Kursbuch12 13.02.2006 Pastorale Initiativen im Geist der ,,proposition“ Abschnitt 12.8 in: ,,Leidenschaft für das Leben. Ein Kursbuch pastoraler Erneuerung” (Hadwig Müller) Die proposition ist eine Vorlage, mit der ein konkretes Subjekt - eine einzelne Person, die für eine Gruppe stehen kann -eine Beziehung zu anderen herstellt und mit ihnen ein Gespräch eröffnet oder auch ein Spiel beginnt. Die Vorlage lässt die anderen frei und fordert ihre Freiheit heraus: Sie können die eröffnete Möglichkeit zum Gespräch oder zum Spiel ergreifen, sie können es aber auch ablehnen, sich auf ein Gespräch einzulassen, auf die Vorlage herauszugeben, aber sie können nicht mehr nicht reagieren. Wer eine Vorlage macht, hat die Weise des Reagierens der anderen nicht im Griff. In den Überraschungen der Dynamik, die von der Vorlage ausgelöst wird, liegt jedoch gerade der Reiz des Spiels. Eine proposition ist wie eine geöffnete Tür: Sie verrät den Wunsch dessen, der sie geöffnet hat, mit anderen hindurchzugehen; und die Weise, in der sie geöffnet wurde, verrät etwas von der Eigenart dessen, der sie geöffnet hat. Wer eine Vorlage macht, setzt einen Anfang, und zwar einen Anfang, der von ihm, von ihr geprägt ist: Mit seinem Anfang setzt sich einer da auch selber aus, riskiert nicht nur die Ablehnung seiner Sache, sondern auch seine eigene Niederlage. Herstellung einer Beziehung, Spiel der Freiheiten und persönliches Wagnis: das alles gehört zum Geist, zur Spiritualität der proposition. Pastorale Initiativen in diesem Geist sind jene, in denen ein Christ, eine christliche Gemeinde oder eine Kirche eine Beziehung zu anderen herstellt, ihre Freiheit herausfordert und sich selber erkennbar macht. Im Land der Erfinder der proposition sehe ich Beispiele für pastorale Initiativen, die diese Kriterien erfüllen, auf drei Ebenen. Das erste Beispiel auf nationaler Ebene ist die Gesprächsinitiative der katholische Kirche ,,Proposer Ia foi dans Ia societe actuelle”. Damit stellen die französischen Bischöfe eine Beziehung zu ihren Zeitgenossen her, dj,e sie als Akt des Vertrauens beschreiben. In ihren Gesprächsvorlagen - in drei Schriften nachzulesen - machen 1 / sie sich selber erkennbar und angreifbar: Ihre kritische Wahrnehmung der aktuellen gesellschaftlichen Situation bezieht sich gerade auch auf deren Chancen, ihre Konzentration auf die Herzmitte des christlichen Glaubens setzt Akzente, und ihre Einladung, mehr zu einer Kirche zu werden, die ihre Hoffnung nicht auf die Stärke der Institution setzt, bezeugt ihren eigenen Glauben. Zu diesen Themen von Gesellschaft, Glauben und Kirche machen sich die französischen Bischöfe außerdem mit ihren eigenen Fragen erkennbar. Sie bitten die Adressaten ihrer Vorlage - Christinnen und Christen sowie all diejenigen, die sich auf ein Gespräch einlassen -zu diesen Themen in Freiheit das Wort ergreifen und die von den Bischöfen ausgeführte Wahrnehmung der gesellschaftlichen Situation, die von ihnen in der Darstellung ihres Glaubens gesetzten Akzente und die von ihnen berichteten Erfahrungen mit der Kirche zu ergänzen und zu korrigieren. Die Bischöfe lassen keinen Zweifel an ihrer Überzeugung, dass ein breiterer Austausch von Erfahrungen gelebten Glaubens entscheidend zum Leben der Kirche beträgt, dass ein solcher Austausch aber nur in Freiheit stattfinden kann und der Freiheit des Glaubens dient. 2 Das zweite Beispiel auf der Ebene eines Bistums ist die Initiative der ,,communautes locales” oder auch ,,communautes de proximite” in Poitiers. Mit dieser Initiative, mit der er Synodenbeschlüsse umsetzt, tritt Erzbischof Rouet in Beziehung zu den Pfarreien, zu engagierten Christinnen und Christen, Priestern und Ordensleuten und auch zu den Bürgermeistern und interessierten Bürgerinnen und Bürger der Kommunen des Bistums. Albert Rouet macht sich in dieser Initiative mit seiner Option für eine Kirche erkennbar und angreifbar, die den Menschen dort nahe sein will, wo diese ihre Wege zu Christus suchen, und die dort sichtbar existiert, wo Menschen ihre Verantwortung für das Zeugnis des christlichen Glaubens, für das Gebet und für den Dienst am Nächsten übernehmen. Aus diesem Kirchenverständnis folgt die Option des Bischofs für Gemeinden, deren Kriterium die positive Antwort auf die Frage ist, ob die Menschen, die an diesem Ort leben, bereit und fähig sind, fünf Personen für die Bildung einer Basisequipe aufzustellen, die für die nächsten drei Jahre die belebende Instanz dieser Gemeinde sein wird. Seit 1994, dem Jahr seiner Ankunft in Poitiers, an dessen Ende Rouet seine Initiative vorgelegt hat, sind 290 Basisequipen in ihr Amt eingeführt und entsprechend viele ,,örtliche Gemeinden” eingesetzt worden, aber an vielen Orten fanden Pfarreien und Priester auch noch nicht den Mut dazu. Eine zweite Diözesansynode hat sich 2003 die Initiative des Bischofs zu eigen gemacht, ohne dass damit aus der Initiative ihres Bischofs eine Maßnahme geworden wäre, die den Christinnen und Christen auferlegt ist. Rouet setzt sich der Freiheit des ihm anvertrauten Gottesvolkes aus, seine Initiative aufzunehmen oder nicht. Er hat sich auch in der Beziehung zu seinen Mitbrüdern im Amt exponiert: Seine Option steht im Gegensatz zu den Tendenzen der Zusammenlegung von Pfarreien in den meisten anderen Diözesen. Diese interessieren sich jetzt allerdings immer mehr für die Erfahrung mit den ,,örtlichen Gemeinden” oder ,,Gemeinden der Nähe“ in Poitiers. Die dritte Beispiel ist die Initiative ,,Christ werden ist in jedem Alter möglich” auf der Ebene einer Pfarrei in Montgeron im südlichen Einzugsgebiet von Paris. Hier erarbeitet eine Gemeinde ein Faltblatt, um die im Pfarrgebiet wohnenden Menschen über die Möglichkeit des Erwachsenenkatechumenats zu informieren, und sorgt dafür, dass alle Haushalte das Blatt bekommen. In einer persönlichen und behutsamen Sprache bezeugen Christen aus der Gemeinde ihre Erfahrung mit ihrem Glauben und ihren Respekt vor der Freiheit ihrer Mitmenschen. Die auf diese Weise hergestellte Beziehung bleibt zwar unpersönlich, aber das Faltblatt trägt Namen und Adresse der Ansprechpartnerin für den Etwachsenenkatechumenat. Stellvertretend für die Gemeinde geht diese mit ihrem Bekenntnis zum christlichen Glauben in die Vorlage. Was für sie die Taufe und der Weg Erwachsener zur Taufe oder auch zu anderen Sakramenten bedeutet, setzt sie der Freiheit derer aus, die das Faltblatt in die Hand bekommen. Sie können sich in den getauften oder nicht getauften Erwachsenen wiederfinden, die eine Suche umtreibt, Fragen nach der Bibel, nach Jesus Christus oder nach der Kirche haben; sie können sich vielleicht vom Zeugnis jener älteren Frau ansprechen lassen, für die sich mit der Vorbereitung auf die Taufe als Erwachsene ihr ganzes Leben verändert hat. Sie können sich schließlich selber auf diesen Weg machen oder nicht. Aber diese Möglichkeit, ihre Freiheit zu engagieren haben sie erst jetzt, dank der Initiative der Gemeinde. Kursbuch12 13.022006 Gemeindebildung durch die Eucharistiefeier der 5/5 Abschnitt 12.9 in: ,,Leidenschaft für das Leben. Ein Kursbuch pastoraler Erneuerung“ (Hadwig Müller) Laut Synodenbeschluss Ende 1999 gehören die sogenannten 5/5 zu den pastoralen Initiativen, mit denen die Erzdiözese Sens-Auxerre im nördlichen Burgund auf die Herausforderungen einer Situation antwortet, die in einer deutschen Fernsehreportage Ende 1998 als ,,sterbende Kirche“ beschrieben wurde. Weit zahlreicher sind die Hinweise auf die vergangene Zeit einer machtvollen Christenheit, die in den Steinen der vielen romanischen Kirchen dieser Gegend zu lesen sind, als die Menschen, die sich hier heute versammeln. Auxerre ist eine der von der DeChristianisierung am meisten betroffenen Diözesen Frankreichs. George Gilson, von 1996 bis 2004 Bischof der Diözese und der ,,Mission de France”, zu der die Arbeiterpriester zählen, träumt deswegen nicht von einer Rückkehr zur Vergangenheit, für ihn ist die Herausforderung klar: Es geht um Weichenstellungen für die Zukunft. Diese müssen der gesellschaftlichen Realität Rechnung tragen. Das Erzbistum Sens-Auxerre zählt nur 330 000 Einwohner. Es ist eine ländlich geprägte Diözese mit drei mittleren Städten, ohne einen eindeutigen wirtschaftlichen oder sozialen Schwerpunkt. Die Dörfer entleeren sich, weil vor allem die Jüngeren Arbeit in der Stadt suchen, zugleich gibt es die Umkehrbewegung: Nicht wenige von denen, die ihr Auskommen in der Stadt haben, ziehen es vor, auf dem Land zu wohnen. Die Menschen wählen mehr und mehr das Milieu, in dem sie leben und Sinn für ihr Leben suchen. Der Kirche begegnen sie kaum mehr mit dem aggressiven Antiklerikalismus früherer Jahrzehnte, sie treten ihr eher mit Desinteresse oder einer ähnlichen Erwartungshaltung gegenüber wie dem öffentlichen Dienst. Geprägt vom II. Vatikanischen Konzil, sieht George Gilson eine Chance darin, neu darüber nachzudenken, wie sich eine im Glauben versammelte Gemeinde heute in eine säkulare Gesellschaft einschreibt. Seine Frage gilt der Gemeindebildung. Die Zusammenfassung kleiner Pfarreien und die entsprechende Verringerung ihrer Zahl von 450 auf 102 - ein aus der Not der geringen Priestetzahl(83, davon 29 über 75 Jahre alt) geborener Verwaltungsakt, der schon 1984 stattgefunden hatte-trägt nur dem territorialen Prinzip Rechnung. Für den Bischof sind es aber zuerst die Menschen, die eine Gemeinschaft ausmachen, nicht das Territorium. Geprägt von der Begleitung der Arbeiterpriester, die in die Mitte ihres verborgenen Zeugnisses die Eucharistie stellen, findet er die Quelle der Erneuerung der Pfarrgemeinden in der eucharistischen Dimension des christlichen Glaubens. In seiner Sicht wird in Zukunft von den christlichen Gemeinden nichts anderes gefordert werden als das Zeugnis, ein eucharistisches Volk zu sein. Ein eucharistisches Volk ist die Gemeinde, die sich in erster Linie durch ihre Versammlung definiert und nicht durch das Territorium, in dem sie lebt und feiert. Ausschlaggebend ist das Zusammenkommen von zwei oder drei Menschen im Namen Christi, das Gedächtnis, das sie feiern, indem sie Mahl halten, und ihre von Respekt und Liebe getragenen Beziehungen. Das eher mühsam aufrecht erhaltene Gemeindeleben in den Pfarreien mag damit zusammenhängen, dass ihre Eucharistiefeier nicht wirklich als Herzmitte der Gemeinde und eines Lebens aus dem christlichen Glaubens deutlich wird. Aus diesen Intuitionen erwächst das Projekt der 5/5. 2 Etwa alle zwei Monate oder fünfmal im Jahr sind Menschen in mehreren Pfarreien an einem Sonntag zu einer Eucharistiefeier eingeladen, bei der sie sich etwa fünf Stunden Zeit nehmen, um das Hören und Verstehen des Bibelwortes miteinander und die Erfahrungen ihres gelebten Alltags zu teilen, um die Eucharistie miteinander zu feiern sowie anschließend auch eine richtige gemeinsame Mahlzeit zu halten und um schließlich miteinander auszutauschen, welche konkrete Bedeutung ihre Sendung am Ende dieses Zusammenseins bekommt. Sie sollten an einem Ort in einer der Pfarreien zusammenkommen, an dem sie auch ein gemeinsames Essen einnehmen können, und sie sollten eine Zahl von ungefähr 50 Personen nicht allzu sehr überschreiten, damit die flexible Organisation der Versammlung und des Raumes möglich bleibt. Diese 5/5 sollen nicht an die Stelle der Pfarreien, und ihre Eucharistiefeier nicht an die Stelle des sonntäglichen Gemeindegottesdienstes treten, vielmehr sollen sie für mehrere Pfarreien eine Einladung sein, besser das Geheimnis der Eucharistie zu leben. Einer ersten Vorstellung gemäß richtete sich diese Einladung besonders an engagierte Christinnen und Christen, weil sie auf diese Weise ihre geistlichen Grundlagen erneuern können. Die ersten Erfahrungen mit den 5/5 zeigten aber, dass sich gerade Menschen davon ansprechen ließen, die vorher keine Berührung mit der Kirche hatten. Die Idee, dass auf der einen Seite die Eucharistie eine Kraft der Gemeinschaftsbildung und -erneuerung besitzt, die fruchtbar gemacht werden kann, und auf der anderen Seite eine stärkere Gewichtung der Beziehungen und des Austauschs der feiernden Menschen zur Vertiefung des eucharistischen Geheimnisses beiträgt, hat sich bestätigt. In der Diözese gibt es mittlerweile 25 Orte, an denen Menschen, manche seit einigen Jahren, andere immer wieder neu, zu den 5/5 zusammenkommen. Hier ein Bericht aus eigener Erfahrung: Eine schriftliche Einladung zu dem Treffen wird möglichst persönlich weitergegeben. Ein Blatt mit dem Bibeltext - dem Tagesevangelium - und Anregungen für den Austausch zum Evangelium liegt in dem Raum bereit, in dem die 5/5 beginnen. Am entsprechenden Sonntag haben die Menschen zunächst, bei einem kleinen Kaffe, Zeit zum Ankommen. Dann sammelt sich die Gemeinde, und der Priester beginnt mit dem Gottesdienst. Nach der Verkündigung des Evangeliums teilen sich die Erwachsenen in Tischgruppen auf, bei denen diejenigen, die sich auf die Gesprächsleitung vorbereitet haben, darauf achten, dass neue Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht unter sich bleiben. Die Kinder beschäftigen sich in einem eigenen Raum mit dem Bibeltext. Die Erwachsenen kommen nach einer nochmaligen Lektüre des Textes leicht ins Gespräch. Ihre wichtigste Entdeckung formulieren die Gruppen in eigenen Sätzen, die zusammen das Glaubensbekenntnis der Gemeinde bilden. In denselben Gruppen sprechen die Erwachsenen weiter über den von ihnen gelebten Alltag und fassen in einem Dank, einer Bitte zusammen, was ihnen besonders wichtig wurde. Diese Intentionen werden später, nach der Rückkehr der Gruppen, zum Fürbittgebet zusammengetragen. Anschließend zieht die Versammlung zur Eucharistiefeier in die Kirche, und nach der Kommunion wieder in den Pfarrsaal zurück, in dem das Büffet mit dem mitgebrachten Essen und Tische für die gemeinsame Mahlzeit gerichtet wurden. Zum Segen versammelt sich die Gemeinde noch einmal um den Priester, der die Feiernden einlädt, zu sagen, mit welchen Erfahrungen und Anregungen sie aus dem Gottesdienst nach Haus gehen. Aufbrüche in der Weltkirche Kapitel 4 in ,,Leidenschaft für das Leben. Ein Kursbuch der pastoralen Erneuerung“ (Hadwig Müller) In einer Welt, in der uns fremde Kulturen, Sprachen und Religionen und auch ferne christliche Kirchen so nah sind wie noch nie, scheinen sich Grenzen und Unterschiede zu verwischen. In dieser globalisierten Welt sind wir versucht zu meinen, daß es kaum noch etwas Neues gibt. Umso wichtiger ist der Blick in die konkrete Realität, der uns zeigt, daß die Ortskirchen weltweit auf unterschiedlichen Wegen weitergehen und daß auch ihre Fortbewegung selber unterschiedlich schnell oder langsam geschieht. Ich denke an das aus Ägypten ausziehende und durch die Wüste wandernde Volk Israel. Kein Bild scheint mir besser geeignet zu sein, um zu veranschaulichen, in welcher Weise wir uns als Ortskirchen in unseren unterschiedlichen Situationen helfen können weiterzugehen. All die verschiedenen Ortskirchen sind wie ,,Stämme“ in dem einen wandernden Volk Gottes. Darin gibt es solche, die müde geworden sind - vielleicht weil besonders viel Habe sie belastet - und andere, die mit leichtem Gepäck und Zuversicht unterwegs sind und weniger in Versuchung, das Gehen aufzugeben und sich in festen Häusern einzurichten. Diese können den anderen Lust und Mut machen, wieder aufzubrechen. Dabei ist dem ganze Volk Gottes eine zweifache Treue gemeinsam: die Treue gegenüber dem Evangelium und seiner Hoffnung und die Treue gegenüber den Menschen, unter denen es das Evangelium und seine Hoffnung leben und bezeugen will. Diese doppelte Treue ist mit dem Wort ,,Evangelisierung” gemeint. 3.1 Evangelisierung als Leitmotiv Eine konkrete Ortskirche erneuert sich in dem Maß, in dem sie sich auf ihren ureigensten Auftrag besinnt: Zeichen zu sein, Zeugnis zu geben für das Evangelium und darin Christus nachzufolgen. Im Mittelpunkt seines Evangeliums steht das Heil, das in der Befreiung von allem besteht, was die Menschen niederdrückt, gefangen hält und entzweit, das in der Versöhnung der Menschen untereinander und mit Gott besteht und in der Freude, Gott zu erkennen und von ihm erkannt zu werden (vgl. EN 9). Mit heutigen Worten könnten wir sagen: Im Zentrum des Evangeliums steht die den Menschen von Gott geschenkte Begabung zu lieben und darin glücklich zu werden. Diese Botschaft dient dem Leben jedes einzelnen und allen Menschen, der ganzen Menschheit. In ihrem Dienst also steht die Kirche, oder sie ist nicht Kirche. ,,Evangelisieren ist in der Tat die Gnade und eigentliche Berufung der Kirche, ihre tiefste Identität.” (EN 14) Um dieser Berufung zu entsprechen, kann die Kirche nicht anders als sich - in der Nachfolge jenes aufmerksamen und mitleidenden Jesus von Nazareth - mit aufmerksamen und mitleidenden Blick den Menschen zuzuwenden, die in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation leben. Zugleich kann gerade die Betroffenheit durch gesellschaftliche Leiden wie etwa unerträgliche soziale Gegensätze, die mit der Abstumpfung der Gewissen der einen und dem Chaos der Überlebensstrategien der anderen einhergehen, zur Umkehr einer ganzen Ortskirche und zu deren Selbstevangelisierung führen. 2 Berühmtes Beispiel für diesen Zusammenhang sind die lateinamerikanische Kirchen und ihre Option für die Armen und für die Jugend, die sich vor nun bald vierzig Jahren mit der Option für die kirchlichen Basisgemeinden verbunden hat. 3.2 Kirchliche Basisgemeinden in Lateinamerika Evangelisieren ist die tiefste Identität der Kirche und auch der Gemeinde! Das Heil, nämlich das Geschenk jenes befreiten, versöhnten Lebens, das in Christus offenbar geworden ist, kann nur durch die Art und Weise sichtbar und kundgetan werden, wie Menschen zusammenleben, wie sie ihre Beziehungen untereinander und im Dienst an anderen gestalten. Christliche Gemeinden evangelisieren in dem Maß, in dem in ihnen geschwisterliche Beziehungen gelebt werden, Beziehungen, die auf der Anerkennung der Würde und der Rechte jeder einzelnen Person beruhen. Zu solchen Beziehungen sind, das ist meine eigene Erfahrung nach zehn Jahren in Brasilien, gerade jene fähig, denen ihre Würde und Rechte von der Gesellschaft, in der sie leben, aberkannt werden. Diese Menschen kommen in kirchlichen Basisgemeinden (Comunidades Ecclesiais de Base) zusammen. Deren ,,Basis” bilden drei christliche Grundüberzeugungen: Alle Menschen haben als Töchter und Söhne einen Vaters gleiche Würde. Alle sind durch den Geist geheiligt, der jeder Person ihre je besonderen Gaben verleiht und alle befähigt, füreinander ein Segen zu sein. Alle schließlich sind in gleicher Weise zur Evangelisierung berufen, zur Freude an Christus und an seinem Evangelium. Aus diesen christlichen Grundüberzeugungen leiten sich wesentliche Merkmale kirchlicher Basisgemeinden in Lateinamerika ab: Das sind die geschwisterlichen Beziehungen unter den Menschen, die im näheren Raum der Gemeinde leben und sich zu ihr zählen, und ihre geschwisterlichen Beziehungen zu den mit der Begleitung und Stärkung der Basisgemeinden beauftragten pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiten (Priestern, Ordensleuten und Laien). Das ist die aktive Beteiligung aller, die ermutigt werden, ihre je unterschiedlichen Gaben zum Aufbau der Gemeinde einzubringen. Den geschwisterlichen Beziehungen und der aktiven Beteiligung aller dienen klare Strukturen der Beratung und Entscheidung über das Leben der Gemeinde. Zu deren Merkmalen gehört schließlich die große Bedeutung der Arbeit mit der Bibel, sowohl für die Dimensionen des Betens, Feierns und der Verkündigung als auch für die Dimension der ihrerseits für kirchliche Basisgemeinden charakteristischen Aktivitäten, in denen sich ihr missionarisches Wirken in die Gesellschaft hinein konkretisiert. Basis und Merkmale der Gemeinden in der Nähe jener Menschen vor allem, die weit weg von den Zentren der Macht und des Geldes wohnen, sind nicht nur bis heute gültig, vielmehr sind auch dort, wo sie gelebt werden, solche Gemeinden lebendig und schöpferisch, ergreifen Initiativen, je nach den Gaben derer, die sich in ihnen versammeln, und machen eine andere soziale Wirklichkeit innerhalb einer Gesellschaft, die immer unübersichtlicher und verwirrender wird, sichtbar. Die gerade in der brasilianischen Gesellschaft zu beobachtende Entwicklung zunehmender sozialer Kontraste und verwirrender Unübersichtlichkeit ist aber ein Faktor, der für kirchliche Basisgemeinden in Brasilien eine Grenze darstellt, sofern die am meisten von Verelendung Betroffenen nicht jene innere und äußere Stabilität mitbringen, die eine Teilnahme in kirchlichen Basisgemeinden erfordert. Ein anderer 3 Faktor, der den Basisgemeinden gegenwärtig immer stärker als Hindernis und Hemmnis entgegensteht, ist die gegenwärtige kirchliche Wirklichkeit, in der sich die Schwerpunkte von der Evangelisierung zur Klerikalisierung hin verlagert haben. Allzu viele Bischöfe sehen die Zukunft der ihnen anvertrauten Diözesen in der Zahl der Priester, und allzu viele junge Priester lassen sich von der Vorstellung leiten, daß die Funktion der Basisgemeinden allein im Dienst am Zentrum, an der ,,Pfarrei” besteht. Eine ungenügende Festigung der christlichen Grundüberzeugungen und auch der konkreten Organisationsstrukturen der Basisgemeinden durch ihre theologische Bildung und Begleitung hat zur Folge, daß viele Basisgemeinden den kirchlichen und gesellschaftlichen Gegenströmungen relativ hilflos gegenüberstehen. 3.3 Kleine christliche Gemeinschaffen in Afrika und Asien In seiner Option für eine ,,kongolesische Kirche in einem kongolesischen Staat” und in seiner Intuition Kirchlicher Basisgemeinschaften läßt sich Kardinal Malula in Kinshasa durch das II. Vatikanische Konzil bestärkt. Damit Christinnen und Christen zum Sauerteig in ihrer Gesellschaft werden können, sind christliche Gemeinschaften nötig, die aus der Tiefe der Begegnung mit dem Wort Gottes in geschwisterlichen Beziehungen leben, welche sich im Alltag der Großstadt durch einen Geist des Teilens und der Solidarität mit den Ärmsten auswirken. Die ,,Lebendigen Kirchliche Basisgemeinden” (Communautes Ecc/esia/es Vivantes de Base) entstehen, zusammen mit - das ist das Neue in Kinshasa - Leitungsämtern, zu denen Laien in mehrjährigen Kursen ausgebildet werden. Dabei geht es um die Moyangeli (Verantwortliche) der Basisgemeinden und um den Mokambi, der zusammen mit dem Priester die Pfarrei leitet. Als Lebensquelle der ,,Kleinen christlichen Gemeinschaften” (Small Christian Communities), so heißen die kirchlichen Basisgemeinden im englisch sprechenden Afrika, muss die Bibel leichter zugänglich gemacht werden. In Südafrika erfindet und erprobt Oswald Hirmer die ,,Sieben Schritte des Bibel-Teilens”, die in anderen Ländern Afrikas und dann in Asien mit Begeisterung aufgenommen werden, weil diese Methode gemeinschaftlicher Bibelarbeit entscheidend zum Aufbau und zur Festigung der Eigenständigkeit Kleiner christlicher Gemeinschaften beiträgt. So kommt es in der Föderation der asiatischen Bischofskonferenzen zur Option für die Kleinen christlichen Gemeinschaften auf der Basis des sogenannten AslPAProgramms (Asian /ntegra/Pastora/Approach), das mit Kursen des Bibel-Teilens eine Schulung in Gemeinschaftsbildung und partizipatorischer Leitung verbindet und zum Schlüsselelement pastoraler Erneuerung in den meisten asiatischen Diözesen wird. 3.4 Ansätze pastoraler Erneuerung in Westeuropa Die Intuitionen der Basisgemeinden, die unabhängig voneinander in Lateinamerika und Afrika fast gleichzeitig Anfang der 60er Jahre zur Erneuerung der Kirchen dieser Kontinente führten, haben eine gemeinsame Wurzel im Vorgehen und in der Spiritualität der Action Catholique, die nach dem 2. Weltkrieg ein Schlüsselelement der Erneuerung christlichen Lebens in Frankreich war. Heute findet die außereuropäische Erfahrung der Basisgemeinden in einer Diözese wie Poitiers, 4 wo die Arbeit der Action Catholique zu den Prioritäten gehört, ihre Entsprechung in den von Basisequipen geleiteten örtlichen Gemeinden oder auch Gemeinden der Nähe. Sensibilität für eine jeweilige gesellschaftliche Situation und Orientierung am Evangelium - diese mit ,,Evangelisierung” gemeinte doppelte Treue ist die Quelle der Neuansätze in Frankreich, für die vor allem zwei Schlüsselworte stehen: proposifion und engendremenf. Der erste Begriff-wörtlich ,,Vorschlag“ - meint Initiativen, mit denen Christinnen und Christen in einer pluralistischen Gesellschaft das Gespräch mit ihren Zeitgenossen suchen und sich deren Freiheit aussetzen, ihrerseits ins Gespräch einzutreten oder nicht. Der zweite Begriff-wörtlich ,,Zeugung” - meint im Zusammenhang der Pastoral die Aufmerksamkeit für das Ereignis des Glaubens in einem individuellen Leben. Glauben wird geboren in dem heute weniger denn je selbstverständlichen Vertrauen in das Leben, einem Vertrauen, das nur durch die Gegenwart anderer Menschen möglich wird. Solcher Glaube kann nicht etwa ,,erzeugt”, hervorgebracht, wohl aber als ein neuer Lebensanfang ,,bezeugt”, nämlich mit Verwunderung empfangen werden. Eine fastoral der Zeugung orientiert sich gerade an jenen Evangelienberichten, in denen es heißt, daß Jesus sich von dem Vertrauen und Glauben der Menschen, die ihn suchten, anrühren ließ. Zum Weiterlesen: Ludwig Bertsch, Hermann Jansen, Marco Moerschbacher (Hg.), Alternativen zur traditionellen Pfarrstruktur. Die Communio-Ekklesiologie und ihre Rezeption in Afrika, Ozeanien und Europa, Mainz 1997. Hadwig A. M. Müller (Hrsg.), Neues erahnen. Lateinamerikanische und europäische Kirchen im Gespräch, Ostfildern 2004.