Zwischen Betreuung, Schutz und Trauma Cottbus, 13.6.07

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Fachtagung LASV/FHL: Zwischen Betreuung,
Schutz und Trauma Cottbus, 13.6.07
E.-M. Neumann, FHL, Fb Sozialwesen, CB
Ethische Reflexionen über Handlungszwänge und
Zwangshandlungen im Umgang mit demenzkranken Menschen
1. Sicherheit oder Freiheit?
In den Mitteilungen der Alzheimer-Gesellschaft Berlin e.V.12, 2001(16), Hefttitel: Wohnund Betreuungsformen, berichtet eine zuvor pflegende - zum Berichtszeitpunkt betreuende Tochter über ihre Schwierigkeiten, die Mutter fremdzubestimmen, nachdem sich die
Anzeichen mehren, dass diese ihren Haushalt und sich selbst nicht mehr zureichend versorgen
kann: „Einkaufen, Kochen, Haushalt, Pflege, Kleiderwäsche und einfach Dasein und das alles
in Konfrontation mit ihrer Selbstsicht, dass das alles Quatsch sei, weil sie doch alles alleine
mache. Danach folgte auch für uns das ständige Abwägen von Eingriffen in ihre Autonomie
(bekleckerte Kleidung „ist doch in Ordnung“) und Gewährenlassen. Wir begannen mit - heute
würde ich sagen - verzweifelten Lern- und Erziehungsversuchen...,die wohl zu nichts taugten,
als zu verunsichern. Schließlich hieß es, Grenzen zu setzen, weil die offene Gartentür für
einen Dementen nur zum Verlaufen dient. Aber es tut weh, wenn die Spuren im winterlich
verschneiten Garten wie ein Auslauf im Käfig aussehen...“
FOLIE Bewohnerin am Gartenzaun in Stuttgart-Kaltental
[Die Mutter habe schließlich]“ein gutes halbes Leben in großer Autonomie (d.h.
Selbstbestimmung)sich selbst versorgt, noch mit über 80 Jahren Gartenarbeit als Lebenselixir
geleistet und sich mit Sprachen und Literatur beschäftigt, die Kinder und Enkelkinder
liebevoll und unterstützend versorgt...“. (S. 23).
Mit der Reflexion dieser Tochter ist das Spannungsfeld zwischen Wahrung der Autonomie
(d.h. Selbstbestimmung) der Erkrankten einerseits und Fürsorge für Sicherheit, Gesundheit
und letztlich das Leben umrissen, das große Unsicherheiten für die gesetzlichen Betreuer und
beruflich Pflegenden birgt und sie häufig in Situationen bringt, die als „pflegerisches
Dilemma“ beschrieben werden können. Dies kommt bei häuslicher Pflege durch Angehörige
genauso vor wie es Pflegende in ambulanten Diensten kennen, insbesondere wenn sie es mit
allein lebenden Kranken zu tun haben - was aufgrund der demografischen Entwicklung mit
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der überproportionalen Zunahme Hochaltriger bis 2050 und einer Zunahme von
Einpersonenhaushalten künftig noch stärker der Fall sein wird, in einer Tagespflege (vielleicht
seltener), aber auch in der vollstationären Pflege im Heim.
Ein Dilemma ist eine Zwangslage zwischen zwei unvereinbaren Wahlmöglichkeiten - ich
folge hierbei dem ursprünglichen Begriff, wie er aus der Logik bzw. sprachwissenschaftlichetymologisch mit Bezug auf die Literatur der Antike hergeleitet ist und eine Wahl zwischen
zwei höchsten Gütern (meist Leben oder Freiheit) bezeichnet, und nicht dem heute oft
inflationär für Trivialsituationen benutzten, der einfach nur für Entscheidungsprobleme bei
irgendeiner Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten benutzt wird. Ein Dilemma ist
gerade durch ein Nichtausweichenkönnen in einer existientiell entscheidenden Situation
gekennzeichnet, d.h. eine Entscheidung muss erfolgen. In der Psychiatrie bzw. Medizin
generell steht dabei eine Entscheidung von Dritten an, die für Menschen getroffen werden
muss - und dies oft unter Zeitdruck -, die aufgrund ihres physischen und /oder psychischen
Zustands selbst nicht – vorübergehend oder dauerhaft - für sich entscheiden und handeln
können, wie sie es in Zeiten unbehinderten Daseins („im Vollbesitz ihrer Kräfte“) tun würden
oder getan haben; zur Psyche gehören sowohl die kognitiven – also intellektuellen Funktionen
wie Verstehen, logisches Denken und damit auch Beurteilen einer Situation und der damit
verbundenen Handlungsnotwendigkeiten – wie auch die affektiven/emotionalen Strebungen.
FOLIE 2: ICD-10-Definition Demenz
Ich komme nochmals auf die Dilemmadefinition und ihre Behandlung in der neueren
pflegewissenschaftlichen Literatur zurück:
Die erwähnte Banalisierung des Dilemmabegriffs für moralische Entscheidungszwänge
schlechthin, die für Pflegende einen Gewissenskonflikt darstellen – oder noch banaler für
Situationen, die keinen erkennbaren moralischen Konflikt, sondern die Lösung eines
Problems erfordern, für das der/die in Handlungszwängen Stehende nur (derzeit) keine
Lösung kennt -, kann die rationale Reflexion in der Situation verhindern. Eine
Entdramatisierung kann helfen, ethisch gut begründete Entscheidungen zu treffen, statt sich in
einer (scheinbar) unlösbaren Situation als handlungsunfähig wahrzunehmen. Kesselring
(1992, S. 9) merkt dazu an, dass manche Situationen „nur auf den ersten Blick als Dilemma
erscheinen. Durch Hierarchisierung kann ein mögliches Schaden-Ausmaß gewichtet werden.“
Inzwischen gibt es Frageleitfäden für ethisch-rechtliche Handlungskonflikte im Pflegealltag
(Schneider et al., 2003, S. 264).
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Ich möchte im Folgenden zwei Aspekte herausgreifen: zum einen die inzwischen einige
Jahrhunderte alte Entwicklung des Autonomiebegriffs gegenüber der viel älteren
(Jahrtausende!) Fürsorgeethik, einschließlich der jüngsten Entwicklungen zum
Selbstvertretungsanspruch von Gruppen, die wir vor noch nicht allzu langer Zeit fürsorglich
(?) entmündigt und verwahrt haben. Zum anderen werde ich – für Pflege wie Sozialarbeit
gleichermaßen verpflichtende - berufsethische Prinzipien ins Gedächtnis rufen, deren
Befolgung so manchen Missbrauch von Zwängen nicht zum Wohle von Patienten/Bewohnern
(nicht nur für die Zielgruppe der Menschen mit dementiellen Erkrankungen) als Verstoß
gegen das Nichtschadensprinzip (primum nil nocere) entlarvt. Einem Dilemma können eben
auch neben Überzeugungskonflikten (Wahrung des größeren Wohls bzw. Abwendung des
größeren Schadens) Interessenkonflikte zugrunde liegen..
2. Fürsorge oder Autonomie?
Mitleiden und Barmherzigkeit sind christliche Tugenden, die die Pflege - zunächst durch
Ordensleute - seit dem Mittelalter geprägt haben. Das Gleichnis vom „barmherzigen
Samariter“, der sich ohne Ansehen der Person um den geschundenen, kranken Mitmenschen
kümmert, bestimmte bis ins 20. Jh. die Krankenpflege in christlicher Tradition und bestimmt
auch das Handeln in der Sozialen Arbeit seit ihrer Entstehung. Fürsorge war also Motivation
und Ziel pflegerischen Handelns von altersher, und Fürsorge für Menschen, die zeitweilig
oder dauerhaft Aktivitäten des täglichen Lebens (AtL) nicht mehr verrichten können, ist auch
heute Kernaufgabe der Pflege (Neumann, 2006). Unter den ethischen Theorien, die die Pflege
seit jüngerer Zeit für ihre ethische Fundierung entdeckt, wird besonders die Fürsorge- und
Beziehungsethik als pflegespezifisch reklamiert. In deren Mittelpunkt steht nach dem
belgischen Gesundheitsethiker Gastmans (1999) das Sich-Sorgen als „Ausdruck für den
Respekt, den Pflegende für die Personenwürde des anderen haben“ (Arndt, 2003, S. 38). Eine
Ethik der Fürsorge ergibt sich aus dem Bedeutungsfeld des Begriffs „care“, in dem Pflege als
Haltung und Handeln definiert wird: Pflege - Zuwendung - Anteilnahme - Mitgefühl - Sorge Fürsorglichkeit - Verantwortungsübernahme. Hier finden sich Anklänge an den im Baltikum
geborenen französischen Philosophen Emmanuel Lévinas, der für die Ethik der
Sonderpädagogik einflussreich ist: „Von aller Ewigkeit her steht ein Mensch für den anderen
ein. Von einzigem zu einzigem. Ob er mich ansieht oder nicht - er geht mich an; ich muß für
ihn einstehen.“ Der Andere muss in seiner Andersartigkeit unbedingt respektiert werden und
verpflichtet mich zu unbedingter Verantwortung für ihn und sein Leben.
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Weitaus jüngeren Datums ist in der Pflege die Diskussion um Patientenautonomie als
Leitlinie des ethischen Handelns. Dem liegt ein anderes Menschenbild zugrunde: das des
selbstbestimmungsfähigen, sein Leben aktiv gestaltenden Menschen. Es findet sich in vielen
Pflegetheorien, die in den USA der 1960er und -70er Jahre entstanden und die Grundlage
auch für deutsche Pflegetheorien waren. Nach Orem (1971) z.B. hat der Mensch das
Bedürfnis, sich längstmöglich selbst zu versorgen. Pflegende sollen krankheitsbedingte
Defizite kompensieren, Kranke sich so weit wie möglich aktiv an ihrer Pflege beteiligen.
Sowohl Fürsorge als auch Achtung vor der Autonomie des anderen können mit dem Wert des
menschlichen Lebens, seiner Einzigartigkeit und damit der inhärenten Würde des Individuums
begründet werden. Insbesondere in der Altenpflege ist das Spannungsverhältnis zwischen den
Prinzipien der Fürsorge (so viel wie nötig) und Autonomie (so viel wie möglich) Kern vieler
ethischer Konflikte. Deshalb soll zunächst auf die historische Entwicklung des
Autonomiebegriffs hingewiesen werden.
Der moderne Autonomiebegriff trägt als ethische Leitlinie nämlich nur bedingt und kann für
Alten- und Behindertenhilfe einem universalistischen Anspruch keinesfalls genügen. Nach
Schneider et al. (2003) begann die Entwicklung des Autonomiegedankens als eigenständiges
Konzept in der Renaissance, als Pico della Mirandola die Idee der Würde von der Theologie
löste und mit Selbstbestimmung verknüpfte. In der Aufklärung wurde sie an die
Denkfähigkeit gebunden, was bis heute (und nach den Erfahrungen des 3. Reiches verstärkt)
zum Streit zwischen ethischen Grundsatzpositionen führt.
Um diesen Streit kurz wiederzugeben: Mit dem modernen Autonomiebegriff (als an Denkund Selbstbestimmungsfähigkeit gebunden) können nicht äußerungsfähige und schwerst
mehrfachbehinderte Menschen (anenzephale Kinder, Säuglinge überhaupt, Menschen im
Wachkoma, Koma, Stupor, schwerst geistig behinderte Menschen, also auch schwerst
Demenzkranke) sehr einfach aus dem Würdekonzept und damit aus dem Schutz der
menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen werden.
Die christlich geprägte Ethik sieht dagegen im Menschen das Ebenbild Gottes. Als solches
besitzt er unverfügbaren Eigenwert und darf nach Kant niemals bloßes Mittel zu irgendeinem
Zweck werden, also nicht zum Objekt mitmenschlichen Verfügens, in welchem Kontext
auch immer. Der Mensch - so Kant - hat keinen Wert, er besitzt Würde. Klie (1997) plädiert
deshalb aus gutem Grund für den Begriff der Menschenwürde als ethischen Leitbegriff für die
Altenhilfe.
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Nun ist jedoch heute ein auf religiösen Vorstellungen beruhender Begriff der Menschenwürde
in einer pluralistischen Gesellschaft nicht mehr für jeden verbindlich. Schneider et al. (2003,
259) versuchen daher eine andere, sich ebenfalls auf Kant beziehende Universalbegründung:
dass nämlich Menschenwürde letztlich Menschheitswürde bedeute und im Individuum die
Gattung als einzigartig gewürdigt wird. (vgl. Lévinas!) Darauf stützt sich auch die
Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen von 1948, wenn sie von der allen
Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde ausgeht und Menschenwürde
als das „Gewissen der Menschheit“ bezeichnet.
Der ICN-Kodex verschreibt sich [dagegen]seit 1953 der Kantschen Ethik der Würde des
Menschen und schließt alle Menschen ein, wie schwer behindert sie auch sein mögen:
‘Untrennbar von Pflege ist die Achtung der Menschenrechte, einschließlich dem Recht auf
Leben, auf Würde und auf respektvolle Behandlung. Sie wird ohne Rücksicht auf das Alter,
Behinderung oder Krankheit, das Geschlecht, den Glauben, die Hautfarbe, die Kultur, die
Nationalität, die politische Einstellung, die Rasse oder den sozialen Status ausgeübt.’ ICN,
2000). Die Bedeutung der ideengeschichtlichen (und ethisch folgenreichen) Trennung der
Autonomie von der [von Gott, d.h. einer nicht anfechtbaren höchsten Macht,
verliehenen]Würde [und seine Verbindung in der Aufklärung wichtig werdenden
intellektuellen Fähigkeiten] wird in der Pflegeliteratur noch nicht immer erkannt...
3. Berufsethisches Handeln
Eine Beschränkung des Willens und Handelns von Menschen, die an fortgeschrittener
Demenz leiden, findet häufig statt, wenn sie an ihrem Bewegungs- oder Äußerungsdrang
gehindert werden, weil dies andere Personen – oft das Personal (oder Angehörige) – stört.
FOLIE: Am Tisch festgebundene Psychiatriepatientin
Mit Sicherheit handelt es sich hier nicht nur um ein moralisches Fehlverhalten, sondern u.U.
um ein strafrechtlich relevantes, wenn damit nur der Bequemlichkeit, dem Personalmangel
(bzw. inadäquatem Personal- bzw. Pflegemanagement generell) gedient wird und somit auf
ein pflegerisches Problem (z.B. Umgang mit Unruhe, die sich in ständigem Wandern oder von
der Station Weglaufen oder bei anderem die Umwelt störenden Verhalten wie Schreien) mit
nichtpflegerischen Mitteln wie medikamentöser „Fixierung“ durch Sedierung reagiert wird.
Ein riesiges Defizit, auf sogenanntes „herausforderndesVerhalten“ besser eingehen zu können,
liegt bei den hierzulande jahrzehntelang ausschließlich in der Pflegeplanung gepflegten AtLModellen, die (wissenschaftstheoretisch) als „Modelle großer Reichweite“ (Neumann/Ried,
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2002) mit zu hohem Allgemeinheitsgrad auch gar keine Hilfestellung bei der Pflegediagnostik
geben können! Eine gute – d.h. situations- und individuumsangemessene - Pflegediagnostik
ist nur mit Modellen kleiner Reichweite, also krankheitsbildspezifischen, zu verwirklichen.
FOLIE NDB (Algase et al., 1996)
Solche Diagnostikinstrumente ermöglichen eine Situationsanalyse, auf deren Grundlage erst
eine individuell angemessene Hilfeplanung erfolgen kann (wie in der Medizin der Therapie
eine Diagnostik vorausgehen muss). Diese muss mögliche Beiträge verschiedener Faktoren
berücksichtigen, die eben nicht nur in der groben Klassifikation der Zielperson als „dement“
liegen, sondern das jeweilige Demenzstadium, die individuellen Funktionsdefizite und
Ressourcen der Person, die augenblickliche Befindlichkeit und spezifische Situation, in der
das Verhalten auftritt und damit auch Umweltvariablen (materiell und personell sowie
interaktionistische) berücksichtigen; denn erst damit kann man zu der für eine ethische
Reflexion erforderlichen differenzierten Betrachtung des Einzelfalls gelangen. Wird dieses
Handwerk nicht beherrscht – und in der Pflegediagnostik sind riesige Defizite festzustellen,
obwohl es seit über 10 Jahren (vor allem US-amerikanische oder australische) Ansätze solcher
Diagnoseinstrumente gibt -,besteht die große Gefahr unnötiger Zwangsmaßnahmen – d.h. die
Demenzkranken müssen für fehlendes berufsethisches Bewusstsein herhalten. (Dies gilt genau
so für die Berufsgruppe der Sozialarbeiterinnen, denn der Ethikkodex des Deutschen
Berufsverbandes für SA/SP und HP schreibt Fortbildungspflicht vor,d.h. dass sich die
Mitglieder die aktuellen fachspezifischen wissenschaftlichen Erkenntnisse aneignen!
(Schneider, 1999, S. 218). Es ist eine wichtige Forderung der Berufsethik für viele Berufe,
sich stets auf dem besten Stand der Erkenntnis in einer Disziplin zu halten, denn Handeln auf
dem Stand veralteter Kenntnisse birgt ein viel höheres Gefährdungspotential für
Schädigungen bei Klientinnen/Patientinnen!
Das fehlende Problembewusstsein zeigt sich auch in fehlender Nachfrage nach einschlägigen
Fortbildungen: Während „Umgang mit ‚störendem’(!) Verhalten“ ein „Dauerbrenner“ ist, gibt
es für die Ursachenforschung, also demenzspezifische Diagnostik, kaum Nachfrage. (Im GV
angebotene einschlägige Fortbildungen werden nur von wenigen nachgefragt, weil eben auch
die PDL die Notwendigkeit nicht verstehen.In der Brandenburgischen Verordnung für die
Ausbildung zur Fachkraft in der Gerontopsychiatrie ist dies jedoch ein wichtiger Baustein im
Curriculum.)
Wer die die letzten hundert Jahre Psychiatriegeschichte durchgeht, wird feststellen, dass wir
sozusagen in einer „zweiten Aufklärung“ anderen Äußerungsformen des Menschseins
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(geistiger.Behinderung in ihren verschiedenen Erscheinungsformen, Formen und individuellen
Erscheinungsbildern psychischer Erkrankungen) allmählich auch anders zu begegnen gelernt
haben – aufgeklärter und abgeklärter, empathischer und flexibler. In neueren Pflege- und
Behandlungsansätzen wird Autonomie auch Gruppen von Behinderten und psychisch Kranken
zugestanden, die früher „fürsorglich verwahrt“ blieben, da ihnen grundsätzlich die Fähigkeit
abgesprochen wurde, Entscheidungen für sich selbst zu treffen. In Selbsthilfebewegungen wie
der „Irrenoffensive“ oder der „self-advocacy-Bewegung“ von Menschen mit (geistiger)
Behinderung zeigen Betroffene, dass sie für sich oder ihre Gruppe sprechen und handeln
möchten. Seit wenigen Jahren gibt es auch von Demenzkranken (Frühdiagnostizierten i.d.R.)
eine Selbstvertretungsbewegung, besonders rege sind die Briten bzw. Schotten, wo
Demenzkranke im vorletzten Jahr ihren ersten Kongress zur Selbstvertretung abgehalten
haben. Betroffene verschiedener Krankheitsphasen (unter-) stützen sich, achten auf die
Wahrung ihrer Rechte, wehren sich gegen Fremdbestimmung und bevormundendes
Expertentum; vielmehr beraten sie, welche Experten sie hinzuziehen wollen, die für ihre
Lebensprobleme die nötige Sensibilität aufbringen.
Der britische Psychologe Tom Kitwood hat 1996 mit seinem personenzentrierten Ansatz der
professionellen Begleitung dementiell erkrankter Menschen den Weg zu dieser neuen
Sichtweise gebahnt, indem er sich von der „malignen“ Sozialpsychologie abwandte und deren
Auswirkungen auf die Einschränkungen des Menschseins, der Lebensqualität Demenzkranker
aufzeigte. Gleichzeitig legte er mit dem Diagnose- und Evaluationsinstrument DCM eine
methodische Hilfe vor, Wohlbefinden (und damit LQ) – nicht nur von Demenzkranken,
sondern allen auf Hilfe und Pflege angewiesenen Menschen – einschätzen zu lernen. Das
aufwändige Instrument lehrt vor allem eins: besser zu beobachten und sensibel für die Nöte
des Anderen zu werden.
4. Fürsorge und Autonomie
In moralischen Konflikten bis zu echten Dilemmata können sich Pflegende bei Menschen mit
Demenz befinden, wenn sie zwischen Autonomie und anderen hohen Gütern wie
Lebenserhaltung oder körperlicher Unversehrtheit entscheiden müssen – wie wir schon
eingangs gesehen haben. Oft bleibt für solche Entscheidungsfindung in der Situation keine
Zeit, im Sinne Habermas’scher Diskursethik (wie sie in de Pflegeforschung derzeit präferiert
wird) mit allen unmittelbar und mittelbar Betroffenen zu einem Konsens zu kommen.
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In der pflegewissenschaftlichen wie auch der pädagogischen Literatur zur Ethik des
Fürsorgehandelns gibt es etliche Stimmen, die die Dichotomie Autonomie versus Fürsorge
zwar nicht auflösen können, aber für ein rationales Procedere werben. Besonders klar hat dies
1992 der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik getan, indem er unter dem
Begriff der „Advokatorischen Ethik“ Grenzbereiche (sonder-/heil-)pädagogischen Handelns
diskutiert, die ebenso die medizinische Behandlung und Pflege, und zwar nicht nur die von
Menschen mit schwerster geistiger Behinderung, tangieren, indem er definiert:
„Unter einer advokatorischen Ethik möchte ich eine Theorie moralischen Handelns verstehen,
die klärt, ob, unter welchen Umständen und aufgrund welcher Rechtstitel Personen das Recht
haben, ohne das Wissen oder gegen den erklärten Willen anderer Menschen in eben ihrem
Namen zu handeln“, und zwar bei „der Durchsetzung von Interessen und Ansprüchen
bestimmter Menschen gegen sich selbst, die sie aufgrund beliebiger Umstände
vernachlässigen.“ (S. 82) D. h. „Im advokatorischen Handeln maßt sich ein des Handelns und
der Artikulation fähiger Aktor kraft seiner rationalen Einsicht das Recht an und misst sich die
Pflicht zu, namens der Artikulation nicht fähiger Lebewesen deren Rechte für sie
wahrzunehmen.…Eine advokatorische Ethik wird an dieser Stelle nicht umhin können,
namens des artikulationsunfähigen oder –unwilligen Aktors, der im Verdacht irrationalen
Handelns steht, eine stellvertretende Zweck-Mittel-Kalkulation bzw. –Hypothese
anzustrengen und nach bestem Wissen und Gewissen zu beurteilen, ob [z.B.]der mögliche
angestrebte Lustgewinn in einem für rationale Aktoren vertretbaren Verhältnis steht (S. 89f)
(Hervorhebungen EN)“
„Advokatorische Ethik fordert damit ein durchweg reflektiertes Verständnis der Helferrolle.
Fürsorgeethik findet in der advokatorischen Ethik ein Korrektiv, das ‚Überfürsorge’ in jeder
Hinsicht, in Form von Autonomiebeschränkungen im Willen (Überreden, Nichtbefragen) und
Können (z.B. der Selbständigkeit bei Selbstpflegehandlungen) als unethisch entlarven kann
und damit eine Entscheidungshilfe bietet.“ (Neumann in Helmchen et al., 2006, S. 324f)
Hilfreich in diesem Prozess ist m.E. der Einbezug der Beziehungsethik als handlungsleitendes
Element in (für-)sorgenden Berufen wie der Sozialen Arbeit, der Pflege und der Medizin,
insbesondere in Bereichen mit Menschen, die vorübergehend oder dauerhaft nicht oder
eingeschränkt selbstbestimmungsfähig sind, stärker noch in vielen Bereichen der Pflege.
Beziehungsethik befasst sich mit guten und fairen Beziehungen zum anderen, wie sie z.B.
Astrid Norberg (2002, S. 23) beschrieben hat. Als Methode der Sensibilisierung für ein
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Verständnis der „Geschichte des Anderen“ und als Methode der diskursiven Konfliktlösung
(s. auch Schneider et al., 2003) favorisiert sie eine „narrative Ethik“. Die vielschichtige
empathische Erzählung aus guter Kenntnis der Lebenslage heraus von Patienten/Klienten soll
vorschnelles Urteilen auf unzureichender Entscheidungsbasis verhindern. Mit diesem Ziel
betriebene Biografiearbeit, die gerade bei Demenzkranken – aber natürlich auch bei Menschen
mit einer (angeborenen) geistigen Behinderung immer ein „work in progress“ ist, ist deshalb
unabdingbar. Als „totes Kapital“ vergilben jedoch die „für die MDK-Kontrolle“ ausgefüllten
Bögen in allzu vielen Einrichtungen!)
Eine differenziertere Position, die zwischen den Ansätzen der Fürsorge und der Autonomie
vermittelt, wie die von Arndt (1996; 2003), kann auch für die Pflege von Menschen mit Demenz hilfreich sein. Sie versteht unter ‘Wahrung der Autonomie’ in erster Linie den
Prozess der partnerschaftlichen Beziehungsgestaltung zum Patienten [oder Bewohner]. Nur
Ernstnehmen des Patienten sei moralisch vertretbar (so auch Sperl, 2002) und erfordere
genaues Hinsehen (und -hören) in der Kommunikation und Förderung von
Eigenverantwortung durch Mobilisierung von Ressourcen...
FOLIE: Bewohner Stuttgart-Kaltental mit Aktenmappe auf dem Weg „ins Büro“
(Dieser Bewohner wäre vor 15-20 Jahren in vielen Einrichtungen aufgrund seines
Wanderdranges mit als aggressiv wahrgenommener Unruhe noch sediert worden – dabei will
er nur seine lebenslang ausgeübte Pflicht erfüllen- was er hier aufgrund biografiekundigen und
–sensiblen Umgangs tun kann.)
Der gemeinsame Versuch, Probleme zu lösen, „gründet auf der Achtung der Autonomie des
anderen...Eine solche Haltung bedeutet Abschiednehmen von der
patriarchalischen/matriarchalischen Beziehung zwischen Pflegenden und Patienten,...bedeutet,
die dominierende Position des Fachmannes, der Fachfrau aufzugeben zugunsten gemeinsamen
Denkens und von Patienteninitiative geleitetem Handeln’ (Arndt, 1996, S. 51...) (s. o. der
„andere Blick“ auf Patienten)
‘Kooperation soll Patienten ...[aber]nicht überfordern’, schränkt Arndt (a.a.O.) ...ein.
Fürsorge solle auf das Selbsthilfepotential abgestimmt werden, dabei aber die Selbstbestimmung achten. Ein dergestalt relativiertes Autonomiekonzept, das Autonomie nicht
verabsolutiert, sondern auf Bereitschaften und Kompetenzen des Individuums Rücksicht
nimmt, passt sich den Besonderheiten im Krankheitsverlauf und Biografie von Menschen mit
Demenz an.
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Ich schließe den Bogen zurück zu meiner Anfangspassage, zu den Selbstzweifeln einer
pflegenden und betreuenden Tochter über ihre moralische Entscheidung zugunsten der
Fürsorge, d.h. Sicherheit, und gegen weitgehende Autonomie, die sich ihr im Vergleich der
Spuren ihrer Mutter im verschneiten Garten mit dem eingesperrten, nach Freiheit suchenden
Käfigtieres aufdrängen.
FOLIE: Alte Frau hinter Gitterstäben
Die Rechtsprechung stützt dieses Autonomiekonzept im Sinne einer Bewegungsfreiheit
inzwischen meist entschiedener, als viele Angehörige dies tolerieren. Sie müssen unbedingt in
die Pflegeplanung und Entscheidungsfindung für mögliche Dilemmasituationen eingebunden
werden.
Ethik liefert keine „Rezepte“, sondern kann für moralisches Handeln sensibilisieren, d.h. für
eine Güterabwägung im Einzelfall unter Beachtung der besonderen Umstände.
Zusammenfassung
1. Berufsethisches Handeln auf erfolgt bei jeweils aktuellem Erkenntnisstand und über
Berufsgrenzen hinweg
2. Beziehungsethik bedingt Sensibilisierung für die Nöte des Anderen: Ethisches
Argumentieren – so MacIntyre – hängt von der zugrunde liegenden Geschichte (also
dem Einzelfall) ab. Dies unterstreicht wiederum die Bedeutung der sensiblen
Beschäftigung mit der Geschichte des Anderen (s. personzentrierter Ansatz (Kitwood))
3. „Neue Aufklärung“: Bedeutung von Autonomie für Gruppen, die früher „fürsorglich
verwahrt wurden > Selbstvertretungsanspruch achten bedeutet Abschied vom
paternalistischen/ maternalistischen Fürsorgeverständnis
Literatur
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Need-driven dementia-compromised behavior: an alternative view of disruptive behavior.
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Neumann, E.-M. & Ried, S. (2002). Über die Unzulänglichkeit der Bedürfnismodelle für die
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Sperl, D. (2002). Ethik in der Pflege. Verantwortetes Denken und Handeln in der
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