Das Neue Funkkolleg Literatur DIE W ELT DER GESCHICHTEN – KUNST UND TECHNIK DER NARRATION Sendung 4 Vom Hypertext zum Spielequest Erzählen im Cyberage von Florian Schwinn Sprecher 1: weiblich Sprecher 2: männlich Sprecher 3 (Zitate): weiblich Sprecher 4 (Zitate): männlich FUNKKOLLEG ERZÄHLEN IM CYBERAGE 1 ATMO 1/1 Intro Anno 1701 (Schritte, Innenatmo Gang/Saal, Sprecher, Musik) Ich erinnere mich. Ich erinnere mich genau an jenen Tag des Jahres 1701. Ich war ein junger Narr, betrat den Thronsaal mit nichts als kühnen Träumen und wildem Tatendrang. Sprecher: So beginnt das bislang erfolgreichste deutsche Computerspiel: „Anno 1701“. Eine Saga in derzeit drei großen Editionen mit jeweils mehreren Episoden. Eine Geschichte, die in historischer Zeit spielt, in der Vergangenheit. Das ist zumindest bei den europäischen Computerspielern –aber nicht nur bei ihnen - die Zeit, in die man sich am liebsten hineindenkt und als Spieler hinein begibt. Längst haben das historische Ambiente oder auch Welten aus sagenhafter mystischer Zeit im hypermodernen Cyberspace von Computer und Internet das Jetztzeitige ausgestochen – und schon gar die Zukunft, in welcher Form der Science Fiction sie auch daher kommen mag. ATMO 1/2 Intro Anno 1701 (Saal, Sprecher, Musik) Ihre Majestät war nachsichtig, hörte mir zu. Alles, was ich brauchte war ein Schiff und jemanden der an mich glaubt. Sprecher: Wir folgen dem Ich-Erzähler. Er geht voraus - mit ausgreifendem Schritt auf eine Flügeltür zu, die sich vor ihm öffnet. Schnitt. Wir sehen ihn von oben –aus der Perspektive der Kronleuchter - in einen weiten Saal treten –mit barocken Fenstertüren wie in Versailles. Ein paar Hofschranzen stehen herum –und vor dem erhöhten Thron zwei Lanzenträger. Unbeirrt eilt unser Mann an ihnen vorbei auf den Thron zu und verbeugt sich mit ausladender Geste - jetzt sind wir wieder nah hinter dem Protagonisten - vor einer bildhübschen jungen Königin im viktorianischen Kleid mit hohem Kragen. FUNKKOLLEG ERZÄHLEN IM CYBERAGE 2 Wer sich an dieser Stelle an den Universal-Film Elizabeth – Das goldene Königreich erinnert fühlt, liegt sicher nicht falsch. Die Bildmacht des Computerspiels reicht längst bis in die großen Filmstudios. Und das Casting hat Anno 1701 auch gleich mit beeinflusst: denn die Königin im Intro des Spiels sieht aus wie Cate Blanchett im Film. Die Königin im Intro des Spiels tritt nun zu unserem Helden an den Kartentisch. Der „junge Narr“ mit dem langen Zopf und dem Degen an der Seite nimmt ein Modellschiffchen und stellt es auf die Seekarte. In diesem Moment verwandelt sich das Modell in ein großes Schiff, das mit vollen Segeln über das Meer jagt. Unser Mann steht an Deck und schaut mit dem Fernrohr voraus. ATMO 1/3 Intro Anno 1701 (Saal, Sprecher, Musik) Wir folgten dem Westwind, segelten mit den Delfinen. Ich fragte mich oft, ob ich zu viel versprochen hatte, als ich ihrer Majestät vollmundig die Besiedlung ganzer Landstriche in Aussicht stellte ... Sprecher: Ob er der Königin zu viel versprochen hat, der junge Held, das liegt nun nicht mehr in seiner Hand. Denn ab jetzt übernehmen wir die Rolle des Protagonisten. Wir erzählen die Geschichte weiter – mit den Fingern auf der Tastatur und der Computermaus in der Hand. Wir –die Spieler, die sich hinein begeben in die Cyberwelten. Wir brauchen keinen Erzählergott mehr, keinen Autor, der über uns schwebt, die Geschichte vorgibt und sich entwickeln lässt, und dem wir durch die Handlung folgen müssen. Wir brauchen nur noch die eine Vorgabe –die der künstlichen Welt, in die wir uns hinein begeben. Von diesem Moment an erzählen wir. Wir lenken unsere Protagonisten durch die erdachten Welten, die sich vor unseren Augen physisch erschaffen und durch unser Handeln in ihnen verändern. FUNKKOLLEG ERZÄHLEN IM CYBERAGE 3 Zitator: „Wenn wir Romane lesen, sind wir nicht nur wir selbst; wir sind auch die verzauberten Wesen, zwischen die der Romancier uns versetzt.“ Sprecher: Schreibt Mario Vargas Llosa in seinem Essay Die Kunst der Lüge1. Zitator: „Das erstickende Gefängnis unseres wirklichen Lebens tut sich auf, und wir treten hinaus als andere, um stellvertretende Erfahrungen zu erleben, die die Fiktion zu unseren macht. Hellsichtiger Traum, gestaltgewordene Phantasie, ergänzt die Fiktion uns verstümmelte Wesen, denen die grausame Dichotomie auferlegt wurde, ein einziges Leben zu haben und die Fähigkeit, tausende zu wünschen.“ Sprecher: Womit der peruanische Autor beim Wesentlichen ist: bei dem inneren Antrieb, der allen Menschen eigen ist und der uns alle dazu bringt, uns auf eine fremde, uns nur erzählte Geschichte einzulassen. Wenn das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit und der Wunsch, über dieses nur eine reale Leben hinaus zu gehen und viele Leben auszuprobieren, der Grund allen Erzählens, Zuhörens und Zuschauens ist, dann sind wir in den virtuellen Welten des Computerzeitalters unserem Wunsch nach einem zweiten oder vielen zweiten Leben ein großes Stück näher gekommen. Fast so weit, wie die Star Treck Pioniere, wenn sie sich in die dreidimensionale, anfassbare Illusion ihres Holodecks begeben. In den virtuellen Welten des Computers sind wir noch nicht einmal mehr darauf angewiesen, einer vorgefertigten Geschichte zu folgen. Wir können sie selbst gestalten. Wir hören nicht mehr nur davon, wie die Ritter der Tafelrunde des Artus ihre Abenteuer erleben. Wir können uns selbst zu einem der Ritter machen oder einen dieser Ritter durch seine Geschicke lenken. Oder wir können in der Online-Spielwelt des Internets –im ganz großen oder auch nur als ganz groß postulierten Spiel Second Life - wie der Name schon sagt - eine andere Identität ausprobieren. So wie FUNKKOLLEG ERZÄHLEN IM CYBERAGE 4 das Max Frisch im Gantenbein postuliert, wenn er Geschichten wie Kleider ausprobieren will. Man kann das aber auch anders sehen ... Take 1 (Jochen Hörisch) Wir sind ziemlich nackt und bloß im Cyberspace und haben den Text als Schutzmantel nicht mehr. Warum? Weil eben die schützende Stimme des Erzählers nicht mehr funktioniert. Wir handeln nicht mehr im Namen eines anderen. Es gibt nicht mehr den großen Drehbuchautor, den Dramatiker, den Goethe, den Gott Goethe, der dafür sorgt, dass wir diese oder jene Rolle haben. Das würde noch beim Regisseur funktionieren. Aber es würde bei Interaktionsformen wie Second Life nicht mehr funktionieren. Worauf will ich raus? Nietzsche sagte mal so schön „Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, so lange wir noch an die Grammatik glauben“. Wenn wir an Texte glauben, glauben wir an die Grammatik. Wenn wir an die Grammatik glauben, glauben wir an Gott. Und Gott heißt ja nichts anderes als Autor sein. Autor sein heißt, die Autorität haben. Die Autorität sein, die es schafft, signifikante Zeichen so zu verbinden, dass bündige, in sich logische, schlüssig strukturierte Geschichten bei der Verknüpfung heraus kommen. Sprecher: Vielleicht wird also gar nicht erzählt im Internet, im Computerspiel. Vielleicht ist die virtuelle Welt gar nicht die Fortführung der Literatur, des Erzählens mit anderen Mitteln. Sagt zumindest einer der vielen Skeptiker: Jochen Hörisch, Professor für Neuere Deutsche Literatur und qualitative Medienanalyse in Mannheim. Beginnen wir beim Anfang des Erzählens im Netz der Netze und im Computer. Da müssen wir nicht lange zurück schauen, denn das Internet ist jung. In den 80er und den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts –also gerade erst, verglichen mit Homer – haben die Protagonisten des neuen Mediums behauptet, die Befreiung des Lesers vom Autor stehe vor der Tür. Das Erzählen tritt in eine neue Dimension. Es gibt zwar noch erzählerische Strukturen, die sind aber nicht mehr in einem konkreten Ablauf hintereinander geordnet, so dass die Rezipienten sie nur in einer Richtung wahrnehmen können. Vielmehr ist durch die elektronische Möglichkeit des Hypertextes omnidirektionales Lesen möglich. Jeder, der einmal im Internet war, kennt die farbig markierten oder unterstrichenen Textteile oder Wörter, die auf einen Link zu FUNKKOLLEG ERZÄHLEN IM CYBERAGE 5 einem weiteren Text verweisen. Klickt man darauf, befindet man sich in einem neuen Informationszusammenhang, der den angeklickten Begriff –hoffentlich –vertieft. So haben die Propagandisten des Hypertextes im ausgehenden 20ten Jahrhundert die Zukunft der Literatur gesehen: als eine Sammlung von Hypertextverweisen, die jeder einzelne Leser individuell verfolgen kann –oder auch nicht. Das hat nicht funktioniert. Die Versuche, Hypertextliteratur zu generieren, sind eingeschlafen. Die Leser wollten den Assoziationen nicht folgen. Sie verlangen offenbar nach Linearität. Eine Geschichte soll nicht zusammen geklickt werden von ihnen – sie soll ablaufen, nachvollziehbar sein. Sagt die computerspielerfahrene Anglistin Klaudia Seibel. Take 2 (Klaudia Seibel) Das waren wirklich einzelne Texte, wo man dann sich durchklicken konnte und irgendwie versuchen konnte, einen kohärenten Text herzustellen. Was dann sehr schwierig war. Und das kam dann eben auch nicht an bei den Lesern. Die vorgebende Instanz muss schon da sein, sonst verliert man sich ja im Text. Das macht einfach keinen Spaß. Man hat zwar das Gefühl, an einem großen postmodernistischen Experiment teilzunehmen, aber man kriegt da nur irgendwelche Textfetzen, wo man selber sich sehr mühsam irgend einen Sinn konstruieren muss. Und das will man ja auch nicht, wenn man liest. Also man will ja auch wenn man liest durchaus ne vorgegebene Struktur haben, mit der man arbeiten kann, und nicht selber was erschaffen. Das kann man auch ohne zu lesen. Sprecher: Verlassen wir also diesen gescheiterten Versuch, die geschriebene Literatur in das virtuelle Zeitalter, das Cyberage, zu transferieren. Erzählen –die Urform der menschlichen Mitteilung – muss im neuen Medium Computer und Internet vielleicht auch gar nichts mit der Transformation alter Papierformen zu tun haben. Schauen wir also wieder auf das, was ohnehin die Computertechnologie voran treibt: auf die Spiele. Die fordern immer den neuesten Stand der Technik –und es könnte doch sein, dass sie auch der neueste Stand der Narration sind. FUNKKOLLEG ERZÄHLEN IM CYBERAGE 6 ATMO 2 Die Siedler (Sprecher) Willkommen in Vestholm. In Eurer königlichen Stadt leben zuverlässige und fleißige Siedler, die unter Eurer Herrschaft glücklich nd zufrieden sind. Von hier aus könnt Ihr Eure Ritter entsenden, um den Siedlern in fernen Ländern beizustehen und Euer Reich zu vergrößern. Mit ihrer Hilfe könnt Ihr es schaffen, das ganze Königreich in neuem Glanz wieder auferstehen zu lassen. Sprecher: Das hört sich doch sehr nach Erzählen an. Das hört sich, Jochen Hörisch zum Trotz, sogar sehr nach der Stimme des auktorialen Erzählers an, des allwissenden, der gestaltend eingreift. Was allerdings stört: Es ist dies keine Ich- und keine Er-Erzählung. Es wird in der zweiten Person gesprochen. In der Literatur eher unüblich: die Du-Erzählung. So wird der Spieler ins Bild und in die vorgegebene Situation gesetzt, wenn er die neueste, die siebente Edition des Bestsellers „Die Siedler“ öffnet. Und so sind wir mitnichten nackt und bloß im Cyberspace. Die Stimme des Erzählers begleitet uns. Du bist der König, sagt sie zu uns. Dein Königreich ist allerdings bedroht. Du musst es verteidigen. Und um das zu tun, musst du deine Ritter aussenden –in gefährliche Missionen gegen einen mächtigen Gegenspieler, den Roten Prinzen. Die dunkle Macht kleidet sich in diesem Falle in Purpur. Am Anfang findest du in deinem Thronsaal –an deiner Tafelrunde - nur zwei Ritter vor. Im Laufe der Geschichte wirst du weitere Freunde dazu gewinnen können. Aber nun musst Du erst einmal entscheiden, welchen der Ritter du aussendest. ATMO 3 Die Siedler (Sprecher / Sprecherin) - Euer Majestät, ich bin Lord Marcus und dies ist Lady Alandra. Wir danken Euch, dass Ihr uns zu Euch gerufen habt. - Wir sind stolz darauf, in Euren Diensten zu stehen. - Wir möchten Euch auf ein Problem aufmerksam machen. Wählt einen FUNKKOLLEG ERZÄHLEN IM CYBERAGE 7 von uns, um sich dieses Problems anzunehmen, sobald Ihr meinen Bericht vernommen habt. Sprecher: Der Hinweis ist deutlich: gleich wird die Rahmenerzählung unterbrochen werden und der Spieler wird vom Zuschauer und Zuhörer zum Handelnden werden müssen. Er wird eine Siedlung aufbauen müssen, denn bei „Die Siedler“ handelt es sich um einen Vertreter des in Deutschland äußerst beliebten Genres des Aufbauund Strategiespiels. Was diesem Genre mit allen anderen Arten von Spielen, in denen Geschichten erzählt werden, gemeinsam ist: Erzählt wird in der virtuellen Welt der Computerspiele immer nur in einzelnen, in das eigentliche Spielgeschehen eingebetteten Sequenzen. Take 3 (Daniel Finger) Da gibt’s natürlich auch ganz verschiedene Modelle, wie man das technisch versucht, hin zu bekommen. Reden wir über den Weg, der am meisten gegangen wird bei diesen Spielen. Es gibt ne Haupthandlung, die episodenhaft konstruiert ist. Wo zum Beispiel klar ist:du musst zuerst in die und die Abtei, dann bekommst du nen Hintergrund, dann musst du zu dem und dem Schloss. Dann triffst du irgendwann vielleicht den König, nachdem du drei vier Aufgaben erfüllt hast, und so weiter. Arbeitest dich dann vor, bis du vielleicht raus kriegst, was wirklich faul ist im Staate Dänemark oder Phantasien. Dann gibt’s nen Endgegner, den musst du am Schluss besiegen. Sprecher: Da ist es wieder –das Du. Wobei das Du im Computerspiel immer auch ein Er oder Sie sein kann –oder eigentlich beides gleichzeitig: ein Du und ein Er oder Sie. Üblicherweise nämlich bedient sich das Spiel, bedient sich der Spieler eines Stellvertreters. In „Die Siedler“ sind das die Ritterinnen und Ritter, die das Du –also der König – ausschickt. In Wahrheit „gespielt“ wird der Ritter, nicht der virtuelle König. Der Ritter ist ein Avatar –ein Stellvertreter in der virtuellen Welt. Der Begriff stammt aus der hinduistischen Theologie und bezeichnet dort eine Inkarnation des Gottes Visnu in der realen Welt. Über die Inkarnation des Spielers in der virtuellen Welt wird das Computerspiel gesteuert. In „Die Siedler“ sind es die Ritter, im Klassiker Tomb Raider ist es die Kämpferin Lara Croft, durch die und aus deren Blickwinkel der Spieler die FUNKKOLLEG ERZÄHLEN IM CYBERAGE 8 virtuelle Welt sieht und erlebt. Wo verschiedene Avatare zur Wahl stehen bringen, diese gemeinhin auch unterschiedliche Begabungen mit, die den Spielverlauf beeinflussen können. ATMO 4 Die Siedler (Sprecherin / Sprecher) - Ich bestärke die Siedler in ihrem Glauben und sie spenden mehr Gold in der Kollekte. - Ich benötige weniger Gold, um Bataillone zu rekrutieren. Die Soldaten brennen darauf, für mich zu kämpfen Sprecher: Via Avatar begibt sich der Spieler nun auf den Weg durch die Geschichte. Die Geschichte findet ohne sein Zutun nicht statt und er beeinflusst ihren Verlauf durch die Auswahl des Avatars und dessen Tun. Erzählt wird die Geschichte aber dennoch von anderen. Take 4 (Daniel Finger) Das ist ne Handlung, die erzählt wird oft in kleinen Filmsequenzen zwischendurch. Aber natürlich auch über Texte, die man zum Beispiel findet, auch erzählt werden kann. Oder Zufallsbegegnungen –das gibt es in diesen Rollenspielen ganz oft. Du hast ein Dorf, in dem sind 30 Leute, mit denen du sprechen kannst. Mit einem musst du sprechen. Der hat vielleicht auch die wirklich notwendige Information für dich, um wirklich weiter zu machen. Aber du kannst jeden ansprechen –und vielleicht haben fünf oder zehn oder 15 andere auch ganz interessante Details, durch die die Geschichte reichhaltiger wird, oder vielleicht kannst du auch früher etwas erfahren, was du sonst eben erst in zwei, drei, vier, fünf Wegpunkten mitgeteilt bekommst. Sprecher: Der Journalist und Autor Daniel Finger ist Dozent an der Berliner Games Academy, einer staatlich anerkannten Ergänzungsschule –der einzigen Ausbildungsstätte für die boomende Spielebranche im deutschsprachigen Raum. In Berlin und in der in Frankfurt am Main eröffneten Dependance der Akademie lernen rund 150 Studenten das Programmieren, grafische Gestalten und Animieren von Computerspielen – und eben das „Interactive Storytelling“, die Art des Geschichtenerzählens im Cyberage. FUNKKOLLEG ERZÄHLEN IM CYBERAGE 9 Take 5 (Thomas Dlugaiczyk) Storytelling hat einen festen Platz. Aber es ist nicht der zentrale Bereich von Computer- und Videospielen, auch nicht unbedingt von virtuellen Welten. Weil die virtuellen Welten repräsentieren ja - denke ich mal - nichts anderes als unseren Wunsch nach dem, was wir ja schon alle in unserem Kopf haben. Wir haben ja, glaube ich, alle ne kleine Spielkonsole im Kopf, die manchmal nachts –aus welchen Gründen auch immer –aktiviert wird. Hat Stanislaw Lem in den 60er Jahren schon geschrieben: Der phantomatische Automat, den er da als Idee entwickelt hat. Und diese kleine Spielkonsole –diese Träume –das ist die andere Welt, die wir ganz gerne hätten. In der Science Fiction Literatur gipfelt das dann ganz einfach im Holodeck: die 360 Grad Welt, die anfassbare Welt sozusagen. Das ist offensichtlich die Fernvision. Sprecher: Der Pädagoge Thomas Dlugaiczyk, Rektor und Gründer der Games Academy, ordnet das Erzählen im virtuellen Raum der Gestaltung eben dieses Raumes unter - der Herstellung des Rahmens. Das Gewicht der Geschichte, die erzählt wird, ist nicht mehr so groß, seit die Bilder die Macht übernommen haben. Unter den Literaturwissenschaftlern ist bis heute umstritten, ob die menschliche Konstante des Erzählens von den moderneren Medien überhaupt übernommen und eingelöst wird. Puristen gestehen das nicht einmal dem Medium Film zu –und auch nicht dem Theater. Eine vorgespielte Geschichte ist nach dieser Interpretation keine erzählte. Schauen wir aber auf die Anfänge der Computerspiele, so finden wir auch deren Ursprung im Text. Ganz wie der Literaturprofessor Hörisch postuliert: Am Anfang war das Wort. Take 6 (Jochen Hörisch) Wir reden vom Buch der Schöpfung, vom Buch der Bücher, vom Buch der Natur, vom Buch der Geschichte –und haben da immer noch das Denkmodell, dass man von der einen Welt in die andere kommen kann. Vom Buch der Schöpfung in das Buch des Sinns –in das Buch der Bücher, die Bibel, die uns alles erklärt. Man wechselt gewissermaßen von der Sein-Seite auf die SinnSeite. All das funktioniert eben bei Cyberspace-Geschichten nicht mehr. Man ist entweder ganz drin oder man ist ganz draußen. Sprecher: Wenigstens der Ursprung der Cyberspace-Geschichten war aber auch einer des Wortes –im Sinne Nietzsches ein göttlicher also, FUNKKOLLEG ERZÄHLEN IM CYBERAGE 10 denn, wie er sagte: So lange wir an die Grammatik glauben, werden wir Gott wohl nicht los. Das Wort ist die Stimme von oben in uns. Und damit begann auch die Welt der Computerspiele. Das älteste rund um die damals mit Computern noch sehr dünn bestückte Welt bekannte Computerspiel ist so alt wie der Personal Computer selbst. Es stammt aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts und ist ein so genanntes „Text-Adventure“. DerPC konnte am Anfang keine Grafik darstellen, also begann das damals als Experiment am MIT, dem berühmten Massachusetts Institute of Technology programmierte Spiel „Zork“ mit den Worten: Zitator: You are standing in an open field west of a white house, with a boarded front door. There is a small mailbox there. Sprecher: Der Spieler musste nun seine Befehle eingeben –per Tastatur: Zitator: Open Mailbox. Sprecher: Die Antwort des Spiels: Zitator: Opening the small mailbox reveals a leaflet. Sprecher: In dem Briefkasten am weißen Haus fand sich also –oh Wunder – ein Brief. Und mit diesem Brief wurde man, das Muster kennen wir schon, begrüßt im Spiel Zork: Zitator: Zork ist ein Abenteuerspiel. In ihm wirst du einige der aufregendsten Gegenden erkunden, die Sterbliche je gesehen haben. Kein Computer sollte ohne Zork sein. Sprecher: Von diesem textbasierten Beginn haben sich die Computerspiele mit jedem Schritt der PC-Entwicklung in Richtung Grafik entfernt – FUNKKOLLEG ERZÄHLEN IM CYBERAGE 11 um mehr als 30 Jahre später wieder zurück zu kehren zum Erzählen, stellt die Anglistin Klaudia Seibel fest. Take 7 (Klaudia Seibel) Das sind vor allen Dingen die Fantasy Rollenspiele, wo eben genau getrennt ist zwischen dem Spieler, der eine Spielfigur übernimmt und der Erzählinstanz, die die Welt vorgibt. Das Interessante ist, dass auch bei Strategie- und Aufbauspielen eine Tendenz dazu ist, zunehmend mehr Erzählsequenzen zu haben. Dass zwar einerseits ne starke Interaktion stattfindet in diesen Aufbauphasen, dass dann aber immer Zwischentexte oder -sequenzen geschaltet werden, wo eben ne Geschichte eingeschaltet wird, um eben auch wieder die Handlung des Spielers mit ner Sinnhaftigkeit auszustatten. Bei Online-Spielen gibt es das zunehmend auch wieder mehr, dass eben Erzählen strukturiert wird oder Strukturen vorgegeben werden, in denen die Spieler handeln können. Bei Offline-Spielen sind eben bestimmte vorgegebene Sequenzen drin. Wenn man bestimmte Handlungen ausführt, dann kommt wieder eine Erzählpassage, die das einordnet, die die Handlung auch voran treibt. Was eben normalerweise die Funktion einer Erzählinstanz ist. Sprecher: Die Spieler verlangen nach dieser Erzählinstanz. Die gänzlich unstrukturierten Computerwelten, in denen alles möglich und alles nur vom Handeln der Spieler abhängig ist, waren nur kurzzeitige Erfolge. Alle wollten einen Avatar in Second Life. Wenn aber das zweite, das virtuelle Leben dem realen zu ähnlich ist, warum sollte man sich dort aufhalten? Die Folge: die meisten der Avatare in der Internetwelt von Spielen ohne Erzählstruktur sind leblose Statthalter von längst ausgestiegenen Spielern. Die jüngsten Editionen der Strategie- und Aufbauspiele, die derzeit besonders en vogue sind, gehen mit ausufernden Kampagnen an den Start. Das sind Geschichten mit weit über zehn Episoden - also Kapiteln - und hunderten von „Quests“. So heißen die einzelnen Aufgaben, die der Spieler zu erledigen hat, und die die Geschichte voran treiben. Auch die Videos nehmen wieder zu –also die Filmsequenzen, die das Spiel unterbrechen oder zum Abschluss einer Episode ablaufen. ATMO 5 Die Siedler (Musik, Sprecher / Sprecherin) FUNKKOLLEG ERZÄHLEN IM CYBERAGE 12 - Crimson Sabat, bringt Ihr Neuigkeiten. - Ihr habt einen Gegner, mein Prinz. - Der Rote Prinz hat keine Gegner, nur Emporkömmlinge und Herausforderer meiner Macht ... - Einen Herausforderer also. Ein König aus dem Westen. Ein erfolgreicher König. - Und was bietet dieser König, das ich nicht bereits besitze? Sicherheit, Einfluss, Gold? - Der Emporkömmling ist sehr beliebt bei den Siedlern. - Die Siedler bedeuten gar nichts. Gerade Ihr solltet das wissen. Kümmert Euch um ihn, wie Ihr Euch um die anderen gekümmert habt ... Take 8 (Daniel Finger) Ich hab ganz oft meine Studenten auch gefragt, ob sie das mögen oder nicht mögen. Ob sie generell eher ein Freund davon sind, dass ein Spiel auch mal angehalten wird, dass man wirklich en Film sieht, sich zurücklehnt, oder ob sie das ganze sozusagen ingame haben wollen. Und das einzige Kriterium, was sich über die Jahre so für mich heraus gebildet hat, was ich ernst nehmen kann, ist eins der Qualität. Die sagen immer alle: Wenn die Sequenz gut gemacht ist, dann will ich das sehen und dann bringt mich das auch tiefer rein. Wenn sie schlecht gemacht ist, dann bringt mich die eher raus und dann möchte ich die wegdrücken. Aber das ist ja ein Kriterium, was wir von allem kennen. Sprecher: Und wenn wir nun schon bei den Studenten des Dozenten für Storytelling sind, dann fragen wir doch gleich auch, was diese Studenten eigentlich wollen, wenn sie in die Berliner Games Academy kommen, um Game Design zu lernen. Wollen sie neue technisch innovative Spiele kreieren, oder wollen sie eigentlich eine eigene Geschichte erzählen? Daniel Fingers Antwort ist eindeutig. Take 9 (Daniel Finger) Ich kenne eigentlich keinen, der Game Designer ist oder der Game Design studiert, der nicht in erster Linie sogar ne Story erzählen möchte. Also die meisten Leute, die man fragt - Was machst du für ein Spiel? –erzählen einem zwar so das Genre, also zum Beispiel Aufbau-Strategie oder First-PersonShooter. Aber an der Spielmechanik halten die sich seltenst auf. Sondern direkt danach wird erzählt: das spielt in der und der Welt, in der und der Zeit, mit dem und dem Bösewicht –also das ist tatsächlich das, was Leute überhaupt dazu bringt, sich kreativ mit dem Genre Computerspiele auseinander zu setzen. FUNKKOLLEG ERZÄHLEN IM CYBERAGE 13 Sprecher: Während sich die Literaturwissenschaftler mit den Kulturwissenschaftlern und Medienwissenschaftlern noch darüber streiten, ob in den virtuellen Welten überhaupt erzählt wird –und wenn ja, welche wissenschaftliche Disziplin sich damit auseinandersetzen darf, drängt die nächste Generation der Erzähler an die Tastaturen und Bildschirme. Und die kümmert sich einfach gar nicht darum, ob es sich bei ihrer Form des Erzählens nun um ein narratologisch der Literatur oder dem Film zuzuordnendes Genre oder etwas ganz Neues handelt. Ganz egal –die virtuelle Welt dreht sich auch ohne wissenschaftliche Begleitung weiter. Und sie schreibt ihre Geschichten fort –auch dann, wenn sie gerade zu Ende gegangen sind. Dazu gibt es auch im Computerspiel –ganz wie im Kriminalroman oder im Film –den berühmten Cliffhanger. Der bringt uns dann ganz sicher dazu, das nächste Kapitel aufzuschlagen –oder eben, die nächste Episode zu spielen. ATMO 6 Die Siedler (Sprecher / Sprecherin) - Ihr habt eure Aufgabe erfolgreich gemeistert. Wir danken Euch für Eure Hilfe. - Ja, feiert nur Euren Pyrrhussieg. Ihr werdet noch früh genug merken, dass dem Roten Prinzen mit Euren dürftigen Mitteln nicht beizukommen ist. 1 Mario Vargas Llosa: Die Kunst der Lüge, in Gegen Wind und Wetter, Literatur und Politik, Frankfurt 1989