Basisgemeinden - Fachtagung Weltkirche

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Gipfel und Quelle
Von P. Franz Helm SVD
Aus: Aus „Alle Welt“ Nummer Jänner/Februar 1998:
"Eucharistische Hungersnot": Millionen Katholiken weltweit müssen auf die Sonntagsmesse verzichten, weil es an Priestern fehlt. P. Franz Helm
SVD schildert, wie sie trotzdem feiern.
Schrecksekunden gehören zum Leben eines jungen Priesters. Als ich im Jahre 1987, frisch von der Uni, meinen Dienst in der Pfarre São Sebastião im
Bundesstaat Rio de Janeiro antrat, hatte ich eine solche zu verdauen: 100.000 Einwohner, davon über 80 % Katholiken in 28 Gemeinden. Und wir waren nur
drei Priester! Ich sah mich im Geiste schon Sonntag für Sonntag acht Messen zelebrieren. Mein Mitbruder "beruhigte" mich: "Nein, wir haben jeder drei,
höchstens vier Messen. Jede Gemeinde hat nur einmal im Monat Messe."
Es war wohl als Trost gedacht, doch für mich war es ein weiterer Schock. Hatte ich doch gelernt, daß die Eucharistie "Gipfel und Quelle" des christlichen
Lebens ist. Konnten wir sie den Leuten einfach vorenthalten? Andererseits – vier Messen sind wirklich das Maximum; ich merkte oft, daß schon vor der
vierten Messe meine Konzentration stark nachließ und ich Schwierigkeiten hatte, ganz dabei zu sein.
Dona Alice von der Basisgemeinde Boa Sorte fragte mich einmal: "Warum können wir nicht die Eucharistie miteinander feiern? Wir treffen uns jeden Sonntag
zum Gottesdienst, lesen aus der Hl. Schrift und suchen darin Weisung für unser Leben, bitten Gott um Vergebung, bringen ihm unsere Gaben. Warum kann
Moacir nicht die Wandlungsworte sprechen? Weil er verheiratet ist und nicht studiert hat? Ich verstehe ihn viel besser als dich oder den Pfarrer, wenn er das
Wort Gottes für uns auslegt!" Ich wußte keine Antwort, die Dona Alice befriedigt hätte.
Es müßte sich etwas ändern. In manchen Gemeinden machen sich Sekten und Freikirchen breit. Ihre Pastoren sind nach einem theologischen
Schnellsiedekurs gleich einmal in Amt und Würden. Statt den tiefen Durst der Menschen nach dem Heiligen zu stillen, verteilen sie oft nur kleine
Durstlöscher. Die Beauftragung von Laien in der katholischen Kirche mit dem Amt des Taufspenders, des Vorstehers bei Trauungen oder bei
Wortgottesdiensten ist ein wichtiger Schritt. Aber solange den Menschen die Eucharistie vorenthalten ist, fehlen ihnen "Gipfel und Quelle".
Solange müssen sie sich bescheiden und andere Wege suchen. Wie die TeilnehmerInnen an einem Theologiekurs in São Paulo, die Gottesdienste aus den
verschiedenen Liturgie-Epochen unseres Jahrhunderts szenisch darstellten, um ihre Situation zu verdeutlichen: vor dem Konzil, nach der liturgischen
Erneuerung und in den Basisgemeinden.
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Eine erste Gruppe betete den Rosenkranz, während jemand vorne unverständliche Gebete sprach. Als es läutete, knieten alle nieder. Der
Rosenkranz wurde unterbrochen. Nachher ging der Rosenkranz wieder weiter, bis zur Kommunion.
Eine zweite Szene stellte die "erneuerte Liturgie" dar. Die Leute taten zwar mit beim Singen, Antworten, trugen Lesung und Fürbitten vor. Aber
alles hing am Priester, an seiner Predigt und seinem Vorbeten.
Für die dritte Gruppe eröffnete eine Vorsteherin die Feier und forderte dazu auf, das Wort Gottes zu bringen. Ein Mann tanzte mit einer Schale
herein, auf der ein Feuer loderte, eine Frau mit der Bibel. Die Leute klatschten und sangen fröhlich mit. Dann wurde das Wort Gottes verlesen.
Es folgte ein lebendiges Gespräch, in das sich fast alle einbrachten. Dann wurden Symbole vorgezeigt: Ketten, Stacheldraht, Steine – Zeichen
für die Sünde und das Böse. An die Vergebungsbitte schlossen sich Fürbitten an für ganz konkrete Nöte der Leute. Das alles mündete in einen
weiteren Tanz: Die Gabenbereitung. Blumen, Früchte, Gemüse, Brot und Wein wurden auf den Altar gelegt. Es folgte ein Dankgebet für die
Gaben, die Gott schenkt, und eine Bitte darum, sie recht nach seinem Willen zu gebrauchen zum Aufbau seines Reiches. Nach dem Vater Unser
und dem Friedensgruß mit vielen Umarmungen kam am Schluß eine fröhliche Agape.
Die "Wandlung" fehlte. Es war keine "Eucharistiefeier" mehr. Aber die Teilnehmer suchten danach, trotzdem "Gipfel und Quelle" ihres Glaubens und ihres
Lebens zu feiern. Von dieser Suche schrieb mir auch eine Bekannte aus Brasilia:
"Ich bin auf einem Liturgietreffen. Etwas Verrücktes und Gewagtes. Wir träumen von einer neuen Kirche, wo wir Anrecht haben zu singen, zu tanzen, von
unserem Leben zu reden, uns in unserer Kultur auszudrücken; wo die Frauen, die Laien, das Volk mehr geschätzt werden, wo Schwarze und Indianer, wo die
Kinder respektiert werden! Zusammen wollen wir Alternativen suchen und ausprobieren, die über die traditionellen Modelle hinausgehen.
Wir sind beseelt vom großen Glauben an den Gott der Befreiung. Er gibt mir die Hoffnung, daß eine neue Welt anbrechen wird. So wünsche ich Dir, daß
auch Du trunken wirst vom Wein der Hoffnung, des Festes, des Traumes!"
Aus: Alle Welt Mai-Juni 2001, „Das Kind aus dem Ei“
Es gibt Christen, die wehren sich gegen eine Auszehrung des christlichen Glaubens durch
Marktgesetze und mörderische Ideologien. So rief der katholische Bischof Pedro Casaldáliga
beim 10. Basisgemeindetreffen im Jahr 2000 in Ilheus aus: „Der Neoliberalismus verschlingt
Millionen von Menschen, Söhne und Töchter des lebendigen Gottes! Wir sind ausgeschlossen
aus diesem Imperium, aber wir sind eingeschlossen in Gottes Reich. Wir haben seine Herrlichkeit gesehen, in der Erniedrigung, im Kreuz - die ohnmächtige Liebe Gottes. Nur aus dem
Kleinsein, aus dem Tod, ersteht neu das Leben.“
Die Vorliebe Gottes für die Armen und Leidenden wurde in einer Liturgie gefeiert, die aus
den Wurzeln der Völker Brasiliens genauso schöpfte wie aus dem Leben der
Ausgeschlossenen: ein Feuerwerk von Ideen und starken Symbolen, die Mystik und das
Ringen um Gerechtigkeit zum Ausdruck brachten. Berührungsängste zu den religiösen
Praktiken der Indianer und Afrobrasilianer gab es nicht - ein Weihrauchopfer für die Ahnen
kam ebenso zu liturgischen Ehren wie Tänze von Pajé (Indianer-Priester), deren Beitrag für
viele Teilnehmer sehr fremd wirkte, aber wohlwollend aufgenommen wurde. Ist doch an der
Basis Lateinamerikas ein Wir-Gefühl zu spüren: Menschen verschiedener Religionen, die alle
an den Gott des Lebens glauben, tun sich zusammen zur Verteidigung des Lebens.
Denn ein Leben in Fülle hat der Herr uns verheißen: Das Wort Gottes wurde mit Kerzen und
Flammenschalen unter begeistertem Klatschen der Menge hereingetanzt und dann feierlich
verlesen, fast immer von Frauen. Und ständig gab es die Möglichkeit zum Mittun: Beim
Entzünden von Kerzen, beim Entrollen von Bändern in den Farben des Regenbogens, die vom
Kreuz in alle Richtungen gespannt wurden. Oder wenn ein Kind aus einem Ei herausgeholt
wurde als Zeichen für das neue Leben im Reich Gottes, das bei den Kleinen beginnt; und
wenn dann alle die Hand hin zum Kind ausstrecken: Ja, ich glaube, dass Gottes Reich so in
unserer Mitte lebendig wird.
Diese überschwängliche Art zu feiern ist etwas Neues. Eine neue Form von Volksreligiosität.
Symbole fangen die Lebenswelt der Menschen ein, Leid und Tod genauso wie die Hoffung
auf die Auferstehung. Liturgie und Frömmigkeit bleiben nicht beim toten Jesus stehen. Der
Glaube wird zum Anstoß für die Menschen, bewegt sie zum Füreinander-Einstehen und gibt
ihnen die Kraft, die sie brauchen in ihrem Ringen für ein Leben in Fülle, das Gott allen seinen
Kindern zugesagt hat.
Die große Kirche der Kleinen
Die große Kirche der Kleinen
Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt", liest eine dunkelhäutige ältere Frau aus dem Evangelium. Eine andere holt ein kleines
Kind aus einem großen Styropor-Ei, das in der Mitte des Raumes auf bunten Tüchern liegt. Die Leute applaudieren. Ein Lied wird angestimmt: "Du
bist der Gott der Kleinen, der menschliche und leidende Gott…" Dazu halten die Leute ihre Kerzen hoch und beginnen zu tanzen. Dann sprechen
sie Fürbitten: "Stärke allen Kleinen und Armen den Rücken, damit sie mutig für ihr Recht kämpfen." — "Wecke die Menschen auf, damit sie sich
nicht mehr vor dem Götzen Markt auf die Knie werfen."
Diese ungewöhnliche Liturgie fand beim zehnten Treffen der Basisgemeinden im Vorjahr in Ilhéus in Brasilien statt. Vorangegangen war dieser
Feier ein intensives Nachdenken über alles, was das Leben der Armen in Brasilien bedroht: Arbeitslosigkeit, Gewalt, fehlende Schulen,
Krankenhäuser und Sozialversicherungen sowie die billige Vertröstung durch Sekten und Wunderheiler. Schließlich ein neoliberales
Wirtschaftsmodell, wo dem Götzen Markt alles geopfert wird, weil der Gewinn um jeden Preis der höchste Wert ist. Dem gegenüber feierten die
Teilnehmer dieses Treffens Gott, der zu den Kleinen kommt, ja selber ein Kleiner und Leidender wird. Von ihnen her und mit ihnen zusammen will
er das Antlitz der Erde erneuern.
Kirchliche Basisgemeinden sind Gemeinschaften von meist armen Menschen, die miteinander Kirche sind, ihre Lebenssituation reflektieren und
sich aus dem Glauben heraus für eine Veränderung von Unrechtssituationen einsetzen. Aktives Mittragen des kirchlichen Gemeindelebens und
soziales Engagement kennzeichnen Basisgemeinden auf der ganzen Welt. Ihre Entstehungsgeschichte und Gestalt ist unterschiedlich. Drei
Beispiele sollen das zeigen: Dutzende landloser Bauernfamilien besetzen ein Stück Land in der Nähe der Stadt Jacobina im dürren Nordosten
Brasiliens. Auf dem fruchtbaren Boden, der angeblich einem Großgrundbesitzer gehört, aber seit Jahren brach liegt, wollen sie Maniok, Bohnen
und Mais anbauen, um sich zu ernähren. Die Situation ist angespannt: Die Revolvermänner des Großgrundbesitzers bedrohen sie. Einmal pro
Woche kommen diese Leute zusammen, um aus der Bibel zu lesen und Gottesdienst zu feiern. Dieser Zusammenhalt gibt ihnen Kraft. Bibeltexte
bestärken sie: "Der Herr sprach: Ich habe das Elend meines Volkes gesehen … Ich bin herabgestiegen, um sie in ein schönes Land zu führen, in
dem Milch und Honig fließen … Ich bin mit dir" (Ex 3,7-8.12).
Wie Basisgemeinden entstehen
In Roselândia am Stadtrand von Barra Mansa, 100 Kilometer von Rio de Janeiro entfernt, regt Dona Amélia eine Bibelgruppe an. Daraus werden
bald zwei. Der Wunsch nach Katechese für die Kinder und einen Sonntagsgottesdienst taucht auf. Der Kontakt mit der Pfarre São Sebastião wird
gefunden. Leute aus benachbarten Gemeinden helfen, Katechistinnen auszubilden und Gottesdienstleiter zu schulen. Die geräumige Dachveranda
einer Familie wird zum provisorischen Gruppenraum und zur Kapelle. Eine Jugendgruppe und eine Mütterrunde entstehen. Nach einem Jahr wird
die erste Messe in der Gemeinde gefeiert, dann regelmäßig einmal im Monat. Die Gemeindemitglieder koordinieren sich in einem Gemeinderat, der
auch zwei Vertreter in den Pfarrgemeinderat entsendet. Dort sind alle 28 Gemeinden der Pfarre vertreten. Sie leiten gemeinsam mit dem Pfarrer,
den zwei Kaplänen und fünf Ordensschwestern die Stadtpfarre, in der 80.000 Katholiken leben.
In der Basisgemeinde im Viertel São Roque, an der Peripherie der 15-Millionen-Stadt São Paulo, feiert jeden Sonntag ein Priester in einer Garage
die Messe für ein Grüppchen von 15 Leuten. Immer wieder drängt er die Leute dazu, sich in einer Wohnviertelvertretung zu organisieren, um bei
der Stadtverwaltung eine Schule und die notwendige Kanalisation einzufordern. Aber die Leute sind nicht daran interessiert. Wichtiger ist ihnen
der Kauf einer Statue des Heiligen Rochus. "Damit wir endlich ein Patronatsfest feiern können, so wie auf dem Land, von wo wir herkommen",
sagen sie. Schließlich gibt der Priester nach und kauft die Statue. Als sie in einer Prozession durch das Viertel getragen wird, bemerken viele
Bewohner erst, dass es unter ihnen eine katholische Gemeinde gibt. Spontan schließt sich mancher dem Zug an … Binnen kurzer Zeit wächst die
Gemeinde auf hundert Leute an.
Und bald gibt es auch die Wohnviertelvertretung. Die Firmlinge führen eine Erhebung der schulpflichtigen Kinder durch, für die es keine
Schulplätze gibt. Das bildet die Grundlage für den Antrag an die Stadtregierung. Und der Bau einer Grundschule in der Region wird als erste
Priorität erkannt.
Es ist die tiefe Frömmigkeit der Armen, aus der heraus die Basisgemeinden leben. Glaube und Leben, der Kampf ums Überleben verbinden sich.
Im gemeinsamen Lesen der Bibel wissen sich diese Menschen von Gott direkt angesprochen. "Sie werden Häuser bauen und selbst darin
wohnen" (Jesaja 65,21) — eine solche Verheißung Gottes wird in den Basisgemeinden rasch zum gemeinsamen Anliegen und Auftrag. Glaube und
Leben verbinden sich auch in den Liedern der Basisgemeinden: "unterdrückte Menschen, die Befreiung suchen und in Jesus Christus die
Auferstehung" heißt es da zum Beispiel.
Glaube und Leben
Aufstehen, das Haupt erheben, die Würde der Gotteskindschaft und die eigenen Begabungen entdecken: Das gelingt vielen Armen in den
Basisgemeinden. Ihre Begabungen stellen sie oft in den pastoralen und sozialen Dienst. Dabei entstehen neue kirchliche Dienstämter: Laien, vor
allem Frauen, sind Gemeindeleiter. Vom Bischof beauftragt spenden sie die Taufe und stehen bei kirchlichen Trauungen vor. Auch ihr
sozialpolitisches Engagement etwa in der Gewerkschaft verstehen sie als Dienst im Licht des Evangeliums. Bischöfe sind den Menschen dabei
nah und riskieren so wie Gewerkschafter und Menschenrechtsaktivisten ihr Leben, weil sie sich in den Dienst der Armen stellen.
80.000 Basisgemeinden
Landesweit gibt es in Brasilien heute 80.000 Basisgemeinden. Sie sind miteinander vernetzt, vor allem durch die alle paar Jahre stattfindenden
Basisgemeindentreffen. Im Vorjahr nahmen über 2.000 Delegierte teil. In Kleingruppen tauschten sie sich über den eigenen Glaubensweg und über
die Geschichte ihrer Gemeinde aus. Viele bekannten, dass sie im Austausch miteinander, mit der Bibel in der Hand und dem Leben vor Augen, auf
eine tiefe Weise glauben gelernt haben und dass sie aus den lebendigen Feiern des Glaubens und des Lebens jede Woche neue Kraft schöpfen.
Was Papst Johannes Paul II. in der Enzyklika "Redemptoris Missio" geschrieben hat, stimmt also wirklich: "Die Basisgemeinden sind Zeichen für
die Lebendigkeit der Kirche, Hilfe für die Ausbildung und bei der Verkündigung des Evangeliums und wertvoller Ausgangspunkt für eine neue
Gesellschaft, die gegründet ist auf die ,Zivilisation der Liebe.‘"
© P. Franz Helm SVD - STADT GOTTES März 2001
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