DIE ZEIT

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> DIE ZEIT
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> 37/2004
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> Die Freiheit eines Mörders
>
> Alle Welt fahndet nach Radovan Karadziç;. Obwohl der bosnisch-serbische
> Expräsident und Kriegsverbrecher viele Spuren hinterlässt, wird er nicht
> gefunden. Warum?
>
> Von Marc Wiese
>
> Seine Finger zittern, als er sich die Beinprothesen anlegt. Seit Jahren kann
> er ohne sie nicht mehr laufen. Mühsam zieht sich Zelko Kopanja an dem
> Geländer an der Wand hoch. Langsam beginnt er sich anzukleiden. Er schwankt
> unbeholfen, als er sich die Hose über die künstlichen Beine zieht. Dann
> nimmt er seine beiden Krücken und stakst Schritt für Schritt die Holztreppe
> herunter. In der Küche setzt er Kaffeewasser auf und stellt das Radio an.
> »Die internationalen SFor-Truppen haben bei ihrer Fahndung nach Radovan
> Karadziç; den gesuchten Kriegsverbrecher erneut knapp verpasst«, schallt
> es in bosnischer Sprache aus dem Lautsprecher.Radovan Karadziç; besucht
> kurz vor Kriegsende 1995 die Stadt Banja LukaFoto: Milivoje Pavicic/AP
>
> »Karadziç; habe ich all das zu verdanken«, sagt Kopanja leise und schaut
> auf seine künstlichen Beine. Er hatte sich seit Ende des Krieges in Bosnien
> am 21. November 1995 mit seiner Gazette Nezavisne novine (auf Deutsch
> schlicht: »Unabhängige Zeitung«) auf die Fährte Radovan Karadziç;'
> gesetzt. Wieder und wieder prangerte er mit seinen Artikeln an, dass sich
> der gesuchte Kriegsverbrecher noch immer in Freiheit befände. Kopanja,
> selber ein Serbe, begann, eine große Serie über die Kriegsverbrechen seiner
> Landsleute zu schreiben. Der Aufhänger war Radovan Karadziç;. »Ich war
> der Erste, der in der Serbischen Republik Bosniens offen über unsere eigenen
> Kriegsverbrechen schrieb«, erinnert sich der Journalist. Als er die Serie
> startete, habe die Redaktion fast täglich Drohungen erhalten, mit Prügeln
> hätten sie gerechnet, »aber an so etwas habe ich nie gedacht. Ich kann bis
> heute nicht glauben, dass mich jemand wegen meiner Artikel umbringen
> wollte.«
>
> Zeitweise jagen ihn fast 50.000 Nato-Soldaten
>
> Es passierte einen Tag nach seinem 45. Geburtstag. Kopanja befand sich auf
> dem Weg in die Redaktion. Er überlegte noch kurz, ob er zu Fuß gehen sollte.
> Doch dann stieg er ein in seinen blauen Golf. Die Bombe explodierte unter
> ihm, als er den Zündschlüssel herumdrehte. »Es gab einen sehr, sehr lauten
> Knall. Plötzlich sah ich meinen rechten Fuß neben mir auf dem Beifahrersitz
> liegen, ich verlor das Bewusstsein.« Sechs Monate kämpfte Kopanja mit dem
> Tod.
>
> Radovan Karadziç; befehligte während des Krieges in Bosnien die
> serbischen Truppen. Sein erklärtes Ziel war die vollständige Vertreibung
> aller Muslime. Am Ende des Krieges befanden sich vier Millionen Menschen auf
> der Flucht, fast 200.000 waren tot. Bilder der Kämpfe gingen um die Welt:
> Sarajevo unter Beschuss und Gefangene hinter Stacheldraht in dem Lager
> Omarska und - die Gräueltaten in der Enklave Srebrenica. Auf Karadziç;
> Weisung wurden dort in der zweiten Juliwoche 1995 fast 8.000 unbewaffnete
> Männer, darunter auch Jugendliche, hingerichtet. Die Ereignisse sind
> bekannt, auch die Rolle des Radovan Karadziç;. Er gilt als einer der
> Organisatoren des Massenmordes.
>
> Nur zwei Wochen nach dem Fall von Srebrenica wird Karadziç; vom
> Internationalen Gerichtshof in Den Haag wegen Verbrechen gegen die
> Menschlichkeit angeklagt. Fünf Millionen Dollar werden auf seinen Kopf
> ausgesetzt. Nach Osama bin Laden ist Karadziç; der meistgesuchte Mann
> der Welt. Zeitweise jagen ihn fast 50.000 Nato-Soldaten der internationalen
> SFor-Truppen. Doch gefasst haben sie ihn bis heute nicht, dabei ist Bosnien
> ein kleines Land. Seit dem Beginn der Suche nach Radovan Karadziç; hält
> sich hartnäckig die Vermutung, dass seine Verhaftung nie wirklich erwünscht
> war (siehe Ist Karadziç; in Russland, im Kloster?).
>
> Čelibiç;i ist ein kleines Dorf in der serbischen Teilrepublik. Weit
> ab in den Bergen nahe der Grenze zu Montenegro gelegen, gerade mal ein
> Dutzend Häuser, eine Schule und eine kleine Kirche. Im Frühjahr 2002 geriet
> Čelibiç;i für kurze Zeit ins Blickfeld der Weltöffentlichkeit.
> Hier, so hieß es, sollte sich Karadziç; versteckt halten.
>
> Um fünf Uhr morgens landeten fünf Hubschrauber amerikanischer SFor-Einheiten
> in dem kleinen Dorf. Maskierte Spezialkommandos sprengten Häuser auf und
> schossen in Türen. Bodentruppen sicherten die Hügel und Pfade rings um das
> kleine Dorf, damit der Kriegsverbrecher nicht fliehen konnte. CNN
> unterbricht das Programm und meldet, Karadziç; sei in Čelibiç;i
> festgenommen worden. Später wurde die Nachricht zurückgenommen. Die SFor
gab
> bekannt, der Mann sei nur knapp entkommen.
>
> Die Wahrheit sieht wohl anders aus. Schon Tage vor dem geplanten Zugriff
> beobachteten die Bewohner von Čelibiç;i, dass die deutschen
> SFor-Patrouillen Soldaten in der Gegend stationierten. »Wir sahen, dass sie
> immer mit fünf Jeeps kamen, aber nur mit vieren zurückfuhren. Ein Fahrzeug
> blieb in der Hochebene stationiert«, erzählt Zimanovif Miliajiz, der
> Postbote des kleinen Dorfes. So sei das den ganzen Tag gegangen, bis das
> ganze Gebiet abgeriegelt war. »Jeder wusste, dass etwas im Gange war. Als
> die Helikopter kamen, war es keine Überraschung«, erinnert sich der
> Augenzeuge. Die Leibwächter um Karadziç; waren ohnehin längst
> informiert. Ein französischer SFor-Offizier hatte den geplanten Einsatz am
> Telefon verraten, wie der britische Geheimdienst später herausfand. Warum
> der Mann das tat, ist bis heute unklar.
>
> Soll Karadziç; nicht gefunden werden? Der amerikanische Botschafter
> Clifford Bond gilt als der Mann mit dem größten Einfluss in Bosnien. Er
> residiert in Sarajevo in einem festungsartig gesicherten Gebäude. Die Suche
> sei nie vorbei, versichert Bond. »Ein fürchterliches Kapitel in der
> Geschichte der Region wird nicht abgeschlossen sein, bevor Leute wie
> Karadziç; nicht festgenommen und nach Haag gebracht werden. Und das wird
> geschehen.«
>
> Der bosnische Spion wusste genau, wo Radovan Karadziç; sich versteckt
> hielt. Der unscheinbare junge Mann erinnert in seiner schwarzen Kleidung
> eher an einen Mönch als an einen Geheimdienstmitarbeiter. Als Treffpunkt hat
> er einen Ort weit außerhalb der Stadt vorgeschlagen. Mohammed Ajanoviç;
> arbeitete für die Abteilung zur Aufklärung und Verfolgung von
> Kriegsverbrechen beim bosnischen Geheimdienst in Sarajevo. Sein Chef Munir
> Alibabiç; hatte ihm einen klaren Auftrag gegeben: Finde Karadziç;!
> Jahrelang setzte sich der Spion auf die Spur des Gesuchten. Dann fand er
> 2002 Karadziç; und zwölf seiner Leibwächter in dem Kloster Osren in der
> Bergen Ostbosniens. Nach sechs Jahren gab es damit erstmals eine heiße Spur.
>
> »Während unserer Arbeit sind wir ihm mehrmals nahe gekommen, dann haben wir
> es geschafft, das genaue Versteck von Radovan Karadziç; zu finden. Diese
> Information haben wir an die SFor gegeben«, behauptet Ajanoviç;. Doch
> als sie den »Internationalen«, wie die SFor-Trupppen und das Büro des Hohen
> Repräsentanten Paddy Ashdown in Sarajevo bei den Einheimischen nur heißen,
> von ihren Erkenntnissen berichteten, sei nichts geschehen. Die haben nicht
> reagiert. Es bestand kein Interesse bei der SFor, als wir ihnen sagten, wir
> wüssten genau, wo Radovan Karadziç; ist.« Deshalb gaben Ajanoviç;
> und sein Chef ihre brisante Information an die Presse in Sajarevo weiter und
> machten somit die Untätigkeit der SFor publik. Kurz darauf werden sie auf
> Druck des Hohen Repräsentanten aus dem Geheimdienst entlassen.
>
> Die »Internationalen« werfen ihnen Geheimnisverrat vor. Die beiden werden
> unter Anklage gestellt. Auf ein Dekret von Paddy Ashdown wird ihnen
> untersagt, sich öffentlich zu äußern, ein öffentliches Amt wahrzunehmen oder
> an Wahlen teilzunehmen. Wörtlich heißt es in diesem Papier: »Sie haben ihre
> Pflicht verletzt, geheime Information vor falschem Gebrauch zu schützen.«
> Ihre Entlassung erfolgt drei Tage, bevor die Den Haager Chefanklägerin Carla
> Del Ponte nach Sarajevo kommt. Sie stellt kurz darauf Ajanoviç; und
> seinen Chef als Fahnder für das Den Haager Tribunal ein. Del Ponte hat
> wiederholt beklagt, dass die Nato Karadziç; nicht wirklich suche. »Ich
> habe keine Erklärung, warum der politische Wille fehlt. Ich glaube, dass die
> Nato, wenn sie wollte, Karadziç; sehr schnell haben könnte«, sagte sie
> noch im Sommer letzten Jahres bei einem Besuch in Berlin.
>
> Die kleine Straße vor dem Wohnblock ist von Abfällen gesäumt. Auf manchen
> Wäscheleinen hängen noch olivgrüne Militärhemden. Hier, in einem der tristen
> Vororte Banja Lukas, sind die Folgen des Embargos, das nach dem Krieg lange
> über die serbischen Teile Bosniens verhängt war, noch zu spüren. Inmitten
> all der Armut und des Drecks befindet sich die Redaktion der Zeitung
> Nezavisne novine, deren Chef seine Recherchen so teuer bezahlte. In seinem
> kleinen Büro muss Zelko Kopanja erst zwei Stühle zur Seite räumen, damit
> Besucher das Zimmer betreten können.
>
> Kopanja erinnert sich gut an die Hinweise der Geheimdienstleute. »Die
> Führung der SFor meinte damals, dass es nicht angemessen sei, eine Festnahme
> in einem Kloster durchzuführen.« Es sei eine Verletzung der religiösen
> Gefühle des serbischen Volkes. Man müsse warten, bis Karadziç; und seine
> Leute den Ort gewechselt hätten. »Die Suche nach Karadziç;«, davon ist
> Kopanja überzeugt, »das ist eine Show für die westliche Öffentlichkeit. Sie
> wollen zeigen, dass sie was tun. Eigentlich machen sie nur einen Zirkus
> daraus. Ich meine: Hier waren über 50.000 Nato-Soldaten, und sie haben
> nichts unternommen. Das ist doch lächerlich.«
>
> »Die Stadt brennt wie der Weihrauch in der Kirche«, dichtet Karadziç;
>
> Dann holt er eine Videokassette heraus, eine Produktion der BBC aus dem
> Krieg. Ein Panzerrohr bewegt sich darin langsam durch das Bild. Unter dem
> Rohr ist Sarajevo zu sehen. Karadziç; und der rechtsgerichtete russische
> Dichter Eduard Limonow stehen auf einem Hügel, vor ihnen ein
> Maschinengewehr. Karadziç; schießt kurz in die belagerte Stadt hinunter.
> Dann lädt er seinen Freund Limonow ein, es ihm gleichzutun. Limonow schießt
> eine Salve nach der anderen in die Häuser Sarajevos. Töten als Spaß und
> Zeitvertreib. Karadziç;' Stimme ist zu hören, er rezitiert eines seiner
> Gedichte:
>
> Ich höre die Schritte der Zerstörung. / Die Stadt brennt wie der Weihrauch
> in der Kirche. / In dem Rauch sehe ich unser Gewissen. / Zwischen
> bewaffneten Gruppen, bewaffneten Bäumen. / Alles, was ich sehe, ist
> bewaffnet. / Alles zeigt Armee, Kampf und Krieg.
>
>
> Der O-Ton Karadziç;' geht weiter, er habe diese Zeilen vor über 20
> Jahren geschrieben, sagt er in dem Video. »Viele meiner Texte sind wie
> Weissagungen, und manchmal erschreckt mich das.« Chefredakteur Kopanja
> stoppt das Band.
>
> Jahrelang hatte sich Karadziç; in der Literaturszene der Stadt bewegt.
> Jeder kannte den jungen Mann mit dem wallenden Haar, der 1945 in dem kleinen
> Dorf Petrijca in den Bergen Montenegros geboren wurde. Als junger Mann kam
> er nach Sarajevo, er studierte Medizin und Psychologie. Er betreute als
> Mannschaftsarzt den Erstligafußballclub FC Sarajevo. Jahrelang lebte und
> arbeitete Karadziç; mit Muslimen zusammen, die seine besten Freunde
> waren. Niemand ahnte, was kommen würde. »Meine Mutter hat ihn immer Sohn
> genannt, er fuhr sogar mit uns in die Ferien«, erinnert sich sein ehemaliger
> Chef im Kosevo-Hospital, Professor Ismet Čeriç;, der 17 Jahre mit
> Karadziç; zusammengearbeitet hat.
>
> »Als die ersten Granaten auf unsere Stadt fielen, schellte bei meiner Mutter
> plötzlich das Telefon. Es war der Beginn unserer muslimischen Bairan-Ferien,
> die für uns sehr wichtig sind. Karadziç; war in der Leitung und
> gratulierte ihr zum Beginn der Ferien. Meine Mutter erbleichte, denn der
> Anrufer ließ uns Muslime gerade bombardieren. Sie legte auf. Rundherum
> konnte man die Einschläge hören.«
>
> Es war das Jahr 1992, als Radovan Karadziç; die Zeilen seines Gedichtes
> wahr machte und Feuer auf Sarajevo fiel. Zigtausend Menschen starben bei dem
> Beschuss. Die Schritte der Zerstörung, wie er sie in seinem Gedicht nannte,
> löschten alte Freundschaften aus. Die Wandlung des Radovan Karadziç; vom
> Arzt zum Kriegsherrn beschäftigt den Psychiater Ismet Čeriç;,
> seinen ehemaligen Freund, seit Beginn der Bombardements. »Es ist unmöglich,
> ihn zu verstehen«, räumt der Arzt ein. »Er war nie ein strenger Nationalist.
> Dann geht er in die Politik, und nur ein paar Monate später ist alles
> anders. Er bombardiert die Stadt, zerstört unsere Klinik und tötet seine
> Freunde, mit denen er 20 Jahre lang zusammengelebt hat!«
>
> Ab und an trifft sich Čeriç; mit dem Schriftsteller Marko
> Vesoviç;. Gemeinsam wandern sie durch die Gänge der alten Bibliothek,
> die gerade wieder aufgebaut wird. Sie erinnern sich, wie es damals schwarze
> Schmetterlinge auf Sarajevo regnete, wie die Bücher verbrannten und wie die
> Asche zurücksank auf den Boden der umkämpften Stadt. »Hier in diesem Saal
> standen früher meine Bücher«, erinnert sich Vesoviç;. Die Mauern sind
> noch immer rußverschmiert. Die Staubkörner tanzen in dem hellen Licht, das
> durch die großen Fenster fällt, in denen bis heute die Scheiben fehlen. Der
> groß gewachsene Schriftsteller sieht Karadziç; verblüffend ähnlich, er
> hat das gleiche wallende, graue Haar. Die beiden sind in Montenegro in
> Nachbardörfern aufgewachsen.
>
> »Ich erinnere mich gut: Die bosnische Polizei hatte während des Krieges ein
> Gespräch Karadziç;' im Militärfunk abgehört. Er sprach mit einem seiner
> Militärkommandanten. Dieser hatte sich darüber beschwert, dass die Serben
> die Waffen nicht in die Hand nehmen wollen. Und auf einmal schrie
> Karadziç; laut: >Dann erschießt sie doch, verdammt noch mal, erschießt
> sie alle!< Diesen Schock, den ich damals bei diesem Satz erlebt habe, werde
> ich nie vergessen. Ich hatte Radovan sehr gut gekannt, aber das hier war
> jemand anderer. Ich fragte mich: Wer ist das? Ich habe ihn als einen
> Weichling gekannt, den seine Frau vor unseren Augen mit ihrem Stöckelschuh
> geschlagen hat. Und plötzlich zeigt sich die Bestie in ihm, diese Bestie
> ruft: >Erschießt sie alle!<«
>
> Radovan Karadziç; hatte das Oberkommando über die serbischen Truppen.
> Selbst General Ratko Mladiç; und seine Belgrader Truppen waren ihm
> unterstellt. Auch nach Kriegsende herrschte er mit uneingeschränkter Macht
> über die serbischen Teile Bosniens. Alle Macht lag in seinen oder in den
> Händen seiner Familie: das Präsidentenamt, die Parteiführung der SDS, das
> staatliche Fernsehen, Radiostationen, das Rote Kreuz der Republika Srpska
> und nicht zuletzt die illegalen Geschäfte mit Öl und anderer Schmuggelware.
> Die Familie Karadziç; verdiente mit der Korruption Millionen von Dollar.
> Dann trat er plötzlich zurück. Am 19. Juli 1996 verkündet der amerikanische
> Chefuntergesandte Richard Holbrooke der Weltpresse, Radovan Karadziç;
> habe sein Amt als Präsident der Republika Srpska niedergelegt. Er habe
> zugesichert, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. »Ihm war klar, dass
> er das Ende seiner politischen Karriere unterzeichnete«, sagt Holbrooke.
> Doch warum gab Karadziç; seine Macht bereitwillig ab?
>
> Seit Jahren kursieren Gerüchte, dass es neben dem offiziellen Vertrag noch
> eine geheime Vereinbarung zwischen den Amerikanern und Karadziç; gegeben
> hätte. Beweise dafür existieren nicht. Karadziç; selbst hatte sein
> Kabinett in Pale damals von seinem bevorstehenden Rückzug informiert. In
> seinem einstigen Hauptquartier arbeitet heute eine Schraubenfabrik. Der
> Direktor der Firma versichert, das Besprechungszimmer sei nicht verändert
> worden. »Aus Respekt und Bewunderung für Doktor Karadziç;«, wie er sagt.
>
> Schwere Vorhänge dämpfen das Licht. Rundherum rote Ledersessel, einer steht
> am Kopfende des Tisches - Radovan Karadziç;' Platz. In diesem Raum tagte
> während des Krieges die Führung um Karadziç;. Hier wurden alle
> Entscheidungen gefällt, auch die über Leben und Tod. Cicko Bjelica saß mit
> am Tisch. »Hier erklärte Radovan Karadziç; uns, dass er nicht mehr für
> das Amt des Präsidenten der bosnisch-serbischen Republik kandidieren werde
> und auch die Führung der Partei abgebe. Er sagte, dass er aus der
> Öffentlichkeit verschwinden werde. Der Grund sei ein Gentlemen-Deal mit der
> amerikanischen Regierung.«
>
> Hat demnach die US-Regierung ein geheimes Abkommen mit Karadziç;
> getroffen? Der ehemalige Botschafter der Republika Srpska in Moskau, Tudor
> Dutina, bestätigt das: »Ja, diese Abmachung hat es gegeben. Ich habe mit der
> russischen Regierung darüber verhandelt, ob sie damit einverstanden sei. Ich
> war sehr überrascht: Die Russen wussten bereits von dem geplanten Vertrag.
> Obwohl ich zugeben muss, dass niemand diesen Vertrag je als Ganzes gesehen
> hat. Aber darin hat es viel mehr Zusagen Karadziç; gegenüber gegeben,
> als man sich das vorstellen kann.«
>
> Der amerikanische Botschafter Clifford Bond will dagegen von einer
> Vereinbarung mit Karadziç; nichts wissen: »Der frühere Präsident Clinton
> hat deutlich gemacht, dass seine Regierung niemals solch eine Vereinbarung
> akzeptiert hätte.«
>
> Radovan Karadziç; führte Verhandlungen nie allein. Er wollte sich nach
> den Gesprächen immer mit jemandem austauschen können. Der Mann, der ihn
> begleitete, heißt Aleksa Buha, der heute als Professor für Philosophie in
> Belgrad lebt. Der ehemalige Außenminister der Serbischen Republik war bei
> allen Verhandlungen dabei. In dem offiziellen Vertrag, in dem Karadziç;
> seinen Rücktritt unterzeichnete, hat Buha als Zeuge unterschrieben. »Die
> Verhandlungen dauerten stundenlang«, so Buhas Erinnerung, »es war zwischen 3
> und 4 Uhr nach Mitternacht im Juli 1996. Immer hatte Richard Holbrooke etwas
> zu korrigieren, doch am Ende haben beide Seiten Karadziç;' Rücktritt
> unterschrieben. Dann habe ich Herrn Holbrooke gefragt, was wir dafür
> bekommen. Was sind die Chancen unserer Partei SDS und die Doktor
> Karadziç;'? Holbrooke sagte, die SDS geht jetzt normal in die Wahl. Was
> Haag betrifft - er zeigte auf die beiden Unterschriften -, so haben wir die
> Geschichte von Karadziç; und Den Haag erledigt. Das Tribunal von Haag
> ist mit diesem Papier passé. Wir haben französisch gesprochen, und ich
> erinnere mich gut, dass er dieses Wort gebraucht hat. Mit diesem Papier ist
> das Tribunal von Haag passé. Le tribunal à La Haye est passé.«
>
> Richard Holbrooke arbeitet heute als Vice-Chairman der New Yorker Firma
> Perseus. Er bestätigt den offiziellen Teil der Abmachung. Auf einem Fax
> bekräftigt er, nur dieser sei archiviert worden. Holbrooke bestreitet eine
> Absprache bezüglich des Tribunals in Den Haag.
>
> Tatsache ist, dass sich Karadziç; nach seinem Rücktritt jahrelang völlig
> ungehindert bewegte, er sogar öffentlich auftrat. Obwohl er längst in Den
> Haag angeklagt und damals offiziell der meistgesuchte Mann der Welt war.
> Wiederholt begegnete er internationalen SFor-Soldaten oder Polizisten der
> International Police Task Force IPTF. Offenbar wurde nie auch nur ein
> Versuch unternommen, ihn festzunehmen.
>
> Der Hohe Repräsentant ist weisungsbefugt gegenüber der serbischen Regierung
> in Banja Luka. Gleich nach Ende des Krieges bestimmte er die Nationalflagge,
> die offizielle Währung und die einheitlichen Autokennzeichen für das Land.
> Jeder weiß, dass die bosnisch-serbische Regierung von Karadziç;-Getreuen
> und alten Weggefährten durchsetzt ist. Selbst aus seinem familiären Kreis
> kommen höchste Politiker. So war Dragan Kalinif bis vor wenigen Wochen der
> Parlamentspräsident der Regierung. Er ist der Pate von Karadziç;.
>
> Das Wissen um die Kriegsverbrechen erlaubt es dem Hohen Repräsentanten,
> ganze Gesetzespakete zu diktieren. »Das ist ganz einfach«, sagt
> Chefredakteur Zelko Kopanja. »Der Hohe Repräsentant Paddy Ashdown kommt
mit
> einem Gesetzespaket von 20 Gesetzen nach Banja Luka. Die dortige Regierung
> muss sie annehmen. Kooperiert sie nicht und lehnt die Gesetze ab, setzt
> Paddy Ashdown die halbe Regierung auf die schwarze Liste - wegen der
> Unterstützung von Radovan Karadziç;. Stehen sie auf dieser Liste, müssen
> sie sofort alle Ämter abgeben.« Ein Radovan Karadziç; in Freiheit könnte
> so ein wirksames politisches Druckmittel sein. Vielleicht kann der
> Kriegsverbrecher deshalb bis heute sogar seine Bücher ungehindert schreiben
> und veröffentlichen. Sie sind so beliebt, dass sie zwischen Werken von
> Dostojewskij oder Hemingway angeboten werden.
>
> Der Kriegsverbrecher schreibt Kinderbücher - alle Bestseller
>
> Sein Verleger Miroslav Toholj spricht nicht gern mit westlichen
> Journalisten. Karadziç; und die Serben würden nur missverstanden, meint
> er. Auch Srebrenica sei so nie geschehen. In seinem Wohnzimmer sind Wände
> und Regale mit Karadziç;-Insignien geschmückt: Fotos, Ölporträts und
> Schwarzweißzeichnungen, wohin man blickt. Toholj behauptet, dass er Anfragen
> von Verlagen aus aller Welt bekomme, die an den Rechten der
> Karadziç;-Bücher interessiert seien. Das letzte Buch von Radovan
> Karadziç;, das er herausgebracht hat, ist ein Kinderbuch, wie die
> anderen in einer kleinen Druckerei am Rande der Stadt hergestellt. Hier
> lässt der Verleger auch die Plakate und Aufkleber produzieren, die immer
> wieder in Bosnien auftauchen. Unter dem bekanntesten Karadziç;-Foto
> steht: »Don't touch him!« Der Frage, wo Karadziç; jetzt sei, weicht der
> Verleger lächelnd aus. Er wisse aber, wie man mit seiner Mutter Jovanka und
> seinem Bruder Luka sprechen könne.
>
> Die Landschaft Ostbosniens wird oft als der dunkle Teil des Landes
> beschrieben. Doch dieser Ruf rührt nicht vom kargen Licht in den engen
> Tälern her. Hier regieren nach wie vor die alten Chargen der
> Karadziç;-Partei. Hier ist Karadziç; eine Legende, ein Mythos. In
> den Dörfern lassen die Menschen abends ihre Türen offen, ein Zeichen, dass
> der Gesuchte bei ihnen jederzeit willkommen ist. Auf den Hügeln ringsum
> immer wieder die Reste zerstörter Häuser. Hier lebten früher Muslime, bis
> sie von serbischen Truppen vertrieben und getötet wurden. Acht Jahre nach
> Ende des Krieges stehen die Ruinen immer noch. Wie eine Warnung an ihre
> einstigen Bewohner, nie zurückzukehren.
>
> Je weiter man zur Grenze nach Montenegro vordringt, desto abweisender wird
> die Landschaft. Schroffe Berge, Nebel zieht über die Straße. Die Grenze
> besteht aus einem Wellblechschuppen und zwei Polizisten, die sich
> langweilen. Jedes einheimische Auto passiert ohne Kontrolle. Es hat sich
> herumgesprochen, dass Karadziç; diese Grenze in den letzten Jahren oft
> überquert hat. Auch in Niksiç; in Montenegro liegt Nebel über den
> Häusern, es regnet leicht. Verleger Toholj stoppt das Auto und fragt eine
> Frau am Straßenrand, die ihre Einkäufe nach Hause trägt, nach dem Weg zur
> Familie Karadziç;. Der Bruder wohne gleich um die Ecke, aber die Mutter
> sei seit Jahren tot, sagt die Frau.
>
> Der Verleger lächelt, er weiß es besser. Mutter Jovanka Karadziç; habe
> vor vier Jahren dem britischen Guardian ein Interview gegeben. Danach sei
> sie von den Karadziç;-Vertrauten aus dem Verkehr gezogen und öffentlich
> für tot erklärt worden, erklärt Miroslav Toholj. Selbst Zeitungsartikel mit
> ihrem Nachruf seien damals erschienen.
>
> Hunde bellen aus den kleinen Häusern, die nur grob verputzt sind. Toholj
> geht langsam auf ein großes weißes Haus mit schmiedeeisernem Tor zu. Die
> Villa sticht heraus. Hier wohnt die Familie von Radovan Karadziç;. Luka,
> sein jüngerer Bruder, öffnet die Tür und umarmt den Verleger innig. Offenbar
> kennen sich die beiden gut. Luka Karadziç; winkt herein, seine Mutter
> und sein Cousin warten drinnen - Kaffeetrinken bei den Karadziç;'. Von
> der Wand blickt Radovan Karadziç; staatsmännisch und mit weißem Schal
> fast lebensgroß herab. Ein Bild, geschmückt wie ein Altar.
>
> So wenig Luka mit seiner Glatze dem Bruder ähnelt, so sehr sieht man der
> 86-jährigen Jovanka Karadziç; mit ihrem grauen Haar und der markanten
> Nase an, dass sie die Mutter von Radovan ist. Ihre Finger nesteln ständig an
> der schwarzen Mütze oder einer Zigarette herum. Ihre Augen sind wachsam, und
> ihr Ton ist energisch.
>
> Der Verleger berichtet, dass er auf einer Waffenmesse in Belgrad eine neue
> Kalanischkow der serbischen Armee gesehen habe. »Sie haben die Waffe nach
> deinem Sohne benannt, sie heißt Radovanka!« Jovanka Karadziç; strahlt.
> Radovan sei in den Herzen aller Serben, ist sie sich sicher, »immer und
> überall«. Wofür klage man ihren Sohn an, will sie wissen? »Warum und wofür?
> Was hat er ihnen getan? Es ist mein Kind, das Erste, das ich geboren habe.
> Erstes Kind nennt man nicht umsonst erste Freude - radost, deshalb heißt er
> Radovan«.
>
> Luka Karadziç; holt ein altes Schwarzweißfoto heraus. Es zeigt ihn, den
> Bruder, und Radovan in jungen Jahren zusammen mit dem Vater. »Die Ausländer
> haben fünf Millionen Dollar auf seinen Kopf ausgesetzt. Sie können einfach
> nicht begreifen, dass die Serben Radovan nie verraten werden. Sie würden gar
> keinen Serben verraten, geschweige denn solch einen wie Radovan
> Karadziç;. Sie begreifen das nicht. Es gibt kein Geld auf dieser Welt,
> um diesen Verrat zu begehen.« Er bestätigt, dass die Familie Kontakt zu
> Radovan Karadziç; hat. »Ich weiß nicht genau, wo Radovan sich gerade
> aufhält, aber ich weiß sehr wohl, dass es ihm gut geht. Mein Bruder ist
> nicht verletzt, wie die Zeitungen zuletzt geschrieben haben. Ich weiß, er
> passt gut auf sich auf. Radovan wird sich nie freiwillig ergeben und nach
> Haag gehen. Nicht, weil er Angst hätte. Sondern wegen der Serbischen
> Republik«, sagt er. Luka Karadziç; hebt sein Glas und ruft: »Auf ihn > auf Radovan!« Die anderen fallen ein.
>
> Jovanka Karadziç; steht auf und geht zu dem großen Foto an der Wand. »Er
> ist wirklich ein Ausnahmemensch. Ihn kennzeichnet all das, was gut und
> richtig ist. Und jetzt, was ist passiert? Plötzlich ist er ein
> Kriegsverbrecher geworden. Er ist bei seinen Leuten, er ist nach Hause
> gekommen zu seinen Menschen«, sagt sie, ohne den Blick abzuwenden.
>
> Honoratioren singen zur Holzfidel Hymnen auf Karadziç;
>
> Wenig später biegt Verleger Toholj mit seinem Auto von Niksiç; aus in
> die Straße nach Trebinja ein, einer Hochburg der Unterstützer von
> Karadziç;. In dem Hinterraum einer kleinen Kneipe trifft er sich mit dem
> ehemaligen Bürgermeister, dem Polizeichef und Professoren der Stadt. Sie
> feiern seinen Besuch bei der Familie. Zu dem traditionellen Spiel der Gusla,
> der einsaitigen Holzfidel der Serben, singen sie Lieder über Karadziç;,
> Hymnen, die hier jeder kennt. Plötzlich - der Strom fällt aus, alle Lichter
> erlöschen. »Bruder Radovan. Wir erwarten dich in den schlimmsten Tagen,
> jeder Serbe erwartet seinen Radovan. Radovan, brauchst du eine persönliche
> Garde, wir suchen die besten Männer in Trebinja für dich aus!«, Männergesang
> in der Finsternis, gespenstisch.
>
> Pressekonferenz in Sarajevo, der französische und der britische Botschafter
> sind anwesend sowie Soldaten der SFor und Mitarbeiter aus dem Büro des Hohen
> Repräsentanten. Auf den blauen Polstersesseln liegen dicke Pressemappen aus.
> Eine neue Initiative bei der Suche nach Kriegsverbrechern wird präsentiert:
> eine Telefon-Hotline für Bürger, die Informationen weitergeben wollen.
> Bosnien werde durch die Hotline ein sicheres Land, betonen die Redner auf
> dem kleinen Podium. Sie weisen darauf hin, dass die Anrufer keine Gebühren
> bezahlen müssen.
>
> Schon seit Jahren wirft die SFor aus Hubschraubern Tausende von
> Fahndungsbriefen über serbischen Gebieten ab und plakatiert die Gesuchten
> großflächig in den Städten. Im Fernsehen läuft ein Spot, in dem fünf
> Millionen Dollar Belohnung für die Ergreifung des Kriegsverbrechers
> ausgelobt werden. Hinweise hat es bis heute keine gegeben. In den letzten
> Monaten betonen die Verantwortlichen gern, der Ring um Radovan Karadziç;
> ziehe sich immer enger zusammen. Die Realität ist eine andere.
>
> Dies bestätigt auch ein Politiker der Regierungspartei, der nicht genannt
> sein will. Für ein Gespräch steht er zur Verfügung, allerdings könne das
> Treffen nur weit außerhalb Banja Lukas stattfinden. Er nennt die Adresse
> eines Restaurants, weit und breit ist kein anderes Haus zu sehen. Der Mann
> bestätigt, dass öffentliche Gelder zur Unterstützung Radovan Karadziç;'
> abgezweigt werden. Enorme Ausgaben, die im Haushalt als »Kosten für Blumen«
> deklariert werden. Fast alle Geschäftsleute bezahlen nach dieser Darstellung
> eine »Karadziç;-Steuer«, rund zehn Prozent ihres Gewinnes sollen die
> Kaufleute bezahlen.
>
> Unterdessen sitzt Chefredakteur Zelko Kopanja wieder an der Schreibmaschine.
> In seinem Artikel listet er verschwundene Gelder auf. »Wenn die
> Internationalen sagen, dass Karadziç; keine Unterstützung und Mittel
> mehr habe, dann lügen sie. Ich erinnere Sie, die gleichen Internationalen
> machten eine Revision bei der Elektrowirtschaft der Republika Srpska und
> stellten fest, dass 90 Millionen Euro verschwunden waren. Dann die großen
> Plünderungen beim Zoll und 100 Millionen Euro, die bei der bosnischen
> Telefongesellschaft entwendet wurden. Von daher hat Karadziç; bestimmt
> genug Geld. In der Führung seiner alten Partei SDS, die an der Regierung
> ist, hat er immer noch das Sagen. Sein Einfluss ist absolut ungebrochen.«
>
> Kurz und heftig zieht Kopanja an der Zigarette, die zwischen seinen Fingern
> vor sich hin glimmt. »Die Öffentlichkeit wird nur geblendet. Denn einerseits
> arbeiten sie jahrelang mit dem Paten von Karadziç;, Dragan Kaliniç;,
> zusammen, andererseits können die Internationalen Karadziç; nicht
> finden. Es ist klar, dass da andere Interessen im Spiel sind und dass es
> sich um eine politische Absprache handelt.« Als er von der neuen
> Telefon-Hotline erfährt, lacht Kopanja. Er schüttelt nur den Kopf.
>
> Vier Jeeps der deutschen SFor kämpfen sich durch die Serpentinen
> Ostbosniens. Immer wieder müssen sie den Schlaglöchern in der staubigen
> Straße ausweichen. Wenn er Karadziç; und seinen Leibwächtern begegnen
> würde, könne er nur grüßen und weiterfahren, mit den paar Soldaten könne er
> nichts ausrichten, erzählt ein junger Offizier während der Fahrt.
>
> Der Pressoffizier betont, dafür seien ohnehin die Spezialeinheiten der SFor
> zuständig. Dann meint er: »Ich kann mir keine schönere Arbeit als Bosnien
> vorstellen. Nicht nur von seiner Landschaft her, von seiner Kultur, von
> seinen Menschen, von seinen Ethnien her, die auf einen zugehen, es ist
> einfach eine wunderschöne Aufgabe, hier zu sein. Ich kann es eigentlich nur
> jedem empfehlen, sich mal in diesem Land umzusehen.« Hinter dem Gesicht des
> Offiziers ist in der Ferne die Stadt Foča zu sehen.
>
> Foča war einer der ersten Orte, in denen 1992 am Anfang des Krieges
> Muslime systematisch hingerichtet wurden. Serbische Freischärler trieben sie
> durch die Stadt. Einige der Opfer wurden an der alten Brücke aufgehängt. Mit
> dem Kopf nach unten, nachdem sie vorher im direkt daneben liegenden
> Gefängnis umgebracht worden waren. Das Wasser der Drina färbte sich rot mit
> dem Blut der Opfer. Andere wurden einfach in die Wälder geführt und
> erschossen. Bis heute sind viele der Opfer nicht gefunden. Die Morde
> geschahen unter dem Oberkommando von Radovan Karadziç;.
>
> »Hier herrscht immer noch der Karadziç;-Kader aus finstersten Zeiten«
>
> Der Mann in der schwarzen Lederjacke ist nervös. Er blickt sich immer wieder
> um, während er den steilen Kiesweg hinaufgeht. »Wir müssen uns beeilen«,
> sagt er. Oben bleibt er auf einem kleinen Plateau stehen. Foča liegt
> weit unten im Tal. »Direkt unter unseren Füßen ist ein Massengrab. Dort
> liegen die Menschen aus Todor-Mahala und anderen Stadtteilen von Foča.
> Sie sind in den ersten Tagen des Krieges erschossen worden. Sie wurden mit
> Lkw hierher gebracht. Ich kenne einen der Täter, er hat mit einem Bagger das
> Grab zugeschüttet.« Der hagere Mann spricht leise, so als hätte er selbst
> hier oben auf dem Hügel Angst, gehört zu werden.
>
> »Insgesamt gibt es sechs große Massengräber rund um Foča. Kleinere, in
> denen weniger als zehn Tote liegen, gibt es viel mehr.« Dann will er wieder
> gehen. Er will nicht zu lange auf dem Plateau bleiben. »Foča ist einer
> der schwierigsten Orte in Bosnien. Hier herrscht immer noch der
> Karadziç;-Kader aus den dunkelsten Zeiten.«
>
> Die Luft vibriert. Der Lärm reißt die Bewohner Pales aus dem Schlaf, er
> breitet sich in den Straßen aus wie eine Flutwelle. Drei amerikanische
> SFor-Hubschrauber schweben im Februar 2004 dicht über der Stadt.
> Spezialeinheiten springen aus den Helikoptern. Aufgeregt wedeln die Soldaten
> mit ihren Maschinenpistolen herum und sperren die Straßen ab. Sie sind auf
> der Suche nach Karadziç;. Ungefähr alle sechs Monate finden solche
> Aktionen in der ehemaligen Hauptstadt des Gesuchten statt. Wie so oft sind
> auch heute abend Fernsehkameras dabei. Und wie immer finden die
> Spezialeinheiten keine Spur von Radovan Karadziç;. Dabei hätte es noch
> vor kurzem so einfach sein können, den gesuchten Kriegsverbrecher
> festzunehmen.
>
> Der SFor lagen wieder genaue Informationen über sein Versteck vor, wie schon
> damals im Jahre 2002. Der frühere Geheimdienstmann Mohammed Ajanoviç;,
> der Karadziç; schon einmal aufgespürt hatte, bittet dringend um ein
> Treffen. Wieder hat er eine Spur, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu
> Karadziç; führt. »Wir haben unserem Chef Raymond Carter gesagt, dass wir
> wissen, wo Karadziç; ist. In unserem Beisein hat er seinen Chef Patrick
> Lopez-Terrez in Den Haag angerufen, den er jedoch nicht erreichte. So war
> Raymond Carter gezwungen, Carla Del Ponte direkt anzusprechen. Er sagte ihr:
> Wir wissen, dass sich Radovan Karadziç; in einem kleinen Dorf versteckt.
> Er bat sie um Hilfe. Del Ponte sagte, dass Raymond Carter dringend in die
> SFor-Basis gehen müsse, um ihnen diese Informationen mitzuteilen. Wir haben
> das auch gemacht. Sie gaben unserem Chef Carter Satellitenfotos des Dorfes.
> Aber das war das Einzige, was wir als Antwort bekamen.«
>
> Auf den Satellitenbildern war die Gegend um das Versteck von Karadziç;
> zu sehen. Die SFor hatte jetzt genaue Informationen über den Aufenthaltsort
> des meistgesuchten Mannes Europas. Aber sie versuchte nicht, ihn
> festzunehmen. »Sie stellten uns nur Fragen wie: >Wie viele Zimmer hat das
> Haus, in welchem sich Radovan Karadziç; befindet? Gibt es eine Straße,
> die zu diesem Dorf führt? Wie lange bleibt er dort?< Ich meine, Fragen, auf
> die man überhaupt nicht antworten kann, solange man nicht mit ihm selbst
> dort zusammenlebt. Ernst zu nehmende Aktionen von SFor haben nicht
> stattgefunden. Nicht ein einziger Soldat hat sich dem Dorf genähert.«
>
> Der amerikanische Botschafter nimmt die SFor-Truppen in Schutz
>
> Ist es möglich, dass Karadziç;' Versteck bekannt war und niemand den
> Versuch unternahm, ihn festzunehmen? Der britische Botschafter Ian Cliff
> bestreitet zunächst den Vorgang. Nein, das sei nicht wahr, sie wüssten
> nicht, wo Karadziç; sei, sagt er. Doch als er mit dem genauen Hergang
> der Ereignisse konfrontiert wird, muss er zugeben, dass sie sehr wohl
> stattgefunden haben. »Ja, ich habe Berichte darüber gelesen, aber ich kann
> das nicht kommentieren.«
>
> Der amerikanische Botschafter Clifford Bond will zu den konkreten Vorwürfen
> ebenfalls nicht Stellung nehmen. Stattdessen beharrt er darauf, dass die
> SFor alles tue, was in ihrer Macht stehe. »Sie müssen mit diesen Männern
> über ihre Information sprechen. Ich kann Ihnen nur sagen: Ich bin voller
> Vertrauen, wenn die SFor Informationen hat, wird sie agieren. Und sie hat ja
> gehandelt, erst kürzlich in Pale.«
>
> Fünf Jahre lang hat er sich nicht getraut, diese Fotos anzusehen.
> Chefredakteur ◊elko Kopanja schaut auf den Stoß von Bildern, der vor
> ihm auf dem kleinen Glastisch liegt. Dann nimmt er eines heraus und
> betrachtet es lange. Die Schnappschüsse zeigen Kopanja vor seinem Unfall.
> Mit gesunden Beinen. Er durchwandert sein Leben bis zum Attentat: seine
> Jugend, seine Hochzeit und die Geburt der Tochter. Minutenlang sagt er kein
> Wort, seine Augen glänzen. Dann schmeißt er die Bilder mit einem Ruck wieder
> auf den Tisch. Es sei genug.
>
> Nach einer Pause erzählt er, wegen der Bedeutung des Falles sei das FBI
> aufgefordert worden, das Attentat auf ihn zu untersuchen. Ein amerikanischer
> Agent habe ihm den Namen des Mannes genannt, der die Bombe unter sein Auto
> gelegt habe. Der Attentäter wohne wie er in Banja Luka und arbeite für die
> Staatssicherheit. »Die Tatsache, dass dieser Mann, der mein Leben zerstört
> hat, hier in der gleichen Stadt ist, macht mir keine Angst. Denn wenn ich
> aufgebe, hat er gewonnen. Und ich selbst kann nicht aufgeben. Was für einen
> Sinn hätte das Leben, wenn es keine Hoffnung mehr gibt, die Kriegsverbrecher
> eines Tages zur Verantwortung zu ziehen und sie vor einem Gericht zu sehen?«
>
>
> Die Kämpfe in Bosnien sind lange vorüber. Radovan Karadziç; ist bis
> heute ein freier Mann. Im Krieg lagen die Leben Tausender Menschen in seinen
> Händen. Sie starben, weil er es wollte. Und weil er überzeugt war, dass
> niemand ihn je zur Verantwortung ziehen würde. Rückblickend betrachtet,
> hatte Karadziç; damit offenbar bis heute Recht. »Das Tribunal von Haag
> ist passé, le tribunal à La Haye est passé«.
>
> Zum gleichen Thema: WDR Fernsehen, 20.9.04, 22.30 Uhr: »Die Jagd - Wird der
> Kriegsverbrecher Karadziç; wirklich gesucht?« Ein Film von Marc Wiese
>
>
>
>
>
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