwerfbar schuldhaft, als »entschuldigt« eingestuft würde. Niemandem wird zugemutet, tatenlos
seinen Tod akzeptieren zu müssen, ohne wenigstens nach dem bewussten Strohhalm - oder eben einem
Schiffsbalken - gegriffen zu haben.4
Ausschluss Welcher Paragraph von beiden, ob § 34 oder § 35 StGB, im konkret zu entscheidenden Fall einschlägig ist, ist
der
zwar für den Betroffenen bei der seinen Strafprozess abschließenden Frage: "Strafe ja oder nein?" gleichgültig,
Rechtsschu aber trotzdem ein feiner Unterschied - nicht nur juristisch, sondern vielleicht auch für sein Gewissen! (Er ist in
ld durch
dem Buch "Rechtskunde - Einführung in das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland anhand von
Eingreifen
Tötungsdelikten" eingehender behandelt.) Der Vergleich des Wortlauts der §§ 34 und 35 StGB ergibt weitere
eines
Unterschiede bezüglich der geschützten Rechtsgüter und des bevorrechtigten Personenkreises! Das ist wegen der
Entschuldi
gungsgrund vielen fremden Vokabeln und der dahinter steckenden Bedeutungen für juristische Anfänger schon starker
juristischer Toback. Aber allgemein gilt, wenn Gesetzeswortlaut erörtert werden muss, der Stoßseufzer des
es
vormaligen Bundesjustizministers Kinkel: "Ich kann doch die Gesetze nicht so machen, dass sie jeder versteht."
Ein Beispiel einer Gesetzesüberschrift aus dem Beschlussprotokoll der Bremischen Bürgerschaft: "Gesetz zur
Nahrungsmitteln eigener Erzeugung und das Sinken gewissen Einfuhrbedarfs bewertet werden.“ (Zitiert nach Aly, G.:
„Endlösung“, S. 52 f). Aus dieser volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung auf oberster NS-Ebene wurde dann in
Rechenbüchern die Rechenaufgaben: "Nach vorsichtigen Schätzungen sind in Deutschland 300.000 Geisteskranke,
Epileptiker usw. in Anstaltspflege. Was kosten diese jährlich bei einem Satz von 4 RM? Wieviel Ehestandsdarlehen zu je
1000 RM könnten ... von diesem Geld jährlich ausgegeben werden?" Oder: "Der Bau einer Irrenanstalt erforderte 6 Mill.
RM. Wieviel Siedlungshäuser zu je 1500 RM hätte man dafür bauen können?" Später gab es bunt bebildertes
Anschauungsmaterial „Ausgaben für Erbkranke – Soziale Auswirkung“ und unter entsprechenden Bildern stand:
„Erziehungsheim in E. mit 130 Schwachsinnigen Ausgaben jährlich 104 000 RM – dafür könnte man - 17 Eigenheime für
erbgesunde Arbeiterfamilien erstellen“ Und zum Einhämmern der Parole groß und rot hervorgehoben die von den Nazis
gewollte Erkenntnis: „Erbkranke fallen dem Volk zur Last!“ Wir wissen aus unserer Ex-post-Betrachtung: Unworten
folgen bald ganz schnell Untaten nach!
3
Ein Weichensteller bemerkt, dass zwei Züge mit Höchstgeschwindigkeit aufeinander zu rasen. Es sind viele Tote zu
erwarten. Das Unglück könnte nur verhindert werden, wenn der Weichensteller eine Weiche umstellt und einen der Züge
über ein Ausweichgleis leitet - an dem eine Gruppe von Gleisbauarbeitern arbeitet, von denen einige voraussichtlich
getötet werden. Der Weichensteller darf nicht nach einer kurzen Überschlagsrechnung den Hebel umlegen, um die Zahl
der Opfer zu minimieren. Das ist der Unterschied zwischen Unglück und Unrecht.
4 Noch einmal zurück zu dem Weichensteller-Fall: Wenn der Weichensteller weiß, dass in einem der Züge ein Angehöriger
von ihm oder "eine andere ihm nahestehende Person" wie z.B. seine Geliebte mitfährt, der Gefahr für ihren von ihm heiß
begehrten Leib oder ihr Leben droht, dann kann er die Weiche umstellen, ohne für den von ihm vorausgesehenen und
dann auch eingetretenen Tod einiger Gleisbauarbeiter bestraft werden zu können.
Strafjuristen, spitzfindig wie sie als Freunde des gespaltenen Haares nun einmal sind, konstruierten folgenden Fall, um zu
zeigen, dass es bei einer solchen Handlung nicht auf die Lauterkeit des Handelns ankomme, damit die Handlung als
"entschuldigt" eingestuft werde, sondern nur auf die seelisch erlebte Nähe zwischen dem Täter und der von ihm zu retten
beabsichtigten Person: Lebemann L nimmt auf eine Kreuzfahrt seine Ehefrau E und - ohne deren Wissen - seine der E
unbekannte langjährige Geliebte G mit. Bei einem Schiffsunglück, als alle in die Boote müssen, stößt der schon im letzten
Rettungsboot kauernde L die früher beste Ehefrau von allen, E, zurück und reißt G zu sich ins Boot, um sie zu retten, da
für ihn seine jüngere Bekanntschaft anregender ist als seine ihm schon zu viele Jahre vertraute Ehefrau. Es tritt der von
ihm bei dieser Handlung vorausgesehene, aber ihm nicht unangenehme Doppeleffekt ein: G wird mit ihm gerettet, E findet
kein Boot mehr und kommt um. L spart so die Scheidungs- und die viel höheren Scheidungsfolgekosten.
176
Änderung des Gesetzes zur Ausführung des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) und des
Einführungsgesetzes zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (EGOWiG)". Alles klar? Wohl eher nicht!
Die grundsätzliche Gegenposition zu dem Stoßseufzer des ehemaligen Bundesjustizministers Kinkel wurde von
unserem Bundespräsidenten Herzog formuliert und ist deshalb so bedenkenswert, weil er vor seiner Ernennung
zu unserem Staatsoberhaupt als Präsident des BVerfGs der oberste Richter Deutschlands war: „Jedenfalls gilt
bei Gesetzen wie überall im Leben: Was nicht zu verstehen ist, kann weder auf Verständnis hoffen noch auf
Befolgung. Wie soll der Bürger Spielregeln beachten, die zu verstehen selbst der Experte Mühe hat?“
Aus dieser Einsicht heraus hatte der italienische Staatspräsident Cossiga anlässlich eines Staatsbesuches in der
CSFR den Politikern des Gastlandes mit Blick auf deren Staatspräsidenten und Dichter Václav Havel geraten:
"Lasst die Verfassung nicht von Juristen schreiben, sonst versteht sie niemand, und es gibt nur Probleme. Ich bin
ja auch Jurist, doch ich empfehle einen Künstler, einen Dichter wie Sie ... ." „Die Zehn Gebote sind deshalb so
einfach, weil keine Expertenausschüsse daran mitgearbeitet haben“ (Charles de Gaulle). Man hat aber nicht
immer gleich einen Goethe, Schiller, Arndt, Claudius, Eichendorff, Heine, E. T. A. Hoffmann, Rückert, Storm,
Uhland oder andere „Juristen-Poeten“ zur Hand, die - u.a. wenigstens auch - Juristen und noch erfolgreichere
Dichter waren.)
2.6 Annäherung an die »Idee des Rechts«
Was ist nun »Recht«? Darauf hat es im Laufe der Jahrtausende von Juristen, Theologen und Philosophen die
unterschiedlichsten Antworten gegeben; ein von z.B. Jean Giraudoux lautet:
„Das Recht ist die stärkste Schule der Einbildungskraft: Kein Dichter interpretiert die Natur so frei
wie der Jurist die Wirklichkeit.“
Da ist etwas Wahres dran, denn Juristen setzen sich, wenn sie ein bestimmtes juristisches Ergebnis erzielen
wollen, durch eine „Fiktion“ genannte gedankliche Konstruktion über jede naturwissenschaftlich bekannte oder
überprüfbare Naturgesetzlichkeit hinweg! So ordnete das BGB früher z.B. an, dass ein nichteheliches Kind mit
seinem Vater als nicht verwandt gelten solle: weil man nicht wollte, dass ein nichteheliches Kind in die Reihe
der Erben aufrücke. Nur Ehegatten und Kinder sollten erbberechtigt sein, nicht aber Kegel!
Die vorstehende Definition sagt etwas darüber, wie Juristen das Recht mit virtuos gehandhabter Rabulisitik
instrumentalisieren können, erklärt aber nicht das Wesen »des Rechts«.
Eine andere Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Rechts stammt von Hegel (1770 - 1831), der damit eine
Synthese aus früheren Anschauungen der Stoiker und von Rousseau versuchte: Die »Idee des Rechts« muss von
der Gesellschaft als ganzer getragen werden. Sie sei nicht abstrakt (wie viele Vorgänger Hegels meinten), weil
jeder mit ihr übereinstimmt. Sie sei nicht individuell, weil sie für jeden verbindlich ist. Sie sei „der allgemeine
Wille in seiner höchsten Äußerung: dem preußischen Staat“. Das ist natürlich eine ziemliche Fan-Äußerung. Da
hat sich Hegel wieder einmal ein bisschen sehr als Hermelinfloh im Pelz des Krönungsmantels der preußischen
Könige betätigt – wie die Fans des FC St. Pauli ihren Verein ja auch für den besten aller möglichen halten. Aber
die Fans anderer Klubs stehen ihnen da nicht nach. (Das ist schließlich das Vorrecht eines Fans.)
Mit einer solchen Definition des »Rechts« als „Wille in seiner höchsten Ausprägung – dem preußischen Staat“
können wir natürlich auch nichts mehr anfangen, denn wenn sie stimmte, dann wäre ja nach dem Untergang des
preußischen Staates – was Hegel sich wohl nicht vorstellen konnte – auch die nach dieser Definition an ihn
gebundene »Idee des Rechts« mit untergegangen!
Annäheru
ng an die
»Idee des
Rechts«
Was sich heutzutage für einen juristischen Laien hinter der »Idee des Rechts« verbirgt, kann nicht das Zivilrecht
plus das Recht des Kaufmanns sein, plus Strafrecht, plus Baurecht, plus Polizeirecht, plus Gewerberecht, plus
Zivil- und Strafprozessrecht, plus Umweltschutzrecht, plus Beamtenrecht, plus Verfassungsrecht, plus ... . Die
Aufzählung könnte noch sehr lange fortgesetzt werden, es könnten noch viele weitere Rechtsgebiete genannt
werden, die sicher notwendig, aber teilweise so trocken sind, wie z.B. das Zwangsvollstreckungsrecht, dass man
aus dem Munde staubt, wenn man davon spricht. Und das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile!
Deshalb wollen wir unsere Nase nicht vorwitzig in einzelne Rechtsgebiete stecken, zu deren Verständnis man
dann doch wieder umfangreiche Rechtskenntnisse benötigt - beispielhaft sei auf das in einer noch folgenden
Zeitungsmeldung angesprochene 250-Seiten-Buch allein über das Problem der Neuregelung der Sonntagsarbeit
verwiesen -, sondern wir wollen uns ausschließlich der »Idee des Rechts« als der „Kunst des Guten und
Gleichen“ asymptotisch anzunähern versuchen; mehr geht nicht. Wenn dabei Beispiele für notwendig gehalten
177
werden, wird nicht so sehr auf traditionelle Rechtsgebiete zurückgegriffen, sondern vorwiegend auf aktuellere
Beispiele aus der rechtspolitischen Tagesdiskussion, wie sie letztlich oder zurzeit gerade in der Tagespresse
diskutiert wurden oder werden und wie ein interessierter Laie sie darum zur Zeit des Erscheinens dort
mitverfolgen konnte oder noch verfolgen kann. So kann jeder juristische Laie an einigen nicht ganz willkürlich
herausgepickten Beispielen miterleben, wie in der Öffentlichkeit der Tagespresse dringlich vermisste gesetzliche
Regelungen auf gesellschaftlichen Problemfeldern in den Tageszeitungen angemahnt, diskutiert, kommentiert
und vielleicht auch Lösungen zugeführt werden, wie es z.B. inzwischen auf dem Gebiet des Ehenamensrechts
geschehen ist. Der Leser der Tagespresse konnte oder kann verfolgen, wie ein neues Recht durch u.a. auch eine
kontroverse Diskussion in der Öffentlichkeit heranwächst, bis es durch eine gesetzliche Neuregelung geboren ist
- oder, weil es sich im Laufe seines Entstehungsprozesses als mit einem gesellschaftlich so gesehenen und
bewerteten Geburtsfehler behaftet herausstellt, abgetrieben wird. Dabei muss eine gefundene und durchgesetzte
Lösung noch nicht das Ende der öffentlichen Diskussion darstellen; verwiesen sei diesbezüglich auf den
rechtspolitischen Streit um die Neuregelung des § 218 StGB, der auch nach der letzten ablehnenden
Entscheidung des BVerfGs weiterging, bis eine Neuregelung gefunden worden war, die von einer
Parlamentsmehrheit getragen wurde und dabei die Vorgaben des BVerfGs in seiner vorerst letzten Entscheidung
einhält.
2.6.1. Widerstreit zwischen menschlichem und göttlichem Gesetz und Recht
Die Idee des Rechts und seine praktische Ausgestaltung hat natürlich auch schon vergangene Kulturen bewegt.
Jede Kultur hat zur Regelung der Beziehungen der ihr Angehörenden Vorstellungen über rechtliche
Grunderfordernisse dieser Beziehungen untereinander entwickelt - die sehr »ungerecht« gewesen sein können.
Zu Absicherung der in ihrer Gesellschaft geltenden Regelungen in der allgemeinen Akzeptanz wurden meist die
Götter bemüht, weil es für die im Großen und Ganzen Begünstigten viel zweckdienlicher war, auf den göttlichen
Ursprung des in der jeweiligen Gemeinschaft zur Geltung gekommenen Rechts verweisen zu können, als die
nackten Interessen der jeweiligen Machtelite durchscheinen zu lassen.
Aber den Menschen scheint ein – allerdings recht manipulierbares – Gerechtigkeitsgefühl innezuwohnen, und sie
entdeckten irgendwann eine »Gerechtigkeitslücke« zwischen dem sie benachteiligenden behaupteten göttlichen
Recht und ihrem durch einen Missstand als offensichtlich ungerecht empfundenen Gerechtigkeitsgefühl. Dann
begann der Kampf um die Neukonzeption des in der jeweiligen Gemeinschaft in (der nächsten) Zukunft
geltenden Rechts.
Prägend für das Abendland war in vielen Bereichen die Kultur der Griechen. Darum sei zunächst an sie erinnert.
2.6.2 »Gesetz« und »Recht« in griechischen Tragödien
„Gesetz« und
»Recht« in
griechischen
Tragödien
Die Griechen sahen es als »tragisch« an und stellten es in auf ihren Sagen fußenden »Tragödien« dar, wenn ein
Mensch auf der Suche nach »dem Recht« in die Zwangslage geriet, sich zwischen der Befolgung sich
gegenseitig ausschließender göttlicher oder menschlicher Gesetze entscheiden zu müssen und er so
unausweichlich nach einer der beiden sich gegenüberstehenden und Gehorsam heischenden Normen schuldig
werden musste. Welchem Gesetz war dann Folge zu leisten? Was war dann »Recht«?
Aber wir halten zunächst noch schnell als eben kaum bemerktes Zwischenergebnis ganz kurz fest, dass in der so
angesprochenen Fallgestaltung die Griechen »das Recht« über »dem Gesetz« stehend ansahen.
Und damit die Erörterung um den Konflikt zwischen »Gesetz« und »Recht« bei den Griechen (wie er in vielen
anderen Kulturen auch besteht, wenn die Gesetze nicht als von Gott oder den jeweiligen Göttern gegeben
angesehen werden) hier nicht als zu blutleer erscheint, zunächst ein Anschauungsbeispiel. Den in diesem
klassischen Fall deutlich werdenden Konflikt zwischen »Gesetz« und »Recht« kann man auch als Konflikt
zwischen Gesetz und Gewissen ansprechen. Wegen dieser zeitlosen Grundproblematik werden die Tragödien
der großen griechischen Dichter heute immer noch aufgeführt. Und dieser grundlegende Konflikt wird immer
wieder aufbrechen, auch Jahrtausende nach dem Erlöschen der griechischen Kultur als der Wiege des
Abendlandes: Zum Beispiel zur Nazi-Zeit zwischen der Befolgung der Menschenleben vernichtenden
Rassegesetze und dem u.a. durch die Zehn Gebote christlich geprägten Gewissen, ein Konflikt, den die
Widerständler für das Gewissen entschieden und teilweise mit ihrem Leben bezahlen mussten: "Sie waren bereit,
für Menschenwürde und Freiheit, für Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit ihr Leben aufzuopfern. Sie wollten die
178
`Majestät des Rechts' wiederherstellen. ... Es waren nicht viele, aber es waren die Besten!" (Der damalige
Bundeskanzler Helmut Kohl in seiner Gedenkrede zum 50. Jahrestag des Attentatsversuches auf Hitler am 20.
Juli 1944.) Und wer Grundlegendes und Packendes zu diesem durch die beginnende Nazi-Herrschaft damals
zunächst nur drohenden Konflikt von einem deutschen Dichter hellsichtig vorausahnend literarisch verarbeitet
lesen möchte, greife zu der von Stefan Zweig schon 1936 geschriebenen Novelle: "Ein Gewissen gegen die
Gewalt. Castellio gegen Calvin", in der zur historischen Verbrämung der auf das NS-Regime zielende Konflikt
in den Anfang des 16. Jahrhunderts verlegt wurde.
Ein Konflikt in unserer Zeit zwischen Gesetz und Gewissen konnte in den letzten Jahren u.a. in der
Auseinandersetzung um das »Kirchenasyl« verfolgt werden, das von manchen Kirchengemeinden
abschiebebedrohten Asylanten aus Gewissensgründen unter Berufung auf das Bibelwort: "Man muss Gott mehr
gehorchen als den Menschen!", gewährt worden war. Für die Mitglieder der Kirchengemeinden stand ihr an
göttlichen Geboten (wie sie sie verstanden) ausgerichtetes Gerechtigkeitsgefühl nicht im Einklang mit den
staatlichen Gesetzen. In diesem durchlittenen Konflikt zwischen Gesetz und Gewissen entschieden sie sich dem
zu folgen, was ihnen ihr Gewissen gebot. Viele in der Verantwortung für unsere staatliche Gemeinschaft
stehende Politiker, wie z.B. der Bremer Innensenator Borttscheller 1998, können das nicht akzeptieren und
meinen dagegen lapidar, Kirchenasyl zu gewähren sei „keine Heldentat, sondern Rechtsbruch“. 2001 wurde vom
AG Papenburg ein katholischer Pfarrer „zu einer Verwarnung mit 4.000 Mark Strafvorbehalt verurteilt, weil er
einer neunköpfigen kurdischen Familie Kirchenasyl gewährt hatte“ (HH A 18.05.01). Und im April 2003 ist –
als bisher einmaliger Vorgang - im brandenburgischen Tröpitz eine kurdische Familie von der Polizei aus dem
bisher immer geduldeten Kirchenasyl herausgeholt und in die Türkei abgeschoben worden. Aber dort ist ja auch
der dafür verantwortliche Innenminister ein Ex-General gewesen.
„Kirchenasyl – Zwei Pastoren vor Gericht
PROZESS Ihnen drohen bis zu fünf Jahre Haft, weil sie Flüchtlingen helfen
Ludger Fertmann Hildesheim
Pastor Gerjet Harms (62) hat so gar nichts Lutherisch-Streitbares, aber was er freundlich lächelnd
sagt, ist eine Kampfansage an die Justiz: ’Die Verteidigung der Menschenwürde kann nicht strafbar
sein.’ Weil das die Staatsanwaltschaft Hildesheim anders sieht, steht Harms von heute an gemeinsam
mit Philipp Meyer, dem anderen Pastor der Hildesheimer Matthäus-Gemeinde, vor Gericht. Beide
sind wegen Verstoßes gegen das Ausländergesetz angeklagt. Dass gleich zwei Pastoren der Prozess
gemacht wird, weil sie Flüchtlingen Kirchenasyl gewähren, hat aus Sicht des Niedersächsischen
Flüchtlingsrats eine neue Qualität. Offenbar solle ein Präzedenzfall mit abschreckender Wirkung
geschaffen werden, heißt es dort. Bislang seien ähnliche Fälle zumeist eingestellt worden. ... Ämter
und Gerichte lehnten ihre Asylanträge ab. Der Niedersächsische Flüchtlingsrat aber ist sicher, dass
bei einer Abschiebung [der Kurden; der Autor] dem Vater Folter droht und der Familie politische
Verfolgung.
Der Hildesheimer Oberstaatsanwalt Berns Seemann betont, dass der Prozess nicht Ausdruck einer
neuen harten Haltung zum Kirchenasyl sei. Das Legalitätsprinzip lasse keinen Spielraum, zudem sei
Pastor Harms ein Wiederholungstäter.
... Harms’ Argumentation ist nicht zimperlich: Kirchenasyl sei eine Frage der Menschenwürde, die
Unterschiede nicht zulasse, sagt er. ’Maria und Josef hat damals auch niemand aufnehmen wollen.’
Zudem falle die Familie dem Staat nicht zur Last. Alle Ausgaben würden aus Spenden bestritten.
Weil beide Seiten so grundsätzlich argumentieren, wird das Verfahren wohl einen langen
Instanzenweg nehmen, Bis der zu Ende beschritten ist, können noch Jahre vergehen.“ (HH A
31.07.02)
Formaljuristisch ist die Gewissensauflehnung gegen (gerade geltendes) »Gesetz« und »Recht« sicher immer ein
Rechtsbruch. Gerade deswegen kann sie ja eine Heldentat sein!
Doch zurück zu den alten Griechen.
179
Tragödie
als
Widerstreit
zwischen
menschlich
em und
göttlichem
Gesetz und
Recht
Fall ("Ödipus" und "Antigone" von Sophokles):
Der Königssohn Ödipus wurde auf Geheiß seines Vaters Laios kurz nach der Geburt nach Durchbohren der
Füße5 (daher später „Ödipus“ = "Schwellfuß" genannt) ausgesetzt, weil ein befragtes Orakel dem König Laios
von Theben geweissagt hatte, dass sein Sohn ihn später einmal erschlagen werde. Der König hatte daraufhin
diese - damals nicht ungewöhnliche - Art der (nur nach menschlichem Ermessen) wahrscheinlichen Tötung
seines Sohnes durch Aussetzung gewählt, weil er - nach seinem Verständnis - an dem absehbaren Tod des völlig
hilflosen, unschuldigen Kindes nicht (allzu?) schuldig werden, aber andererseits verständlicherweise sein
eigenes Leben schützen und nicht fatalistisch auf den Eintritt des Seherspruchs und damit sein gewaltsames
Ableben warten wollte. Vielleicht hatte der Seher die Botschaft der Götter ja auch missdeutet? Einen Rest
Hoffnung ließ er sich nicht nehmen. Mochten die Götter den Säugling beschützen, wenn sie ihm durch ihn den
Tod zugedacht hatten (Zunächst §§ 223 a, 223 b, ev. auch 224; 52 = in Tateinheit begangene gefährliche
Körperverletzung mittels eines Messers oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs und Misshandlung von
Schutzbefohlenen, eventuell auch schwere Körperverletzung, denn eine solche Handlung ist nicht mehr durch
den Erziehungsauftrag gedeckt; dann tatmehrheitlich gemäß § 53 StGB zu den vorgenannten Delikten
tateinheitlich begangene Aussetzung gemäß § 221 StGB mit der Strafschärfung des Absatzes II i.V.m. §§ 212,
13, 22, 23; 52 StGB versuchte Tötung als Garantenunterlassen des Vaters. Um das aber inhaltlich zu verstehen
und nicht nur auf mein Sachwissen vertrauend hinzunehmen, müssten Sie sich nach der Lektüre dieses Buches
auch noch das nicht nur mit meinem Herzblut, sondern dem der Opfer geschriebene Buch „Rechtskunde –
Einführung in das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland anhand von Tötungsdelikten“ zu Gemüte führen,
in dem fast ausschließlich an Hand von Tötungsdelikten das Strafrecht erklärt wird. Die Beschränkung auf
Tötungsdelikte als Grundlage für eine Einführung in das Strafrecht ist spannend, manchmal etwas
„unappetitlich“, wenn man sich den Zustand des Opfers beim Auffinden der Leiche mit etwas Phantasie
vorstellt, aber hoffentlich nicht zu schlimm, denn ich versuchte das Buch zu schreiben, das ich als Student gerne
zur Einführung in das Strafrecht gelesen hätte. Weil ich es nicht fand, musste ich es selber schreiben.)
Ein Hirte fand Ödipus und zog den Findling in seiner Familie groß. Der herangewachsene Ödipus tötete später in Vorwegnahme der Zustände auf bundesdeutschen Straßen ("Wie im Dschungel", STERN 12.09.91) irgendwo unterwegs in einem Streit um eine Vorfahrt einen ihm fremden Mann, nicht wissend, dass es sich bei
dem Gegner um seinen leiblichen Vater handelte, denn er hielt fälschlicherweise – wie heutzutage rund 10 % der
ehelich geborenen Kinder in der Bundesrepublik - seinen sozialen Vater für seinen leiblichen. (Die rechtliche
Beurteilung der Tötung des Laios ist unklar, weil nicht überliefert ist, wer bei der ausufernden Vorfahrtrangelei
der Angreifer gewesen war. Zu untersuchende Straftaten des Ödipus: § 213 StGB minder schwerer Fall des
Totschlags oder § 226 StGB Körperverletzung mit Todesfolge; eventuell gerechtfertigt durch Notwehr gemäß §
32 StGB, wenn z.B. der König für sich eine ihm nicht zustehende Vorfahrt mit Waffengewalt zu erzwingen
versucht und - ohne Blick auf die Füße seines Gegners - den Kampf begonnen hatte. Dann ist Notwehr möglich,
denn: "Das Recht muss nicht dem Unrecht weichen". Deshalb muss bezüglich der Beurteilung der Frage, ob sich
Ödipus des Totschlags an seinem Vater schuldig gemacht habe, zu seinen Gunsten der Grundsatz: "Im Zweifel
für den Angeklagten!", durchgreifen.)
Nach Befreiung der Stadt Theben von der menschenfressenden Sphinx mit ihrem bis dahin ungelösten Rätsel
erhielt er zum Lohn den Thron und die (durch seine Gewalttat) verwitwete Königin Jokaste als Frau, seine
leibliche Mutter, mit der er die Kinder Eteokles, Polyneikes, Antigone und Ismene zeugte. „Und während ihn die
Rache sucht, genießt er seines Frevels Frucht.“6 (Zunächst bezüglich Thron und Frau als Belohnung ein Fall des
§ 657 BGB Auslobung. Danach wieder ein Schwenk zu dem von den Griechen in ihren Tragödien bevorzugten
Rechtsgebiet, dem Strafrecht: Obwohl der objektive Tatbestand des § 173 StGB Beischlaf zwischen Verwandten
erfüllt ist, entfällt eine Straftat gemäß § 16 StGB Irrtum über Tatumstände oder § 17 StGB Verbotsirrtum, weil
weder Ödipus noch seiner Mutter - trotz der Narben an den ehemals durchbohrten Füßen ihres um eine
Generation jüngeren zweiten Gatten - die strafbegründende Verwandteneigenschaft bewusst gewesen sein soll.
Wenn das zutrifft, haben sie nicht vorsätzlich gegen die Strafnorm des § 173 StGB verstoßen. Als in Schweden
ein Geschwisterpaar unter widrigen Umständen als Kleinkinder getrennt worden war, sich später rein zufällig als
völlig Fremde (wieder)gesehen, sich, was sehr häufig sein soll, wenn sich zwei getrennt aufgewachsene
Geschwister im richtigen Alter begegnen7, verliebt – im Gegensatz zu Wachteln, die auch bei getrennter
5
Dieser grausam quälende Umgang mit eigenen Kindern ist kein Privileg alter Mythen. Die Tagespresse liefert - leider reichlich Anschauungsmaterial. Näheres dazu auch in:
Scharnweber, H.-U.: Einführung in das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland anhand von Tötungsdelikten
6 Schiller, F. v.: Die Kraniche des Ibykus
7 Vgl. Ridley, Matt: Eros und Evolution Die Naturgeschichte der Sexualität Knaur 1998, S. 390
180
Aufzucht ihre Brüder und Schwestern erkennen8, sind Menschen hierzu nicht in der Lage -, geheiratet, auch
Kinder gezeugt hatte und dabei war, sie großzuziehen, waren vom sehr menschlich denkenden und auch so
handelnden schwedischen Parlament, als die Verwandteneigenschaft durch irgend einen Zufall oder eine
medizinische Untersuchung herausgekommen war, Gesetze so geändert worden, dass die Geschwister als
Eheleute weiter straflos zusammenleben konnten - was unter den Pharaonen aus biologisch-religiösen Gründen
sogar erforderlich gewesen war, um das der Familie des Pharao von den Göttern - so behauptet und geglaubt verliehene Heil durch die Frauen als Mittlerinnen dieses Heils von Generation zu Generation weiterzugeben.
Zum Beispiel war die letzte Pharaonin, die angeblich relativ unschöne aber sehr charmante, geistreiche und
darum vielgeliebte Kleopatra, u.a. mit zwei Brüdern verheiratet gewesen, bevor ihr zwei herausragende Römer
mehr zusagten.)
Als Königs später von ihren unwissentlich begangenen, im griechischen Kulturkreis und darum von Sophokles
wohl so bewerteten "Freveltaten" erfuhren, erhängte sich Jokaste. Ödipus konnte nicht in unser erst 1871 n.Chr.
als Gesetz beschlossenes, seitdem aber schon mehrfach geändertes StGB und dort in die §§ 15, 16 und 17
blicken, sondern zerstörte sich zur Sühne für seinen unwissentlich begangenen Sittenverstoß das Augenlicht und
verzichtete auf den Thron, den sein Schwager Kreon übernahm. Ein Sohn des Ödipus, Polyneikes, fühlte sich in
seiner Thronanwartschaft übergangen, putschte gegen seinen Onkel (§ 81 StGB Hochverrat oder § 106 StGB
Nötigung des Bundespräsidenten analog) und wurde erschlagen. Der Onkel erließ das Gebot, dass sein Neffe als
Staatsfeind unbegraben und damit seine Seele ruhelos bleiben, sein Körper Vögeln und Hunden zum Fraße
dienen solle. (Eventuell § 168 I 2. Fall StGB Störung der Totenruhe in der Form des Verübens beschimpfenden
Unfugs an Leichen durch König Kreon.)
Das war gegen die Götterordnung! Und außerdem nicht verhältnismäßig (verfassungswidriger Verstoß der
staatlichen Gewalt gegen das aus Art. 3 GG interpretierte Verhältnismäßigkeitsgebot für jedes staatliche
Handeln). Aber Gewaltenteilung mit der Möglichkeit, auch das oberste Machtorgan des Staates zur
Rechenschaft ziehen zu können, wurde erst im 18. Jahrhundert "erfunden", und ein Bundesverfassungsgericht
gab es in Theben auch nicht. Des Königs Wille war Gesetz! Aber „Wehe dem armen Opfer, wenn derselbe
Mund, der das Gesetz gab, auch das Urteil spricht.“ (Schiller)
Die Schwester des Erschlagenen, Antigone, musste sich entscheiden, ob sie der Staatsräson in Form des (un-)menschlichen Gesetzes ihres Onkels oder in humanistischer Individualität dem göttlichen Gesetz gehorchen
solle. Was war „Recht«? Der immer aktuelle Konflikt. Beide Normen beanspruchten Geltung, schlossen sich
aber gegenseitig aus. Antigone entschied sich für die Befolgung der göttlichen Norm, begrub den Bruder (ev. §
168 I 1. Fall StGB Störung der Totenruhe durch Entwendung einer Leiche aus dem Gewahrsam des
Berechtigten) und wurde dafür auf Geheiß des Königs, ihres Onkels, lebendig begraben.
Ihr geschah nach "Menschen-Gesetz". Aber war ihr auch »Recht« geschehen? In den zeitlosen, fast 2.500 Jahre
alten Worten des Dichters Sophokles wird der Konflikt um Macht, Gesetz und Recht so dargestellt:
"Kreon:
Und wagtest, mein Gesetz zu übertreten?
Antigone:
Der das verkündete, war ja nicht Zeus,
Auch Dike in der Totengötter Rat
Gab solch Gesetz den Menschen nie. So groß
schien dein Befehl mir nicht, der sterbliche,
Dass er die ungeschriebenen Gottgebote,
Die wandellosen, konnte übertreffen.
Sie stammen nicht von heute oder gestern,
Sie leben immer, keiner weiß, seit wann.
An ihnen wollt' ich nicht, weil Menschenstolz
Mich schreckte, schuldig werden vor den Göttern.
Und sterben muss ich doch, das weiß ich,
Auch ohne deinen Machtspruch."
Schon die Griechen wussten, dass Gesetze durch den jeweiligen Gesetzgeber erlassenes (= legalisiertes; von lat.
lex = Gesetz) Unrecht sein können, und von Bismarck stammt das Wort:
"Wer weiß, wie Gesetze und Würste gemacht werden, der kann nicht mehr ruhig schlafen."
Festzuhalten bleibt noch, dass nach der bei Sophokles durchklingenden Vorstellung der Griechen die als über
den menschlichen Gesetzen stehend und als göttlich gesetztes Recht empfundenen Gottgebote - im Gegensatz zu
den Zehn Geboten der Juden - ungeschrieben waren, aber doch als wandellos begriffen wurden; eine Vorstellung
von Recht, die wir Heutigen (mit Ausnahme der islamischen Fundamentalisten) so wohl nicht mehr teilen
können.
8
Vgl. Ridley, Matt: Eros und Evolution Die Naturgeschichte der Sexualität Knaur 1998, S. 389
181
Was ist nun aber, etwas genauer untersucht, „Gesetz«, was »Recht« und was "Gerechtigkeit"? Und dazu gehört
im Strafrecht die Kontrollfrage: Was ist "Schuld"? Und wie soll darauf reagiert werden?
2.7 »Gesetz«
»Gesetz«
„Gesetze sind abgekürzte Vorgänge des Lebens“ (Hans Lohberger). Das ist der allgemeinste Definitionsversuch
von »Gesetz«, den ich gefunden habe. Und damit der unbrauchbarste. Gesetze sind das traditionell wichtigste
Instrument politischer Gestaltung. Sie sollen die Wertordnung des Zusammenlebens in einem Gemeinwesen
schützen. Was »Gesetz« ist, ließe sich unter Verzicht auf alle erhellenden differenzierenden Einzelheiten auch in
Anlehnung an Clausewitz‘ berühmte Formel über den Krieg nach meinem Dafürhalten relativ einfach und
wertneutral bestimmen: „Gesetz ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“ Eine solche Definition von
»Gesetz« wäre fast genau so unbrauchbar wie die zuvor zitierte. Solche zu allgemein gehaltenen Formulierungen
sind zwar zutreffend, denn sie schließen nicht aus, dass es auch ungerechte Gesetze gibt: Das Leben ist ja auch
nicht fair und »gerecht«. Das kann man nun wirklich nicht sagen!
Doch wem wäre mit so allgemein gehaltenen Formulierungen geholfen, wie z.B. der des Demosthenes, der
befand: „Gesetze sind die Sehnen der Demokratie“? Plato und Demosthenes definierten: „Gesetze sich die Seele
der Polis“, womit die staatliche Stadtstaatengemeinschaft gemeint war.
Mit so allgemein gehaltenen Formulierungen lässt sich der Begriff des Gesetzes nicht einsichtig fassen und für
eine praktische Anwendung nutzbar machen. Er sagt z.B. nichts aus über den zwingenden Charakter der
Gesetze, die Interessegeleitetheit mancher Gesetze, über das Gemeinschaftsfrieden anstrebende, bestenfalls
sogar Gemeinschaftsfrieden stiftende oder Entwicklungen steuernde Ziel ihres Erlasses, über gerechte, aber auch
ungerechte Gesetze, die NS- oder SED-Terror mit dem Rechtsschein der Legitimität auszustatten suchten. Eine
solche Definition sagt nichts aus über den Anspruch, der hinter jedem Gesetz stehen müsste: „Etwas ist nicht
recht, weil es Gesetz ist, sondern es muss Gesetz sein, weil es recht ist“ (Charles-Louis de Montesquieu).
Platon fasste die Notwendigkeit von Gesetzen in den Ausspruch: „Es soll dabei ganz ähnlich hergehen wie beim
Elementarlehrer, der mit dem Griffel den noch nicht schreibfähigen Kindern Linien zieht und sie zwingt, sich
mit ihren Schreibversuchen nach diesen Linien zu richten: So hat auch der Staat als Richtschnur die Gesetze
aufgestellt.“ Sehr blauäugig blendete er damit aber die Wirklichkeit seiner Sklavenhaltergesellschaft mit ihrem
klassengeleiteten Recht der besitzenden Oberschicht und ihren daraus abgeleiteten Gesetzen aus, als er näher
umschrieb, was er in diesem Zusammenhang unter dem Staat als Gesetzgebungskörperschaft verstand und als
Funktion der Gesetze ansah:
„Die Gesetze, glaube ich, sind von den schwachen Menschen und von der großen Masse gemacht.
Zu ihren Gunsten und zu ihrem eigenen Nutzen stellen diese die Gesetze auf, sprechen sie Lob und
Tadel aus! Die Stärkeren unter den Menschen und diejenigen, die imstande sind, ein Übergewicht zu
erlangen, wollen sie einschüchtern.“
Gesetze als im Staat von den Schwachen vorgegebene, von jedermann jederzeit einsehbare Richtschnur zur
Einschüchterung und Disziplinierung der Mächtigen? Das kann nach allem, was wir über die damalige
Gesellschaftsstruktur wissen, nicht die Wirklichkeit widergespiegelt haben. Aber es ist ein schönes Ziel!
Mir als Historiker drängen sich arge Zweifel bezüglich des Ursprungs der Gesetze als (schon) zu der damaligen
Zeit „von den Schwachen zur Zähmung der Starken erlassen“ auf! Philosophen nach ihm sahen das ganz anders.
Als Beleg dafür brauchen wir nicht auf die Utopien und Ansichten eines Karl Marx zurückzugreifen. Da genügt
schon ein Rückgriff auf den bürgerlichen Philosophen Rousseau. Auf Grund der in der Menschheitsgeschichte
überwiegend gemachten historischen Erfahrungen – „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in
Ketten.“ - sah Rousseau (1712-1778) als einer der Vordenker der dann in der Französischen Revolution
ausgerufenen bürgerlichen Freiheitsrechte in dem bis dahin von Menschen geschaffenen Gesetz – im Gegensatz
zum »natürlichen Gesetz« und dem Naturrecht - eine zweifelhafte Waffe, mit der sich die Starken in ihrem
erbarmungslosen Bedürfnis nach Absicherung ihrer Herrschaft und ihres Besitzes gegen die Schwachen
bewaffnet hätten. Die Reichen tränken in Frieden das Blut und die Tränen der Armen. Durch den Trick des
Abschlusses eines Gesellschaftsvertrages hätten einige wenige Reiche ihren Besitz auf Kosten der großen
Mehrheit der Menschen, der Armen, abgesichert. Die Armen mussten auf ihren Anteil an dem gesellschaftlichen
Reichtum verzichten, so dass sie dann im Austausch für Frieden und Schutz „auf ihre Ketten zuliefen, im
182
Glauben, ihre Freiheit zu sichern“. Nur durch die kollektive Herrschaft der Bürger über sich selbst, so nahm der
Bürger der Stadtrepublik Genf an, sei dieser ungerechte gesellschaftliche Zustand zu überwinden, so dass die
Menschheit sich in einem Zustand unbehinderter Freiheit selbst verwirklichen könne. Rousseau legte so die
konstitutionellen Grundlagen legitimer politischer Autorität und Herrschaft. Legitime Herrschaft beruhe auf
Zustimmung der Beherrschten.
Aber Platons Sichtweise der Gesetze als „von den Schwachen zur Zähmung der Starken erlassen“ sollte als
Richtschnurfunktion für unsere heutige Gesetzgebung gelten! Aber ein paar tausend Jahre später ist eine
moderne Gesellschaft wesentlich ausdifferenzierter, so dass eine so simplifizierende Umschreibung von
Gesetzen nicht mehr unsere Wirklichkeit widerspiegelt. Wir müssen uns heutzutage um eine angemessene
Definition von »Gesetz« mehr mühen als damals. Mit der vielschichtiger und damit unübersichtlicher
gewordenen Lebenswirklichkeit wird auch eine heutige Definition von »Gesetz« unübersichtlicher. Trotzdem
muss es versucht werden:
»Gesetz« in einer modernen Gesellschaft ist grundsätzlich eine mit Anspruch auf Gehorsam vom hierfür
(ernannt oder angemaßt) zuständigen Gesetzgeber im Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Möglichkeiten
verkündete vorläufige Regelung eines zivil-, straf-, verwaltungsrechtlichen oder gesellschaftlichen
Interessenkonfliktes, die abstrakt gefasst eine unbestimmte Vielzahl von Fällen regeln und für alle in dem
Geltungsbereich des jeweiligen Gesetzes lebenden Personen - eventuell erst beim Vorliegen bestimmter
Voraussetzungen - gleichermaßen gelten soll. Diese Regelung muss dann auf alle einschlägigen Fälle
gleichermaßen angewandt werden. Manchmal sind Gesetze aber auch nur »abstrakt« mit Geltung für eine
unbestimmte Vielzahl von Fällen formuliert, obwohl mehr oder weniger klar ist, dass die besondere Situation,
die zum Erlass des speziellen Gesetzes geführt hatte, kaum oder wohl gar nicht mehr auftreten wird. Im
Verwaltungsbereich ist ein solches Gesetz aber trotzdem erforderlich, um u.a. der staatlichen Verwaltung die
Grundlage für ein gesetzmäßiges Handeln zu eröffnen. Man spricht in solchen Fällen von »Einzelfallgesetzen«.
Damit ist aber nur der Anlass ihres Zustandekommens gemeint, nicht jedoch der Rahmen ihrer Gültigkeit.
Gesetze sollten einen fairen Interessenausgleich zwischen den jeweils betroffenen gesellschaftlichen
Gruppierungen und ihren unterschiedlichen Interessen anstreben und keine Gruppierung auf Kosten einer
anderen bevorzugen. Wenn der Gesetzgeber nicht mit dieser Intention handelt, können Gesetze sehr ungerecht
sein.
Neben der im besten Falle Gemeinschaftsfrieden anstrebenden und Gemeinschaftsfrieden möglichst auch
stiftenden Funktion der Gesetze werden mit ihrer Hilfe auch gesellschaftliche Entwicklungen gesteuert. Da
Politik ganz allgemein als »das Noch-nicht-Entschiedene« verstanden werden kann, ist »Gesetz« dann das zur
Steuerung gesellschaftlicher Entwicklungen »vorläufig verbindlich Entschiedene«.
2.7.1 Die Notwendigkeit exakter Abfassung von Gesetzen
Die
Notwendig
keit exakter Gesetze können aber auch unsinnige Auswirkungen haben und somit unsinnig (abgefasst) sein:
Abfassung
von
"Adoptiert - aber sie gelten als `blutsverwandt'
Gesetzen
Zwei Waisenkinder brauchen für Heirat eigenes Gesetz!
Und das ganze Parlament wird zur Hochzeit eingeladen
dh Ottawa - Super-Aufwand um ein Liebespaar: Damit zwei Verliebte heiraten können, muß ein
eigenes Gesetz geschaffen werden - und selbst die Queen muß dem Ja-Wort noch zustimmen. Dabei
ist das Liebespaar weder prominent noch adlig. Das Pech von Scott und Kim Broddy ist ganz
einfach: Die beiden waren als Waisenkinder von ein und derselben Familie adoptiert worden und
gelten seither als blutsverwandt - für Parlamentarier eine `gesetzliche Form höheren Blödsinns'.
Schicksal gespielt hatten Vater und Sohn Broddy: Vater Broddys Familie adoptierte Scott vor 25
Jahren, sechs Jahre später kümmerte sich die kinderlose Familie des älteren `Bruders' von Scott um
die kleine Kim. Beide wuchsen im gleichen Haus wie Geschwister auf. In den letzten Jahren aber
wurde mehr aus der `Geschwisterliebe'. Um nichts `Verbotenes' zu tun, mieden `Onkel' und `Nichte'
jeden engeren Kontakt. Bis Scott seiner Familie erklärte: `Ich kann das nicht mehr länger ertragen.
Ich wandre aus.'
Da eröffneten die `Eltern' Kim und Scott die Wahrheit. Doch jetzt legte sich der Standesbeamte der
neuen Liebe quer: Adoptivkinder haben den gleichen Status wie natürliche Kinder - Heirat
ausgeschlossen.
Jetzt berät das kanadische Parlament eigens für dieses Paar eine `Lex Broddy'. Im Mai soll dieses
Gesetz mit der Unterschrift der Queen als Landesherrin in Kraft treten. ..." (Morgenpost 24.02.82)
183
Im deutschen Recht ist die Rechtsfolge des Heiratsverbotes bei durch Adoption begründeter Verwandtschaft bei
der Schaffung des (inzwischen ins BGB eingearbeiteten) Ehegesetzes gleich gesehen und nicht ganz so
zwingend ablehnend geregelt worden, wie es in Kanada der Fall ehemals zu sein schien. Die Kanadier hätten
sich an den nachfolgend wiedergegebenen damals geltenden Bestimmungen des deutschen Ehegesetzes
orientieren oder entsprechende eigenständige Regelungen finden können:
"§ 7 EheG Annahme als Kind /
jetzt [fast wortgleich u.a. ohne Schwägerschaftsheiratsverbot] § 1308 BGB Adoption
(1) Eine Ehe soll nicht geschlossen werden zwischen Personen, deren Verwandtschaft [oder
Schwägerschaft] im Sinne von § 4 Abs. 1 durch Annahme als Kind begründet worden ist. Das gilt
nicht, wenn das Annahmeverhältnis aufgelöst worden ist.
(2) Das Vormundschaftsgericht kann von dem Eheverbot wegen Verwandtschaft in der Seitenlinie
und wegen Schwägerschaft Befreiung erteilen. ... "
Danach ist eine Befreiung nur für Adoptionsverwandte der geraden Linie ausgeschlossen; ein Elternteil soll sein
Kind und ein Großelternteil sein Enkelkind nicht heiraten können. Das Vormundschaftsgericht kann aber die
Ehe zwischen Geschwistern zulassen, deren Verwandtschaftsverhältnis auf der Annahme als Kind beruht.
Die in Kanada 1982 geplante "Lex Broddy" wird zwar so formuliert werden, dass sie für eine (künftige)
unbestimmte Vielzahl von Fällen Geltung haben kann, wird aber trotzdem ein »Einzelfallgesetz« sein und
vermutlich auch bleiben.
Aber man weiß ja nie, wie verrückt das Leben spielt.
Bei der von dem kanadischen Parlament 1982 geplanten gesetzlichen Neufassung müssen aber auch gesetzliche
Hemmnisse bedacht werden, um Missbrauch von vornherein ausschließen zu können. Wie sollte ein neues
Gesetz lauten, damit es z.B. nicht durch einen Vater/Bruder im Zusammenwirken mit der Tochter/Schwester
unterlaufen werden kann, wenn die beiden heiraten wollten? Das ginge ja ganz einfach: Die Tochter ließe sich
durch einen Freund des ehewilligen Verwandten adoptieren und würde dann nach bürgerlichem Recht nicht
mehr als verwandt mit dem Vater oder Bruder gelten. Soll das zulässig sein?
Wie kann man das Bad ohne das Kind ausschütten?
Im deutschen Recht war dieser Fall durch § 4 Ehegesetz, jetzt durch § 1307 BGB, bedacht und geregelt:
"§ 4 Verwandtschaft und Schwägerschaft /
jetzt ohne Schwägerschaftsheiratsverbot § 1307 BGB Verwandtschaft
Eine Ehe darf nicht geschlossen werden zwischen Verwandten in gerader Linie, zwischen
vollbürtigen und halbbürtigen Geschwistern [sowie zwischen Verschwägerten in gerader Linie]. Das
gilt auch, wenn das Verwandtschaftsverhältnis durch Annahme als Kind erloschen ist."
Der kanadische Gesetzgeber brauchte bei der Abfassung der "Lex Broddy" also nur die einschlägigen
Paragraphen aus dem deutschen Ehegesetz abzuschreiben.
So etwas wird auch gemacht: Bei einer anstehenden gesetzlichen Neuregelung kuckt man schon über den Zaun,
wie ein juristisches Problem vielleicht in einem anderen Land sinnvoll geregelt worden ist, und welche
Erfahrungen mit dieser ins Auge gefassten Regelung dort gesammelt worden sind. Das ist die Aufgabe der
rechtsvergleichenden Jurisprudenz.
Man kann bei der Erarbeitung eines Gesetzes oft nicht gleich alle Eventualitäten von vornherein mitbedenken,
auch wenn man sich noch so sehr darum bemüht. Das geht meistens schief. Die mangelnde Voraussicht wird in
den wenigsten Fällen vorwerfbar sein. Immer sind die sich entwickelnden Lebensverhältnisse, ist das pralle
Leben einfallsreicher als der um Voraussicht und Nachvollziehbarkeit sich mühende Mensch!
„Fast ganz normal
Was Brittany denkt, weiß Abigail nicht so genau, und Abbys Gefühle sind anders als Brittys.
Trotzdem verstehen sich die achtjährigen Schwestern, die in einem Körper leben, blendend –
meistens. Manchmal gibt es Streit. Dann haut eine Hand die andere.
... Abby und Britty sind zwei Menschen und teilen sich einen Körper. Sie haben einen gemeinsamen
Rumpf, auf dem ihre beiden Köpfe sitzen – eine aberwitzige Laune der Natur. Die medizinische
184
Literatur kennt weltweit ganze vier Fälle dieser Art von siamesischen Zwillingen. ... Die Zwillinge
haben zwei Herzen in ihrem gemeinsamen Körper. Außerdem drei Lungenflügel, drei Nieren und
zwei Mägen. Aber nur eine Leber und dann von den Hüften abwärts alle Organe bloß noch in
einfacher Ausfertigung. ... Dem rechten Bein gibt Abbys Gehirn, dem linken aber das von Britty die
Befehle. Wenn beide [in ihrem Wollen] nicht übereinstimmen, kommt es zur Totalblockade. ...
Manchmal streiten sie sich. Dann haut eine Hand die andere. ... Sie fühlen sich verschieden: Abby ist
energischer, Britty musischer. ... Britty will Künstlerin werden, ihre Schwester Kindergärtnerin. ...
Überleben aber werden sie nur als Einheit. Zwar fühlen sie Durst und Hunger getrennt, zwar spürt
die eine nicht, wenn jemand die andere auf deren Körperseite kitzelt, doch über den Blutkreislauf
sind sie untrennbar verbunden. ... Doch mit der Pubertät kommt bald die Zeit, in der die Kinder sich
abgrenzen, sich zurückziehen wollen. ... Britty und Abby haben gesunde Fortpflanzungsorgane in
ihrem gemeinsamen Unterleib. Abby sagt, sie will Kinder haben. Ihre Eltern meinen, daß ihre
Zwillinge heiraten sollten. Die Mutter wünscht sich zwei Ehemänner, der Vater einen für beide. ...“
(STERN 42/98)
Man kann durch ein Studium ja richtiggehend »verbildet« werden: Als ich den vorstehenden Artikel
las, erwischte ich mich dabei, wie der Jurist in mir während des Lesens sofort die sich mit einem
solchen Schicksal auftürmenden juristischen Probleme rauszupulen und anzudenken begann: Wenn
ein Mann die Zwillinge heiratet: ist das dann Bigamie? Wenn er mit dem einen Unterleib »schläft«:
ist das dann bezüglich der mit ihm nicht verheirateten Frau, seiner Schwägerin, nur außerehelicher
Geschlechtsverkehr, der in der Hälfte der us-amerikanischen Staaten strafbar ist (zum Glück für Bill
Clinton aber nicht in Washington.), oder gar eine Vergewaltigung? Wenn Kinder kommen: wer ist
die Mutter?
Wenn zwei Ehemänner da sind und mit dem einen gemeinsamen Unterleib ihrer Frauen »wohllüstig« zusammen sind – an den Gedanken müssten sich alle vier vermutlich erst einmal gewöhnen,
denn wie ist man da diskret, und bekommt auch immer die jeweilige Frau die ihr von ihrem Mann
zugedachten Gefühle, werden auch immer in dem Gehirn der zugehörigen Ehefrau die Endorphine
ausgeschüttet? –: von wem sind dann die Kinder, von welchem Vater und welcher Mutter? Aber im
Zeitalter der Genanalyse ist dieses das wohl inzwischen medizinisch und dadurch dann auch
juristisch am leichtesten zu lösende Problem. Ohne Genanalyse wäre es wohl kaum zu lösen.
Von solchen Besonderheiten der Natur einmal abgesehen und zu unseren alltäglichen Normalfällen
zurückkehrend gilt die Beobachtung, dass man bei der Konzipierung eines Gesetzes oft nicht gleich alle
Eventualitäten von vornherein mitbedenken kann, auch wenn sich der Gesetzgeber und die ihm zuarbeitende
Ministerialbürokratie noch so sehr darum bemühen. „Tausend Fälle können eintreten, die der Gesetzgeber nicht
vorausgesehen hat. Das Gefühl dafür, dass man nicht alles voraussehen kann, ist eine sehr notwendige
Voraussicht“ (Rousseau). Darum muss „... der Gesetzgeber ... über seiner Zeit stehen. Er arbeitet für die Zukunft
mehr als für die Gegenwart, mehr für die heranwachsende als für die alternde Generation“, forderte sein
Landsmann Balzac.
Das gilt deswegen verstärkt, weil die Halbwertzeiten von Gesetzen sich beschleunigt haben, da sie zunehmend
mit heißer Nadel genäht werden. (Das konnte man u.a. in Deutschland nach dem Regierungswechsel 1998 sehr
anschaulich beobachten. Man konnte gar nicht so schnell Zeitung lesen, um sich auf dem Laufenden zu halten,
wie die Gesetze geändert wurden!)
Irgendein Problem rutscht den »Gesetzesmachern« dabei oft doch durch die Finger. Da muss dann später
nachgebessert werden, damit ein Gesetz von den Betroffenen angenommen wird und im Extremfall nicht als
ungerecht oder gar unmenschlich empfunden wird. Darauf hatte schon Jesus hingewiesen, indem er zur
Belehrung der selbstgerechten jüdisch-orthodoxen priesterlichen Gesetzesfanatiker und zu deren Ärger
demonstrativ gegen das strikte Feiertagsruhe-Gebot verstieß und am Sabbat Kranke heilte, denn für Jesus stand
der Mensch im Mittelpunkt des weltlichen Lebens, nicht das von den Priestern verwaltete und interpretierte
Gesetz.
Leider vermochten seine irdischen Statthalter das nicht so zu sehen: Für die Päpste standen nicht die Menschen
mit ihren Bedürfnissen und Nöten im Mittelpunkt, so dass notfalls auch einmal ein Gesetz ohne
Prinzipienreiterei zur Seite geschoben worden wäre, um einer menschlichen Notlage auf mitmenschliche Art und
Weise gerecht zu werden. Für eine Kirche, die einen jahrzehntelangen Prinzipstreit aus Fragen wie der machen
konnte, wie viele Engel auf einer Nadel- oder Kirchturmsspitze Platz hätten, hatten die von ihr erlassenen
Gesetze zu gelten; gleichgültig, wie viel Leid und welche Gewissens- und damit Seelenqualen sie über
Jahrtausende dadurch hervorrief! Und dieses starre Festhalten an auf falschem biologischen und religiösen
Fundament gegründeten und schon längst überholten Kirchenrechtsnormen im Sexualbereich dauert bis in
185
unsere Zeit an. Das weist die Professorin für katholische Theologie Ranke-Heinemann in ihrem verdienstvollen
Buch für den Bereich katholische Kirche und Sexualität an vielen Beispielen nach.
Ein von der Tochter unseres früheren Bundespräsidenten Heinemann in ihrem Buch gegebenes Beispiel mit
Geltung für unsere heutige Zeit gefällig? Bitte sehr:
„Dieses von Thomas [von Aquin, Ehrentitel: lumen ecclesiae, das Kirchenlicht, 1274 gestorbener
Hochscholastiker, dessen auf antiken Autoren wie frühen Kirchenvätern und -lehrern, z.B.
Augustinus, und den biologisch teilweise falschen Ansichten des Aristoteles fußende Sexualethik bis
in unsere Zeit maßgeblich geworden und geblieben ist; der Autor] mit Berufung auf Gott und die
Natur vorgeschriebene zielgerechte und zielgerichtete Ausscheiden des Samens findet heute eine
Auswirkung bei der sog. homologen Insemination. Letztere wurde 1987 von der Vatikanischen
Kongregation für Glaubenslehre verboten: »Die homologe künstliche Besamung innerhalb der Ehe
kann nicht zugelassen werden.« Es gibt jedoch eine Ausnahme: Bei einer Gewinnung des männlichen
Spermas durch den ehelichen Akt mittels Kondom muß dieses Kondom durchlöchert sein, damit die
Form eines natürlichen Zeugungsaktes aufrechterhalten bleibt und nicht eine unerlaubte
Verhütungsmethode stattfindet. Der Eheverkehr muß also so ablaufen, als ob er zur Zeugung führte.
Das Kondom muß so durchlöchert sein, als ob Zeugung auf diese Art möglich wäre (vgl. PublikForum, 29.5.1987, S. 8). Und nur auf diesem Umweg über den wie ein fruchtbarer Akt ablaufenden
unfruchtbaren ehelichen Akt darf man dann zur Fruchtbarkeit Nachhilfe leisten. Die angeblich
natürliche Form des ehelichen Aktes ist das erste Gebot geworden und auch dann geblieben, wenn
sein ursprüngliches von der Kirche vorgeschriebenes Ziel, nämlich die Zeugung, gar nicht erreicht
werden kann und Gewinnung des Samens durch Masturbation genausogut oder unkomplizierter
wäre. Aber Masturbation fällt immer noch und auch dann noch unter die widernatürlichen, weil
zeugungsverhindernden schwersten Sünden, wenn sie eine Zeugung gerade ermöglichen soll. Der
genormte Ablauf ist wichtiger geworden als das Ziel, nämlich die Zeugung. Was »natürlich« ist, wird
in der Moraltheologie von alten Traditionen bestimmt und diese Tradition von alten ehefernen
Männern sorgfältig gehütet.“1
Nun könnte man sich als Nicht-Katholik über ein Kondom, das zum Auffangen des Samens des Ehemannes vor
Gebrauch extra durchlöchert wird, schlapp lachen – oder über den katholischen Klerus nur noch resigniert mit
den Schultern zucken. Aber dann hätte sich die Wiedergabe des im katholischen Kirchenrecht gründenden
Standpunktes des Vatikans bezüglich der homologen künstlichen Besamung innerhalb der Ehe kaum gelohnt.
Dieses in die Problematik „des Rechts“ einführende Buch soll ja nicht zu einem Witzbuch ausarten – auch wenn
es manchmal bewusst Gelegenheit zum befreienden Lachen bietet, weil man sonst nicht alles ertragen könnte,
was einem im Bereich des Rechts manchmal so geboten wird. Und außerdem: „Über jedem guten Buch muss das
Gesicht des Lesers von Zeit zu Zeit hell werden“ (Christian Morgenstern).
Weil es das Anliegen dieses Buches ist, Sie beim Verstehen dessen zu unterstützen, was »Recht« für eine staatlich oder religiös definierte - Gemeinschaft bedeutet, und Ihnen u.a. die Einsicht vermittelt werden soll, dass
das Recht letztlich oft religiös auf dem hinter der jeweiligen Religion stehenden Menschenbild gegründet ist
oder – wie bei der rechtlichen Benachteiligung der griechischen Frauen in der Antike dargestellt – mit dem
hinter der jeweiligen Religion stehenden Menschenbild auch nur hergesucht begründet wurde und wird, soll
nicht schulterzuckend über die Stellungnahme des Vatikans zur homologen künstlichen Besamung innerhalb der
Ehe hinweg gegangen werden. Das Interessante ist ja die Frage, wie es zu so einer abstrusen, gleichwohl mit
völligem Ernst vertretenen kirchenrechtlichen Regelung kommen kann, ein Präservativ zu durchlöchern, um
dann mit dem bewusst zerstörten Verhüterli den Samen des Ehemannes aufzufangen: Wie sieht das der
eigenartig anmutenden rechtlichen Regelung zu Grunde liegende religiös begründete geistige Konstrukt aus?
Seit Jahrtausenden galt nach der Überzeugung von Kirchenlehrern, dass selbst nicht verhütender
Geschlechtsverkehr – von verhütendem ganz zu schweigen! - sogar unter Ehepartnern, weil mit fleischlicher
Lust verbunden und darum (oft/meistens?) mit Genuss vollzogen, eine Sünde sei.2 Insbesondere aber sei
Geschlechtsverkehr dann äußerst sündhaft, wenn er „widernatürlich“ ausgeübt werde. Das sei nicht nur bei
„Sodomie“ (eigentlich: Unzucht mit Tieren; in der katholischen Kirche aber jahrhundertelang verwendete
Bezeichnung für Analverkehr und Homosexualität) – die bis 1975 auch durch §§ 175 ff StGB mit
1
2
Ranke-Heinemann, Uta: Eunuchen für das Himmelreich Katholische Kirche und Sexualität, Hamburg 1988, S. 206 f
Papst Gregor I., der Große († 604): „Die Lust kann nie ohne Sünde sein.“ In „Responsum Gregorii“ / Antwortschreiben an
den Bischof Augustinus von England. Dieses Zitat habe in der katholischen Kirch eine sehr große Wirkung gehabt, da es
„bis in unser Jahrhundert als vom großen Papst Gregor I. stammend unentwegt zitiert“ wurde.
Vgl. Ranke-Heinemann, Uta: Eunuchen für das Himmelreich Katholische Kirche und Sexualität, Hamburg 1988, S. 147
186
Gefängnisstrafe und zeitweiliger Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte unter Strafdrohung stand - der Fall,
sondern auch dann, wenn zwar Mann und Frau den Geschlechtsakt ausführten, dabei aber keine Zeugung
beabsichtigt sei – was staatlicherseits nicht bis ins 20. Jahrhundert strafbewehrt war -, weil dann ja (ebenfalls!)
männlicher Samen vergeudet werde. In dem männlichen Samen wurde – in Anlehnung an die biologischen
Vorstellungen des Aristoteles – eine „potentieller Mensch“ und damit etwas Göttliches und darum besonders
Schützenswertes gesehen, weil nach dieser Vorstellung der Mann der allein Zeugende und die Frau nur das
empfangende Gefäß sei – wie der Ackersmann den Samen in die Ackerfurche streut und daraus neues Leben
wächst; eine Anschauung, die sich 1677 nach der Entdeckung der beweglichen Samenfäden im männlichen
Ejakulat noch einmal besonders festigte. Auch nach der Entdeckung des weiblichen Eies 1827 wurde die
Jahrtausende Geltung besessen habende theologische Sichtweise auf die unterschiedlichen Anteile von Mann
und Frau an der Entstehung neuen Lebens nicht den neueren Erkenntnissen der Biologie angepasst.
Bis zur Einführung des Kirchlichen Gesetzbuches der katholischen Kirche CIC 1917 galt als grundlegendes
Werk des katholischen Kirchenrechts die 1142 entstandene, u.a. auf den Lehren des Augustinus fußende
Gesetzessammlung des Mönches Gratian. In dieser Gesetzessammlung wird eine Stufenleiter der Unzucht
aufgestellt, an deren Spitze der Coitus interruptus stehe. Er sei nach christlichem Kirchenrecht die Spitze der
Unzucht, verwerflicher als Hurerei oder der als schlimmer angesehene Ehebruch, ja sogar schlimmer noch als
Geschlechtsverkehr mit der eigenen Mutter, wenn der Verkehr mit der eigenen Mutter „natürlich“, d.h., auf
Zeugung hin offen ist.3 Der Geschlechtsakt sei hingegen höchstens dann sittlich, wenn er der von der Kirche
vorgegebenen Ordnung in Zweck – ausschließlich Zeugung - und Körperhaltung(!) – z.B. dürfe die Frau nicht
auf dem Mann sitzen, sondern habe in bestmöglicher Empfängnisposition mit gespreizten Beinen unter ihm auf
dem Rücken zu liegen, damit der Samen des Mannes nicht aus ihrer beim Sitzen „umgedrehten“ Gebärmutter
herausfließen könne, um so die beste Empfängnismöglichkeit zu gewährleisten - entspreche.
Diese etwas längeren Ausführungen waren notwendig, um zu verdeutlichen, warum nach katholischem
Kirchenrecht u.a. Verhütung als eine Todsünde angesehen wird und wie sich diese Ansicht dann auf den Bereich
der sogenannten homologen Insemination bis heute auswirkt.
Sklavischer Gesetzesgehorsam kann - im günstigsten Fall - eine menschliche Gesetzesanwendung verhindern.
„Nur mit allen Fingern
SAD New York – Seit drei Jahren versucht der 78 Jahre alte Exilkubaner Armando Valencia, die
amerikanische Staatsbürgerschaft zu bekommen. Siebenmal hat der alte Mann, der seit 27 Jahren in
Miami lebt, schon ein polizeiliches Führungszeugnis vorgelegt, achtmal musste er seine
Fingerabdrücke abliefern. Zweimal wurde er sogar schon eingeladen, den Eid als amerikanischer
Staatsbürger abzulegen, doch beide Male wurde er wieder zurückgeschickt. Valencias Problem ist,
dass er keinen kompletten Satz von Fingerabdrücken vorlegen kann – er verlor vor 20 Jahren bei
einem Arbeitsunfall zwei Finger.“ (HH A 05.12.98)
Im Extremfall kann sklavischer Gesetzesgehorsam zu abgrundtiefer Inhumanität führen, wie wir Deutschen es an
den Rassegesetzen der Nazis erlebt haben.
2.7.2 Kampf um gesetzliche Neuregelungen auf Grund geänderter gesellschaftlicher
Verhältnisse am Beispiel der Feiertagsruhe
Auch in der Bundesrepublik besteht ein grundsätzliches, in verschiedenen gesetzlichen Bestimmungen
angeordnetes, letztlich auf die in Art. 4 II GG geregelte ungestörte Religionsausübung zurückführbares
Feiertagsgebot. Darum ist vor Jahrzehnten ein Gartenbesitzer sogar zu einem Bußgeld verurteilt worden, weil
ihn ein missgünstiger Nachbar angezeigt hatte, als der Gartenbesitzer an einem Sonntag frisch angelieferte
Bäume eingepflanzt hatte, um sie nicht vertrocknen zu lassen. Dieser Hinweis half dem Angezeigten vor Gericht
aber nicht, obwohl das Verbot der Feiertagsarbeit u.a. nicht bei unaufschiebbaren Arbeiten in der Landwirtschaft
gilt! Die Richter hätten so sehr leicht von dieser gesetzlich vorgesehenen Ausnahme vom Verbot der
Feiertagsarbeit ausgehend eine Analogie4 zu Gunsten des Angezeigten bilden können! (Solche Analogien sind
3
4
Ranke-Heinemann, Uta: Eunuchen für das Himmelreich Katholische Kirche und Sexualität, Hamburg 1988, S. 211 f
Eine in einem anderen Zusammenhang geschaffene Rechtsnorm mit rechtsähnlichem Tatbestand wie in dem zu regelnden
Fall wird wegen der so beurteilten gleichen oder ähnlichen Interessenslage auf einen nicht geregelten Bereich übertragen,
um durch die in dieser Rechtsnorm angeordnete Rechtsfolge auch in dem bisher gesetzlich nicht geregelten Fall zu einem
187
grundsätzlich erlaubt; im Bereich des Strafrechts in einem Rechtsstaat aber nur zu Gunsten eines Angeklagten,
nie zu seinen Ungunsten!)
Werden die gesetzlichen Bestimmungen und Verordnungen zur strikten Wahrung der Feiertagsruhe in unserer
säkularisierten Welt von der Mehrheit der Bevölkerung noch angenommen? Werden sie den Anforderungen an
eine moderne Industriegesellschaft noch gerecht? Wohl eher nicht. Werden diese Bestimmungen von den
Verwaltungsjuristen und denen der Verwaltungsgerichtsbarkeit noch ernstgenommen oder - wie der § 218 StGB
vor seiner Neuregelung 1975 - von den Gerichten mehr oder minder übergangen? Bisher: Ja, sie werden noch
ernstgenommen. Gelten sie auch für Maschinen?
Dazu einige Zeitungsmeldungen:
"Sonntags nie in den Waschsalon
ddp Kassel - Auch wenn keine Menschen, sondern Maschinen in Münzwaschsalons arbeiten, müssen
sie die Sonn- und Feiertagsruhe einhalten - zumindest in Hessen. Der Verwaltungsgerichtshof in
Kassel untersagte einem Unternehmer, sein Geschäft außer an Werktagen zu öffnen. Mit dem Urteil
bestätigte das Gericht ein von der Stadt Wiesbaden verhängtes Öffnungsverbot. Der Waschsalon sei
auf Gewinnerzielung gerichtet, der Betrieb damit Arbeit. Die Feiertagsgesetze der meisten anderen
Bundesländer seien zwar ähnlich, die Eilentscheidung aber nicht unbedingt übertragbar (Az.: 8 TH
17/92)." (HH A 15.05.92)
Ähnlich war die Rechtslage vom Hamburgischen OVG 1991 beurteilt worden, ohne dass die Politiker sich damit
zufrieden gaben:
Kampf
um
gesetzlic
he
Neuregel
ungen
auf
Grund
geändert
er
gesellsch
aftlicher
Verhältni
sse am
Beispiel
der
Feiertags
ruhe
"Bezirk Wandsbek fordert Betriebserlaubnis für Autowaschanlagen
Streit um sauberen Sonntag
Die Bezirksversammlung Wandsbek legt sich mit der Hamburger Justiz an. Mit großer Mehrheit
sprach sich das Kommunalparlament jetzt für den Betrieb von Autowaschanlagen an Sonntagen aus.
Genau das aber hatte das Hamburgische Oberverwaltungsgericht im vorigen Jahr verboten.
Trotzdem forderte die Bezirksversammlung Wandsbek `Bürgermeisterin' Ingrid Soehring (CDU)
auf, sich beim Senat für die Öffnung der Autowaschanlagen einzusetzen. `Es ist die einhellige
Auffassung aller Fraktionen, daß das hamburgische Feiertagsrecht liberalisiert werden muß, um den
Anforderungen der Bürger in einer immer stärker auf Freizeit orientierten Gesellschaft gerecht zu
werden', sagte der CDU-Abgeordnete Detlef Gottschalck.
Die noch weitergehende Forderung der Christdemokraten, den Betrieb von Fitneßstudios,
Mitfahrzentralen und privaten Flohmärkten am Sonntag zuzulassen, wurde jedoch von der
SPD/FDP-Mehrheit abgelehnt.
Dem Pro-Waschanlagen-Beschluß von Wandsbek lag ein Antrag der FDP zugrunde. Darin wurde
auf die Umweltbelastung hingewiesen, die entsteht, wenn Autofahrer ihre Wagen wochenends am
Straßenrand oder auf dem Grundstück waschen.
Der liberale Fraktionsvorsitzende Dr. Dr. Hans Joachim Widmann meint: `Die Sonn- und
Feiertagsruheverordnung und das aus ihr abgeleitete Waschverbot stammen aus einer Zeit, in der die
Vorstellung herrschte, daß der Bürger sonntags in der Kirche und zu Hause sein sollte. Diese
Vorstellung widerspricht unserer heutigen flexiblen Freizeitgesellschaft.'
Dagegen stellte das Oberverwaltungsgericht in einer 1991 rechtskräftig gewordenen Entscheidung
(Aktenzeichen OVG Bf VI 54/89) fest: `Der Betrieb einer automatischen Autowaschanlage sowie
der Einsatz von Münzstaubsaugern an Sonn- und Feiertagen stehen im Widerspruch zu der
besonderen Natur dieser Tage und sind geeignet, die äußere Ruhe dieser Tage zu stören.' Die
Autopflege dient nach Ansicht der Richter `vornehmlich ästhetischen Zwecken'. ...
Die Hamburger Feiertagsschutzverordnung untersagt an Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen
`alle öffentlich bemerkbaren Arbeiten'. ...
`Der Sonntag darf nicht zum Arbeitstag werden', sagt Dr. Mattner. Der Spezialist hat ein schon in
als angemessen erachteten Ergebnis zu gelangen. Über die Berechtigung für die rechtsanaloge Anwendung lässt sich dann
trefflich streiten. Aber so gibt es neue Doktoren der Rechte.
Im Strafrecht ist eine Analogiebildung zu Ungunsten eines Täters strikt verboten. Das gilt für einen Rechtsstaat, der NaziDeutschland nicht war und wo zur Vermeidung sonst fälliger Freisprüche oder um zur für das abzuurteilende Delikt vom
Gesetz nicht vorgesehenen Todesstrafe gelangen zu können, Analogien zu Ungunsten der in die Rechtsmaschinerie
Geratenen gebildet worden waren.
188
zweiter Auflage erschienenes 250-Seiten-Werk über das `Sonn- und Feiertagsrecht' geschrieben."
(HH A 11.05.92)
"Zwei Vorstöße aus der Koalition
Sonntags arbeiten
ap/rtr München - Die Deutschen sollen nach Ansicht von Bundeswirtschaftsminister Jürgen
Möllemann (FDP) auch sonntags arbeiten. `Wir können es uns in der hoch automatisierten deutschen
Wirtschaft nicht länger leisten, daß teure Maschinen nur fünf Tage in der Woche laufen', sagte
Möllemann der `Bunten'. ..."
"Sonntags bräunen?
dpa Berlin - Bräunungsstudios dürfen an Sonn- und Feiertagen geöffnet haben. Grundsatzurteil des
Bundesverwaltungsgerichts. Die Stadt Karlsruhe unterlag Baden-Württemberg (Az 1 C 38.90)."
"Feiertagsrecht soll renoviert werden
Suche nach dem neuen Sonntag
Wie heilig ist der Sonntag? Die Hamburger Feiertagsverordnung verbietet an Sonn- und Feiertagen
grundsätzlich `öffentlich bemerkbare Arbeiten'. Welche Tätigkeiten sind darunter zu verstehen? ...
`Wir brauchen ein Gesetz, das der Verfassung ebenso Rechnung trägt wie den Bedürfnissen einer
modernen Freizeitgesellschaft', ...
Das Grundgesetz gebietet - ebenso wie früher schon die Weimarer Reichsverfassung: ‘Der Sonntag
und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen
Erhebung gesetzlich geschützt.' Andererseits haben sich die Freizeitgewohnheiten in den
vergangenen Jahrzehnten stark geändert. ...
Etwa 90 Prozent der Fitneßstudios sind auch am Sonntag in Betrieb, sie sind dann sogar am
stärksten ausgelastet. Bei den Sonnenstudios hat nur gut die Hälfte auch am Sonntag geöffnet.
Autowaschbetriebe bleiben an diesem Tag geschlossen. Tankstellen dürfen ihre nebenbei
betriebenen Autowaschanlagen nicht mehr sonntags in Gang setzen. Das Oberverwaltungsgericht hat
dies im vorigen Jahr verboten.
Die Studie stellte auch fest, daß ein Teil der mit Sonntagsarbeit Beschäftigten gern einen festen
freien Tag in der Woche hätte. ..." (HH A 16.11.92)
"Sonntagsarbeit
ap Bonn - Die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft Deutschlands (CDA) lehnt es ab,
künftig am Sonntag mehr Arbeit zuzulassen. `Die Verbesserung des Wirtschaftsstandortes
Deutschland erfordert es nicht, daß der Sonntag zum Arbeitstag gemacht wird', meinte der neue
CDA-Vorsitzende Werner Schreiber." (HH A 12.06.93)
"Bald auch sonntags arbeiten
rtr Bonn - Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt (FDP) will das Arbeitsverbot an Sonn- und
Feiertagen lockern und das Nachtarbeitsverbot für Frauen aufheben. Es müsse möglich sein, an
Sonn- und Feiertagen zu arbeiten, wenn dies zur Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen
notwendig sei, sagte Rexrodt." (HH A 15.06.93)
"Sorge um freien Sonntag
dpa Baden-Baden - Die katholische Kirche lehnt eine Ausweitung der Sonntagsarbeit weiterhin ab.
Zwar sage die Kirche nicht generell nein zur Sonntagsarbeit, sagte der Vorsitzende der Deutschen
Bischofskonferenz, Karl Lehmann. Allerdings dürfe die gegenwärtige Wirtschaftskrise nicht dazu
benutzt werden, jetzt etwas zu erreichen, was man schon immer habe durchsetzen wollen. Sollten
ausschließlich wirtschaftliche Gründe den Ausschlag geben, dann sei ein `Dammbruch' gegen einen
arbeitsfreien Sonntag zu befürchten.
Nach Angaben des Bundesarbeitsministeriums arbeiten rund drei Millionen Menschen regelmäßig
an Sonn- und Feiertagen. Das sind knapp neun Prozent aller Beschäftigten. Der Mitte Juli vom
Kabinett verabschiedete Gesetzentwurf für ein neues Arbeitszeitgesetz sieht vor, daß Unternehmen
aus Konkurrenzgründen Sonn- und Feiertagsarbeit anordnen können." (HH A 10.08.93)
Als das Buch konzipiert wurde, war die Problematik schon zeitweilig aktuell. Das erste Ladenschlussgesetz war
in der Bundesrepublik 1956 auf der Grundlage der kaiserlichen Gewerbeordnung von 1891 eingeführt worden.
189
1989 wurde der donnerstägliche „Dienstleistungsabend“ zugelassen. 1996 gab es eine weitere Novellierung des
Ladenschlussgesetzes, der zufolge die Öffnungszeiten von Montag bis Freitag auf 20 Uhr verlängert wurden. Im
Zuge der Internationalisierung und Globalisierung kochte die Diskussion um eine Freigabe der
Ladenöffnungszeiten 1999 wieder hoch. Im Jahre 2000 wurde von den Ländern über den Bundesrat eine weiter
liberalisierte »Neunovellierung« des Ladenschlussgesetzes angestrebt.5 Die Befürworter längerer, bis zumindest in Feriengebieten - möglicherweise auch in den Sonntag ausgedehnter Wochenöffnungszeiten und
Gegner der »Service-Wüste Deutschland« verweisen auf die Beispiele in anderen, teilweise kirchlich sehr
geprägten katholischen Ländern wie z.B. Mexiko, in denen man in großen Städten in vielen Supermärkten jeden
Tag 24 Stunden lang an allen sieben Tagen in der Woche einkaufen kann. Sie sehen ein „erhebliches öffentliches
Interesse“ an längeren Öffnungszeiten, die den Sonntag mit umfassen sollten. Grundsätzliche sonn- und
feiertägliche Öffnungszeiten kannten im Europa des Jahres 2004 Großbritannien und das noch sehr katholische
Irland ganztägig von 00-24 Uhr, Schweden von 05-24 Uhr, Portugal von 06-24 Uhr und Finnland von 09-20
Uhr; in Belgien und Frankreich gab es ein Beschäftigungsverbot für Angestellte, in allen anderen Ländern der
EU galt hinsichtlich der Ladenöffnungszeiten ein Sonn- und Feiertagsverbot. Die Gegner einer Sonntagsöffnung
- und die Mehrzahl der Gerichte – setzten sprachlich einen drauf und erkannten ein „überragendes öffentliches
Interesse“ daran, die im dritten der Zehn Gebote angeordnete Feiertagsruhe weiterhin zu heiligen. Sie
diffamierten das von den Befürwortern behauptete „erhebliche öffentliche Interesse“ als Tanz ums Goldene
Kalb. Aber worin besteht ihr „überragendes öffentliches Interesse“? Solche juristischen Formeln sind beliebig
ausfüllbare Leerformeln: Keiner kann eindeutig zwingend nachweisen, was ein „überragendes/erhebliches“
öffentliches Interesse im jeweils konkreten Einzelfall genau bedeutet und worin sich beide graduell
unterscheiden. Da kommen dann die oft nicht mitgeteilten, sondern nur unterstellten oder pauschal behaupteten
Wertungen des Argumentierenden zum Tragen.
Rund um die Uhr shoppen in 10 Ländern
Werktags soll der gesetzliche Ladenschluss von Rügen bis Passau gestrichen werden
HAMBURG dpa
Die gesetzlichen Ladenschlusszeiten sollen nach dem Willen von zehn
Bundesländern bald Geschichte sein. Bayern, Baden-Württemberg, Brandenburg, Hamburg, Hessen,
Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen wollen die
Ladenöffnungszeiten an allen Werktagen freigeben, berichtet die Bild am Sonntag. Die
Bundesländer hatten sich im Bundesrat auf einen Gesetzentwurf der baden-württembergischen
Landesregierung geeinigt, wonach künftig die Länder für den Ladenschluss zuständig sein sollen und
nicht mehr der Bund.
Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern wollen noch weitergehen und Geschäften in
Urlaubsorten auch den Sonntagsverkauf erlauben. Dagegen will das Saarland die Ladenschlusszeiten
nicht verändern. Noch nicht festgelegt hätten sich Berlin, Bremen, Nordrhein-Westfalen, RheinlandPfalz und Schleswig-Holstein. (taz 20.09.04)
Die Gewerkschaft Ver.di lehnte die Pläne für das Einkaufen rund um die Uhr an allen Werktagen
selbstverständlich und reflexartig strikt und kategorisch ab, weil eine Freigabe der Ladenöffnungszeiten zu
Lasten der Beschäftigten im Einzelhandel gehe. Auch die kleineren und mittleren Betriebe würden darunter
leiden. Ein Aus für die bisherigen gesetzlichen Ladenschlusszeiten wäre "ökonomischer Schwachsinn". Die
absehbare Folge wäre eine weitere Konzentration im Handel. Das Ladenschlussgesetz sei ein
"Arbeitnehmerschutzgesetz". Die Auswirkungen einer Freigabe der Öffnungszeiten für die Arbeits- und
Lebensbedingungen der Beschäftigten kümmerten Politiker, die ein Einkaufen rund um die Uhr forderten,
offensichtlich einen "feuchten Kehricht".
Befürworter der Freigabe der Ladenöffnungszeiten argumentieren hingegen, eine hohe Flexibilität bei den
Öffnungszeiten von Montag bis Samstag sei sinnvoll, weil dadurch in Handel und Dienstleistungsgewerbe neue,
dauerhafte Arbeitsplätze entstehen könnten – obwohl das Kaufvolumen bei der angespannten wirtschaftlichen
5
Nach einer im Juni 2004 ergangenen Entscheidung des BVerfGs, die den Ländern die grundsätzliche Kompetenz zur
Regelung der Ladenöffnungszeiten zuwies, einigten sich im September 2004 die Länder auf eine Bundesratsinitiative
Baden-Württembergs hin auf ein flexibles Ladenöffnungsrecht. Angestrebt wurde im Zeitalter der Rund-um-die-UhrEinkaufsmöglichkeit im Internet, dass grundsätzlich für alle Geschäfte die Öffnungszeiten montags bis freitags von 06-22
Uhr und samstags von 06-20 Uhr möglich sein sollen. Zusätzlich solle es Verkaufsmöglichkeiten an grundsätzlich vier
Sonntagen außerhalb des Weihnachtsgeschäftes geben. Sonntagssonderregelungen für Orte mit touristischem Schwerpunkt
sind möglich.
190
Gesamtsituation vermutlich nicht steigen wird, wohl aber die Personalkosten, die der Einzelhandel bei der
immer wieder publizierten geringen Rendite gar nicht wird aufbringen können.
Von der Hoffnung auf weitere Arbeitsplätze hat sich auch der Gesetzgeber leiten lassen; ob sich die Hoffnungen
bewahrheiten, bleibt abzuwarten. Gesetzgebung ist halt ab und zu ein Schuss ins Blaue.
Im Fall sonntäglicher Geschäftsöffnung sehen bei uns kirchlich sich gebunden Fühlende den Untergang des
christlichen Abendlandes heraufdämmern - obwohl in dem wohl katholischsten Land Europas, in Polen, die
Geschäfte sonntags geöffnet haben, ohne dass dieses den äußerst katholischen Grundcharakter des Landes
verändert hätte.
Diese sich kirchlich gebunden Fühlenden gehören mit zur politischen Meinungsträgerschaft unseres Landes; im
Gegensatz zu denjenigen, die den leeren Kirchen fernbleiben. Doch, um es an einem Beispiel deutlich zu
machen: Der noch sehr kirchlich geprägte katholische Charakter z.B. Mexikos wird von der katholischen Kirche
des Landes durch die dort generell erlaubten fakultativen sonntäglichen Geschäftsöffnungen nicht als gefährdet
angesehen. Viele großstädtische Mexikaner benutzen ihren Kühlschrank - so sie zu der Schicht derer gehören,
die sich ein solches Haushaltsgerät kaufen kann - nach eigener, aber zugegeben nicht unbedingt repräsentativer
Beobachtung, verstärkt zum Kühlen von Getränken, aber nicht zu einer so ausgeprägten Vorratshaltung wie sie
in Deutschland gebräuchlicher ist. Wozu auch, wenn man bei Bedarf um die Ecke in den sieben Tage die Woche
Tag und Nacht geöffneten Supermarkt gehen kann! Das ist wohl auch auf den den Lebensstil der Mexikaner
mitprägenden Einfluss des übergroßen Nachbarn im Norden zurückzuführen, der einen mexikanischen
Staatspräsidenten in den Stoßseufzer ausbrechen ließ: „Armes Mexiko: so nah an den Vereinigten Staaten von
Amerika und so fern von Gott!“
Beim Namen genannt stehen in dem Streit um eine sonntägliche Geschäftsöffnung das allgemeine
Feiertagsinteresse der Arbeitnehmer und das christliche Feiertagsinteresse gegen das Einkaufsverlangen
derjenigen, die in der Woche kaum zum Einkaufen kommen oder nicht kommen wollen und das diesen Umstand
kalkulierende Profitinteresse der Ladeninhaber, sowie das geänderte Freizeitverhalten.
Eine weitere Liberalisierung erfolgte 2003, als den Geschäften erlaubt wurde, auch sonnabends bis 20 Uhr zu
öffnen. Damit ist fast der Stand des Jahres 1900 erreicht: Damals wurden für Werktage Öffnungszeiten zwischen
5 und 21 Uhr festgelegt.
Dann preschte Berlin vor, wo man seit einiger Zeit sein Auto sonntags in Waschanlagen reinigen lassen darf.
2003 erklärte die rot-grüne Landesregierung in Schleswig-Holstein, sie wolle den Schutz von Sonn- und
Feiertagen in ihrem Land deutlich lockern. Videotheken sollen sonntags schon vor 13.00 Uhr, Waschsalons und
Auto-Waschanlagen erstmals überhaupt öffnen dürfen.
„Auto waschen bald auch am Sonntag
Kiel - Autowaschanlagen können in Schleswig-Holstein künftig sonntags öffnen, und private
Flohmärkte dürfen auch am Totensonntag stattfinden. Der Landtag will das neue Gesetz noch in
dieser Woche beschließen. Einig sind sich alle Fraktionen, dass Autowaschanlagen, Waschsalons
und Videotheken künftig ganztägig öffnen dürfen. Auch Saunen sowie Fitness- und
Bräunungsstudios, die bisher eine Einzelverordnung benötigten, dürfen jetzt ganztägig öffnen.
Die "stillen" Feiertage sind aber auch künftig besonders geschützt: Am Karfreitag, Volkstrauertag
und Totensonntag sind Tanzveranstaltungen und ausgelassene Sportfeste tabu.
Kritik kommt von der CDU-Opposition. Ihr Fraktionsvize Jost de Jager befürchtet eine "Umkehr der
Beweislast". So müsse künftig die Kirchengemeinde den Beweis führen, dass etwa ein Biker-Treff
oder ein Straßenfest in der Nachbarschaft den Gottesdienst stört.
Die SPD will dieser Argumentation nicht folgen. Eine Durchführungsbestimmung werde dafür
sorgen, so ihr Rechtsexperte Peter Eichstädt, dass die Ordnungsämter auch von sich aus prüfen
müssen.
Klare Unterschiede gibt es in der Frage der Zuständigkeiten. Die SPD will die Ordnungsämter
entscheiden lassen. Sie könnten die Situation vor Ort besser einschätzen, so Eichstädt. Die CDU
setzt auf landesweite Regelungen. Uneinheitliche Entscheidungen, so befürchtet de Jager, höhlten
auf Dauer den Sonntagsschutz aus. Er steht damit weitgehend allein da. Grüne, FDP und SSW
wollen den SPD-Vorschlag unterstützen. Epd“
(HH A 16. 06.04)
191
Selbstverständlich kritisierte die Kirche in Schleswig-Holstein den Gesetzentwurf zur Änderung des Sonn- und
Feiertagsrechts von 1953 prompt: Der Schutz der Sonn- und Feiertage, insbesondere der drei stillen Feiertage
Karfreitag, Volkstrauertag und Totensonntag, sei nicht ausreichend, Sportveranstaltungen an diesen stillen
Feiertagen undenkbar.
Eine Liberalisierung der Öffnungszeiten analog der in Schleswig-Holstein auf den Weg gebrachten Änderungen
wird seit 2003 immer wieder einmal auch in Hamburg angestrebt, wo eine bürgerliche Koalition die FeiertagsSchutzverordnung wenigstens für Münz-Autowaschanlagen kippen will. 2004 wollte die CDU-Bürgerschaftsfraktion das „Sonntagswaschverbot“ (allerdings nur) für automatische Waschanlagen oder Wasch-Stationen, die
kein Personal benötigen und nicht in Wohngebieten liegen, vom von ihr dominierten Landesparlament aufheben
lassen. Um den absehbaren Konflikt mit den Kirchen von vornherein zu entschärfen, soll die Wascherlaubnis für
die Automaten aber erst ab 13.00 Uhr gelten: Früher zogen Damen wie meine Mutter einen frischen Schlüpfer
an, wenn sie zum Sonntagsgottesdienst gehen wollten; nach der von der Landes-CDU intendierten gesetzlichen
Neuregelung müssen die Kirchgänger aber in einem dreckigen Auto vor der Kirche vorfahren und dürfen es erst
hinterher waschen! Und das auch nicht in jeder automatischen Autowaschanlage:
Autowaschen am Sonntag? Im Prinzip ja, aber ...
Öffnen dürfen nur automatische Autowaschanlagen. Personaleinsatz ist verboten, sogar zum
Kassieren.
Sl – HARBURG. Erst im Februar hatte der Hamburger Senat das Kippen des Autowaschverbots an
Sonn- und Feiertagen verkündet. Allerdings mit Einschränkung. So dürfen nur automatische
Waschanlagen in Industriegebieten diese Dienstleistung anbieten, um Anwohner nicht zu stören.
Freudestrahlend ließen die Waschanlagenbetreiber Plakate mit neuen Öffnungszeiten drucken,
stellten neue Mitarbeiter ein und freuten sich auf zusätzliche Geschäfte.
Um so mehr staunten American Carwash-Chefin Karin Veyhl und ihre Kollegen von anderen
Waschanlagen in Harburg, als in den letzten Wochen ein Schreiben des Bezirksamtes kam. Darin
heißt es: „Sie betreiben die Autowaschanlage auch an Sonntagen und setzen dafür Personal ein. Dies
ist nicht zulässig. An Sonn- und Feiertagen dürfen Autowaschanlagen nach der geltenden
Feiertagsschutzverordnung nur automatisch, d.h. ohne Personaleinsatz betrieben werden.“ Unter
Androhung von Bußgeld wurden Veyhls aufgefordert, in Zukunft die Waschstraße an Sonn- und
Feiertagen geschlossen zu halten.
Zwei Tage später erschienen zwei Mitarbeiter des Verbraucherschutzamtes und überbrachten die
Botschaft noch mal mündlich. „Aber wir betreiben doch eine automatische Waschanlage“,
argumentierte Karin Veyhl. „Nein“, konterten die Herren, „Sie haben ja Personal zum Kasieren.“
„Natürlich“, staunte Karin Veyhl, „wir arbeiten doch nicht umsonst. Wie sollen wir denn an unser
Geld kommen? Die Tankstellen haben doch auch Personal zum Kassieren.“
Das sei was völlig anderes, so die Bezirksamt-Mitarbeiter. Die Tankstellen hätten ohnehin
Personal, und die würden für die Autowaschanlage quasi nur nebenbei kassieren. ...
Karin Veyhl und ihre Kollegen erwägen jetzt eine Sammelklage gegen diese Verordnung.“
(Harburger Wochenblatt 11.05.05)
Die Farce war damit noch nicht zu Ende, musste aber irgendwie ohne Gesichtsverlust zu Ende gebracht werden:
„Streit um Autowaschanlagen
Es lief so gut, dann kam das Aus: Vier automatische Autowaschanlagen in Hamburg mußten ihren
Sonntagsbetrieb wieder einstellen. Der Grund: Sie haben für diesen Service zusätzliche Mitarbeiter
eingestellt. Ein Verstoß gegen die Feiertagschutz-Verordnung, wie einem Lebensmittel- und
Gewerbekontrolleur des Bezirks Wandsbek auffiel. Um es vorwegzunehmen: Das gute Ende ist in
Sicht. "Wir werden sehen, daß dieser Fall arbeitnehmerfreundlich geregelt wird", heißt es aus der
zuständigen Innenbehörde, nachdem der Fall einige Wellen geschlagen hatte. In Zeiten hoher
Arbeitslosigkeit solle niemand wegen einer Verordnung seinen Job verlieren.
Behördensprecher Marco Haase rechnet mit einer Änderung der Verordnung noch im Spätsommer.
Für Bahn- und Busfahrer, Tankwarte, Ärzte, Mitarbeiter von Notdiensten und zahlreiche andere
Berufe gilt sie schon längst nicht mehr.
"Die Waschanlagenbetreiber können davon ausgehen, daß dieser Fall gerecht geregelt wird",
versichert Haase. Alle sollen die gleiche Chance haben. Dennoch sind "automatisch" und
"automatisch" nicht automatisch das Gleiche: Waschanlagen, für die der diensthabende Tankwart
nebenan die Tickets verkauft, sowie Münzwaschanlagen gelten als absolut automatisch.
Waschstraßen wie die von Mr. Wash oder Clean Car, bei denen Mitarbeiter auf der Anlage stehen,
192
sind nicht ganz so automatisch.
Seit Februar können die Hamburger ihre Autos sonntags zwischen 13 und 18 Uhr waschen - in
automatischen Anlagen, die in Gewerbegebieten stehen. "Von Mitarbeitern steht da gar nichts.
Deshalb haben wir ja aufgemacht", erklärt ein Mitarbeiter von Mr. Wash. Und Mr.-Wash-Chef
Richard Enning in Düsseldorf wundert sich. In Kiel und Berlin hat er keinerlei Probleme. Und die
Anlagen dort laufen sonntags sogar ab 9 Uhr. Eli“ (HH A 26.05.05)
Insbesondere Händler in Tourismuszentren wollten das die Öffnungszeiten reglementierende, ihrer Meinung
nach sogar strangulierende Ladenschlussgesetz und die Feiertagsverordnung nicht mehr so verbraucherfeindlich
akzeptieren, und es wurde geklagt, letztlich bis rauf zum BVerfG: Der Kaufhof am Berliner Alexanderplatz hatte
im Sommer 1999 das Verfahren gezielt in Gang gebracht, als er sein Kaufhaus sowohl am Samstag nach 16 Uhr
als auch am Sonntag öffnete. Ein Einzelhändler klagte auf Unterlassung und hatte damit den erwarteten Erfolg.
Denn das bundesdeutsche Ladenschlussgesetz lässt Sonntagsöffnungen nur in Ausnahmefällen zu. Als das
Warenhaus rechtskräftig zur Unterlassung verurteilt worden war, hatte es das oberste deutsche Gericht
»angerufen«; natürlich nicht per Telefon, sondern per Klagschrift, was die Juristen auch als ein Anrufen des
Gerichts bezeichnen. Die Metro-Tochter Kaufhof AG wollte das Ladenschlussgesetz kippen, weil es, so wurde
argumentiert, den Konzern in seiner Berufsausübungsfreiheit unzulässig beschränke. Außerdem sei der
Anspruch auf Gleichbehandlung verletzt, weil Tankstellen und Bahnhofshändler rund um die Uhr ihre Waren
anbieten können: Apotheken dürfen Arzneien, Kioske Zeitungen und Bäcker Brötchen verkaufen, und an
Tankstellen, Bahnhöfen und Flughäfen kann sich der Kunde mit Artikeln des "Reisebedarfs" eindecken - wozu
fast alles gehört, so dass mancher Bahnhof zum Shopping-Center und nicht wenige Tankstellen zu regelrechten
Supermärkten geworden sind. Weitere Ausnahmen gelten für beliebte Tourismusziele, und Berlin-Mitte ist nun
wirklich ein Tourismusziel ersten Ranges!
Das Ladenschlussgesetz und das Verbot der Sonntagsöffnung seien "verhängnisvolle Symbole der
Reformunfähigkeit" Deutschlands, so der Prozessvertreter der Kaufhof AG in der mündlichen Verhandlung.
Bereits jetzt arbeiteten 12 Prozent aller Beschäftigten am Sonntag, und die Verbraucher wollten den "ErlebnisEinkauf". Das Ladenschlussgesetz sei eine nicht mehr zeitgemäße staatliche Gängelung. Der Schutz der 2,8
Millionen Beschäftigten im deutschen Einzelhandel sei im Arbeitszeitgesetz und in den Tarifverträgen
ausreichend geregelt, so dass es des Ladenschlussgesetzes nicht bedürfe. Der Einzelhandel sei gegen über den
durch Ausnahmeregelungen begünstigten Betrieben benachteiligt.
Würde »Karlsruhe« das Ladenschlussgesetz für verfassungswidrig erklären?
Der Sonntag steht als Tag der "Arbeitsruhe" zwar nicht ausdrücklich im Grundgesetz, aber er ist über Art. 140
GG, der einige die Kirchen betreffende Artikel der Weimarer Verfassung von 1919 für weiterhin gültig erklärt,
»verdeckt« ins Grundgesetz hineingenommen worden, denn in dem u.a. übernommenen Art. 139 WV heißt es:
„Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der
seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.“
Dass ein Gesetz verfassungswidrig ist, das eine Verfassungsvorschrift umsetzt, wäre schon sehr überraschend.
Die beiden großen Kirchen in Deutschland, die den arbeitsfreien Sonntag in der mündlichen Verhandlung
engagiert verteidigten und die bestehenden Ausnahmeregelungen als viel zu weitgehend kritisierten, durften
nicht nur auf göttlichen Beistand hoffen, sondern auch auf den des höchsten deutschen Gerichts.
Einstimmig entschied das Gericht, dass das Verbot der Ladenöffnung an Sonn- und Feiertagen
verfassungsgemäß ist. Der Schutz der Sonn- und Feiertagsruhe sei als Regel zu sichern.
In der Frage der Beschränkung der Ladenöffnungszeiten auf 20.00 Uhr während der Werktage war das
Richtergremium dagegen gespalten. Vier Richter des Ersten Senats, darunter Präsident Hans-Jürgen Papier,
wollten den Ladenschluss zumindest an Werktagen freigeben. Das Gesetz sehe inzwischen so viele Ausnahmen
vor, dass es nicht mehr konsequent sei. Darum sei diese Beschränkung nicht mehr gerechtfertigt. Da für die
Feststellung der Verfassungswidrigkeit aber eine Mehrheit der acht Richterstimmen notwendig ist, bei
Stimmengleichheit eine Verfassungsklage also abgelehnt wird, blieb die Beschwerde von Kaufhof auch in dieser
Hinsicht erfolglos: Der Eingriff in die Grundrechte der Ladeninhaber sei durch das Ziel gerechtfertigt,
ungünstige Arbeitszeiten der Beschäftigten zu vermeiden. Der Schutz von Arbeitnehmerinteressen vor
Nachtarbeit wurde als vorrangig gegenüber den Firmeninteressen gesehen und gewertet. Die Ausnahmen für
Tankstellen, Bahnhöfe, Bäcker, Blumen- und andere Händler dürften nicht überschätzt werden, sie beträfen
insgesamt weniger als fünf Prozent der 2,8 Mill. Beschäftigten im Einzelhandel.
Die »Richterkönige« entschieden außerdem, dass der Bund auch weiterhin für den Ladenschluss zuständig ist.
Seit 1994 gilt im Grundgesetz zwar eine länderfreundliche Kompetenzregelung, diese kam hier aber nicht zur
193
Anwendung, weil sie nur für neue Gesetze gilt. Allerdings könne der Bund seine diesbezügliche
Gesetzgebungskompetenz
an
die
Länder
abgeben,
die
dann andere Öffnungszeiten in
Landesladenschlussgesetzen regeln könnten. Dabei habe allerdings ein „Kernbereich an Sonn- und Feiertagsruhe
unantastbar“ zu bleiben, gaben die Bundesverfassungsrichter den Landesgesetzgebern mit auf den angedeuteten
Weg.
2.7.3 Juristisches Konfliktfeld Organ»spende«
Juristisches
Konfliktfeld
Ogan»spende«
Ein weiteres Beispiel für ein größere Bevölkerungsteile betreffendes juristisches Konfliktfeld neben der schon
angesprochenen Neuregelung des § 218 StGB oder der Feiertagsruhe ist der Problemkreis der Organ»spende«.
Er fällt, wie alle anderen Bereiche auch, unter der Fragestellung: "Muss eingeschritten werden? Was wollen wir?
Was wollen wir äußerstenfalls zulassen?", als Problem zu treffender Wertentscheidungen in den Bereich
»Recht« und nach dieser vorgelagerten Wertentscheidung für die nähere rechtliche Ausgestaltung in den Bereich
»Gesetz«. Um zu wissen, was bei neueren Entwicklungen geregelt werden soll, muss der Gesetzgeber deshalb
ein wachsames Auge auf juristische Grauzonen haben. Üblicherweise wird die Gesetzgebungsmaschinerie zur
Regelung neu eröffneter technischer Möglichkeiten erst dann angeworfen, wenn bei an sich segensreichen
Neuerungen Missbräuche oder eklatante Fehlentwicklungen überdeutlich geworden sind. Der Gesetzgeber
hechelt der neuesten technischen Entwicklung zwangsläufig immer hinterher. So auch im Bereich der
Organ»spende«.
Gegen eine freiwillige lebensrettende Organspende kann niemand ernsthaft etwas Grundsätzliches vorbringen
und tut es auch nicht. Organspenden werden – rein theoretisch – bejaht: man könnte ja selber auf ein
Spenderorgan angewiesen sein. Die erforderliche Spendebereitschaft hingegen ist nicht in ausreichendem
Umfang gegeben!
Relativ unproblematisch sind freiwillige lebensrettende Organspenden dann, wenn sie gerade Gestorbenen
entnommen werden. Nach sehr vielen Herz-, Nieren- und Lebertransplantationen stehen die Kirchen als
überparteiliche moralische Instanzen dieser medizinischen Möglichkeit nicht (mehr) ablehnend gegenüber.
Keine Probleme gibt es, wenn der Verstorbene durch einen Organspenderausweis deutlich gemacht hat, dass er
im Falle seines (gesunden) Ablebens z.B. durch einen Verkehrsunfall seine intakten und benötigten Organe
denjenigen zur Verfügung stellen möchte, die derer bedürfen und die gleiche Blutgruppe und die beste
Organverträglichkeit aufweisen, um die trotz allem dann das weitere Leben erforderliche Immunsuppression so
niedrig wie möglich zu halten: Trotz größtmöglicher Verträglichkeit wird das implantierte Organ von dem
aufnehmenden Körper immer als fremd erkannt. Der aufnehmende Körper versucht, sich mit Immun- und
Abstoßungsreaktionen gegen das fremde Gewebe zu wehren.
Nun gibt es aber einen wesentlich größeren Bedarf an Organen, als durch solche wirklich freiwilligen Spenden
zusammenkommen, denn in Deutschland ist die Spendebereitschaft deutlich geringer als in anderen
europäischen Staaten. 2005 warteten in Deutschland 12.000 Menschen auf Organspenden: 9.200 Nieren, 1.500
Lebern, 600 Herzen und 450 Lungen wurden benötigt.
Es wurden aber 2003 nur 13,6 Organe im Mittelwert pro eine Million Einwohner in Deutschland gespendet. (Es
wurden 4.175 Organe übertragen, im Mittelwert drei pro Organspender.) In Spanien, dem Spitzenreiter in
Europa, werden hingegen 31,5 Organe pro eine Million Einwohner gespendet. Deutsche Organempfänger leben
– zum Ärger unserer Nachbarn - über Eurotransplant von der größeren Spendebereitschaft in den anderen
europäischen Ländern, die sich ebenfalls Eurotransplant angeschlossen haben. Weil es zu wenige Spender gibt,
standen 2005 rund 9.200 Deutsche mit fortgeschrittener Nierenerkrankung auf der Warteliste für eine
Nierentransplantation in einem der 40 Zentren, in denen jährlich zwischen 2.000 und 2.400 Nieren verpflanzt
werden; 2003 waren es 2081 Nieren von Toten, zu denen die Lebendspenden kamen. Bis zur Implantation eines
geeigneten Organs sind sie auf eine Dialyse angewiesen. Neu auf die Warteliste kommen aber jedes Jahr 2.500
bis 3.000 Patienten. Die Schere zwischen dem Bedarf an Nieren und der Verfügbarkeit wird immer größer. Im
Schnitt warten Patienten sechs Jahre auf eine Niere. Etwa 15 Prozent sterben, bevor sie ein Ersatzorgan erhalten
können.
Besonders bedroht sind Patienten mit fortgeschrittenen Leberfunktionsstörungen, meist auf Grund einer Zirrhose
oder von Tumoren. Zwar sind davon weniger Menschen betroffen - etwa 1.500 Deutsche stehen auf der
Warteliste für eine Lebertransplantation und rund 700 Organe werden jedes Jahr verpflanzt -, aber ihr Zustand
verschlechtert sich oft rapide, und es gibt im Gegensatz zur Dialyse bei Nierenpatienten keine lebensrettende
Maßnahme, um die Wartezeit zu überbrücken. Viele Patienten müssen zwei Jahre und länger auf eine
194
Lebertransplantation warten, bei der ihnen ein fremder Leberlappen eingesetzt wird. Bis zu einem Fünftel der
Patienten, die auf der Warteliste stehen, sterben.
2003 wurden außerdem 194 Lungen(flügel) und 339 Spenderherzen übertragen, auf die aber schon rund 450
Patienten wegen einer Lungen- und 600 Patienten wegen einer Herztransplantation warteten. (Weltweit warten
70 000 Menschen auf ein Spenderherz, nur jeder Zehnte erhält es rechtzeitig. Die Mediziner hoffen, die
Bedarfslücke in naher Zukunft mit Kunstherzen schließen zu können.)
Wegen der Organarmut werden so für einen Teil der auf ein Spenderorgan wartenden rund 12.000 Menschen in
Deutschland die Wartelisten zu Todeslisten. „Diese Menschen fühlen sich wie in einer Todeszelle“, berichten
Ärzte.
Wie soll der dringend benötigte Rest beschafft werden? Da treten Beschaffungsprobleme auf, die rechtlich
irgendwie geregelt werden müssen: sowohl für Lebendspenden wie für die Organentnahme bei Verstorbenen.
INTERNISTEN FORDERN
Nur Spendewillige sollen selbst Organe bekommen
Wer keine Organe spenden will, soll nach Meinung des Ärztefunktionärs Manfred Weber im Notfall
auch selbst keine bekommen. Der Mangel an Spenderorganen kostet in Deutschland täglich zwei
Menschenleben.
Wiesbaden - Um den Mangel an Spendeorganen zu lindern, schlägt der Internist Manfred Weber
radikale Lösungen vor: Die Haltung zur Organspende sollte regelmäßig verpflichtend bei der
Verlängerung des Personalausweises abgefragt werden, forderte der Vorsitzende der Gesellschaft für
Innere Medizin heute in Wiesbaden. "Wer dabei Nein sagt, bekommt auch nichts."
In Nordrhein-Westfalen würden jährlich auf eine Million Einwohner nur von neun Menschen Organe
gespendet. "Die Situation ist katastrophal", sagte Weber. Benötigt werden jedoch 60
Transplantationen je eine Million Einwohner pro Jahr. Menschen, die ihren Beitrag verweigerten,
sollten auch Nachteile bei den Leistungen haben, erklärte der Internist. Organspenden sind ein
wichtiges Thema beim 111. Deutschen Internistenkongress vom 2. bis zum 6. April in Wiesbaden.
Derzeit stehen in Deutschland rund 12.000 Menschen auf der Warteliste für eine Transplantation,
allein 9500 Patienten warten auf eine neue Niere. Im vergangenen Jahr wurden jedoch bundesweit
nur 3500 Organe gespendet, darunter 2000 Nieren. Die Erfolgsaussichten des Eingriffs sind nach
Angaben des Internistenverbandes gut: Nach einem Jahr funktionierten noch fast 90 Prozent der
transplantierten Nieren.
Innerhalb Deutschlands bestehen große Unterschiede in der Spendenbereitschaft. Spitzenreiter im
Jahr 2004 war Mecklenburg-Vorpommern mit mehr als 36 Organenspenden je eine Million
Einwohner, fast vier Mal so viel wie in Nordrhein-Westfalen.
Über die Gründe des Organmangels wird immer wieder heftig gestritten. Die Deutsche Stiftung
Organtransplantation (DSO) macht vor allem Krankenhäuser dafür verantwortlich, die eine
Zusammenarbeit mit den Transplanteuren verweigerten. 40 Prozent der 1400 deutschen Klinken mit
Intensivstationen, klagt DSO-Vorsitzender Günter Kirste, "machen bei der Rekrutierung von
Organspendern nicht mit. Da wird teilweise richtig gemauert".
Die Klinikärzte weisen den Vorwurf mangelnder Kooperation jedoch zurück. In ihren Augen sind
die Transplanteure selbst nicht unschuldig an der Notlage. Eine lange "Liste von Ungereimtheiten"
etwa legt Hans Fred Weiser, Präsident des Verbandes der Leitenden Krankenhausärzte (VLK), der
DSO zur Last. Wenn die Stiftung ihre Politik nicht merklich ändere, rechne er sogar mit einem
weiteren "Rückgang der realisierten Organspende um 20 bis 30 Prozent".
So moniert Weiser, dass die DSO keine mobilen Teams mehr zur Verfügung stelle, die rund um die
Uhr rufbereit sind, um bei einem Patienten den Hirntod zu diagnostizieren. Zudem kritisiert der
VLK-Präsident, die DSO-Spitze setze sich nicht hinlänglich mit den ethischen Fragen auseinander,
die mit der Transplantation einhergehen.
SPIEGEL ONLINE 31.03.04
Die Probleme fangen an, wenn der Verstorbene keine vorsorgliche Entnahmeverfügung getroffen hat: Acht von
zehn Angehörigen können nur vermuten, wie der Verstorbene zu einer Entnahme seiner Organe stehen würde, da
das Thema des eigenen Todes mehrheitlich so angstbesetzt ist, dass viele es vermeiden, sich mit dieser Frage
auseinander zu setzen. Das müssen dann die gramgebeugten Angehörigen in ihrem ersten Schmerz noch
zusätzlich leisten. Sie müssen innerhalb kürzester Frist – praktisch wenn die Leiche noch warm ist und viele
Angehörige darum den Tod noch nicht wahr haben wollen, sie noch die Hoffnung hegen, dass der entscheidende
Schritt zum Exitus noch nicht irreversibel vollzogen wurde - entscheiden: Dürfen dem schmerzvoll Vermissten,
195
der sie nicht mehr benötigt, zur Deckung des gesellschaftlichen Bedarfs einige dringend benötigte Organe
entnommen werden? Wenn die Ärzte sich nun irren und doch noch Hoffnung besteht? Schließlich sind ja schon
zahlreiche Komapatienten ins Leben zurückgekehrt; einige sogar erst nach vielen Monaten, gar Jahren!
„Nach 20 Jahren aus Koma erwacht
New York - Eine Frau, die seit einem Unfall vor 20 Jahren im Koma lag, spricht wieder. "Hi,
Mum!" sagte die heute 38jährige Sarah Scantlin plötzlich zu ihrer Mutter. Auch an ihr früheres
Leben erinnert sie sich wieder. Die Ärzte sind ratlos. dpa“ (HH A 12.02.05)
Könnte in der Zwischenzeit nicht vielleicht die medizinische Entdeckung gemacht werden, die den eigenen
Verwandten aus dem »Zwischenreich« der »Ausleibigkeit« zurückholen könnte?
Um diese Entscheidungsnotwendigkeit in dieser Extremsituation zu vermeiden, haben einige Länder per Gesetz
jeden gerade Verstorbenen zu einem potentiellen Organspender erklärt, sodass ihm benötigte Organe
entnommen werden dürfen.
Und wenn man damit nicht einverstanden ist: Darf das mit jedem gerade Verstorbenen gemacht werden oder
kann man sich gegen Organentnahme über seinen eigenen Tod hinaus schützen, so man es überhaupt will? Ist es
unethisch, eine Organentnahme nach dem von zwei Ärzten festgestellten Hirntot zu verweigern, wo so viele
Organe benötigt werden, dass die momentane Zahl der Organe Verstorbener bei weitem nicht ausreicht, um die
andernfalls oft Sterbenskranken mit einem Ersatzorgan zu versorgen, so dass bei aller damit verbundenen Problematiken – auch für den Spender - auf „Lebendspenden“ zurückgegriffen werden muss? Jede fünfte
verpflanzte Niere, jede zehnte Leber stammt von einem Lebendspender, der auch mit Komplikationen rechnen
muss6
Wie sollten Lebendspenden geregelt werden, damit die Gefahr einer Kommerzialisierung möglichst verhindert
wird? Lebendspenden nur innerhalb der Verwandtschaft?
Nach anfänglichen Schwierigkeiten
„Vater will Niere spenden: Ärzte sagen nein
SAD Leicester – Ein ungewöhnliches Familiendrama erschüttert England. Cliff Pendregaust möchte
seinem Sohn eine Niere spenden, findet seit vier Jahren jedoch keinen Arzt, der ihn operiert.
Beide Kinder des 67jährigen sind mit einem Genfehler auf die Welt gekommen. Als Neil eines
Tages ins Koma fiel, spendete der Vater eine Niere. Der 31jährige erholte sich, kann heute wieder
normal leben. Doch jetzt muß der Ex-Major zusehen, wie es seinen zweiten Sohn Russell (35) immer
schlechter geht. ‘Ich dachte mir, es liegt in meiner Hand, auch Russell seine Freiheit zu geben‘, sagt
Pendregaust. ‘Er arbeitet als Manager für eine Hotelkette und muß jede Woche 15 Stunden an der
künstlichen Niere hängen. Ich bin Rentner und hätte Zeit.‘ Mehrere Ärzte-Gremien befaßten sich mit
seinem Fall, diskutierten auch die ethische Problematik. Ein Chirurg, der helfen will, fand sich nicht.
Auch Appelle an den Ärzteverband British Medical Association blieben ohne Erfolg.“
(HH A 20.02.96)
hat sich die Meinung der Ärzte wohl überall in die Richtung entwickelt, freiwillige(!) Lebendorganspenden auch
unter Nichtverwandten zuzulassen und vorzunehmen: Weltweit sind z.B. Hunderttausende Nieren verpflanzt
worden. Am unproblematischsten ist das dann, wenn der Lebendspender nicht im Verdacht steht, sich damit
einen wirtschaftlichen Vorteil – und sei es »nur« aus Dankbarkeit heraus – zu »erspenden«. Potenzielle Spender
müssen über alle Risiken informiert werden und die Freiwilligkeit der Spende wird durch eine psychologische
Untersuchung wie auch durch eine Ethikkommission zu klären versucht. Aber da kann sich immer noch der
reiche Erbonkel oder die reiche Erbtante durch eine testamentarische Verfügung ein Organ »erkaufen«, obwohl
der Kommission ausschließlich altruistische Überlegungen erzählt werden. Lebendspenden nur innerhalb der
Kleinfamilie und Verwandten ersten Grades? Doch da stehen nicht ausreichend Organe zur Verfügung.
Sollen in dieser Zwangslage sogenannte „Überkreuzspenden“ zugelassen werden, dass ein Ehepartner ein Organ
für einen fremden Ehepartner spendet, wenn dessen Partner im Austausch sein Organ für den eigenen Ehepartner
spendet, dem man wegen zu großer Gewebeunverträglichkeit mit dem eigenen Organ nicht helfen kann?
Leider muss inzwischen der letzte Wortteil des Begriffs Organ»spende« bei Lebend»spenden« nicht ohne Grund
6
Bei bis zu 20 Prozent der Spender von Leberlappen kommt es zu Komplikationen. Der Versicherungsschutz von
Lebendspendern ist bisher aber nicht eindeutig geklärt.
196
in die Fragwürdigkeit des Ausdrucks verdeutlichende Zeichen gesetzt werden: In der Presse fanden sich in den
frühen 90-er Jahren des letzen Jahrhunderts Meldungen, dass z.B. an der Grenze Griechenlands zu dem
albanischen Armenhaus Europas Kinder aufgefunden worden waren, die mit einer frischen Narbe herumirrten
und nicht wussten, dass sie eingefangen und nach Entnahme einer Niere wieder laufen gelassen worden waren.
Bei dieser kriminellen Organbeschaffung lag eindeutig keine Spende vor. Ein weiteres Beispiel für deliktisch
beschaffte Organe:
„Chirurg als Organdieb?
SAD London – Mitte Dezember meldeten die Weltmedien einen ‘medizinischen Durchbruch‘. Dem
Inder Purna Saikia (31) sei neben seinem eigenen, von Geburt an kranken Herzen das Herz eines
Schweines als Zusatzpumpe eingepflanzt worden. Die Operation fand in einer abgelegenen
Bergklinik im Bundesstaat Assam statt. Sylvester war der Patient tot. Die Behörden ordneten eine
Leichenöffnung an. Dabei wurde schnell klar: Der Chirurg hatte das Herz des Patienten nicht im
Brustkorb gelassen. Und: Er hatte auch beide Lungenflügel, Leber, Galle und weitere Organe
entfernt und teilweise durch Tierorgane ersetzt. Zwei Wochen ließ sich der Chirurg als Pionier der
Medizin feiern. Jetzt sitzt Dr. Dr. Dhani Ram Baruah in Untersuchungshaft. Der Vorwurf:
‘Schuldhafte Tötung‘. Den Pathologen standen die Haare zu Berge. Der Arzt hatte die Tierorgane
wahllos miteinander verbunden. Sie waren so zurechtgestutzt, daß Fachleute bis heute nicht sicher
sagen können, von welcher Tierart sie stammen.
Der Verdacht: Saikia mußte sterben, weil Baruah und Kollegen seine Organe weiterverkaufen
wollten. In der primitiven Klinik sind in den letzten zwei Jahren fünf Patienten gestorben.
(HH A 14.01.97)
Bei den in diesem Bereich gegebenen Missbrauchsmöglichkeiten stellt sich - und noch verstärkt in dem der sich
im Zuge des rasanten Wissenszuwachses auf dem Gebiet der Gentechnologie entwickelnden Gentherapie7, die
das Problem der Organspende bedeutungslos werden lassen könnte, wenn es gelingt, die zur Reparatur
menschlicher Körper benötigten Organe in ausreichendem Umfang zu züchten - die Frage: "Soll der Medizin
alles erlaubt sein zu tun, was sie schon kann und noch darüber hinaus hinzulernen wird?" Da bestand großer
Regelungsbedarf, dem inzwischen durch einige Gesetze abzuhelfen versucht wurde.
Sehen wir uns an, was den Gesetzgeber zum Handeln zwang:
"In naher Zukunft wird es in der Medizin zu radikalen Verteilungskämpfen kommen, insbesondere in
der Transplantationsmedizin. Denn kein Geld der Welt reicht für eine gleichmäßige Versorgung aller
Menschen mit lebensverlängernden Ersatzteilen. Schon heute verkaufen Menschen in Brasilien oder
Indien Nieren an reiche US-Amerikaner, Japaner, Araber und Europäer. In Brasilien werden immer
häufiger Kinder ermordet aufgefunden, denen Organe fehlen. Auch bei uns wird es in Kürze zwei
Klassen Menschen geben: arme Organspender und reiche Organempfänger."
Leserbrief von Siegfried Pater, Autor des Buches "Organhandel - Ersatzteile aus der Dritten Welt"
an den STERN, mit dem er gegen die Kannibalisierung von Armen aus der Dritten Welt durch
Reiche aus den Industrieländern Stellung bezieht.
"‘Reiche können Leben erkaufen'
Edeltraud Swoboda, Leiterin der Evangelischen Familienbildungsstätte Harburg: ‘Ich habe die
Befürchtung, daß Menschen, die viel Geld haben, sich ihr Leben erkaufen können. So ist es heute in
Südamerika, wo Kinder aus armen Familien entführt, ihnen die Netzhaut entfernt wird, damit reiche,
ältere Menschen ihr Augenlicht wiederbekommen. So wird das Leben der Reichen verlängert, das
der Armen verkürzt. Organspende soll möglich sein, aber nur auf freiwilliger Basis. Wichtig ist, daß
die Notwendigkeit in der Bevölkerung bewußter gemacht wird.'"
(Harburger Anzeigen und Nachrichten 20.01.92)
Die für Operationen erforderlichen Organe sind nicht in ausreichender Anzahl vorhanden.
„Spenderorgane: Das Versagen der Kliniken
UKE-Professor: Viele Patienten könnten noch leben wenn Krankenhäuser potentielle Spender
7
Britischer Professor aus Bath: „In der Gentechnologie droht die Gefahr des Biofaschismus. Es ist angedacht, wie schon
bei Fröschen erfolgreich erprobt, irgendwann Menschen ohne Köpfe als auszuweidende Ersatzteillager zu züchten.“
197
melden würden.
Hanna Kastendieck / Miriam Opresnik
Zwei von drei Menschenleben könnten jeden Tag gerettet werden, wenn die deutschen
Krankenhäuser ihrer Pflicht nachkämen und potenzielle Organspender melden würden. ... Nach
Schätzungen der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) melden nur 50 Prozent der
Krankenhäuser mit Intensivstation potenzielle Organspender – obwohl sie gesetzlich dazu
verpflichtet sind. Das sind 700 der 1400 entsprechenden Kliniken. ... Aus Mangel an Organen
sterben nach Angaben der DSO in Deutschland rund 30 Prozent der rund 11.778 Menschen, die auf
ein neues Organ warten.
Die CDU-Bundestagsfraktion fordert daher Sanktionen für Krankenhäuser, die ihrer Meldepflicht
nicht nachkommen. ...
Nach Paragraph 11 Absatz 4 des Transplantationsgesetzes sind Krankenhäuser verpflichtet,
potenzielle Organspender der DSO zu melden. Da das Transplantationsgesetz ... nur apellativen
Charakter hat und Verstöße nicht geahndet werden, fordert die DSO, dass die Bundesländer auf
Landesebene für die Einhaltung sorgen müssen. ...
’Der finanzielle, personelle und organisatorische Aufwand ist vielen Kliniken einfach zu groß’,
vermutet UKE-Professor Reichenspurner. Zwar bekommen die Spender-Krankenhäuser für eine
Organentnahme von der DSO eine Aufwandserstattung zwischen 2090 und 3370 Euro.
Reichenspurner: ’Für die Krankenhäuser ist es aber dennoch einfacher, das Beatmungsgerät einfach
abzuschalten.’“
(HH A 11.06.04)
„Missstand
Als Mutter eines Fünfjährigen, der auf eine neue Niere wartet und dem ich wahrscheinlich eine
spenden muss, kommt mir die Galle hoch: Wie kann es in einem Land wie Deutschland angehen,
dass so ein Missstand nicht viel früher entdeckt wurde? Dass dringend gebrauchte Organe einfach
auf dem Friedhof ’vergammeln’, nur weil – leider viele – einfach zu faul sind, Spenderorgane zu
melden? Ich möchte lieber nicht wissen, wie viele Lebendspenden hätten vermieden werden können,
wenn alle potenziellen Spenderorgane gemeldet worden wären. Abgesehen von dem Leid der
Angehörigen und denen, die auf ein Spenderorgan warten, bedeutet eine erfolgreiche Transplantation
auch eine Kostenersparnis: Die Dialysebehandlung unseres Sohnes kostet etwa 36 000 Euro im Jahr.
Leserbrief Susanne Adrian, per E-Mail” (HHA 15.06.04)
„Zu bequem für Organspenden
Miriam Opresnik
Stellen Sie sich vor, Ihr Kind braucht ein neues Herz, weil es mit einem schweren Herzfehler
geboren wurde. Oder stellen Sie sich vor, Ihr Partner braucht eine neue Leber, weil er an Hepatitis
erkrankt ist. Und dann stellen Sie sich vor, diese Menschen müssen sterben. Weil sie nicht
rechtzeitig ein neues Organ bekommen. Weil viele Krankenhäuser ihrer Meldepflicht nicht
nachkommen.
Unvorstellbar? Nein! Alltag in Deutschland.
Nach Schätzungen verschweigt jedes zweite Krankenhaus mit Intensivstation den Hirntot eines
Patienten. Eines Patienten, der als Organspender geeignet wäre. Warum? Weil die Kliniken
scheinbar kein Interesse daran haben, ihre Betten mit wirtschaftlich nutzlosen Fällen zu belegen.
Weil es bequemer ist, die Beatmungsgeräte einfach abzuschalten. Weil sie nicht bedenken, dass mit
der Meldung eines Organspenders Menschenleben gerettet werden könnten.
Wenn Krankenhäuser ihrer Pflicht nicht freiwillige nachkommen, muss nachgeholfen werden. Mit
besseren Schulungen und Motivation zum einen. Mit schärferen Gesetzen zum anderen. Gesetzen,
die nicht nur an den gute Willen der Ärzte appellieren, sondern bei Verstößen auch Konsequenzen
haben.
Wer das Problem verschweigt, macht sich mitschuldig. Gesetze müssen eingehalten werden. Sich
dafür einzusetzen ist Sache der Länder. Hamburg als Medizinhochburg sollte hier Vorreiter sein.“
(HH A 11.06.04)
In der Bundesrepublik sterben mangels eines ausreichenden Organangebotes z.B. ein Drittel aller Menschen, die
im Schnitt ca. sechs Jahre auf ein Spenderherz oder eine Leber warten müssen, vor der lebensrettenden
Operation. (In den USA ist in einer solchen Notlage - wenigstens vorübergehend - einem Menschen ein Pavian-
198
Herz, einem anderen eine Schweineleber eingepflanzt worden. Da gibt es bislang keine rechtlichen
Organspendeprobleme, auch nicht von Tierschutzverbänden.)
In Deutschland werden inzwischen 4.000 Organtransplantationen pro Jahr vorgenommen. 2003 gab es 3.482
verstorbene Organspender. Dem standen 12.000 auf eine Spenderorgan Wartende auf einer immer länger
werdenden Transplantationswarteliste gegenüber. Der Nachfrageüberhang könnte nur durch die erweiterte
Zulassung von »Lebendspenden« - der Anteil liegt noch deutlich unter dem vieler anderer Länder: in Norwegen
sind zum Beispiel 50 Prozent der Nierentransplantationen eine Lebendspende - oder durch eine Erhöhung der
Verstorbenenspende mithilfe einer Widerspruchslösung wie in Spanien oder Österreich abgebaut werden.
Danach ist jeder nach seinem Tod Organspender - es sei denn, er hat dagegen explizit zu Lebzeiten
widersprochen.
In der BRD stammen mehr als 20 % der »gespendeten«(?) Organe von Verwandten oder dem Empfänger
Nahestehenden. Eine Kommission muss vor der Transplantation feststellen, ob diese Voraussetzung erfüllt ist,
um Zwang oder Organhandel (möglichst) auszuschließen, denn den will keiner; es sollen nicht solche Zustände
herrschen wie in den USA, wo per Internet Nieren für 80.000 $ pro Stück angeboten wurden.
Organspende
Ulrike Baureithel
Der Körper als Warenlager
Die schleichende Materialisierung des Menschen
Ende vergangenen Jahres erlangte der Ingenieur Peter Randell aus der englischen Grafschaft Kent
internationale Berühmtheit: Weil das staatliche Gesundheitssystem die teure Therapie seiner
sechsjährigen Tochter Alice, die seit ihrer Geburt an zerebraler Kinderlähmung leidet, nicht
übernehmen wollte, bot der verzweifelte Vater im Online-Aktionshaus Ebay eine seiner Nieren an.
Mit dem erhofften Erlös von 150.000 Euro wollte er den dringend benötigten Therapieplatz für Alice
finanzieren. Nachfrage gab es durchaus, doch bevor der Deal abgewickelt werden konnte, wurden
Randalls illegale Organangebote sowohl in Großbritannien als auch in den USA entdeckt und
strafrechtlich verfolgt. Daraufhin spendeten die Leser der britischen Zeitung "Sun", die den Fall
bekannt machte, einen Teil des benötigten Geldes.
Eine Geschichte nach dem Geschmack der Boulevardpresse: Schwerkrankes Kind, opferbereite
Eltern, die vor der staatlichen Mittellosigkeit und Ignoranz kapitulieren, und eine solidarische
Lesergemeinde. Die Protagonisten sind keine skrupellosen Organhändler, die, wie vergangenes Jahr
in der Ukraine, neugeborene Babys ausschlachten oder verdächtigt werden, Organe von
Waisenkindern zu verhökern, wie im Fall eines südafrikanischen Ehepaars. Hier handeln
verzweifelte Eltern, die keinen Ausweg mehr wissen und auf menschliches Verständnis hoffen
dürfen.
Der sozialpolitische Aspekt der Story - die Tatsache, dass die europäischen Wohlfahrtsstaaten sich
nicht mehr jede medizinische Leistung leisten können oder leisten wollen und dabei sind, implizit
oder explizit eine Zweiklassenmedizin zu etablieren - ist dabei nur die eine Seite, die das
Publikumsinteresse und die Spendenbereitschaft mobilisiert. Gravierender an der Geschichte ist die
Frage, ob Peter Randell seinen Körper "besitzt" und über seine Teile verfügen kann, zumal, wenn er
wie in diesem Fall ein ethisch einwandfreies Ziel verfolgt. Ist der Körper sein "Eigentum", ein
Produkt, für das er - man denke nur an gesundheitspräventive Maßnahmen - einerseits "Haftung"
übernimmt und dessen Teile andererseits auf dem Markt angeboten werden können? Oder ist der
Körper ein unveräußerliches "Ding", das verwertbaren Maßstäben zu entziehen ist?
Die gesetzlichen Grundlagen der europäischen Länder sind weitgehend eindeutig: Organhandel ist so auch im britischen Fall - verboten. Weder die eigenen Organe noch die eines Dritten sind eine
"marktfähige" Ware und können also auch nicht gehandelt werden. In der Bundesrepublik regelt das
Ende der 90er-Jahre kontrovers diskutierte Transplantationsgesetz (TPG) den Umgang mit
Organspende und ihre Grenzen. Die postmortale Organspende ist zulässig, wenn das Einverständnis
des Betroffenen vorliegt oder dessen Angehörige nach seinem vermuteten Willen entscheiden
("erweiterte Zustimmungslösung"), vorausgesetzt, zwei Ärzte haben den so genannten "Hirntod"
festgestellt. Die Lebendspende (also beispielsweise die Spende einer Niere oder eines Teils der
Leber) ist nur dann möglich, wenn ein enges Verwandtschafts- oder Beziehungsverhältnis vorliegt,
das von einer Ethikkommission zu beurteilen ist. Es darf - von so genannten
"Aufwandsentschädigungen" abgesehen - in keinem Fall ein auf das Organ bezogener finanzieller
Ausgleich stattfinden. Soweit die Regelungen, die hinsichtlich der Lebendspende derzeit allerdings
wieder zur Disposition stehen.
Denn das mit dem unveräußerlichen Körper und seinen Teilen ist eine schwierige Angelegenheit.
199
Transparent ist die über Jahrzehnte hinweg bewährte Blutspendepraxis: Man erhält ein Taschengeld
dafür, dass man Zeit investiert und gegebenenfalls auch die eine oder andere Unpässlichkeit in Kauf
nimmt. Aber schon bei der Samenspende liegen die Dinge anders. Ein Samenspender wird vergleichsweise gar nicht schlecht - für seine Dienste und sein Produkt bezahlt. Weibliche Eier
dagegen sind in Deutschland unverkäuflich. Eine geschlechtsspefische Diskriminierung? In diesem
Fall wohl eher nicht, denn die Begehrlichkeiten der Wissenschaft, beispielsweise in der
Stammzellforschung, sind so groß, daß hier die Gefahr bestünde, dass sich gerade Frauen aus
schwächeren Schichten zur "Eierernte" melden würden. Doch wie steht es mit den vielen
menschlichen Präparaten, die überall im medizinischen Alltag gesammelt und in sogenannten
Biobanken aufbewahrt und der Forschung und Industrie zur Verfügung gestellt werden? Mit
welchem Recht werden sie privatisiert und beispielsweise von der Pharmaindustrie verwertet, ohne
dass die einstigen Lieferanten je einen schlappen Euro von der Rendite sehen? Die derzeit
auszuhandelnde Biopatent-Richtlinie ist ein heißes Eisen der Politik; Patente "auf Leben" sind höchst
umstritten.
Das Argument, dass sich gerade einkommensschwache, finanziell bedrängte Menschen zum Verkauf
ihres Körpers gezwungen sehen könnten, wird auch gegen die Kommerzialisierung der Organspende
in Anschlag gebracht. Wer sozial abgesichert lebt, wird sich unter normalen Umständen kaum
veranlasst sehen, eine Niere zu verkaufen. Doch wie sieht das für arme Menschen aus
unterentwickelten Ländern aus? Auf einer Anhörung der Enquete-Kommission "Recht und Ethik in
der modernen Medizin" des Deutschen Bundestages kolportierte kürzlich ein Sachverständiger die
Meinung eines indischen Kollegen, der Verständnis für die bezahlten Lebendspenden aufbrachte,
weil "dies in Indien die Ausbildung von Töchtern" sicherstelle. Aber rechtfertigt der - im Übrigen
nur vermutete - Nutzen für benachteiligte Mädchen den Handel mit Körperteilen? Zumal in diesem
Fall, wo die Industrienationen eindeutig Vorteilnehmer sind, während die übrigen Teile der Welt
einmal mehr in die Rolle billiger Lieferanten für unsere "Ersatzteillager" gedrängt werden?
Repräsentative Untersuchungen gerade aus Indien zeigen außerdem, dass die "Spender" durch den
Verkauf ihrer Nieren keineswegs der Schuldenfalle entkommen. Im Gegenteil führen die
gesundheitlichen Auswirkungen einer Organentnahme häufig zu zusätzlicher Verschuldung. Den
Profit schöpfen ohnehin die Vermittler ab: In Südafrika wurde kürzlich ein Israeli zu 660 Euro Strafe
verurteilt, der aufgrund falscher Annahmen eine Niere für 45.000 Dollar "bestellt" hatte; für den
brasilianischen Spender fielen gerade einmal 6.000 Dollar ab.
In den Industrienationen ist der Bedarf an Organen offenbar, trotz aller Aufrufe an die
Spendenbereitschaft der Bevölkerungen, nicht zu decken. Wenn die Deutsche Stiftung
Organtransplantation alljährlich ihre Zahlen bekannt gibt, dann immer mit dem mehr oder minder
dezenten Hinweis auf den vom Egoismus der Allgemeinheit zu verantwortenden "Tod auf der
Warteliste", dem viele Patienten entgegensehen. Die Hightech-Medizin macht Angebote, die
wahrgenommen werden wollen und sollen. Den betroffenen sterbenskranken Patienten ist daraus
kein Vorwurf zu machen, auch wenn gelegentlich und nicht immer zu Unrecht über hybride
Ansprüche und mangelnde "Compliance", also die Bereitschaft transplantierter Patienten, sorgsam
mit dem Mangelgut umzugehen, lamentiert wird.
Aber auch diejenigen, die sich gegen eine Organspende entscheiden, sind keiner Unterlassungssünde
zu zeihen: Der Alltag der Organspendepraxis, seine Voraussetzungen ("Hirntod") und
psychologischen Folgen sind so problematisch und unabsehbar, dass keine "Bringschuld" eingeklagt
werden kann. Dies gilt mehr noch für die Lebendspende. Wo endet die Freiwilligkeit und wann der
(versteckte) Zwang? Die Gutachter von Ethik-Kommissionen sollen nicht nur beurteilen, wie eng die
Beziehung zwischen Spender und Empfänger tatsächlich ist und ob sie die Bedingungen des TPG
erfüllt, sondern auch, ob Druck ausgeübt, Geld fließen oder lebenslange Dankesschuld produziert
wird. Die Tatsache, dass die Lebendspende in den letzten Jahren in Deutschland stark zunimmt,
könnte auch daran liegen, so die vorsichtige Vermutung von Hans-Ludwig Schreiber von der
Bundesärztekammer, dass dies "ein Weg für bestimmte Begünstigte" ist, die Warteschlange zu
umgehen.
Im Falle der Familie Randell wäre die Selbstinstrumentalisierung des Körpers durch Peter tolerierbar
gewesen, litte Alice unter Niereninsuffizienz und hätte der Vater mit seiner Niere das Leben der
Tochter gerettet. Dass die Lebensqualität von Alice durch die beabsichtigte Therapie möglicherweise
ganz ähnlich gesteigert würde, rechtfertigt jedoch nicht, dass der Vater seine Niere verkauft - selbst
wenn er damit "nebenbei" auch noch das Leben eines weiteren Patienten rettet; allerdings eines
Patienten, der diese "Ware" auch bezahlen kann.
Wir leisten uns heutzutage eine überaus teure Hightech-Medizin, die zwar in nicht geringem Umfang
200
aus direkten Steuermitteln oder indirekten Transferleistungen (zum Beispiel überteuerten
Medikamenten) finanziert und abgesichert wird, die aber, das ist bereits absehbar, bald nicht mehr
für jedermann verfügbar sein wird. Wir leisten uns gesundheitliche Ansprüche, die wir selbst nicht
bedienen können und für deren Befriedigung, das steht zu befürchten, die Ressourcen der ärmeren
Ländern herangezogen werden. Wenn heutzutage kostengebeutelte deutsche Kliniken ihre Tore für
Ölmilliardäre öffnen, die sich dort für ihre Petrodollars gesundflicken lassen, dann ist dies sozusagen
nur die umgekehrte Richtung desselben Prozesses.
Aber mehr noch leisten wir uns den Abschied von einem Körper- und Menschenbild, das
ganzheitlich geprägt und unteilbar ist. Es beruht auf der Vorstellung eines unverwechselbaren,
unveräußerlichen Individuums, das mehr ist als seine (verwertbaren) Teile. Diese schleichende
Materialisierung des Körpers, seine Umwertung in ein handelbares Warenlager, verantwortet gewiss
nicht nur die medizinische Zunft; aber als Produzentin von Menschenbildern hat sie daran ihren
Anteil, und es ist noch nicht abzusehen, was sie Tröstliches an diese Stelle setzen wird.
Ulrike Baureithel ist Redakteurin beim "Freitag".
Das Parlament 14.06.04
Das bange Hoffen auf Organspende
Tausende Kranke aus Deutschland stehen auf der Warteliste
Gesundheit und Soziale Sicherung. Tausende schwer erkrankte Menschen stehen in Deutschland auf
der Warteliste für ein lebensrettendes Organ. Dieses Thema hat die CDU/CSU-Fraktion zum Anlaß
für eine Große Anfrage genommen (15/2707). Nun liegt die Anwort der Bundesregierung (15/4542)
vor. Darin sieht sie keine Notwendigkeit, die Betreuung und Koordinierung der Lebendorganspende
in Deutschland zu verbessern und zieht auch eine positive Bilanz des Ende 1997 in Kraft getretenen
Transplantationsgesetzes.
Die gesetzliche Regelung der Organtransplantation habe die notwendige rechtliche Sicherheit und
die organisatorischen Rahmenbedingungen für die Organspende und Transplantation in Deutschland
geschaffen. Die über Jahre hinweg zentralen Streitfragen, nämlich der Hirntod als sicheres
Todeskriterium und die Befugnis zur Einwilligung durch die nächsten Angehörigen mit der
erweiterten Zustimmungslösung, wurden dadurch aus der Sicht der Exekutive zufriedenstellend
gelöst. Trotz der Erfolge der Medizin in den Anwendungsmöglichkeiten, Überlebensquoten und
Lebensqualität der Betroffenen bestehe aber dennoch weiterhin das Problem der sehr begrenzten
Verfügbarkeit von Organen für die Transplantation, so die Antwort weiter.
Nach Angaben der Regierung standen am 1. November 2004 insgesamt 11.933 Patientinnen und
Patienten aus Deutschland auf den Wartelisten. Darunter befanden sich 9.235 Personen, die auf eine
Niere, 1.483 Personen, die auf eine Leber, 586 Personen, die auf ein Herz, und 453 Personen, die auf
eine Lunge zur Transplantation warteten. Den gleichen Angaben zufolge wurden 2003 in
Deutschland 2.516 Nieren, 855 Leber, 393 Herzen und 212 Lungen transplantiert. Die Zahl der
postmortal gespendeten Organe habe 2003 mit 3.496 den bislang höchsten Stand erreicht, der für das
vergangene Jahr nach bisherigen Erkenntnissen nicht erreicht werden konnte. Gleiches gilt für die
Zahl der transplantierten - postmortal und lebend gespendeten - Organe: Sie habe 2003 mit 4.175
den höchsten Stand erreicht. Im europäischen Vergleich lag Deutschland 2003 mit 13,8 postmortalen
Organspenden je Million Einwohner im Mittelfeld, heißt es.
Die Bundesregierung geht in ihrer Antwort davon aus, dass die Spendenbereitschaft entscheidend
von der Wahrnehmung der gegebenen Möglichkeiten einer Organspende abhängt. Durch
kontinuierliche, umfassende und sachliche Aufklärung der Bevölkerung sowie durch eine verbesserte
Zusammenarbeit zwischen den Transplantationszentren und den anderen Krankenhäusern könnten
die Möglichkeiten zur postmortalen Organspende besser wahrgenommen werden.
Auch die ideelle Anerkennung einer Organspende könne dazu beitragen, die
Organspendenbereitschaft zu erhöhen. Als Beispiel führt die Regierung eine Initiative des
bayerischen Ministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen an, das jährlich
gemeinsam mit der Deutschen Stiftung Organtransplantation- Regionalorganisation Bayern den
bayerischen Organspendenpreis an besonders verdiente Krankenhäuser verleiht. Nach dieser
Veranstaltung sei jedes Jahr ein deutlicher Anstieg der Beteiligung der Krankenhäuser an der
Organspende zu verzeichnen. Eine ähnliche Initiative sei auch in Thüringen geplant.
Das Parlament 17.01.05
Niere um Niere, Herz um Herz
WIESBADEN dpa Wer keine Organe spendet, soll auch keine bekommen: Der Vorsitzende der
201
Gesellschaft für Innere Medizin, Manfred Weber, schlägt vor, die Haltung zur Organspende
verpflichtend bei der Verlängerung des Personalausweises abzufragen. "Wer dabei Nein sagt,
bekommt auch nichts." In NRW kämen nur 9 Organspender auf 1 Million Einwohner. "Die Situation
ist katastrophal." Menschen, die ihren Beitrag verweigerten, sollten auch Nachteile bei den
Leistungen haben, so Weber. Organspende ist ein Thema beim 111. Internistenkongress vom 2. bis
6. April. Derzeit stehen in Deutschland rund 12.000 Menschen auf der Warteliste für eine
Transplantation. 2004 wurden in Deutschland etwa 2.000 Nieren verpflanzt. Die Erfolgsaussichten
seien gut: Nach einem Jahr funktionierten noch fast 90 Prozent der Transplantate.
taz 31.03.05
Organe nur noch für Spender?
Transplantation: Mediziner fordert, Organe nur noch an spendebereite Patienten zu vergeben
- und löst heftige Reaktionen aus.
Von Cornelia Werner
Mit drastischen Maßnahmen wollen Internisten die Organspendebereitschaft in Deutschland erhöhen.
"Wer sich nicht für eine Spende entscheidet, sollte einen Nachteil als Empfänger haben", sagte der
Präsident der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), Prof. Manfred Weber. Er
forderte, die Bürger alle fünf Jahre mit der Frage zu konfrontieren, ob sie für eine Organspende
bereitstünden. Ein Vermerk könne bei der Verlängerung des Personalausweises aufgenommen
werden. Wer Nein sagt, scheide als Organempfänger aus.
Nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) warten bundesweit 12 000
Menschen auf ein Spenderorgan. Im Jahr 2004 gab es nur 1081 Organspender. Nach einer Umfrage
der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung haben nur zwölf Prozent der Deutschen einen
Organspendeausweis, aber 68 Prozent sind bereit, nach ihrem Tod Organe zu spenden.
Zum Vorschlag von Prof. Weber sagte Heiner Smit, Bevollmächtigter des Vorstands der DSO: "Bei
allem Verständnis für die Sorge von Prof. Weber um seine Patienten ist er mit seiner Forderung über
das Ziel hinausgeschossen. Einen Zwang zur Organspende sieht das Transplantationsgesetz nicht vor
und motiviert die Menschen nicht zur Spende." Andererseits würden jeden Tag drei Patienten
sterben, die auf ein Organ warten. "Wir könnten mehr Patienten retten, wenn sich mehr Menschen
für eine Organspende entscheiden würden", sagte Smit.
Prof. Xavier Rogiers, ärztlicher Leiter des Transplantationszentrums am Universitätsklinikum
Eppendorf (UKE), meinte, man sollte über den Vorschlag von Prof. Weber ernsthaft nachdenken
und damit eine gesellschaftliche Diskussion anregen. Zudem müßte man auch die Frage stellen: "Ist
es akzeptabel, in gesunden Zeiten eine Organspende zu verweigern und dann, wenn man krank ist,
eine Transplantation in Anspruch zu nehmen?"
Dr. Michael Reusch, Präsident der Hamburger Ärztekammer, lehnt den Vorschlag ab: "Das wäre nur
eine andere Form des Tauschhandels und ethisch nicht vertretbar. Eine solche Regelung ist auch
praktisch nicht durchsetzbar: man denke an Kinder, die Organe empfangen, und deren Eltern, die
sich auf die spätere Verfügbarkeit der Organe des Kindes verpflichten müßten. Ich werte diesen
Vorstoß als nicht ernst gemeinten, bewußt provokativen und verzweifelten Versuch, die
Spendebereitschaft zu erhöhen. Mein Appell an die Hamburger: Entscheiden Sie sich freiwillig für
die Spende und füllen einen Organspendeausweis aus!"
Dr. Fabian Peterson, Pressesprecher der Hamburgischen Krankenhausgesellschaft, sagte: "Ich
begrüße, daß mit dem Vorschlag auf den dramatischen Mangel an Spendeorganen aufmerksam
gemacht wird. Doch ein solches ,Klubmodell' schließt Menschen generell als Organempfänger aus
und ist wohl verfassungswidrig. Allenfalls könnte über das sogenannte ,Solidarmodell' in Form einer
Besserstellung von erwachsenen Patienten auf der Warteliste nachgedacht werden, wenn sie bereits
einen Spendeausweis besaßen, bevor sie auf ein Organ angewiesen waren. Die beste Lösung bleibt
aber, wenn die in Umfragen ermittelten vielen Befürworter der Organspende alle auch einen
Spendeausweis ausfüllen."
Auf mehr Aufklärung setzt auch Prof. Hermann Reichenspurner, ärztlicher Leiter des Herzzentrums
am UKE. Er findet den Vorschlag fragwürdig, "weil er einer Bestrafung gleichkommen würde".
Denkbar wäre seiner Meinung nach auch die Widerspruchslösung, wie sie in Belgien und Österreich
praktiziert wird. Das heißt, daß grundsätzlich eine Organspende bei Verstorbenen in Frage kommt,
es sei denn, die Person hat zu Lebzeiten widersprochen oder die Angehörigen widersprechen.
Sicherlich seien die Zahlen katastrophal. Es gebe Länder, in denen die Zahl der Organspenden mehr
als dreimal so hoch sei wie in Deutschland - etwa Spanien. Dort werde eine gezielte
Aufklärungsarbeit geleistet.
202
Eine Mitverantwortung der Kliniken für den Mangel an Spenderorganen sieht auch die DGIM. Nur
wenn sich Mediziner in den Krankenhäusern um potentielle Organspender kümmerten, sei
Deutschland in der Lage, genügend Spenderorgane bereitzustellen, sagte Prof. Hans-Peter Schuster,
Generalsekretär der DGIM. Wenn jedes Krankenhaus pro Jahr nur zwei Organe zur Verfügung
stelle, "wäre die Warteliste sofort weg". erschienen (HH A 01.04.05)
Transplantate nur für Organspender?
Vorschlag der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin stößt auf großen Widerstand
von Ranty Islam
Berlin - Kein Bürger sollte zu einer Entscheidung über seine Bereitschaft für eine Organspende
gezwungen werden. Dies sagt Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD). Sie reagiert damit
auf einen entsprechenden Vorschlag des Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin
(DGIM), Manfred Weber. Dieser hatte sich am Mittwoch dafür ausgesprochen, die Bürger alle fünf
Jahre mit der Frage zu konfrontieren, ob sie für eine Organspende bereitstünden oder nicht. Ein
entsprechender Vermerk könne im Personalausweis aufgenommen werden. "Wer sich nicht für eine
Spende entscheidet, sollte einen Nachteil als Empfänger haben", so Weber. Auch die Ministerin ist
der Ansicht, daß Menschen für die Chance, ein Spenderorgan zu erhalten, bereit sein sollten, sich
registrieren zu lassen. "Aber jeder sollte für sich selber entscheiden, ob dies für ihn ein gangbarer
Weg ist", sagte Schmidt.
Rund 12 000 Menschen warten derzeit bundesweit auf ein Spenderorgan. Im vergangenen Jahr
konnten jedoch nur 3508 Organe für eine Spende entnommen werden. Die Situation hat sich seit
Verabschiedung des Transplantationsgesetzes vor acht Jahren nur unwesentlich verbessert. Die
erhoffte massive Steigerung der Zahl von Spenderorganen ist ausgeblieben. Ein Grund sei der
"katastrophale" Trend bei der Bereitschaft zur Organspende, so Weber. Mit seinem Vorschlag
könnten potentielle Organspender auf breiter Front direkt angesprochen werden. Außerdem sei
jedoch die mangelnde Kooperation von Ärzten und Krankenhäusern ein großes Problem. Dafür
macht Weber das Gesetz mitverantwortlich. Nach der Regelung wurden die Bereiche
Organentnahme, -vermittlung und -transplantation organisatorisch getrennt. "Damit sind bestehende
Kooperationen zwischen Transplantationszentren und umgebenden Krankenhäusern zerstört
worden", so Weber. Die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) ist statt dessen seit 2000 die
zentrale Koordinierungsstelle für Organspenden. Sie ist in Kontakt mit bundesweit 1400
Krankenhäusern und 50 Transplantationszentren. Viele Kliniken kooperieren jedoch nicht. Oft
fehlten konkrete Richtlinien, wer und wie vor Ort Entscheidungen über eine Organentnahme trifft
und wie diese dann umgesetzt würden, sagt Heiner Smit, Bevollmächtigter des DSO-Vorstandes.
Grund sei auch, daß viele Bundesländer nur unzureichend konkrete Regelungen auf Basis des
Transplantationsgesetzes des Bundes geschaffen hätten. Wo solche Regelungen bestünden, schlage
sich dies in der Zahl der Spenderorgane nieder. Etwa in Mecklenburg-Vorpommern - dort ist die
Zahl der Spenden pro Million Einwohner fast dreimal so hoch wie in Nordrhein-Westfalen.
"Insgesamt ist das Gesetz jedoch bisher nicht im Sinne des Gesetzgebers umgesetzt worden", so
Smit.
DIE WELT 01.04.05
Die Bundesärztekammer (BÄK) fordert, anonyme Spenden zu ermöglichen, ebenso wie Überkreuz-Spenden, das
heißt, der Partner eines Organkranken spendet für den erkrankten Partner eines anderen und umgekehrt.
Eigentlich sind derartige Spenden hier zu Lande nicht erlaubt. Doch de facto werden sie gelegentlich praktiziert,
eine Grauzone für die Ärzte.
In den USA oder Schweden liegt der Anteil der Lebendspender bei bis zu 50 Prozent aller Organspenden.
Missbrauch der gesetzlichen Beschränkungen ist möglich:
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE
Der Spenderskandal
Von Ansbert Kneip
Wie ein Amerikaner über das Internet eine neue Niere erhielt.
Für eine neue Niere sind 295 Dollar kein zu hoher Preis, selbst dreimal 295 Dollar nicht. Bob
Hickey brauchte eine, er hätte wohl auch mehr bezahlt.
Hickey, 58 Jahre alt, Frührentner aus Edwards in Colorado, eine Niere vom Krebs zerfressen und
entfernt, die zweite ebenfalls krank. Er spürt, dass er nicht mehr viel Zeit hat.
Dreimal die Woche geht Hickey zur Dialyse, seit 1999 wartet er auf ein Spenderorgan. Vielleicht
203
findet sich 2005 eine passende Niere, wer weiß. 60.000 Amerikaner stehen auf der Warteliste, jeden
Tag sterben 16, die zu lange warten mussten. Es gibt zu wenig Organspender.
Und dann, Anfang dieses Jahres, hört Hickey im Radio von diesem neuen Internet-Service,
matchingdonors.com, zu Deutsch etwa: passende Spender. Er tippt die Adresse ein.
Bei matchingdonors geht es darum, Menschen zu finden, die bereit sind, ein Organ herzugeben - und
zwar jetzt, nicht erst, wenn sie tot sind. Sie dürfen dafür kein Geld verlangen, denn das wäre
Organhandel, und der ist verboten. Lebendspender können zum Beispiel Knochenmark geben. Das
ist vergleichsweise gefahrlos, es macht nur kaum jemand. Ein gesunder Mensch kann sogar auf eine
seiner Nieren verzichten, ohne dass es ihn beeinträchtigt.
295 Dollar kostet die Mitgliedschaft pro Monat. Hickey bucht für drei Monate, dann darf er sich in
eine Datenbank eintragen: Name, Alter, Krankheit. Dazu E-Mail-Adresse, Wohnanschrift,
Telefonnummer, Lebenslauf, Beruf, medizinische Daten. Nichts bleibt privat, das ist das Prinzip von
matchingdonors. Ein potenzieller Spender soll die Empfänger kennen lernen, er soll sich rühren
lassen von ihrem Schicksal. Und er soll wählen dürfen, wer am Ende das Organ erhält. Bob Hickey
lädt noch ein Foto von sich hoch. Es funktioniert besser als erwartet. Drei Monate später haben fast
500 Menschen Kontakt zu ihm aufgenommen, über die Hälfte davon Frauen. Manche wollen ihm nur
Glück wünschen, manche verlangen Geld, obwohl das verboten ist.
Hickey ist ein stattlicher Mann, sein Spender müsste deshalb mindestens 1,75 Meter groß sein damit fallen praktisch alle Frauen weg.
Auf der Dialysestation hat Hickey jetzt eine Beschäftigung. Er telefoniert, fragt nach, gibt Auskunft,
er arbeitet die Liste ab: noch hundert Kandidaten, noch zwei Dutzend, noch zehn. Endlich wieder hat
er das Gefühl, sein Schicksal in die Hand zu nehmen.
Am Ende bleibt genau ein Spender übrig: Robert Smitty, 32 Jahre alt, ein Lkw-Fahrer aus
Chattanooga, Tennessee, 2000 Kilometer entfernt. Smitty ist groß genug, er hat die richtige
Blutgruppe. Und er will, sagt er, einmal im Leben etwas richtig Großes tun. Etwas, worauf er stolz
sein kann und seine zehnjährige Tochter auch.
Die beiden Männer telefonieren jetzt fast täglich miteinander. Smitty erzählt, dass er zufällig auf
matchingdonors gestoßen sei, eigentlich habe er sich nur über Organspenden nach dem Tod
informieren wollen. Erst Hickeys Steckbrief habe ihn überzeugt, Lebendspender zu werden. Es wäre
die erste per Internet vermittelte Nierenverpflanzung.
Über Geld, so beteuern beide, reden sie nicht. Hickey wird seinem Spender Flug, Unterkunft und
Verdienstausfall erstatten, alles in allem rund 5000 Dollar. Das ist erlaubt.
Am Morgen des 18. Oktober liegen die Männer nebeneinander im Narkoseraum des St.-Luke'sHospitals in Denver. Die Infusionsnadeln stecken in den Armen, es ist halb sieben, in einer Stunde
soll es losgehen, der Anästhesist wartet noch auf das Okay des Ärzteteams. Um Viertel nach acht
geht er nachsehen, wo die Kollegen denn bleiben.
Ein paar Minuten später tritt der Chefarzt in den Raum, er hat eine schlechte Nachricht: "Ich werde
Sie nicht operieren", sagt er. Er habe gerade erst erfahren, auf welche Weise Spender und Empfänger
zusammengefunden hätten. Dass jemand an der Warteliste vorbei einen fremden Spender finde, sei
unfair, dass jemand übers Internet eine Niere spende, höchst verdächtig. Der Arzt glaubt nicht, dass
Smitty seine Niere aus reiner Menschenliebe hergeben will, und er glaubt nicht, dass Hickey wirklich
nur 5000 Dollar Spesen zahlt. Er vermutet, dass die beiden einen heimlichen Deal haben.
Eine Schwester entfernt die Infusionsnadeln, die Patienten müssen sich wieder anziehen.
In seinem Hotel hängt Hickey sich ans Telefon, er redet mit Anwälten, Journalisten und Ärzten, er
gibt Radio-Interviews. Am nächsten Tag erscheinen die ersten Artikel, die Klinik gerät unter Druck.
Schließlich gibt es keinen Beweis für einen heimlichen Organhandel, die ethischen Bedenken wirken
auf einmal bürokratisch und kalt. Der Fall macht nationale Schlagzeilen, am Ende gibt die Klinik
nach.
Einen Tag später bekommt Hickey nun doch die Niere von Smitty eingepflanzt. Aus humanitären
Gründen, sagt der Arzt. Alles geht glatt.
Ob wirklich kein Geld geflossen ist, lässt sich nicht sagen.
In der vergangenen Woche stellte sich heraus, dass Hickey, der Empfänger, im Sommer einen
Oldtimer angeboten hat, für 40.000 Dollar. Wofür braucht er das Geld? Und Smitty, der
Nierenspender, hat eine kriminelle Drogen-Vergangenheit, Schwierigkeiten im Job und Schulden bei
seiner Frau. Ein Beweis ist das natürlich alles nicht.
"Ihr werdet keinen Beweis finden", sagt Smitty. "Und niemand kann Bob meine Niere wieder
wegnehmen."
SPIEGEL ONLINE 02.11.04
204
In der Schweiz ist ein Gesetz in Arbeit, das alle Begrenzungen aufheben soll.
25.000 Bundesbürger sind auf Dialysemöglichkeiten angewiesen. Eine Nierentransplantation kostet in der
Bundesrepublik ca. 50.000,- €, da keine Kosten für einen »Organkauf« anfallen, plus ca. 10.000 € pro Jahr an
Nachsorgekosten. Die Krankenkassen sparen an einer solchen Operation trotz dieser Operationskostenhöhe viel
Geld, weil ein einziges Jahr Dialyse Kosten in Höhe von mindestens 25.000,- € bis 45.000,- € verursacht; das
sind bei der augenblicklichen Wartezeit für eine Ersatzniere von mindestens drei Jahren bis zu 135.000 €. Um
auf diesen Misstand des herrschenden verheerenden Organmangels hinzuweisen und so ein Fanal zu setzen, hat
der Transplantations-Chirurg und damalige Leiter des Transplantationszentrums Lübeck, Prof. Dr. Hoyer, 1996
einem ihm völlig unbekannten 29-jährigen Bayern eine seiner eigenen Nieren gespendet! „’Wenn ich, der ich
genau weiß, wie so eine Transplantation abläuft, mich selbst dazu entschließe, dann muß es doch unbedenklich
sein. ... Organspende ist die moralische Pflicht eines jeden, der die uneingeschränkten Möglichkeiten einer
modernen Medizin auch für sich in Anspruch nehmen möchte,’ so Hoyer, für den Organspende ’Nächstenliebe’
bedeutet“ (Harburger Rundschau 01.07.97). Ein Kollege von Hoyer, der Chirurg Brölsch, machte den
Vorschlag, da der Verkauf von Organen in Deutschland verboten ist, Nierenspendern einen Steuerfreibetrag von
10.000 € jährlich zuzuerkennen, weil sie mit ihrer Organspende sehr erheblich zur finanziellen Entlastung des
Gesundheitssystems beitrügen. (Bei einem Steuersatz von 33,33 % wäre das ein Gegenwert von 3.333 €: ein
relativ unerheblicher Betrag für jemanden mit diesem Steuersatz; wer aus Geldnot seine Niere verkaufen will,
hat bei seinen Schulden meist einen Steuersatz von nur 0-10 %. Da lohnt sich eine solche steuerliche
Anerkennungsprämie gar nicht.)
Spenderausweise gibt es beim Roten Kreuz, beim ADAC, den Ortskrankenkassen, einer Gesundheitsbehörde
oder dem Arbeitskreis Organspende.8
In Bayern versucht man seit 2004 durch die Schulung von Lehrern zu erreichen, dass sie bei ihren Schülern den
Gedanken für die Notwendigkeit von Organspenden verstärkt wecken.
"Die Dritte Welt ist die Organbank der Reichen. Menschen verkaufen aus Armut ihren Körper
Das Geschäft mit der Verzweiflung
Kala und Shekar Kumar waren verzweifelt. Das Ehepaar hatte kein Geld und keine Arbeit. Eines
Morgens reihten die beiden sich in die Schlange vor der Pendalia-Klinik in der südindischen Stadt
Madras ein. Dort warten jeden Tag Menschen, die nichts mehr zu verkaufen haben außer einen Teil
von sich selbst - eine Niere.
Das Paar wurde angenommen und operiert. Kala Kumar: `Mit dem Geld will ich meinem Sohn eine
Ausbildung ermöglichen. Die haben wir nie gehabt.'
Die Kumars sind zwei von etwa 2000 Menschen, die in Indien jährlich eine Niere verkaufen. Der
Marktpreis liegt bei 1500 US-Dollar (rund 2500 Mark); das entspricht dem sechsfachen
durchschnittlichen Jahreseinkommen.
Indien gilt als der größte Markt für menschliche Organe. Eine Hornhaut ist für 5000 Dollar zu
haben, ein Stück Haut für 20 Dollar. Der Handel ist legal und nimmt wegen der extremen Armut im
Land ständig zu.
Die Käufer sind oft wohlhabende Araber oder Inder. In Indien gibt es pro Jahr 80 000 neue Fälle
von Nierenversagen, aber nur 600 Dialysegeräte zur Blutwäsche, mit denen die Kranken am Leben
erhalten werden. Da sind viele auf den Kauf des lebenswichtigen Organs angewiesen. Solche Organe
werden mit verbesserten Konservierungslösungen immer länger haltbar gemacht.
Auch in anderen Ländern blüht das Geschäft mit der Verzweiflung. Der größte südamerikanische
`Lieferant' ist Brasilien. Der brasilianische Erzbischof Luis Bambaren: `Es gibt in Südamerika
nachweislich Organisationen, die Kinder kaufen oder entführen, um sie zu ermorden und ihre Organe
zu verkaufen.' Rosalie Bertell von der Internationalen Kommission für Mediziner in Genf zitierte
Berichte aus Mexiko, nach denen dort in `Masthäusern' Straßenkinder wieder aufgepäppelt werden,
bevor sie getötet und `ausgeschlachtet' werden.
Auf den Philippinen wurde den zum Tode verurteilten Sträflingen für eine Nierenspende eine
Strafmilderung gewährt. In Japan akzeptieren Kredit-Haie Nieren als Schuldentilgung. In Ägypten ist
eine Niere für 10.000 bis 15.000 Dollar zu haben. Auch hier ist der Verkauf legal.
Von chinesischen Ärzten wurde bestätigt, daß die Volksrepublik Nieren von hingerichteten
8
Arbeitskreis Organspende / Postfach 1562 / 63235 Neu-Isenburg / Tel.: 06102/3590
205
Sträflingen ohne deren Wissen gegen Devisen an Patienten aus Hongkong verkauft. Dort gibt es so
wenig Spender, daß die Wartezeit für eine Operation statistisch 60 Jahre beträgt. Grund dafür ist der
traditionelle chinesische Glaube, daß die Seele nach dem Tode keinen Frieden finden kann, wenn der
Körper zerstückelt wird.
Die Transplantationen kosten zwischen 17.000 und 33.000 Dollar. Nach offiziellen Angaben
werden in China pro Jahr etwa 700 Menschen wegen Verbrechen wie Mord, Raub, Schmuggel oder
Bestechung zum Tode verurteilt und mit einem Schuß in den Kopf getötet. Die
Menschenrechtsorganisation Amnesty International schätzt die Zahl jedoch wesentlich höher ein.
Ärzte aus Hongkong vermuten, daß auch politische Häftlinge, darunter Verurteilte der gewaltsam
niedergeschlagenen Demokratiebewegung von 1989, unter den Erschossenen waren, deren Nieren
verkauft wurden. China bestreitet die Vorwürfe.
Organhandel gibt es auch vor unserer Haustür. 1989 gab es in England einen Skandal, als Ahmet
Koc (38), ein Landarbeiter aus der Osttürkei, nach einer vermeintlichen Gesundheitsüberprüfung aus
der Narkose erwachte und eine Niere weniger hatte. Koc wurde zurück in die Türkei geschickt, für
seine Niere bekam er 4000 Dollar.
...
Sechs private Londoner Kliniken versorgten damals wohlhabende türkische, iranische oder indische
Patienten mit von Türken gekauften Nieren. Inzwischen wurde Organhandel in England unter Strafe
gestellt.
In Deutschland machte 1988 Baron Rainer Rene Adelmann von Adelmannsfelden Schlagzeilen. Er
schickte Briefe an bankrotte Unternehmer, in denen er etwa 75 000 Mark für eine Niere bot. In
Deutschland gibt es bisher kein Gesetz, das Transplantationen und den Organhandel regelt.
Schlimmer als westeuropäische Staaten trifft das Problem jedoch die Dritte Welt.
Entwicklungsländer als Organreservoir für Reiche. Vertreter der Weltgesundheitsorganisation in
Genf sagten, in der Dritten Welt nehme der Verkauf von Organen alarmierende Ausmaße an.
Offizielle Zahlen gibt es nicht, weil die meisten Beteiligten schweigen.
...
Vom internationalen Geschäft mit menschlichen `Ersatzteilen' profitieren auch skrupellose Händler,
die für die Vermittlung von Organen saftige Provisionen kassieren. Körperteil-Makler George
Abouna, Leiter der Transplantationsabteilung der Universität Kuweit, befürchtet, daß der in vielen
Staaten illegale Organhandel vom organisierten Verbrechen übernommen wird. Denn das Geschäft
lohnt sich. Die Nachfrage steigt ständig.
Während viele den Verkauf von Organen als Ausbeutung der Ärmsten der Armen in den
Entwicklungsländern verurteilen, debattiert man in den USA über das Recht für jeden, seine eigenen
Organe zu verkaufen oder zumindest eine Entschädigung für entnommene Organe zu bekommen.
Wie in den meisten Ländern gibt es dort nicht genug Organspender. In den Vereinigten Staaten
sterben jährlich mehr als 2.000 Menschen, während sie auf eine Transplantation warten. Knapp
15.000 Operationen werden pro Jahr durchgeführt, 23.000 Patienten stehen auf der Warteliste.
Um die Bereitschaft der Menschen zu steigern, im Falle ihres Todes Organe zu spenden und damit
einen schwarzen Markt für lebenswichtige Körperteile zu verhindern, ist eine staatliche
Entschädigung für die Hinterbliebenen im Gespräch, zum Beispiel zur Deckung der
Beerdigungskosten. Der Handel mit Organen ist verboten.
Dr. James Light vom Washington Hospital Center, einer der größten Transplantationseinrichtungen
der USA, schätzt jedoch, daß 15 bis 20 Prozent der Menschen, die für Verwandte oder Freunde eine
Niere gespendet haben, vom Empfänger Geld geboten bekommen haben.
Nach Ansicht des indischen Arztes Dr. Reddy ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch Amerikaner
und Europäer sich mit dem Thema Organverkauf auseinandersetzen müssen. `Der Bedarf an Nieren
steigt weiter', sagt er. `Immer mehr Menschen hängen an Dialysegeräten.' Eine Erhöhung der
Spenderbereitschaft im Todesfall soll Erleichterung bringen.
In Ländern wie Indien und Ägypten ist dies aus religiösen Gründen nicht möglich, so daß der
Handel mit Nieren dort weiter boomen dürfte. `Es ist einfacher, Organe von lebenden Spendern zu
entnehmen', sagt Dr. Malaka Fouad aus Kairo. `Denn die Toten respektieren wir seit der Zeit der
Pharaonen - vielleicht mehr als die Lebenden.'" SAD (HH A 22.10.91)
"`Kontrollierte Verzweiflung': Arbeitsloser will Organe verkaufen
dpa New York. Ein verzweifelter Arbeitsloser in New York will für 25.000 Dollar (40.000 Mark)
eine Niere oder einen Lungenflügel verkaufen, um seine drückenden Schulden loszuwerden, und hat
nach eigenen Angaben bereits Kontakt mit einer kaufwilligen Deutschen.
206
Thomas Frey annoncierte in einem New Yorker Anzeigenblatt, nachdem andere Blätter die Anzeige
abgelehnt hatten. `Ich werde obdachlos und könnte ein Verbrechen begehen, etwa Drogen
verkaufen', sagt er.
`Aber das will ich nicht. Ich will ein guter Bürger sein und meine Schulden bezahlen.' Seine
Anzeige bezeichnete er als einen `Akt kontrollierter Verzweiflung', der ihm helfen könnte, 20.000
Dollar Schulden zurückzuzahlen.
Dem 28jährigen, der vor einem Jahr seinen Job bei einem Kurierdienst verlor und keine
Arbeitslosenunterstützung mehr erhält, schwant, daß er mit dem Gesetz in Konflikt geraten könnte.
Die Anwältin Judy Doesschate von der New Yorker Gesundheitsbehörde bestätigte, daß es ein
Vergehen sei, wissentlich ein Organ zu verkaufen, bedroht mit bis zu einem Jahr Haft.
Frey meint, um das Gesetz zu umgehen, könnte er seine Niere spenden, und die Empfängerin
könnte ihm im Gegenzug 25 000 Dollar schenken, oder er könnte seine Niere für vielleicht 99 Jahre
verpachten. Die Kaufinteressentin habe ihm erklärt, sie brauche nach Auskunft der Ärzte binnen
eines Jahres eine Nierentransplantation." (Harburger Anzeigen und Nachrichten 24.01.92)
Das Ganze erinnert an das mittelalterliche deutsche Sprichwort: „Wer nichts im Beutel hat, muss mit der
Haut zahlen.“ Nur dass es jetzt in durch die Fortschritte der Medizin verschärfter Form gilt, denn damals
war »nur« damit gemeint, dass ein Schuldner, der nicht in der Lage war, seine Schulden zu bezahlen, diese
durch Arbeit beim Gläubiger abtragen musste. Und ein jahrelanges Schuldsklavendasein war nicht
lebenswert, weiß Gott nicht! Das ging dem Schuldner ganz unschön an die Nieren, aber eben »nur« im
übertragenen Sinne; jetzt aber, in unserer modernen Zeit mit ihrer teilweise praktizierten „VampirMedizin“, wo einer glaubt, sich auf Grund seines Reichtums und der Armut des anderen diessem seine
Lebenskraft teilweise abkaufen zu können, hat das Sprichwort für einige Unglückliche seine im realen
Wortsinn einschneidende Aktualität wiedererlangt.
"Reportage über die skandalösen Geschäfte mit Organen
Ersatzteillager Mensch
Ghowindbhai ist ein 26jähriger Inder, Analphabet aus einem Dorf, von einer chronischen Krankheit
geplagt. In Bombay geriet er an Leute, die ihm zu helfen versprachen. Aber diese Leute zogen ihn
buchstäblich über den Tisch - über den Operationstisch. Als der junge Mann aus der Narkose
erwachte, fehlte ihm eine Niere. Er bekam eine Handvoll Geld, umgerechnet 2500 Mark, und wurde
nach Hause geschickt. Seine Niere hat jetzt ein wohlhabender Araber. Ghowindbhai war nämlich an
professionelle Organhändler geraten. ...
Die Reporter haben herausgefunden, daß auch deutsche Patienten sich in Krankenhäusern der
Dritten Welt Organe einpflanzen lassen. Die Spender werden dabei manchmal, wie der arme
Ghowindbhai, auch übers Ohr gehauen.
Organverpflanzungen sind aus der Sicht der Patienten zweifellos ein großer medizinischer
Fortschritt. Aber seit einigen Jahren haben sich im In- und Ausland obskure Figuren des Geschäfts
mit menschlichen Organen angenommen. In der Bundesrepublik bewegen sie sich damit in einem
rechtsfreien Raum. Kein Gesetz regelt bisher diesen ethisch außerordentlich sensiblen Bereich. Nicht
anders ist es mit abgetriebenen oder zu früh geborenen Embryos oder Föten, die als `Material' für
Forschungszwecke, aber auch für Transplantationen sehr gesucht sind. Öffentlich wird immer wieder
bestritten, daß man auch in Deutschland auf dem `freien Markt' jederzeit einen Fötus kaufen könne.
Aber man kann. Das will Silvia Matthies in ihrer Reportage beweisen. ..." (HH A 19.04.89)
"Fötus weinte
SAD Rom - Schock in einer Klinik in Modena (Italien): Als einem angeblich totgeborenen Fötus die
Hirnanhangdrüse entnommen werden sollte, fing die Frühgeburt (sechster Monat) an zu weinen. Der
kleine Junge lebte noch 24 Stunden. Jetzt ermittelt das Gesundheitsamt gegen die behandelnden
Ärzte wegen Fahrlässigkeit." (HH A 30.09.91)
"Sohn verunglückt - Organe entnommen
HA/ann Berlin - Lucie John (66) aus Berlin wußte, daß ihr Sohn Bernd Dieter (33) während seines
Spanienurlaubs mit dem Auto verunglückt war und in Barcelona im Krankenhaus lag. Ein Arzt hatte
es der Mutter am Telefon mitgeteilt. Was sie aber nicht ahnte: Ihr Sohn starb kurz nach dem Anruf
an den Folgen des Unfalls. Herz, Nieren, Lungen, Leber und Augen wurden dem Toten ohne
Rücksprache mit den Angehörigen entnommen.
Erst fünf Tage nach dem Unglück, als Bernds Schwester nach Barcelona flog und vor dem leeren
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Bett des Bruders stand, erfuhr sie: Bernd Dieter John ist tot, seine Organe wurden für
Transplantationszwecke freigegeben. Die Urne wurde nach Berlin geschickt.
In Spanien dürfen Ärzte ohne Einverständnis der Angehörigen Organe von Toten entnehmen.
Dieses Gesetz gilt auch für Ausländer. Die sogenannte Widerspruchsregelung gibt es auch in
Österreich, Italien, Frankreich, Griechenland, Portugal und der Schweiz. `Wer ins Ausland fährt und
im Todesfall seine Organe nicht spenden möchte, sollte dies notieren und den Zettel stets bei sich
tragen. Dann ist man vor unfreiwilliger Organentnahme sicher', sagt Gabriele Wollflast, Juristin an
der Universität Göttingen." (HH A 19.09.91)
"Mord-Uni: Chef gab den Auftrag
Obdachlose in Kolumbien für Versuche getötet
Eine grauenhafte Meldung überschattete den Karneval in der kolumbianischen Hafenstadt
Barranquilla. Im Universitätsgebäude waren die Leichen von elf Obdachlosen gefunden worden.
Gerüchte, wonach sie für die Medizin sterben mußten, wollten nicht verstummen. Jetzt kam die
Wahrheit ans Licht. Sie ist schlimmer als befürchtet.
Von Walter Unger SAD Bogotá - Als die Fahnder den 34jährigen Chef der Sicherungstruppe der
Universität von Barranquilla festnehmen wollten, kamen sie fast zu spät. Bevor bei Petro Vilora die
Handschellen klickten, schluckte er den Inhalt einer Flasche Insektengift. Dem Tode nahe kam er in
die Intensivstation der Universitätsklinik. Die Ärzte konnten ihn retten.
Nun hat er im Krankenbett gestanden. Was er der Polizei ins Protokoll diktierte, erschütterte selbst
die an Greuel gewöhnten Beamten. Vilora: `Ich allein habe mehr als 50 Menschen totgeschlagen.'
Wieviele Opfer auf das Konto seiner 14 Kollegen gehen, die ebenfalls festgenommen wurden,
konnte er nicht beziffern. `Wir suchten uns nur Opfer aus, von denen wir annahmen, daß sie keine
Angehörigen hatten und nicht vermißt würden.' Vilora weiter: `Weil Schußwunden aufgefallen
wären, erschlugen wir alle.'
Entschuldigend fügte er hinzu: `Ich wußte, daß alle Schuld auf mich fallen würde. Aber ich bin
nicht allein verantwortlich - ich erhielt die Mordaufträge vom Direktor, von Professor Navarro.'
Navarro blieb vorerst auf freiem Fuß, obwohl in der Leichenhalle seines Instituts noch zwölf
weitere Leichen gefunden wurden, deren Herkunft unklar ist. Einige waren bereits zerlegt, in
Sezierschüsseln fand die Polizei Gliedmaßen. Allen Leichen waren die Fingerkuppen, die eine
Identifizierung möglich gemacht hätten, abgeschnitten worden.
Navarro bestritt jedoch, mit den Morden irgend etwas zu tun zu haben: `Alle Leichen, die zum
Sezieren gebraucht werden, wurden legal gekauft.' ..." (HH A 07.03.92)
"Außer in den Niederlanden, Island, Malta, Liechtenstein und Irland gibt es überall im europäischen
Ausland Transplantationsgesetze. Die regeln die Organ-Entnahme nach zwei Modellen:
o Bei der Einwilligungslösung müssen die Angehörigen9 ihre Zustimmung ausdrücklich erteilt haben,
bevor die Organe eines Hirntoten entnommen werden dürfen. Oder es liegt eine verbindliche
Erklärung des Verstorbenen vor, etwa in Form eines Organspenderausweises. Obwohl es hierzu
keine gesetzliche Grundlage gibt, praktizieren die deutschen Transplantationszentren diese Regelung
seit über zwanzig Jahren.
o Bei der Widerspruchsregelung muss der Verstorbene zu Lebzeiten erklärt haben, daß er einer
Organentnahme nicht zustimmt. Oder die Angehörigen verweigern diese Operation. Liegt kein
Einspruch vor, müssen die Ärzte nicht rückfragen, bevor sie verpflanzbare Organe entnehmen. Diese
Regelung gilt zum Beispiel in Österreich und, zumindest formell, noch in den neuen Bundesländern.
Eine entsprechende DDR-Verordnung aus dem Jahre 1975 hat der Einigungsvertrag nicht
ausdrücklich annulliert. Dennoch halten sich auch die ostdeutschen Transplantationszentren an die
Einwilligungslösung.
...
Nicht einmal die Transplanteure sind sich über den richtigen Kurs bei einem Organspendegesetz
einig. ...
Als Kompromiß schlägt die Arbeitsgemeinschaft der deutschen Transplantationszentren eine
Informationslösung vor. Hier müssen die Angehörigen von der beabsichtigten Organentnahme
9
„Nächste Angehörige“ im Sinne von § 4 II TPG sind in der Rangfolge ihrer Aufzählung: 1. Ehegatte, 2. volljährige Kinder,
3. Eltern(teil), 4. volljährige Geschwister und 5. Großeltern. Diesen wird eine volljährige Person gleichgestellt, „die dem
möglichen Organspender bis zu seinem Tode in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahegestanden hat;
sie tritt neben den nächsten Angehörigen“, so dass ein Lebensabschnittspartner nicht ausgeschlossen ist.
208
unterrichtet werden. Eine förmliche Zustimmung der Verwandten ist dann nicht notwendig.
Schweigen wird als Einwilligung interpretiert. Jeder Einspruch, sei es durch ein Dokument des
Verstorbenen oder durch die Angehörigen, verbietet die Explantation.
...
Die ethische Grundlage der Organspende ist in Deutschland kaum noch strittig. Die katholische
Bischofskonferenz und der Rat der Evangelischen Kirche haben 1990 eine gemeinsame Erklärung
verabschiedet, in der es heißt: »Aus christlicher Sicht ist die Bereitschaft zur Organspende nach dem
Tod ein Zeichen von Nächstenliebe und Solidarisierung mit Kranken und Behinderten.«
...
Die beiden großen christlichen Kirchen haben keine Schwierigkeiten, den Hirntod als eine Form
des »exitus letalis« anzusehen - jenes Moments, in dem die Seele den sterbenden Menschen
verlassen hat (exitus), was für seinen Körper den Tod bringt (letalis). »Daß das irdische Leben des
Menschen unumkehrbar zu Ende ist, wird mit der Feststellung des Hirntodes zweifelsfrei erwiesen«,
heißt es in der gemeinsamen Kirchenerklärung von 1990.
...
1989 räumte die Bundesregierung ein, eine Firma »Asiatransplant« biete in der Bundesrepublik
Nieren von lebenden Spendern für 100.000 Mark an; ein Experiment von »Stern TV« in den neuen
Bundesländern zeigte vor wenigen Wochen, daß dort manche Bürger nicht zögerten, eine gesunde
Niere für 7500 Mark zu verkaufen.“ (STERN 7/91)
"Deutsche Hospizhilfe mit Sitz in Buchholz fordert:
`Keine Organspende ohne Zustimmung'
wer Harburg/Buchholz. Viele Schwerkranke warten jahrelang auf eine Organspende, für manche
bedeutet diese Zeit sogar den sicheren Tod. Denn Organspenden sind in den alten Bundesländern
Mangelware. Ein Gesetzentwurf zur Organspende soll Abhilfe schaffen.
Er sieht die Organentnahme bei `hirntoten' Unfallopfern auch ohne Zustimmung der Betroffenen
selbst oder deren nächsten Angehörigen vor. Wer das nicht will, kann Widerspruch einlegen
(Widerspruchslösung) und muß dann aber stets für den Fall des Falles ein entsprechendes Formular
bei sich tragen. Professor Johann-Christoph Student von der Deutschen Hospizhilfe mit Sitz in
Buchholz ... ist entschiedener Kritiker des Entwurfes.
Den Tod des Gehirns als Ende des Menschlichen zu betrachten, hält er für `ethisch problematisch'.
Damit werde der Wert des Gehirns als Sitz typischer menschlicher Wesensart überbetont. Student
stellt dem Hirntod den Tod des Gesamtorganismus gegenüber.
Prinzipiell begrüßt Student Organspenden als `sinnvollen Akt der Unterstützung Schwerstkranker.'
Er meint aber, daß Transplantationen kein Allheilmittel seien. Viele Kranke seien auch danach
weiterhin chronisch krank.
`In der geplanten Gesetzgebungs-Initiative spiegelt sich einmal mehr die Mißachtung des
sterbenden Menschen in unserer Gesellschaft wider', sagte Student. Anstatt mehr für die
Humanisierung des Sterbens zu tun, werde statt dessen das Recht auf ein riskantes
Lebenserhaltungsmanöver betont." (Harburger Anzeigen und Nachrichten 20.01.92)
"Toter steckte sechs Menschen mit Aids an
az München - Sie hofften auf Leben, aber was ihre Rettung schien, brachte den Tod.
In den USA wurden sechs Menschen mit Aids angesteckt, weil sie Organe und Gewebe eines HIVpositiven Mordopfers erhielten. Drei von ihnen sind bereits gestorben.
Jetzt geht bei deutschen Patienten die Angst um: Kann das auch bei uns passieren?
Claudio Denzlinger, Arzt im Münchner Klinikum Großhadern: `Blut- und Organspenden werden
zwar auf Aids getestet. Doch ein Restrisiko bleibt. Unter unglücklichen Umständen ist eine HIVInfektion bei Organverpflanzungen auch bei uns möglich.'
In den USA erregt der Fall seit Tagen die amerikanische Öffentlichkeit. Der 22jährige William
Norwood aus Virginia war von Gangstern überfallen und grausam mißhandelt worden. 23 Stunden
kämpften die Ärzte um sein Leben - vergebens. Der Mann starb, aber seine Organe sollten
`weiterleben'.
Insgesamt 56 Menschen erhielten Gewebe-Transplantate von Norwood. Drei US-Bürger, die sein
Herz und seine Nieren bekamen, sind bereits tot. Bei drei weiteren Empfängern wurde der Virus
nachgewiesen. Die anderen 50 Patienten zittern noch. Wie viele von ihnen angesteckt wurden, ist
unklar.
Sicher scheint nur: Mordopfer William Norwood, der keiner Risiko-Gruppe angehörte, wurde
209
vermutlich, kurz bevor er starb, im Krankenhaus durch eine verseuchte Blut-Transfusion infiziert.
Martin Cader vom Gesundheitsministerium in Virginia: `Blutspenden werden auf Aids getestet, die
Tests sind verläßlich.'
Der Münchner Arzt Claudio Denzlinger sagt dagegen: `Es gibt eine diagnostische Lücke von drei
bis zwölf Wochen, in der der Virus nicht erkennbar ist.'" (HH A 25.05.91)
Manche potentiell vorhandenen Krankheiten kann man innerhalb des kleinen Zeitfensters, das für
eine Transplantation überhaupt nur offen steht, nicht diagnostizieren, so dass immer ein Restrisiko
bleibt:
„Tollwut durch Organspende
Medizin-Panne: Empfänger erhielten infizierte Transplantate - drei Patienten in Lebensgefahr.
Neu-Isenburg - Erstmals haben sich in Deutschland bei Organtransplantationen drei Empfänger mit
dem tödlichen Tollwut-Erreger angesteckt. Sie sind in einem "äußerst kritischen Zustand". Drei
weiteren Empfängern geht es gut. Alle sechs hatten Ende 2004 Organe einer offensichtlich mit
Tollwut infizierten Frau (26) erhalten, deren Erkrankung damals nicht bekannt war.
Lebensbedrohlich erkrankt sind eine junge Frau in Hannover, die eine Lunge erhalten hatte, ein
Patient in Hannoversch Münden, dem eine Niere verpflanzt worden war, sowie ein Mann in
Marburg, der die zweite Niere der Spenderin sowie die Bauchspeicheldrüse erhalten hatte. Die
Patientin in Hannover zeigte nach der Transplantation "Zeichen einer Entzündung des Gehirns", so
der Transplantationsmediziner Axel Haverich. Der Marburger Patient hatte die Uniklinik bereits
verlassen und kam am Montag mit schweren Krankheitssymptomen zurück. Ohne Tollwutsymptome
sind ein Patient, der in Heidelberg die Leber und zwei Patienten, die in Mainz die Augenhornhäute
bekommen hatten. Inzwischen wurden vorsorglich alle Personen geimpft, die mit der Spenderin und
den Infizierten in Kontakt gekommen waren.
Die Spenderin war erst im Oktober von einer Indien-Reise zurückgekehrt. Ob sie dort von einem
Tier gebissen wurde, sei ungewiß. Die Frau habe keine Tollwutsymptome gehabt.
Sie starb Ende des Jahres nach Drogenkonsum an Herzstillstand. Die Organe wurden ihr an der
Uniklinik Mainz entnommen. Dabei seien alle vorgeschriebenen Untersuchungen durchgeführt
worden, versichert der Ärztliche Klinik-Chef Manfred Thelen: "Die Diagnostik auf eine
Tollwuterkrankung vor einer Transplantation ist unmöglich." Dies sei "ein schreckliches Unglück".
In Deutschland war bislang kein Fall bekannt, in dem Organempfänger mit Tollwut infiziert wurden.
In den USA starben 2004 vier Patienten an der Krankheit, denen infizierte Organe vom selben
Spender übertragen worden waren. Es war der erste bekannte Fall.
Ein Restrisiko bestehe bei Transplantationen immer, sagt Prof. Xavier Rogiers (47), Chef des
Transplantationszentrums im Hamburger UKE. In den vergangenen zehn Jahren gab es zwei Fälle
von Tollwut in Deutschland. Die Patienten hatten sich in Indien und Sri Lanka angesteckt. Beide
starben. ap/HA“ (HH A 17.02.05)
"Drüsen verkauft?
`Report': DDR exportierte Hirn-Teile
dpa München - In der ehemaligen DDR ist nach Informationen des Bayerischen Fernsehens über
Jahre hinweg ein schwunghafter Handel mit den Organen toter DDR-Bürger betrieben worden.
`Report aus München' berichtete gestern abend, 30.000 Hirnanhangdrüsen (Hypophysen) seien pro
Jahr nach Schweden, Dänemark und der Schweiz verkauft worden. Ohne Wissen der Angehörigen
sollen von nahezu jedem Leichnam in der DDR die Hypophysen entnommen und auf ihre
`Verwertbarkeit' überprüft worden sein.
Dieser Organhandel soll der DDR-Außenhandelsbank jährlich Devisen in Höhe von 1,5 Millionen
Mark eingebracht haben."
"Organe vom Henker
afp Washington - Die Volksrepublik China benutzt nach Angaben der US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch/Asia hingerichtete Häftlinge als Organspender. Manchen Menschen
würden bereits Organe entnommen, noch bevor sie tot seien. `Einige Erschießungen werden absichtlich verpfuscht, damit die Gefangenen noch leben, wenn ihnen die Organe entnommen werden.'"
„Menschenrechte
210
Hingerichtet und ausgeschlachtet
In China hat sich aus den Massenexekutionen ein lukrativer Handel mit Organen und eine
regelrechte Transplantationsindustrie entwickelt. Getötet wird dabei genau nach Bedarf
... Noch auf dem Hinrichtungsplatz entnehmen die Ärzte die bestellten Organe. Meistens auf der
Ladefläche eines LKW. ...
An einem Tag im März 1986 wurde Dr. Miao Chen vom Parteisekretär seiner Klinik zu einer
speziellen Mission befohlen. Mit einem Kollegen und zwei Studenten wurde er in ein entlegenes
Gefängnis gefahren. Sie wurden in einen Nebenraum des Gefängnisses geführt. Dort lag ein Mann
auf einer Pritsche. Er lebte noch, war aber bereits unter Vollnarkose.
Dr. Chen wurde befohlen, dem Häftling den Leib zu öffnen und ihm beide Nieren zu entnehmen. Die
Organe wurden sofort mit einem Militär-Hubschrauber in eine Transplantationsklinik geflogen. Der
junge Arzt traute sich nicht, Fragen zu stellen, doch er hörte, wie sich zwei Offiziere über den
Häftling unterhielten: »Morgen wird er sowieso erschossen.« ...“ (STERN 05.03.98)
"Hinrichtung nach Maß - Todeszellen als Organbank
SAD London - Chinas Todeszellen sind die schaurigste Organbank der Welt. Die meisten
Hinrichtungen finden auf ärztliche Vorbestellung `nach Maß' statt, damit das Opfer hinterher
ausgeschlachtet werden kann. Wenn es mit einem Transplantat besonders eilt, werden
Todeskandidaten bei lebendigem Leibe seziert.
Das deckte jetzt die BBC-Reporterin Sue Lloyd-Roberts auf. Sie hatte sich in China als `reiche
Amerikanerin' ausgegeben, um für ihren `kranken Vater' eine Spenderniere zu finden. Sie bekam ein
Angebot über 30.000 Dollar - in bar! Im Reich der Mitte, wo fast 70 Vergehen mit dem Tod bestraft
werden, sterben pro Jahr schätzungsweise 10.000 Menschen von Henkershand.
Ein Arzt braucht sich bloß den passenden Todeskandidaten auszusuchen, der dann maßgerecht
exekutiert wird - das heißt: Benötigt der Doktor ein inneres Organ, wird das Opfer mit einem
Kopfschuß umgelegt. Ist dagegen zum Beispiel eine Netzhaut gefragt, stirbt der Delinquent per
aufgesetztem Herzschuß. In eiligen Fällen wie für einen hohen Parteifunktionär oder einen reichen
Ausländer entnimmt der Chirurg das Organ auch dem noch lebenden Häftling. Die Reporterin zitiert
einen Arzt mit den Worten: `Im Gefängnis bekomme ich die frischesten Organe.'"
„China: Organe von Hingerichteten
rtr Washington – Ein chinesischer Arzt hat dem US-Kongress bestätigt, dass in China hingerichteten
Häftlingen Organe für Transplantationen entnommen werden – auch dann schon, wenn sie noch nicht
klinisch tot gewesen seien. Die chinesische Regierung sprach von Verleumdung.“
(HH A 29.06.01)
„Organhandel
ap Hongkong – Ein Krankenhaus im Süden Chinas handelt nach einem Zeitungsbericht mit Organen
hingerichteter Häftlinge. Eine auf diesem Wege ermöglichte Lebertransplantation werde mit
umgerechnet 73 000 Mark berechnet. Bisher seien rund 40 Eingriffe durchgeführt worden, berichtete
die Zeitung ‘South China Morning Post‘“. (HH A 10.01.00) 10
"Geschäft mit Transplantaten soll strafbar werden
Organhandel ist Mord
Straßburg - Das Europäische Parlament will in der EG ein Verbot des kommerziellen Handels mit
menschlichen Organen durchsetzen. Ein grundsätzliches Verbot ist ferner für die Entnahme von
Organen bei Minderjährigen oder entmündigten Personen, von wenigen streng geregelten
Ausnahmen abgesehen, geplant. Organe, deren Ursprung nicht eindeutig bestimmt werden kann,
dürfen danach weder eingeführt noch verwendet werden. ...
In Form eines europäischen Verhaltenskodexes, so die Parlamentsentschließung, solle der
Grundsatz sowohl der Unverkäuflichkeit menschlicher Organe als auch der Anonymität des Spenders
gegenüber dem Empfänger geregelt werden. ...
Hintergrund der Straßburger Initiative ist der wegen des chronischen Mangels an Transplantaten in
In dem STERN-Artikel: „Pause in der Fabrik des Todes“ vom 15.06.00 findet sich der Satz: „Die USA aber, allen voran
Texas, gehören zu den sechs Staaten, die diese ‘Barbarei‘[der Verhängung der Todesstrafe; d. Verf.] zulassen – neben dem
Iran, Nigeria, Saudi-Arabien und dem Jemen. Selbst der Weltmeister im Hinrichten, China, hat sie vor kurzem
abgeschafft.“ Im Deutschlandfunk wurde aber noch nach diesem Datum über Todesurteile aus China berichtet!
10
211
den letzten Jahren weltweit stark angestiegene gewerbliche Handel mit Organen. Wegen der damit
verbundenen hohen Gewinnspannen ist es in mehreren Entwicklungsländern aber auch in
Industriestaaten immer wieder zur Verstümmelung und Ermordung von Föten, Kindern und
Erwachsenen gekommen, um menschliche Körperteile zu verkaufen, heißt es im Parlamentsbericht.
Die vom sozialdemokratischen französischen Berichterstatter, dem bekannten Krebsforscher Leon
Schwarzenberg genannten Beispiele muten wie schlimmste Visionen schlechter Horrorfilme an.
Amerikaner adoptieren Kinder aus Peru, nur um sie im brutalsten Sinne des Wortes ausschlachten zu
können. In Argentinien wurden Kranken in einer psychiatrischen Klinik Blut, Hornhaut und andere
Organe entnommen und 1.395 Patienten verschwanden ganz. 3.000 in den letzten fünf Jahren von
italienischen Familien adoptierte brasilianische Kinder sind verschwunden. In Einzelfällen konnten
Gerichte ihre Spuren bis in Privatkliniken verfolgen, wo ihnen Organe entnommen wurden.
Diesen Praktiken will das Europäische Parlament dadurch weitgehend den Boden entziehen, daß
der Organhandel in Zukunft grundsätzlich wie Mord bewertet und bestraft werden soll. ..."
(Das Parlament 17.10.93)
"Organhandel
Die Mafia tötet Kinder
Italiens Sozialminister schlägt Alarm
Der Verdacht besteht schon lange. Jetzt hat Italiens Sozialminister Antonio Guidi erstmals öffentlich
bestätigt: Die Mafia adoptiert Kinder in der Dritten Welt, schmuggelt sie nach Europa. Hier werden
sie getötet und in Geheimkliniken ihre Organe entnommen.
Von ANDREAS ENGLISCH
SAD Rom - Bisher galten die Gerüchte als reinstes Gruselszenario überdrehter Kinder in Brasilien.
In einer sensationellen Erklärung vor der Sozialkommission des Abgeordnetenhauses sagte Italiens
Minister für Soziales und Familie, Antonio Guidi: `Der Verdacht ist leider kein Lügenmärchen,
sondern die Wahrheit.' ... Eine Zeugin sei die italienische Konsulin in Recife (Brasilien) ... . Sie habe
ihm bestätigt, daß die Mafia einen Organhändlerring organisiert hat und systematisch Kinder tötet.
Guidi wies außerdem darauf hin, daß Interpol nach 3.000 Kindern aus Brasilien fahndet, die zur
Adoption freigegeben wurden und seitdem verschwunden sind. Laut Interpol `kostet' ein Kind in
Südamerika nicht mehr als 4.000 US-Dollar auf dem Schwarzmarkt, wobei die Mütter knapp 100
Dollar erhielten. Interpol, so Guidi, habe ferner mehrere Fälle von Kindern nachgewiesen, die
vermißt waren, nach einigen Tagen plötzlich wieder auftauchten mit noch frischen
Operationswunden. Ihnen fehlte meistens eine Niere. ...
Verdächtig erscheint den Vermittlern folgendes: In der Regel verlangen Eltern aus der ersten Welt
Kleinkinder oder Neugeborene. Seit knapp sechs Monaten häufen sich aber die Anträge zur
Adoption von Kindern, die stark bis sehr stark behindert und im Alter von 8 bis 12 Jahren sind.
Minister Guidi: `Wir glauben, daß die Kinder von der Mafia nach Italien geschmuggelt werden, um
von hier aus ihre eigentliche Bestimmung zu erreichen.' ...
Nach Ansicht der Berater des Ministers sollen Gebote von bis zu 100.000 Mark für lebenswichtige
Organe keine Seltenheit sein. Besonders grauenhaft an diesem Handel, so glauben die Experten im
Guidi-Team, ist die Tatsache, dass die Kinder sozusagen bei lebendigem Leib ausgeschlachtet
werden. Da nahezu alle menschlichen Organe nur mit erheblichen Schwierigkeiten auch nur für
kurze Zeit konserviert werden können, wäre eine Transplantation aus einem noch lebenden
Menschen nahezu ideal. Der Patient, der die Organe empfängt, könnte im gleichen Saal behandelt
werden, in dem das Kind stirbt. ..." (HH A 23.09.94)
„Handel mit Organen
dpa/ap München – Organisierte Verbrecherbanden in Russland töten obdachlose Kinder, um ihre
Organe an zahlungskräftige Kunden im In- und Ausland zu verkaufen. Das gehe aus einem
Geheimpapier des Bundesnachrichtendienstes (BND) an die Bundesregierung hervor, berichtete das
Nachrichtenmagazin ‘Focus‘.“ (HH A 30.10.99)
"Organhandel: Eltern verkaufen Augen ihrer Kinder an reiche Europäer
SAD Paris - In Südamerika werden Kindern die Augen entnommen, um sie für teures Geld an
Patienten aus reichen Ländern zu verkaufen. Das behauptet die Autorin Marie-Monique Robin. Ihre
Reportage `Die gestohlenen Augen' wurde gestern im TV-Sender M 6 gezeigt. `Mütter aus
Südamerika kassieren 30 Mark pro Auge', sagt die Journalistin. `Ihre Kinder sind dann zwar blind,
aber sie können ihre Familie für einige Wochen ernähren.' Die Autorin hatte bei ihren Recherchen
212
vorgegeben, daß bei ihrer kleinen Tochter eine Augenoperation notwendig sei. Einschlägige Ärzte in
Argentinien und Kolumbien erklärten sich sofort bereit zum Eingriff. Kostenpunkt: pro Auge 3000
Mark. Und: keine Wartezeiten. Patienten in Europa und den USA warten oft bis zu drei Jahre auf die
kostbare Spender-Hornhaut. Der Organhandel blüht. Marie-Monique Robin fand heraus: `Immer
mehr europäische Ärzte schicken ihre Patienten nach Südamerika.'" (HH A 09.01.95)
"Niere
Kasse zahlt nicht für indisches Spenderorgan
dpa Lüneburg - 35.000 US-Dollar zahlte der Autohändler Siegfried G. (56) für die Transplantation
einer Niere. Das Organ eines lebenden indischen Spenders (28) wurde ihm in einem Krankenhaus in
Bombay eingepflanzt. Die Hoffnung des Kaufmanns, daß die Deutsche Angestellten Krankenkasse
(DAK) die Kosten erstatten würde, erfüllte sich nicht. Ethisch-moralische Bedenken, mit denen die
DAK die Zahlung ablehnte, bestünden zu Recht, meinte das Sozialgericht Lüneburg (Az.: S 9 Kr
19/93).
Der Deutsche hatte seine medizinischen Daten an die Klinik geschickt und schon nach sechs
Wochen einen Operationstermin erhalten. Vorher mußte er dreimal wöchentlich zur Dialyse. Der
junge Organspender hat sich von dem Geld ein Taxi gekauft." (HH A 28.10.93)
„Grundsatzurteil
ap Kassel – Für einen schwer nierenkranken Lüneburger (60) war es der letzte Ausweg. Weil es in
Deutschland für ihn kein Spenderorgan gab, fuhr er nach Bombay, kaufte sich von einem Inder (26)
eine Spenderniere und ließ sie sich in einer Klinik einpflanzen. Kosten: 35 000 Dollar. Seine
Krankenkasse (DAK) weigerte sich, ihm das Geld zu erstatten. Das Bundessozialgericht gab der
Kasse recht. Begründung: Den Körper des Menschen zum Handelsobjekt zu machen, verstoße gegen
das Grundgesetz (Az.: 1 RK 25/95)“ (HH A 16.04.97)
„Organhandel
’Nieren, Herzklappen, praktisch alles’
Der illegale Handel mit Organen boomt. Die Türkei gilt als Hauptumschlagplatz - doch die Ermittler
tappen weitgehend im Dunkeln
Genf - Die Untersuchung beim Hausarzt endete mit einer bösen Überraschung. Der Mediziner
eröffnete der Pförtnerin Laudiceia Cristina da Silva: ’Ich habe eine sehr schlechte Nachricht. Eine
Niere ist aus Ihrem Körper verschwunden.’ Die junge Brasilianerin rang nach Luft. Der Verdacht der
Frau aus São Paulo fiel auf das staatliche Krankenhaus: Dort hatten Chirurgen ihr eine Zyste im
Bereich des Eierstocks herausgeschnitten. Auf die polizeiliche Untersuchung des möglichen
Organdiebstahls reagierten die Ärzte des Spitals mit einer erstaunlichen Erklärung: Die Zyste habe
die Niere umschlossen. Das Organ sei zusammen mit der Geschwulst wegoperiert worden - ein
dummer Fehler eben. Seit sieben Jahren lebt Laudiceia nur noch mit einer Niere. Die andere wurde
höchstwahrscheinlich auf dem Schwarzmarkt für Organe feilgeboten.
’Die Klientel weitet sich aus’, sagt Nikola Biller-Andorno von der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) in Genf. Nach einem WHO-Bericht warten derzeit 40 000 Menschen allein in Europa auf
eine neue Niere. Um nicht wertvolle Zeit zu verlieren, schauen sich viele der Todgeweihten auf dem
Schwarzmarkt um. ’Dort gibt es nicht nur Nieren und Leber, Sie können die Netzhaut oder ganze
Augen kaufen, Herzklappen, Hirnteile, praktisch alles’, erklärt Nancy Scheper-Hughes, Professorin
mit Forschungsschwerpunkt Organhandel in Berkeley. Die Preise für gebrauchte Körperteile
schwanken erheblich. Wer sich in den USA eine Niere implantieren läßt, muß bis zu 200 000 Dollar
hinlegen. In ärmeren Ländern reichen schon einige tausend Dollar aus. ’Exakte Zahlen über den
weltweiten Organhandel sind nicht vorhanden’, sagt Biller-Andorno. Fest steht aber: Eine
Organmafia hält Teile der Szene fest im Griff.
Zu den besonders umsatzstarken Regionen, die in der Branche ’Nierengürtel’ heißen, zählt auch
Moldawien. In dem europäischen Armenhaus tragen inzwischen immer mehr Menschen ihre Körper
zu Markte. Händler kaufen Nieren oft für weniger als 3000 Euro. In der Türkei läßt sich dann der
zehnfache Preis für das Organ erzielen. Die Türkei ist mittlerweile zur ’Drehscheibe’ des
Organhandels geworden.
Die Fahnder tappen oft im Dunkeln. Illegale Aktivitäten würden ’observiert’, teilt ein Beamter von
Interpol in Lyon mit. Organhandel sei aber ein ’sehr schwieriges Gebiet, weil die Gesetze in vielen
Staaten verschieden sind’. Tatsächlich fehlt immer noch ein rechtlich verbindliches internationales
Abkommen gegen den Organhandel. EPD“ (DIE WELT, 17.11.04)
213
"Organ-Handel wird unter Strafe gestellt
HA Bonn - Jeder kommerzielle Handel mit Organen von lebenden Spendern soll bereits in Kürze in
Deutschland unter Strafe gestellt werden. Ein von Bundesjustizministerin Sabine LeutheusserSchnarrenberger (FDP) gestern in Bonn vorgestellter Gesetzentwurf sieht vor, `jeglichen
gewinnorientierten Umgang mit menschlichen Körpersubstanzen, sofern sie einem Menschen
entnommen und zum therapeutischen Einsatz bestimmt sind', zu verbieten.
Im Vordergrund steht dabei der Handel mit nicht regenerierungsfähigen Organen, Organteilen und
Geweben, bei deren Entnahme die gesundheitlichen Risiken besonders groß sind. Aber auch der
Handel mit Haut, Knochenmark und Lebersegmenten, die von lebenden Spendern transplantiert
werden, soll bestraft werden.
Es müsse verhindert werden, daß Menschen vor allem in der Dritten Welt sowie in Osteuropa `von
skrupellosen Geschäftemachern ausgebeutet und als lebende Ersatzteillager für Reiche in den
westlichen Industrienationen mißbraucht werden', begründete die Ministerin ihren Gesetzentwurf.
Deshalb werde die geplante Regelung auch für im Ausland begangene Taten gelten.
Frau Leutheusser-Schnarrenberger verwies darauf, daß es bei der Transplantationsmedizin
zumindest in Teilbereichen einen deutlichen Mangel an geeigneten Spenderorganen gebe.
Angesichts dessen sei die Versuchung für Geschäftemacher groß, `existentielle Notlagen bei
Empfängern wie Spendern in besonders verwerflicher Weise auszunutzen'.
Deshalb wolle man vor allem zwei Dinge verhindern: Zum einen dürfe der menschliche Körper
nicht kommerzialisiert werden. Zum anderen dürfe die Verfügung und Verteilung lebenswichtiger
Organe nicht von der finanziellen Leistungsfähigkeit potentieller Empfänger abhängen. `Maßgeblich
für eine verantwortbare Entscheidung kann nur die therapeutische Dringlichkeit im Einzelfall sein',
betonte die Ministerin.
...
Nicht erfaßt werden von dem überarbeiteten Entwurf der Handel mit Organen Verstorbener sowie
die Fragen der Transplantationsmedizin. Für beide Bereiche seien die Länder zuständig."
(HH A 18.06.94)
Mangel an Spenderorganen
Zweifel
Von MAX CONRADT
Noch nie ist es irgendwo einmal gelungen, einen Menschen, dessen Hirnaktivität erloschen war,
wieder ins Leben zurückzuholen. Dennoch gibt es jetzt erneut, überwiegend emotional bestimmt,
Zweifel an der Eindeutigkeit des Hirntodes. Und diese Zweifel an der Sicherheit der
Todesbestimmung haben die Bereitschaft zur Organspende wieder zurückgehen lassen.
Tatsächlich ist schwer verständlich zu machen, daß sich bei einem totgesagten Menschen, der da im
Krankenzimmer liegt, dennoch der Brustkorb unter der mechanischen Atemhilfe hebt und senkt, daß
der Körper noch warm, die Haut noch rosig ist - alles Zeichen von Leben. Schaltet der Arzt aber die
Mechanik aus, erlöschen augenblicklich diese vermeintlichen Lebenszeichen.
Man muß indessen Verständnis haben für Angehörige, die in einer solchen Situation am Bett eines
Verstorbenen stehen. Indem sie jedoch eine Organentnahme verweigern, helfen sie ihrem Toten nicht
mehr, verweigern aber einem anderen Todkranken, weiter leben zu können. In der Welt gibt es
Tausende, die mit fremden Organen leben, die sich wieder gesund fühlen. Sie belegen, daß die
Organtransplantation zu den segensreichsten Errungenschaften der modernen Medizin gehört." (HH
A 18.06.94)
"Bitte, spendet Organe!
Seehofers Appell an die Deutschen: `Solidarität über den Tod hinaus'
co/ap/dpa Bonn/Hamburg - Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) und
Bundesärztekammer-Präsident Karsten Vilmar haben die Bundesbürger eindringlich dazu
aufgerufen, Organe zu spenden. Seehofer sagte, dies sei `Solidarität über den Tod hinaus'. Der
Bedarf an Nieren, Herzen und Lebern sei nahezu doppelt so hoch wie die Zahl der erfolgten
Transplantationen. Nach den Diskussionen der vergangenen Wochen um ein Transplantationsgesetz
sei die grundsätzliche Bereitschaft zur Organspende in der Bevölkerung von 90 auf 70 Prozent
gesunken.
Seehofer betonte, die Bundesregierung werde in einem Transplantationsgesetz nur eine Lösung
mittragen, die das Selbstbestimmungsrecht der Bürger und ihr über den Tod hinaus fortwirkendes
214
Persönlichkeitsrecht achte. Ausschlaggebend sei der Wille des einzelnen oder, wenn keine Äußerung
zu Lebzeiten vorliege, der seiner Angehörigen. Die von ihm angestrebte `Informationslösung' sehe
vor, daß bei fehlender Willenserklärung des Verstorbenen den Angehörigen eine Frist von einigen
Stunden eingeräumt werde, in denen sie ihre Zustimmung zur Organentnahme geben oder
verweigern könnten.
Bislang aber hat der Bund keine Gesetzgebungskompetenz für eine umfassende Regelung des
Transplantationsrechts. Noch stehe die Zustimmung des Bundesrates zu einem Bündel von
Grundgesetzänderungen aus, von denen eine auch die Regelung der Organentnahme möglich machen
solle, sagte Seehofer. Bei Zustimmung des Bundesrates könne das Transplantationsgesetz als eines
der ersten Gesetze in der neuen Legislaturperiode verabschiedet werden. ...
Eingehend auf die Auseinandersetzung um die Frage, ob Organe auch wirklich nur bei Toten
entnommen werden, sagte Vilmar, erst wenn der Tod unwiderruflich eingetreten sei, würden Organe
entnommen.
Das bedeute den unumkehrbaren Stillstand von Herz und Kreislauf (Herztod) oder den
vollständigen und irreversiblen Ausfall des gesamten Gehirns trotz künstlich aufrechterhaltener
Herz- und Kreislauffunktion (Hirntod). Dies müßten zwei Ärzte feststellen, die nichts mit der
Transplantation zu tun hätten.
Seehofer erklärte, die Bundesrepublik sei im Eurotransplant-Verbund mittlerweile das Land mit der
niedrigsten Quote an Organspenden. Im ersten Halbjahr 1994 seien es 14,3 Organspender je eine
Million Einwohner gewesen. In Luxemburg waren es im gleichen Zeitraum 30, in Österreich 29,3
und in Belgien 22,6. `Wir sind schon seit vielen Jahren Organ-Importland, insbesondere für Nieren,
Herzen und Lebern', sagte der Minister.
In Brasilien nimmt der Organhandel immer brutalere Züge an. Ausländer adoptieren zum Schein
behinderte Kinder, um deren Augen, Lungen und Nieren meistbietend auf dem schwarzen MedizinMarkt zu verkaufen. Auf eine entsprechende Studie der Universität Brasilia machte gestern Radio
Vatikan aufmerksam. Oft verliere sich die Spur der Kinder. Wie viele von ihnen ermordet wurden,
ist nicht bekannt." (HH A 13.08.94)
„Transplantationen
Lange Warteliste
dpa Köln – Etwa jeder vierte Patient, der in Deutschland auf ein lebensrettendes Herz oder eine
Leber wartet, stirbt angesichts eines dramatischen Mangels an Organspenden innerhalb der
Wartezeit. Die Zahl der Sterbefälle auf der Warteliste wachse seit Jahren ... . Das im Dezember 1997
in Kraft getretene Transplantationsgesetz habe bisher nicht zu der erwarteten Zunahme von
Organspenden geführt. ...“ (HH A 17.03.99)
Nach bisher gültiger Rechtsauffassung verstieße es gegen die in Art. 1 GG als höchstem Verfassungswert angegebene Würde des Menschen, wenn menschliche Organe durch bezahlte Lebend»spenden« kommerzialisiert
würden, der Mensch sich zur Ware machen, der Körper zu einer handelbaren Ressource eines Verarmten würde.
Menschen würden aus verzweifelter Geldnot Organe »spenden«, Organe insbesondere aus der dritten Welt
gekauft werden. Beides bedeutete Ausbeutung in extremster physischer Form. Der Zugang zu den weiterhin
dringend benötigten Organen darf nicht zum Exklusivrecht Wohlhabender werden. In z.B. Belgien und
Österreich gilt im Todesfall durch eine widerlegliche gesetzliche Vermutung jeder als Organspender, der sich zu
Lebzeiten nicht ausdrücklich gegen die Organspende entschieden hat. Deutschland als bevölkerungsreichstes
Land Europas lebt mit seiner nicht effektiven Einwilligungslösung von Organen aus Ländern mit
Widerspruchslösung.
Aus dem ZEIT-Dossier „Operation Niere“ (05.12.02)
„... 160 000 Dollar hat er einem israelischen Geschäftsmann gezahlt, der das Organgeschäft
arrangierte. Er hätte den Handel auch in Südafrika, den USA oder Deutschland abwickeln können, ...
In den USA allerdings hätte er bis zu 250 000 Dollar für eine Niere zahlen müssen. Die Türkei ist
billiger. ...
Wohlhabende Dialysepatienten reisen um die Welt, um eine Niere zu kaufen, was ihnen zu Hause
bei Strafe verwehrt ist. Engländer und Deutsche fliegen nach Indien, Japaner in die USA,
Nordamerikaner nach Peru oder Brasilien. Der Handel ist professionell organisiert und wird häufig
als medizinischer Tourismus deklariert. ... ‚Arabische Transplantationspatienten zahlen zwischen
215
100 000 und 500 000 Dollar für die Operation’ heißt es in einem im Internet veröffentlichten
Werbebrief.
Pro Niere ein Gewinn bis zu 70 000 Dollar
In anderen Ländern werden die illegalen Geschäfte kaum verhüllt praktiziert, z.B. in Israel. Dort ist
der Kauf einer Niere so normal, dass mancher Kranker erst gar nicht die eigene Familie mit der Bitte
um eine Organspende belastet. ...
Auch die israelischen Krankenkassen sponsern Auslandstransplantationen – mit Billigung des
Gesundheitsministeriums. Auf Dauer ist die Dialyse teurer als eine Organverpflanzung mit ihren
Folgekosten. So erstatten die Kassen den Patienten den in Israel üblichen Kostensatz einer
Transplantation. ... die Krankenkassen betreiben keine Recherche, ob die Transplantation im
Ausland womöglich illegal war. ...
Dabei ist dieses Geschäft in Israel wie in allen Ländern der westlichen Welt verboten.
... Am Ende gab ihm [dem zur Organentnahme in die Türkei geflogenen Moldawier Nikolae; der
Autor] Jakob das Geld, 2800 Dollar. Versprochen hatte man ihm 3000, aber 200 Dollar wurden
davon für das Flugticket abgezogen.
Zu Hause kaufte er sich ein Häuschen: drei kleine Zimmer plus Garten, ein Fahrrad für den
sechsjährigen Sohn, ein bisschen Essen und Kleidung – dies alle für eine Niere. ... Gelegentlich hat
Nikolae Schmerzen an der Operationsnarbe. Doch für einen Arztbesuch fehlt das Geld. ... Nach der
Operation sieht ein moldawischer Nierenspender noch einmal einen Arzt, ...
‚Je ärmer ein potenzieller Verkäufer, umso wahrscheinlicher ist es, dass der Verkauf seiner Niere
jedes Risiko lohnt’, schrieb etwa die britische Philosophin Janet Radcliffe-Richards mit anderen
Autoren im Fachblatt The Lancet.“
„Todesstrafe für Organhändler
Kabul – Afghanistans Präsident Hamid Karsai will Handel mit Kinderorganen künftig mit der
Todesstrafe ahnden. Damit reagiert Karsai auf die steigende Zahl von Entführungen von Kindern,
denen dann Organe entnommen würden, um diese ins Ausland zu verkaufen. (rtr)“
(HH A
05.07.04)
Manchmal fällt es richtig schwer, aus grundsätzlichen Erwägungen heraus weiterhin gegen die
Todesstrafe zu sein!
2.7.4 Das GG als lebender (Rechts-)Organismus
Wenn sich der Magen nach der Lektüre des letzten Kapitels wieder etwas beruhigt hat, soll kurz auf die
angesprochene Grundgesetzänderung zur Umverteilung der Gesetzgebungskompetenz von den Ländern auf den
Bund eingegangen werden.
Das GG als Grundgesetzänderungen sind nichts Ungewöhnliches. Im Rahmen von 42 Änderungen und Ergänzungen wurden
seit Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai ("Verfassungstag") 1949 über 185 Artikel aufgehoben, neu
lebender
eingefügt oder - teilweise mehrfach - geändert. Das Grundgesetz kann als ein lebender (Rechts-) Organismus
(Rechts-)
Organismu begriffen werden. Und wie in einem Körper die zu erledigenden Aufgaben an die einzelnen Organe verteilt sind,
s
so sind auch im Grundgesetz die Zuständigkeiten zur Regelung der einzelnen Aufgaben an bestimmte
Staatsorgane verteilt.
2.7.5 Regelungen der Gesetzgebungskompetenz zwischen Bund und Ländern im
GG
216
Regelungen
der
Gesetzgebu
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nz
zwischen
Bund und
Ländern im
GG
Technisc
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bewirken
oft einen
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Was nun den (Teil-)Bereich der Gesetzgebungskompetenz anbelangt, sind – als Antwort auf den zentralistischen
Führerstaat der NS-Zeit - laut Artikel 70 I GG grundsätzlich zunächst einmal die Länder für die Gesetzgebung
innerhalb der Bundesrepublik zuständig. Doch von diesem Grundsatz ist bei Lichte besehen - abgesehen von der
Polizei-, Justiz- und Kulturverwaltungshoheit - nicht allzu viel übrig geblieben. Um u.a. gemäß Art. 72 II Nr. 3
GG die (grundsätzliche) Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik zu wahren, sind immer
mehr Kompetenzen von den Ländern auf den Bund übergegangen. Schließlich hat der Bund ja auch das meiste
Geld, und wer das Geld hat, der hat meist auch das Sagen. Das ist immer ein wichtiges Argument! So ist das
Gesetzgebungsverhältnis zwischen Bund und Ländern zu Ungunsten der Länder in eine beträchtliche Schieflage
geraten.
Der eben angesprochene Grundsatz der Ländergesetzgebungskompetenz besteht aber nicht für den Bereich der
in den Artikeln 71 und 73 GG geregelten ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes und nur eingeschränkt für
den Bereich der in den Artikeln 72, 74 und 74 a geregelten konkurrierenden Gesetzgebung. Dort haben die
Länder nur dann die Befugnis zur Gesetzgebungskompetenz gemäß Art. 72 I GG, "... solange und soweit der
Bund von seinem Gesetzgebungsrechte keinen Gebrauch macht". Besteht in diesem Bereich der konkurrierenden
Gesetzgebung ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung, geht das Gesetzgebungsrecht auf den Bund
über. Ähnlich verhält es sich mit der Rahmengesetzgebung des Bundes. Um Streit möglichst zu vermeiden auch eine ungemein wichtige Aufgabe des Rechts(!), das die Regelung von Fragen und Problemen mit
rechtlichem Gehalt von vornherein berechenbar machen soll -, ist in Katalogen geregelt, welcher Bereich in
welche Schublade fällt. Dabei hat sich die von der Idee her größte Schublade "Länderkompetenz" ständig weiter
geleert. Aber neue Anforderungen, an die früher niemand gedacht hat, weil sie nach damaligem Wissensstand
einfach nicht vorstellbar oder bis dato politisch nicht gewollt waren – nehmen wir als eines der letzten die
Bevölkerung der Bundesrepublik bewegenden Beispiele die im Schnellverfahren erlassenen unterschiedlichen
Kampfhundeverordnungen der Länder, nach denen ein und derselbe Hund, wenn er von der Familie in den
Urlaub mitgenommen und im Auto vom Norden Deutschlands in den Süden transportiert wird in manchen
Bundesländern sofort getötet werden müsste, in anderen weiterleben darf -, füllen die Länderschublade
unversehens immer einmal wieder mit einigen Krumen auf. Nachdem Organtransplantationen zum dringlichen
Alltagsgeschäft gehören und einige Länder mit eigenen Gesetzesvorlagen unterschiedlichen Inhalts tätig
geworden waren, besteht das Bedürfnis nach einer bundeseinheitlichen Regelung dieses Bereiches. Aber dem
Bund sind zunächst die Hände gebunden, denn dieser Bereich gehört, wie ein Blick in die grundgesetzlichen
Gesetzgebungskompetenz-Kataloge zeigt, zunächst nicht zu dem Bereich des Bundes. Und schon nimmt der
Bund diese Kompetenzkrume - mit erforderlicher Zustimmung der Länder - aus der Länderschublade bald
wieder heraus.
2.7.6 Technische Neuerungen bewirken oft einen juristischen Regelungsbedarf
Jeglicher technische Fortschritt bringt stets Gefahren mit sich, nicht nur im Bereich der Biomedizin. Das ist eine
Binsenweisheit. In allen Lebensbereichen wurden immer wieder neue bedeutende Entdeckungen gemacht, die
geregelt werden mussten. Daraus ergibt sich für die Gesellschaft: Je größer der Fortschritt in einem
Wissensbereich, desto größer ist meistens auch der juristische Regelungsbedarf, um bei gefahrgeneigter Technik
die Grenzen dessen abzustecken, was „die Moral“, die jeweilige gesellschaftliche Wertordnung der Wissenschaft
an Freiraum gestatten will. Nicht ohne Grund wurde in Art. 5 III GG geregelt:
„Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von
der Treue zur Verfassung.“,
womit deren Wertordnung gemeint ist; nur durch sie kann die Freiheit von Kunst, Wissenschaft, Forschung und
Lehre eingeschränkt werden. Vor der Spaltung des Atoms bestand keine Notwendigkeit zur Schaffung eines
Atomgesetzes. Seit der Nutzung der Kernenergie im großen Stil musste versucht werden, diese ungeheure
Gefahrenquelle für eine unabsehbare Vielzahl von Menschen - erinnert sei an Tschernobyl und andere
Kernkraftwerkshavarien wie in Harrisburg und anderswo sowie an den aufgekommenen Plutoniumschmuggel durch strengste Sicherheitsauflagen wenigstens juristisch ein wenig zu entschärfen. Das übernehmen dann die
Juristen der Exekutive, indem sie Entwürfe erstellen, bei deren Erarbeitung sie sich von (meist
interessegebundenen) Lobbyisten beraten lassen. Durch im Sinne seiner Arbeit- oder Auftraggeber günstige
Einflussnahme auf den zu schaffenden Gesetzeswortlaut der Entwürfe (mittels z.B. der Festsetzung hoher
Grenzwerte) kann sich ein Lobbyist, der nach der Maxime handelt: „Klage, ohne (vorher) zu leiden!“, sehr
"verdient" machen!
217
Aktuellstes Beispiel für die Einschränkung der Forschung durch die Wertordnung der Verfassung war die
Forschung an embryonalen Stammzellen. Sie war zwar in anderen Ländern erlaubt, in der Bundesrepublik bis
Ende 2002 aber nicht, weil darin – unter dem Einfluss der Kirchen? - von der Mehrheit der deutschen
Parlamentarier und vielleicht auch von dem BVerfG, das sich aber noch nicht zu diesem Problempunkt geäußert
hat, ein Verstoß gegen die nicht in allen Einzelheiten genau festgelegte und daher interpretier- und wandelbare
Wertordnung des Grundgesetzes gesehen worden war.
2.7.7 BVerfG als "juristische Notbremse" unterlegener Politiker
Diese oftmals im Zusammenwirken zwischen Lobbyisten und Ministerialbürokratie erstellten Entwürfe gehen
anschließend in den Rechtsausschuss, und zuletzt schlägt die Stunde der in der Legislative (gesetzgebenden
Gewalt) versammelten Politiker - wenn nicht danach einige mit der neuen gesetzlichen Regelung unzufriedene,
BVerfG als im parlamentarischen Ringen unterlegene Politiker die Judikative (rechtsprechende Gewalt) in Form des
"juristische Bundesverfassungsgerichts anrufen, das dann (wenigstens für einige Zeit) verbindlich feststellt, was Sache sein
Notbremse" soll. Diese Bestrebungen des Ziehens der juristischen Notbremse durch bei der Abstimmung nach der dritten
unterlegene Lesung unterlegene Politiker und die daraufhin gefällten Entscheidungen können sich - wie z.B. im Falle der
r Politiker
vielen versuchten Neuregelungen des § 218 StGB - ohne weiteres gegen das Rechtsempfinden der Mehrheit des
Volkes richten. Das demokratische Mehrheitsprinzip wird in einem solchen Falle durch das BVerfG
institutionell konterkariert.
Die hierauf vom BVerfG getroffenen Entscheidungen müssen aber auch nicht immer der Weisheit letzter
Schluss sein! Sonst hätte nicht ein ehemaliger Präsident unseres obersten Gerichts, Prof. Zeidler, unumwunden
zugegeben: "Auch das Verfassungsgericht irrt."
Mancher unterlegene Politiker hat der parlamentarischen Mehrheit schon zugerufen: „In Karlsruhe sehen wir uns
wieder!“ Und wenn die Ansicht der parlamentarischen Regierungsmehrheit dann in Karlsruhe unterlag, dann
erfüllte das die Regierungspolitiker manchmal mit maßlosem Zorn, den einige nicht bändigen konnten, so dass
z.B. der Bundesminister Wehner (SPD) 1973 kundtat: „Wir lassen uns die Ostpolitik nicht von den acht
Arschlöchern in Karlsruhe kaputt machen!“ So sehr hatte ihn die von den Verfassungsrichtern erzwungene
Gesetzesmakulaturproduktion in den Harnisch gebracht. Ähnlich abfällig hatte sich schon 1952 der
Bundesjustizminister Dehler (FDP) geäußert, der dem BVerfG vorgeworfen hatte, es führe sich als
„Vorgesetzter des Parlaments“ auf, und er war zu dem Schluss gelangt, dass man „wegen eines solchen
Gremiums Deutschland nicht vor die Hunde gehen lassen“ könne.
Die Anrüpeleien von Seiten der Exekutivorgane unterblieben erst (für einige Zeit: bis der Bayerische
Ministerpräsident Stoiber mit Schaum vor dem Mund offen zum Widerstand gegen das „Kruzifix-Urteil“
aufrief), als der Präsident des BVerfGs sich entschieden zur Wehr setzte und auf die ihm zugetragene WehnerÄußerung hin den Politikern – ohne Nennung des Anlasses - ins Stammbuch schrieb: „Kein (anderes)
Verfassungsorgan ist berechtigt und autorisiert, ein vom BVerfG ergangenes Urteil als nicht rechtens
abzuqualifizieren!“
2.7.8 Beispiele für juristischen Regelungsbedarf aus dem Bereich der Biomedizin
Doch noch einmal zurück zum Bereich der Medizin, wo sich für die Öffentlichkeit mit am offensichtlichsten
regelungsbedürftige Neuerungen ergeben, insbesondere wenn Schlüsselfragen der Spezies Mensch juristisch
geregelt werden müssen. Dann müssen viele Teilaspekte aus den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen zusammen gebracht werden, um eine gesellschaftlich akzeptierte Lösung zu erarbeiten. Wenn Biologen
oder Mediziner durch ihre Forschungen eine Tür nach der anderen zu einer neuen Erkenntnis aufgestoßen haben
und die Folgen ihres Tuns absehbar sind, dann muss gefragt werden, ob der sich andeutende Weg beschritten
werden soll. Mit den Biologen und Medizinern arbeiten dann Theologen, Philosophen, Juristen und
insbesondere die Ethiker zusammen, die sich auf die ethische Überprüfung medizinischer Sachverhalte
spezialisiert haben, die Bioethiker.
Bioethik beschäftigt sich mit den sittlichen Fragen von Geburt, Heilung, Leben und Tod im Lichte des
biomedizinischen technologischen Fortschritts. Umstritten sind dabei insbesondere Themen wie künstliche
Zeugung im Bereich der frühen Humanembryologie, die Diagnose von Erbkrankheiten noch vor
Schwangerschaft durch Präimplantationsdiagnostik (PID) oder vor der Geburt, die diagnostische und
therapeutische Verwertung der Erkenntnisse über das menschliche Genom für die Zeugung gesunder Kinder
oder die Züchtung von Ersatzorganen, die Rechtfertigung des Schwangerschaftsabbruchs, im Sinne einer Ethik
218
des Helfens und Heilens die Entnahme von Organen Hirntoter oder, besonders sensibel, das Gebiet der aktiven
Sterbehilfe.
Tief greifende Konflikte zwischen eher pragmatisch denkenden und handelnden Ärzten und Biologen einerseits
und teilweise fundamentalistisch denkenden und argumentierenden insbesondere Theologen und Ethikern sind
dabei in der Sache angelegt. Aufgabe der Politik ist es, unter Assistenz der Juristen die in der Gesellschaft
vertretenen unterschiedlichen Positionen in einer sozialverträglichen Weise auszugleichen, denn radikale
weltanschauliche Entscheidungen würden einer offenen, moralisch pluralen, demokratischen Gesellschaft nicht
gerecht. Dabei ist absehbar, dass eine gesellschaftliche Gruppe, die in diesen Entscheidungsprozessen unterliegt,
sich zum BVerfG flüchten wird, um die von ihr als verhängnisvoll eingestufte Entwicklung trotz ihrer
gesellschaftlichen Minderheitenposition doch noch stoppen zu können.
Die Diskussion war bislang gekennzeichnet durch weltanschauliche Kontroversen zwischen einer mehr
pragmatischen Richtung, die Chancen und Risiken der Biomedizin rational abzuwägen trachtet, im Gegensatz zu
einer grundsätzlich argumentierenden Richtung, die ein Menschenbild – behauptet wird: des Grundgesetzes; das
aber nicht so eindeutig festgelegt ist, so dass sich hinter dem Schutzwall Grundgesetz das eigene, meist religiös
beeinflusste Menschenbild des mit dem Grundgesetz Winkenden verbirgt - gegen vermeintlich viel zu
technikgläubigen und zudem kommerziell motivierten Fortschrittsoptimismus zu verteidigen trachtet.
Die Ausgangsfragestellung aller dieser Überlegungen lautet: Darf die Medizin alles das tun, was sie schon jetzt
oder – noch gefährlicher – in baldiger Zukunft kann?
Sicher darf die Medizin kinderlosen Ehepaaren grundsätzlich bei der Verwirklichung ihres Kinderwunsches
helfen – inzwischen angesichts der ständig weiter sinkenden Fruchtbarkeit auf Grund der durch
Umweltbelastungen beängstigend abgenommenen Spermiendichte und der zunehmenden Intersexualität11 eine
pure Notwendigkeit: Allein in Deutschland versuchen 50.000-60.000 Frauen jährlich durch In-vitro-Fertilisation
ihren Kinderwunsch erfüllt zu bekommen, teilweise in fünf, sechs, sieben und mehr Anläufen - die zur Sucht
werden können -, weil im Mittelwert bisher nur jede dritte künstliche Befruchtung gelingt.
Seit der 2004 in Kraft getretenen Gesundheitsreform müssen Frauen/Paare, die eine künstliche Befruchtung
vornehmen lassen wollen, mindestens die Hälfte der Kosten eines solchen Eingriffs selber tragen. Die Kassen
beteiligen sich nunmehr maximal an den Kosten dreier Versuche. Wurden bis 2004 meistens zwei Embryonen
eingesetzt – der zweite ist oft der »Starter« für den gesamten Vorgang, denn wenn zwei Embryonen eingesetzt
werden, verdoppelt sich die Erfolgsquote -, lassen sich viele Frauen jetzt gleich die in Deutschland gesetzlich
maximal mögliche Anzahl von drei Embryonen einsetzen, um – wie sie hoffen – größere Erfolgsaussichten zu
haben und so die Kosten einiger Fehlversuche zu sparen. Doch nur bei Frauen ab 35 wirkt sich der dritte
Embryo erfolgssteigernd aus. Jede vierte Labor-Zeugung führt zu einer Mehrlingsschwangerschaft Und das,
obwohl Mehrlingsschwangerschaften riskanter sind als eine übliche Ein-Kind-Schwangerschaft, denn die
Gefahr, eines der Kinder vor der Geburt zu verlieren, liegt bei Zwillingen bei fast sechs Prozent und damit rund
viermal höher als bei Ein-Kind-Schwangerschaften. Bei Drillingen gibt es sogar in beinahe jedem zehnten Fall
eine Totgeburt, was bei den betroffenen Frauen eine erhöhte Gefahr der Erkrankung an Depressionen,
Bluthochdruck oder Diabetes führt. Drillinge kommen darüber hinaus in 90 % der Fälle als Frühchen zur Welt.
Durch die hohe Selbstbeteiligung halbierte sich die Anzahl der in Deutschland künstlich gezeugten Babys von
20.000 auf 10.000 pro Jahr. Um die mit den Mehrlingsschwangerschaften verbundenen Probleme besser
handhaben
zu
können,
fordern
Fortpflanzungsmediziner
eine
Dringlichkeitsänderung
des
Embryonenschutzgesetzes dahingehend, dass eine größere Anzahl von Embryonen künstlich befruchtet werden
dürfe: wie in Schweden und Österreich praktiziert, wählen die Reproduktionsmediziner aus einer Reihe von
11
Durch die Verwendung von billig(er)en Kunststoffweichmachern und deren Eintrag in Seen, Flüsse und Meere, durch
vom Regen in die Felder gewaschene Pflanzenschutzmittel und durch die zunehmende Hormonbelastung des
Grundwassers durch Urin aus der zu lange mit verbotenen Mitteln gearbeitet habenden oder noch damit arbeitenden
Tiermast und der die Pille nehmenden Frauen verändert sich die Geschlechtsausbildung weltweit: Tiere wie z.B.
Krokodile beginnen zu verweiblichen, es entstehen zur Fortpflanzung nicht mehr fähige Eisbär-Zwitterwesen, … Solch
eine Entwicklung geht natürlich am Tier Mensch, das das alles verursacht hat, auch nicht spurlos vorbei. Bei jeder
2.000sten Geburt, ca. 400 im Jahr, können Ärzte nicht mehr entscheiden, ob es sich um ein männliches oder weibliches
Kind handelt. Dieses intersexuelle „3. Geschlecht“ in den verschiedensten Formen des Hermaphroditismus hat z.B. einen
männlichen Chromosomensatz plus(!) einer kleinen Gebärmutter. Wenn sogar die Geschlechtsausbildung durch die
Umweltbelastung in so starkem Maße beeinflusst wird, dann ist klar, dass auch die männliche Fruchtbarkeit zunehmend
durch eine Reduzierung der Spermienbildung in Mitleidenschaft gezogen wird. Als Samenspender kommen – im
Gegensatz zu früheren Vorstellungen – nunmehr vermehrt ältere(!) Männer in Betracht, weil deren Spermienbildung noch
nicht so stark durch Umweltbelastungen gestört ist: Frauen mit dem Wunsch nach gesunden Kindern müssten sich also
vermehrt in Richtung älterer Männer orientieren! (Und so kommen Männer wie ich wieder »ins Gespräch«.)
219
künstlich gezeugten Embryonen nach rund fünf Tagen denjenigen Zellklumpen aus, der sich am besten
entwickelt hat und dessen Einnistung daher am wahrscheinlichsten erscheint. Die Chance auf eine
Schwangerschaft ist bei diesem Vorgehen in etwa so hoch, wie bei beim Transfer von zwei nicht selektierten
Embryonen. Die Gefahren von Mehrlingsschwangerschaften werden so aber vermieden. Da einige Länder, wie
u.a. das katholisch geprägte Spanien, sogar eine Untersuchung der Gene auf Erbkrankheiten erlauben, wird
dadurch die Chance auf ein gesundes Kind wesentlich erhöht. In Deutschland aber, dem Land der ethischen
Bedenkenträger, wird unter ethischen und religiösen Gesichtspunkten gewichtig diskutiert, nach welchen
Kriterien eine Auswahl eines Embryos getroffen werden dürfte und was mit den anderen Zellklumpen geschehen
soll, die in Schweden zur Forschung freigegeben werden und in anderen Ländern vermutlich in den Müll
kommen.
„Diese Techniken sind möglich
. Insemination: Zum Zeitpunkt des Eisprungs wird aufbereitetes Sperma in die Gebärmutter gespritzt.
. Künstliche Befruchtung (In-vitro-Fertilisation, IVF): Für eine künstliche Befruchtung
(Reagenzglasbefruchtung) bekommt die Ehefrau Hormone, so daß mehrere Eibläschen in einem
Zyklus heranreifen. Diese werden durch die Scheide (mit oder ohne Narkose) abpunktiert.
Im Reagenzglas werden die Eizellen dann mit den Spermien des Ehemannes vermischt. Etwa drei
Tage später werden bis zu drei Embryonen in die Gebärmutter eingesetzt.
. ICSI-Therapie (Intracytoplasmatische Spermieninjektion): Die Vorbehandlung ist dieselbe wie bei
IVF. Im Labor werden die Spermien aber gezielt in jede Eizelle eingebracht.
. TESE-Therapie (testikuläre Sperma-Extraktion): Diese Behandlung wird eingesetzt, wenn keine
Spermien im Ejakulat vorhanden sind. Die Spermien werden mit dieser Methode direkt aus dem
Hodengewebe gewonnen und dann für ICSI genutzt. (ang)“ (HH A 24.11.04)
Beispiele
für
juristische
n
Regelungs
bedarf aus
dem
Bereich
der
Medizin
„Fakten aus dem IVF-Register 2003
Wie viele künstliche Befruchtungen mit welchem Erfolg in Deutschland durchgeführt worden sind,
wurde auf dem 18. Jahrestreffen der deutschen IVF-Zentren vergangene Woche in Hannover
berichtet. Dort wurde der Jahresbericht 2003 des Deutschen IVF-Registers vorgestellt, der die Arbeit
der insgesamt 116 Zentren in Deutschland erfaßt.
Demnach wurden 2003 insgesamt 63 111 Frauen behandelt, das waren rund 10 000 Frauen mehr als
im Jahr 2002.
Insgesamt wurden im IVF-Register 107 675 Behandlungen erfaßt. 89 016 Behandlungen wurden
auch eingeleitet, 81 042mal wurden Eizellen entnommen. Diese Zahl dokumentiert, daß einige
Frauen mehrfach behandelt wurden. Mittels Reagenzglasbefruchtung wurden 9197 Kinder geboren,
rund 1500 mehr als 2002. Insgesamt gab es mehr als 2200 Mehrlingsgeburten, darunter sechsmal
Vierlinge. 3924 Schwangerschaften endeten mit einer Fehlgeburt.
Außerdem waren noch 7170 Frauen schwanger, als das IVF-Register erstellt wurde. (ang)“
(HH A 24.11.04)
Nach der Gesundheitsreform 2004 werden von den gesetzlichen Krankenkassen nur noch drei Versuche gezahlt.
Trotzdem wird bereits jedes 80. Kind in der Petrischale gezeugt. Und dabei können gravierende Fehler
entstehen, die dann in schweren juristischen Entscheidungen aufgearbeitet werden müssen:
Wechselfälle des Schicksals
Ärzte setzten einer Mutter falschen Embryo ein: Eine Million Dollar Schadenersatz
von Ulli Kulke
Berlin - Nur wenige Minuten nach ihrem Eingriff an Susan Buchweitz war den beiden Ärzten klar:
Sie haben soeben einen folgenschweren Fehler begangen. Doch die zwei Doktoren in San Francisco
hielten dicht. Und es ist nicht mal einfach, sie dafür moralisch zu verurteilen. Jetzt wurde ihre Klinik
zu einer Million Dollar Schadenersatz verurteilt.
Es war im Sommer 2000, als die Dekorateurin sich in einer gynäkologischen Klinik einen Embryo
einsetzen lassen wollte. Der Vater: ein unbekannter Samenspender. Schon lange hatte die 47-Jährige
sich vergeblich um eine Schwangerschaft bemüht, vielleicht sollte es ihr letzter Versuch sein.
Gleichzeitig war noch ein Ehepaar anwesend, zwecks künstlicher Befruchtung mit fremder Eizelle.
Neun Monate später bekam Buchweitz einen gesunden Sohn, die Ehefrau gebar glücklich eine
Tochter. Doch als beide Kinder zehn Monate alt waren, kam der einschneidende Anruf: Eine
220
ehemalige Klinikangestellte hatte ausgepackt, verraten, dass die Embryonen vertauscht worden
waren. Sofort gestanden die Ärzte, meinten aber, sie hätten bei aller Abwägung verhindern wollen,
dass Buchweitz abtreibt, und geschwiegen - eine Haltung, die vor Gericht sogar akzeptiert wurde.
Auch die allein stehende Mutter hätte sich in ihre - genetisch - falsche Mutterschaft gefügt. Doch das
Ehepaar, nun ebenfalls erschüttert, klagte vor Gericht auf das Sorgerecht für seinen Sohn; Buchweitz'
Anwaltsrechnungen türmten sich, sie musste die Klinik verklagen, bekam am Dienstag die Million
zugesprochen. Und nun?
Ähnliche Fehler wurden nur drei Mal bekannt. Zwei Mal in London, darunter eine weiße Frau mit
zwei schwarzen Zwillingen sowie ein "Ringtausch" mit drei betroffenen Frauen, und ein Mal in New
York, wo eine weiße Frau Zwillinge gebar: ein leibliches Baby und einen nicht verwandten
schwarzen Sohn.
Nicht verwandt? Das ist die Frage, und so gibt sich das Gericht in San Francisco in Sachen
Sorgerecht erst mal ratlos, gestattete vorläufig einen Besuch alle zwei Wochen. "Eine merkwürdige
Situation", findet die Gebär-Mutter, "es steht in keinem Psychologiebuch, wie man damit umgehen
soll." Nach deutschem Recht ist die leibliche Mutter diejenige, die das Kind geboren hat. Weder
Leihmütter noch Eizellenspenden sind bei uns erlaubt, so ist die Regelung unproblematisch - bis der
Arzt danebengreift.
(DIE Welt, 05. 08.04)
Darf zur Erfüllung des Kinderwunsches jedes Mittel angewandt werden? (Bisher) Sicher nicht, auch wenn das
manche Evolutionsbiologen auf Grund der rasanten Fortschritte auf diesem Gebiet zukünftig möglicherweise
anders sehen mögen. Der Evolutionsbiologe Robin Baker, der sich nach Aufgabe seines Lehrstuhls in
Manchester ganz der Schriftstellerei über sein Fachgebiet gewidmet hat, schreibt in „Sex im 21. Jahrhundert /
Der Urtrieb und die moderne Technik“ im Kapitel „Menschenwürde, der Wille der Götter und andere
Belanglosigkeiten“ (S. 402 ff) mit Blick auf die Fortpflanzung im 21. Jahrhundert und die damit verbundenen
rechtlichen Probleme: „Die Widersprüchlichkeit der Meinungen, die von der Öffentlichkeit, von Juristen und
von Theologen in der Frage vertreten werden, was natürlich sei und was nicht, ist zum Schreien. Der Begriff des
Natürlichen bietet keine Grundlage, um uns eine Meinung zur Zukunft zu bilden. Nur wer unbekleidet geht, sich
nie rasiert, keine Deodorantien benutzt, nie Kontrazeptiva verwendet und als Frau alle Kinder stillt, bis sie sich
von selbst entwöhnen, kann ohne Heuchelei die Fortpflanzungstechnik der Zukunft mit der Begründung
ablehnen, sie sei unnatürlich. Der Kniefall vor der Natur ist eindeutig keine Position, von der aus man die
Zukunft der Fortpflanzung ablehnen kann. ... Wenn ... mit Menschenwürde und dem Willen von Göttern
argumentiert wird, sagt mir das nichts. Hinzu kommt noch, daß verschiedene Götter Verschiedenes wollen,
verschiedene Propheten Verschiedenes lehren und verschiedene Theologen verschiedene Interpretationen haben.
Und es weckt nicht gerade Vertrauen, daß die alten Propheten, deren Worte für uns interpretiert werden, nie von
Spermien oder Genen gehört haben und daß die Interpreten oft Junggesellen sind. ... Ich will nur eine
Einschätzung von dem kaum faßbaren Wortgeklingel vermitteln, das Philosophen und Theologen lediglich dazu
dient, emotionale Vorurteile zu rechtfertigen. Im Streit um die Fortschritte der Fortpflanzungstechnik geht es
vielfach um Rechte der Menschen. Die zentrale Frage ist, ob die Menschen ungeachtet ihrer Lebensumstände
das Recht auf Fortpflanzung haben. Unsere ganze Evolutionsgeschichte war von der Natur diktiert, und folglich
hatten die Menschen kein Recht auf Fortpflanzung. Die Situation war eindeutig, weil es keine Alternative gab.
Wer konnte, pflanzte sich fort, wer nicht konnte, nicht. Von Rechten war keine Rede. Die moderne Technik hat
jedoch eine Alternative geschaffen, und die Gesellschaft hat ein Recht in den Raum gestellt. Jetzt könnte sich
jeder fortpflanzen, wenn er nur Zugang zur Technik erhielte – so wird sich die Situation jedenfalls im Jahr 2010
darstellen. Natürlich hat der Staat die Macht, den Menschen ein solches Recht streitig zu machen. Je nachdem,
welche Technik unter das Verbot fällt, wird ein bestimmter Teil der unfruchtbaren Bevölkerungsgruppe von der
Fortpflanzung ausgeschlossen. Wenn man zum Beispiel die Leihmutterschaft verbietet, sind Frauen, die kein
Kind austragen können, für immer zur Kinderlosigkeit verdammt. Genauso ergeht es denen, die keine Gameten
[weibliche oder männliche Sexualzellen (Eizellen oder Spermatozoiden); der Verf.] ausbilden können, wenn das
Klonen und der Kerntransfer verboten werden. Aber hat die Gesellschaft als solche überhaupt das Recht, einem
bestimmten Teil der unfruchtbaren Bevölkerungsgruppe die Freuden der Elternschaft zu versagen und sie einem
anderen zu gewähren? Das kann man bezweifeln, besonders wenn nicht mehr dahinter steckt als diffuse
Vorstellungen von Würde, von göttlicher Lenkung und von Natürlichkeit oder, was auch vorkommt, eine bloße
Phobie gegen Individuen, die wegen der neuartigen Technik ihrer Zeugung nicht recht einzuordnen sind.“
Doch insbesondere das Klonen birgt – bis jetzt? - zu viele Gefahren! Da hat der Gesetzgeber nach meiner
evolutionsbiologischen Laienmeinung Grenzen zu setzen, damit die Medizin nicht alles das tut, was sie heute
221
schon kann. Das sieht der Evolutionsbiologe Baker anders: „Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß
Klonen einmal zur menschlichen Fortpflanzung als eine der zahlreichen Optionen, die künftigen Generationen
offen stehen werden, gehören wird. Vielleicht muß man ihm aber erst einmal einen Namen geben, der weniger
Emotionen schürt. Wie wäre es zum Beispiel mit »künstlicher Zwillingszeugung«?“12 Baker sieht zwei
herausragende Fallkonstellationen, die seiner Meinung nach dem Klonen letztlich zum Durchbruch verhelfen
werden: Wenn Eltern ihr geliebtes Kind in jungen Jahren durch einen tragischen Unfall verlieren und
herzbewegend darum bitten, „dem Körper ihres Kindes noch lebende Zellen zu entnehmen, damit sie geklont
und als ihr nächstes Kind, als Zwilling des toten Kindes, weiterleben können, wird man sich dieser
verständlichen Bitte kaum verschließe
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