Leist_Zentrum der Moral [3] 22.8.2012 - Ethik

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Von den Grenzen in das Zentrum der Moral.
Eine kleine Geschichte der angewandten
Ethik
Anton Leist
Für Andreas Kuhlmann
1. Ein kurzer Blick zurück
Auch wenn heute kaum mehr vorstellbar: angewandte Ethik war einmal
ein aufsehenerregendes Unternehmen! Bei ihrem ersten Auftritt war sie
von einer gesellschaftlichen Relevanz, wie es für eine geisteswissenschaftliche Disziplin, gar eine philosophische, ungewöhnlich ist. Im Verlauf der 1980er Jahre des letzten Jahrhunderts, und verstärkt gegen deren
Ende, meldete sich in Deutschland eine religionsfreie und häufig
dezidiert anti-metaphysische, philosophische Ethik zu den sog. „Grenzfragen“ des menschlichen und tierischen Lebens zu Wort und brach
damit in eine Domäne der öffentlichen Meinungsbildung ein, die davor
fast völlig von den Männern der Kirchen beherrscht worden war. Noch
zur selben Zeit galten in der öffentliche Wahrnehmung in Deutschland
katholische und evangelische Theologen als die einzigen „Fachleute“ für
Ethik, die, ebenfalls ein Novum, neben „Interessenvertretern“ wie
Medizinern, Feministinnen oder Tierschützern zur Teilnahme an relevanten Debatten autorisiert schienen. Dass sich auch Philosophen
beruflich mit der Moral befassen, wurde gegen Ende der 1980er Jahre
über die Fachdisziplin hinaus durch das Wirken vor allem zweier Repräsentanten des Fachs bekannt.
Auf der einen Seite gewann die technologiekritische Umweltethik von
Hans Jonas, vor allem sein bereits 1979 auf Deutsch publiziertes Buch
Das Prinzip Verantwortung, einen zunehmenden Kreis von Lesern.
2
Anton Leist
Zustimmend reagierte allerdings – aufgrund des sehr allgemeinen
tugendethischen, in den normativen Folgen vagen Profils des Buchs –
vorrangig der wertkonservative Teil der akademischen Öffentlichkeit, der
aber zu dieser Zeit in Deutschland eine starke Allianz mit der grünen
Bewegung eingegangen war. 1 Auf der anderen Seite hinterließ die
angelsächsische Ethik zunehmend Spuren auch in der deutschsprachigen
Philosophie. Rezeption und Widerstand gegenüber dieser Ethik
kristallisierten sich vorrangig an einer einzigen Figur, an Peter Singer
und dessen ebenfalls 1979 zuerst im englischen Original und 1984 auf
Deutsch erschienenem Buch Praktische Ethik.2
Der Kontrast zwischen Jonas’ und Singers ethischen Positionen
konnte größer kaum sein und die von beiden verursachte starke Aufmerksamkeit belegte ein im Umbruch befindliches Moralverständnis.
Hier die globale humanistische Verantwortungsforderung für zukünftiges
„menschliches Leben“, die schwer in präzisen Rechten und Pflichten zu
kodifizieren ist. Dort der scharf geschnittene Interessenkonsequentialismus, den Singer zum ersten Mal auf so anscheinend heterogene
Themen wie den Umgang mit Tieren, mit Schwangerschaft, Früheuthanasie, Sterbehilfe und 3.-Welt-Armut anwandte. Hier der ausgreifende
historische Diagnoseversuch des „Planeten“, dort das alltagsnahe
Abwägen mit Vergleichen zwischen konkreten Handlungssituationen.
Hier die mahnende Beschwörung, dort das systematisierende Argumentieren mit dem Interessenprinzip. Auffallend der Kontrast zwischen
klarem angelsächsischem Argumentationsstil und vager deutscher
Hermeneutik.
Inhaltlich am wichtigsten unterschieden sich beide Philosophen darin,
dass Jonas als moralischer Mahner im umfassenden Stil auftrat und sich
dabei auf grundsätzlich bekannte Weise auf das geläufige ethische
Achten, Verehren und Verantworten stützte, während Singer weniger
mahnte als zentrale moralische Intuitionen ungerührt in Frage stellte. Im
Prinzip war ein derart elementarer Angriff auf die „herrschende
Moral“ seit der Entwicklung des Utilitarismus durch Mill und Sidgwick
1
Jonas 1979. Eine englische Übersetzung erschien 1984 und blieb im Kontrast zur
deutschsprachigen Debatte in der angelsächsischen Szene weitgehend unbeachtet.
Einige „kasuistische“ Studien auch zur Medizin hat Jonas begleitend betrieben,
gleichzeitig vor verfrühter Kasuistik aber gewarnt (Jonas 1985, S. 11).
2
Singer 1979 (dt. Singer 1984/1994). Thematisch verwandte Publikationen Singers
aus diesem Zeitraum waren vor allem Singer/Kuhse 1985 und Singer 1995.
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im 19. Jahrhundert durchaus bekannt.3 Aber niemand davor hat dieses
Kritikpotential aus seiner akademischen Hülle zu befreien und so
plastisch, einfach und konkret in alltägliche Anwendungen zu übersetzen
vermocht, wie es in den einzelnen Kapiteln der Praktischen Ethik
geschieht. Die aus dem einfachen Interessenprinzip folgenden moralischen Gründe führen zu einer starken moralischen Aufwertung des
Lebens der Tiere (bis hin zur strikten moralischen Gleichheit von Säugetieren mit Selbstbewusstsein und Menschen); zur moralischen Neutralität
des beginnenden menschlichen Lebens vor dem Erlangen von Selbstbewusstsein; und zur dringlichen Forderung des Kampfs gegen Armut im
weltweiten Maßstab. Während Jonas’ Traktat nur das diffuse Gefühl der
ethischen Bedenklichkeit erzeugt, verschiebt Singers Interessenprinzip
die moralischen Gewichte auf punktuell klare Weise: die tierischen
Interessen sind nicht generell den menschlichen nachgeordnet, menschliches Leben ist nicht in jeder Form schützenswert, die Hilfe gegenüber
anderen ist moralisch nicht mehr (als subjektiv auslegbare „positive
Pflicht“) dem Gutdünken überlassen.
Während sich jemand wie Nietzsche nicht als „Ethiker“ bezeichnet
hätte, weil traditionell gesehen Ethiker solche Personen waren, die bekannte Forderungen der Moral pädagogisch verstärken, kam nun mit
Singer eine Figur in die Öffentlichkeit, die als Ethiker die Moral in
zentralen Bereichen in Frage stellt, dem Lebensschutz am Beginn und
(teilweise) Ende des menschlichen Lebens. „Besserer Tierschutz“ und
„höhere Entwicklungshilfe“ – das sind gewohnte und entsprechend aufmerksamkeitsresistente Forderungen. „Akzeptiertes Töten von Neugeborenen“ – das wurde zwar von berüchtigten Eugenikern, aber davor
kaum von einem akademischen Ethiker gehört und führte deshalb zu
vehementen sozialen Reaktionen.
Im Unterschied zu den angelsächsischen Ländern betraf der „Skandal“,
der sich an Singer mehr entzündete als von ihm entfacht wurde, weniger
die inhaltliche-normative These des Erlaubtseins des Tötens von
Neugeborenen – diese These wurde von so gut wie keinem deutsch 3
Die Einschränkung „im Prinzip“ ist zu beachten, weil sich weder Mill noch
Sidgwick das tatsächliche Konfliktpotential zwischen Utilitarismus und christlich
tradierter Moral klar vor Augen führten. So war Mill der Meinung, sein
Utilitarismus sei mit der Goldenen Regel und dem Liebesgebot Jesu nicht nur
verträglich, sondern drücke diese in „höchster Vollkommenheit“ aus. S. Mill 1879,
S. 30.
4
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sprachigen Ethiker geteilt. Der Skandal erhielt sein Feuer vielmehr
anhand der Frage, ob über dieser These im öffentlichen Raum überhaupt
diskutiert werden dürfe, ob also der uneingeschränkte Schutz „menschlichen Lebens in jeder Form“ überhaupt rechtfertigungsbedürftig sei. Die
Kritiker und Gegner Singers unterstrichen ihre Opposition durch das
gewaltsame Stören und Verhindern entsprechender Veranstaltungen und
Publikationen, die „liberalen Verteidiger“ Singers traten zwar nicht für
die Tötungs-, aber für die Diskussionsfreiheit des Tötens von Neugeborenen ein. Anhand allein der inhaltlich verwandten Publikationen Norbert
Hoersters im immer um politische Korrektheit bemühten SuhrkampVerlag ließ sich bereits einige Jahre später sagen, dass die
„liberale“ Gruppe am Ende einflussreicher war: über den „Wert“ des
menschlichen Lebens durfte und darf inzwischen öffentlich diskutiert
werden, auch wenn die Vorstellung der moralischen Neutralität
bewusstlosen menschlichen Lebens nach wie vor kaum Anhänger findet.4
2. Ethische Theorie trifft auf reale Moral
Wie wir seit dem Schicksal Sokrates’ wissen, ist das Aufeinandertreffen
von Philosophen in Aktion und Alltagsmenschen immer prekär, und das
umso mehr, je stärker die fraglichen Meinungen praktisch relevant sind.
Für die Ethik entsteht daraus das tiefe Problem, in welchem Ausmaß sie
sich von den Alltagsmeinungen lösen und sie kritisch rekonstruieren oder
gar verwerfen und reformieren soll. Im philosophischen Sprachgebrauch
nennt man elementarste Prinzipien, Normen und Werte eine „ethische
Theorie“, woraus sich das für alle Ethiker unumgängliche Problem
eröffnet, in welchem Ausmaß diese „Grundnormen“ mit gewohnten
„Intuitionen“ (Meinungen und Gefühlen) abgestützt werden oder diese
ihrerseits begründen sollen. Vereinfacht lassen sich die Ethiker nach
4
Dokumentarisch zur Singer-Affäre s. vor allem: Anstötz (Hg.) 1992; Anstötz/
Hegselmann/Kliemt (Hg.) 1995; Euthanasie heute – Thema oder Tabu? Analyse &
Kritik 12, Heft 2, 1990; Hegselmann/Merkel (Hg.) 1991; Singer 1991; Singer 1994,
Anhang: „Wie man in Deutschland am Reden gehindert wird“; Singer 2009;
Wuchterl 1996, Kap. 5: „Die Singer Affäre und die Euthanasie-Kontroverse“;
Düwell 2009. Zur Ähnlichkeit der Position Hoersters: Im Unterschied zu Singer
hält Hoerster die Geburt für eine nicht zu übertretende „ethische Grenze“, allerdings
nur aus pragmatischen Gründen, die sich Singer im Prinzip ebenfalls zueigen
machen könnte: Hoerster 1995.
5
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„Fundamentalisten“ und „Kohärentisten“ sortieren, je nach dem Ausmaß,
in dem sie einzig aus Grundnormen heraus argumentieren oder umgekehrt nur versuchen, die verbreiteten Intuitionen in eine inhaltlich
stimmige Einheit zu bringen.
Tatsächlich gibt es kaum Fundamentalisten und Kohärentisten in
Reinform, auch wenn Singers Interessenethik einem „reinen“ fundamentalistischen Argumentieren schon sehr nahe kommt. Ein nicht nur
akademisch-diskursiver, sondern vor allem sozialer Beratungsbedarf
durch „ethische Theorien“ besteht seit einigen Jahrzehnten in den
westlichen Gesellschaften schon deshalb, weil sich der Eindruck erhärtet
hat, weniger dass die traditionelle, säkular-christliche Moral in sich
widersprüchlich ist, als dass sie den aktuellen Anforderungen nicht mehr
gewachsen scheint. Nur Kohärentist zu sein ist deshalb angesichts der
veränderten Lebensumstände keine mögliche Option mehr, die herkömmliche Moral muss in vieler Hinsicht neu formuliert werden, und das
wird kaum ohne eine „ethische Theorie“ gelingen.
Rein abstrakt betrachtet, eröffnet sich damit eine unbegrenzte Vielfalt
von Möglichkeiten des Kombinierens von zu „rettenden“ moralischen
Intuitionen und ethischen Prinzipien, und die Polyvalenz des akademischen und außerakademischen „ethischen Diskurses“ scheint die
Ratlosigkeit angesichts einer solchen Vielfalt zu bestätigen. Wie auch die
kaum weiter reduzierbare Zahl von etwa fünf sogenannten „Standardtheorien“ der philosophischen und theologischen Literatur zu belegen
scheint, herrscht Uneinigkeit darüber, welche normativen Prinzipien
„fundamental“ bzw. welche der in ihnen kristallisierten Intuitionen
vorrangig zu berücksichtigen sind. In dieser Situation bleibt den
einzelnen Ethikern nur die Hoffnung, mithilfe eines möglichst
umfassenden Argumentariums die konkurrierenden Kollegen einfach
kraft Umfang und Vollständigkeit zu widerlegen – eine Strategie, die
gleichermaßen anspruchs- wie voraussetzungsvoll ist. Die meisten, notgedrungen themenbegrenzt argumentierenden Ethiker finden sich deshalb
mit dem Problem normativer Parteilichkeit konfrontiert, das sie mit dem
gängigen Verständnis der philosophischen Ethik kaum lösen können.
Im akademischen Diskurs ist ein „theoretischer Pluralismus“ willkommener Anlass für immer weitere heftige Dispute, in der
Alltagspraxis entkräftet er hingegen die Autorität der Ethik. Meines
Erachtens wird der Pluralismus durch die Annahme erzeugt, dass allein
Prinzipien und Intuitionen den Kern des ethischen Diskurses bilden
6
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(verbunden mit, in der Regel weniger riskantem, empirischem Wissen).
Weicht man von dieser ungewöhnlich engen, wenn auch typisch philosophisch-kognitivistischen Ausgangsbasis ab, dann liegt viel näher, dass
eine „ethische Theorie“ mindestens auch eine Sozialtheorie zu sein hat –
einfach deshalb, weil ihr Gegenstand Moral nur stark-idealisierend in
Form von Prinzipien und Intuitionen zu identifizieren ist und realistischer
als eine Form des sozialen Handelns, der sozialen Beziehungen und
Interaktionen, ja gar der sozialen Institutionen in Form einer „Basisstruktur“ (Rawls) gesehen werden sollte.
In der wirklichen Welt ist die Moral Bestandteil einer speziellen Form
des sozialen Tuns und Unterlassens, weshalb diese realsoziale Dimension
der Moral einzufangen keine sachfremde Erwartung an eine „ethische
Theorie“ sein kann. Für einen Ethiker, der nur ein wenig auch Soziologe
ist, reduziert sich die Komplexität des ethischen Diskurses – vielleicht
überraschend – auf nahezu eine einzige moralphilosophische Tradition,
nämlich diejenige des Kontraktualismus, der die Moral als ein vertragsähnliches, interaktives Sozialgeschehen begreift. Aus verschiedenen,
später noch zu schildernden Gründen gilt der Kontraktualismus allerdings als eine Art „Ersatzethik“, der gegenüber die „echte“ Ethik und
Moral zu retten sind.5 Ein solches Urteil erklärt einzig den kognitiven
Gehalt zur Quelle von Normativität und überspitzt die im Prinzip
wichtige Differenz zwischen dem kognitivem Gehalt der Moral und den
psychologischen Motiven für das reale soziale Handeln. Meines
Erachtens bringen sich die kognitiven Ethiker damit in eine methodische
Lage, aus deren Parteilichkeit sie sich nicht mehr zu befreien vermögen.
Aufgrund ihres einseitig kognitiven Moralmodells sind insbesondere die
meisten angewandten Ethiker nur Repräsentanten einer Teilmoral, die sie
Andersdenkenden gegenüber nicht verteidigen können.
Im folgenden will ich diese Diagnose des „realsozialen Defizits“ der
theoretischen und angewandten Ethik anhand eines skizzenhaften Durchgangs durch die sich in Anschluss an die Singer-Affäre entwickelnde
angewandte Ethik sowohl illustrieren wie belegen. Die Interessentheorie
bzw. der Handlungsutilitarismus sind ihrer Einfachheit wegen die besten
Ausgangspunkte für jeden ethischen Diskurs, der angesichts veränderter
5
Diese Vorstellung beginnt in der neueren Literatur vor allem mit Mackie 1974,
aus Mackies Sicht durchaus, weil antiideologisch, positiv. Als ein Verlustgeschehen
stellt es sich dann bei Tugendhat 1993 dar.
7
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Lebensumstände die traditionelle Moral zu reformieren versucht. 6 An
den Schwierigkeiten und Grenzen einer sich von hier aus entwickelnden
ethischen Theorie lassen sich deshalb die Grenzen jeder kognitiven ethischen Theorie entdecken.
3. Wie sich ethische Theorie durch Bioethik auflöst
Die Interessentheorie ist deshalb ein höchst plausibler Ausgangspunkt für
eine kritische Haltung gegenüber der Moral, weil schwer daran zu zweifeln ist, dass der Schutz von Interessen zu den vorrangigen Funktionen
der Moral gehört. Allerdings überwiegt in diesem Gedanken der Funktion des Schutzes eben der Schutz, und es ist nicht unerheblich, wie man
das Objekt des Schutzes begrifflich fasst: ob als Interesse, Präferenz, Lust,
Wohl oder allgemein Leben. Was häufig als „Scharfsinn“ der angewandten Ethik empfunden wird, wie sie Peter Singer und andere aus der
sprachanalytischen Tradition stammende Ethiker (im Kontrast zu einem
geisteswissenschaftlichen Philosophen wie Jonas) entwickelt haben,
entspringt meist Kohärenzüberlegungen mittels geeigneter Beispiele, mit
denen auch die begrifflichen Entscheidungen begründet werden sollen.
Wenn Töten moralisch unerheblich ist, weil das Lebewesen kein
Überlebensinteresse hat, dann spielt eine zentrale Rolle, ob „Überlebensinteresse“ der einzig treffende Begriff ist und was er bedeutet.
Singers Ethik ist zunächst fundamentalistisch in dem Sinn, dass sie im
Konflikt zwischen dem Interessenprinzip und der verbreiteten moralischen Intuition (wonach Neugeborene keinesfalls getötet werden sollten)
unbeirrt auf das Prinzip setzt. Sie ist aber außerdem „begriffsfundamentalistisch“ darin, dass sie kein Problem damit sieht, der
begrifflichen Entscheidung die vollständige Beweislast aufzuerlegen.
Ohne den Hintergrund der sprachanalytischen Diskussionskultur wäre
ein solches Vertrauen auf einzigartig treffende Beschreibungen des
Wohls von Lebewesen vermutlich überhaupt nicht denkbar – ein Ver-
6
Ob Interessentheorie und Utilitarismus völlig deckungsgleich sind, ist umstritten.
Meines Erachtens folgt das Maximierungsprinzip (also der Handlungsutilitarismus)
aus ersterer, aber dieser Punkt kann hier auf sich beruhen bleiben.
8
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trauen, das eine ganze Gruppe von „analytischen“ Ethikern ausgezeichnet hat und teilweise immer noch auszeichnet.7
Entsprechend diesen zwei Stufen des Fundamentalismus eröffnen sich
zwei Ebenen eines alternativen Bewertens: erstens diejenige, nicht allein
auf ein Prinzip zu setzen, sondern es durch beachtenswerte Intuitionen zu
ergänzen und zu korrigieren; und zweitens diejenige alternativer oder
sogar pluralistischer Beschreibungen des Gegenstands der Moral. Worin
liegt der Unterschied? Im ersten Fall wird das Begriffsgerüst der Theorie,
hier der Interessentheorie oder des Utilitarismus, beibehalten, aber durch
konträre Intuitionen ergänzt oder korrigiert. Im zweiten Fall wird das
Begriffsgerüst der Theorie verlassen und es werden eine oder mehrere
andere begriffliche Perspektiven ins Spiel gebracht. Ersteres könnte man
den „schwachen Fundamentalismus“, letzteres einen „ethischen Pluralismus“ – hier einen Pluralismus im Grenzbereich der Moral – nennen.
Ein ausgesprochen umsichtiger und erfindungsreicher schwacher
Fundamentalist ist Dieter Birnbacher. Birnbacher teilt mit Singer eine
subjektive (allerdings nicht in Präferenzen gefasste) Werttheorie und er
hält den Utilitarismus für die angemessenste Theorie der angewandten
Ethik. Andererseits weicht er in vielen ethischen Fragen von Singers
Urteilen ab. So sieht er bei der Früheuthanasie eine erhebliche Dammbruchgefahr sowie indirekte Auswirkungen der Diskriminierung von
Behinderten. 8 Töten und Sterbenlassen konsequentialistisch gleichzusetzen, wird ihm zufolge verbreiteten Reaktionen nicht gerecht (2006,
S. 187f). Passive Sterbehilfe sei häufig der aktiven vorzuziehen, und
grundsätzlich komme „pragmatischen Gründen“ die vorrangige Rolle zu
(1995, S. 371f). „Menschenwürde“ ist für Birnbacher nicht schlicht ein
„metaphysischer“ und damit zu verwerfender, sondern ein in seinem
Alltagsgebrauch differenziert zu rekonstruierender und teilweise
„sentimentalistisch“ zu begründender Begriff. In seiner Anwendung auf
ungeborenes menschliches Leben drückt „Würde“ die Achtensgefühle
Dritter aus sowie eine „Gattungssolidarität“ (2004, S. 267f). Handlungs 7
Zu dieser Gruppe gehörten neben Singer vor allem Joel Feinberg, John Harris,
Michael Tooley, Richard Hare, Jonathan Glover, Jeff McMahan, im deutschen
Sprachraum neben Hoerster auch Tugendhat und Birnbacher. Ich selbst habe
begriffsfundamentalistisch argumentiert in Leist 1990. Meines Wissens ist die stillschweigend anti-quineanische, apriorisch-sprachanalytische Prämisse dieser Philosophen nie explizit begründet oder in Frage gestellt worden.
8
Birnbacher 2006, S. 178-192.
9
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und Unterlassenspflichten gleichzusetzen ist für „reale Menschen“ nicht
„lebbar“ (1995, 130), unterlassene Hungerhilfe wie Singer mit aktivem
Töten gleichzusetzen, ist deshalb Unsinn.
Wie diese Beispiele verdeutlichen, ergänzt Birnbacher das
Interessenprinzip mit der Rücksichtnahme auf die durchschnittlichen
Gefühle und Motive relevanter Personen, gestützt auf teils nachprüfbare,
teils vermutete Reaktionen und Folgen. Dadurch ergibt sich ein sozial
kontextualisierter, die konkreten bioethischen Praktiken wesentlich
sozialnäher nachzeichnender Utilitarismus, den Birnbacher „indirekten“ und „sentimentalen“ Utilitarismus nennt (2006, S. 49). Sowohl
die Sekundärfolgen regelmäßigen Befolgens moralischen Urteilens sollen
berücksichtigt werden – etwa die unüberschaubaren Folgen der erlaubten
Kindstötung – wie unausweichlich menschliche Gefühle beachtet, sind
sie verbreitet und typisch genug.9
Über diesem beachtlichen Bemühen um soziale Ausgewogenheit
sollte nicht übersehen werden, dass Birnbacher dennoch ein ethischer
Fundamentalist ist. Er plädiert für eine subjektive Werttheorie, nach der
die normative Grundlage einer rationalen Moral einzig in dem zu
maximierenden angenehmen Erleben liegt. Zwar schwächt er auch in
diesem Punkt den Begründungsanspruch ab, indem er den indirektsentimentalen Utilitarismus als nur für „plausibel“, nicht „zwingend“ erklärt, hält diese Plausibilität aber für eingebettet in einen
zwingenden, weil unparteilich-universalen „Begriff“ der Moral (2006,
S. 45-51). Birnbacher ist also ein klarer Begriffs- und ein schwächerer
Wertfundamentalist. Entsprechend teilt er mit Singer eine grundsätzlich
verwandte Werttheorie, die ihn bei der Frage des Tötens von Tieren und
im Bereich der Ökologie zu weitgehend analogen Ergebnissen führt und
die sein sekundäres, auf Risiken und Gefühle abstützendes Argumentieren mit erheblichen Beweislasten versieht.
Mein Vorbehalt gegen die kognitiv verkürzte „ethische Theorie“ war,
dass sie voraussichtlich zur normativen Parteilichkeit führt. Anders ausgedrückt, dass sie ihre Urteile Andersdenkenden gegenüber nicht zwingend machen kann. Wie eben gesehen, scheint Birnbacher tendenziell
bereit, dieses Defizit einzuräumen. Bleibt dann aber noch ein normativer
9
Der Bioethiker Andreas Kuhlmann hat Birnbachers Schriften aus Gründen dieser
sozialen Nähe und Umsicht heraus besonders hochgeschätzt. S. sein Vorwort in
Birnbacher 2006 sowie Kuhlmann 2001 und 2011.
10
Anton Leist
Anspruch in der Behauptung, ein moralisches Urteil sei „plausibel“? Die
Nebenfolgen und Gefühle zu beachten, statt sie wie Singer bewusst zu
ignorieren und reformieren zu wollen, ist nur in dem Sinn „plausibler“,
dass die Urteile „alltäglicher“ und damit sozial akzeptabler werden. Hält
man (wie ich) die Idee eines „Begriffs“ der Moral für sprachanalytische
Metaphysik, dann spricht nichts dagegen, die induktive oder (in
Birnbachers Terminologie) „rekonstruktive“ Methode (etwa des 4Prinzipien-Ansatzes) (2006, S. 35-44) für noch plausibler zu halten als
die utilitaristische, so dass mindestens drei alternative Methoden zur
Wahl stünden. Ob man wie Singer als radikaler moralischer Reformer
auftreten will oder wie Birnbacher als moralischer Moderator, wäre dann
nicht theoretisch zu entscheiden – sondern ergäbe sich aus der sozialen
Rolle, die man als Ethiker in der Gesellschaft einnehmen will.
Abgesehen von diesem generellen, möglicherweise von anderen
„Theorien“ zu teilenden Los, steckt ein gehöriges Maß an Beliebigkeit
und Subjektivität, ja teilweise Widersprüchlichkeit, in den „indirekten
Gründen“, auf die Birnbacher seine gemäßigteren Folgerungen stützt.
Gilt wirklich, dass gegenüber menschlichen Embryonen Gattungssolidarität empfunden wird (2004, S. 268)? Warum ist eigentlich die
Abneigung angesichts eines Cyborgs oder eines klonierten Menschen
vernachlässigbar (2006, S. 77-82), die Abneigung gegen den instrumentellen Umgang mit Embryonen oder Leichnamen nicht (2004, S. 267)?
Wenn die emotionale Reaktion auf den Cyborg kritisierbar ist, welchen
Sinn kann dann noch „Gattungswürde“ der speziesistischen „Reinheit“ (2004, S. 268) haben? Wann sind solche Gefühle „tief liegende
Gefühle“ (S. 267) und wann nicht? Und wie rational und stabil ist die
unterschiedliche emotionale Wahrnehmung von Tun und Unterlassen?
Wenn die „rationale Abklärung“ der Gefühle als nötig eingeräumt wird,
warum führt sie am Ende nicht doch zur direkten Interessenanalyse, wie
Singer sie vertritt?
Alle diese Fragen deuten darauf hin, dass hinter der Differenz zwischen dem direkten und dem indirekten Utilitarismus nur die nicht selbst
begründbare Entscheidung für den reformatorischen, gemäßigten Berufsauftrag als Ethiker steht. Dann aber bleibt die angewandte Ethik bereits
im Ansatz moralisch parteiisch.
11
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4. Gutes Leben statt Lebensinteresse
Der von Singer und Birnbacher geteilte Begriffsfundamentalismus unterstellt, die Welt sei begrifflich soweit klar geordnet, dass sich Gründe mit
erheblicher moralischer Tragweite auf diese Ordnung stützen können. Im
Bereich des Tötungsverbots gilt das für die Annahme, dass „Interessen“ und „Bewusstsein“ die einzigen oder mindestens vorrangigen Begriffe sind, anhand derer sich die Schädigungsfähigkeit von Lebewesen
manifestiert. Das einschlägige Argument lautet ja, dass ein Lebewesen
durch das Ende seines Lebens keinen Schaden erleide, wenn es kein
Bewusstsein seiner Zukunft bzw. kein Überlebensinteresse hat. Den
meisten Tieren und allen menschlichen Neugeborenen fehlen diese
Eigenschaften, woraus die moralische Neutralität ihres Tötens folgt –
beurteilt direkt in Bezug auf sie. Neben der Annahme, dass einzig die
Handlungsfolgen über die moralische Qualität entscheiden, ist die
Exklusivität der subjektiven Interessenbewertung verantwortlich für
dieses Ergebnis. Doch wie ist diese Exklusivitätsannahme selbst
begründet?
Wenn wir an ein Neugeborenes und an die Frage denken, ob das
Faktum seiner Existenz „gut“ ist, dann denken wir keineswegs an sein
subjektives Lebensinteresse. Vielmehr beurteilen wir spontan den
„objektiven Wert“ des Lebens dieses Neugeborenen. Die Welt ist
„reicher“, wenn es dieses Neugeborene gibt als wenn nicht. Birnbacher
stimmt dieser Intuition explizit zu, findet in ihr aber die Individualität des
jeweiligen Lebens unberücksichtigt, weshalb nicht die hinreichende
Schädigungsqualität erreicht würde, die für das Tötungsverbot nötig wäre
(2006, S. 240f). Freilich: mit einiger Phantasie lässt sich das Neugeborene (und bereits sein Embryo und Fötus) auch als frühes Subjekt des
Lebens eines sich entwickelnden individuellen Menschen ansehen, und
das Gute seiner aktuellen Existenz als Teil des Guten seines gesamten
Lebens. Meines Erachtens liegt diese Perspektive des gesamten Lebensguts eines Menschen der spontanen Reaktion der Freude über ein
Neugeborenes (um seiner selbst willen) zugrunde. Diese Sicht ist durchaus eine „vorausgesetzte-Existenz-Sicht“ des bereits lebenden Wesens,
so dass sie mit der Folgerung der überzubevölkernden Erde nicht
konterkariert werden kann. Wenn diese Lebensgut-Sicht ebenso plausibel
ist, dann konkurriert mit dem Interessen- und Bewusstseinsbegriff derjenige des Lebensguts, und mit welchen Gründen dieser Begriff
12
Anton Leist
vernachlässigbar oder durch den des Überlebensinteresses übertrumpfbar
wäre, bleibt unklar.10
Die Interessenargumentation verschafft sich ihren analytischen
Respekt durch ihre präzise ethische Diagnose zu den verschiedenen
Handlungsoptionen. Doch dieser Respekt ist nur so berechtigt, wie eine
alternative Bewertung des menschlichen Lebens unberechtigt ist – und
als solche erwiesen werden kann. Letzteres ist aber offensichtlich nicht
der Fall, die Lebensgut-Sicht wird einfach ignoriert. Mit ihr will ich übrigens nicht behaupten, dass sein Leben für das Neugeborene denselben
Wert hat wie für das zehnjährige Kind oder für den jungen oder alten
Erwachsenen, der dieses Leben lebt. Vielleicht hat das Leben des
Neugeborenen aufgrund seines noch fehlenden subjektiven Bewusstseins
weniger Wert. Ausreichend für eine vorsichtigere ethische Diagnose ist
bereits, dass sich über den Grad an „Wert“ beim Neugeborenen im
Vergleich zum sich entwickelnden Kind und Erwachsenen nichts
Präzises sagen lässt – eine quantifizierende oder auch nur vergleichende
Wertdiagnose scheint unmöglich. Deshalb führen Interessenethiker sich
und andere in die Irre, wenn sie die exklusive Zuständigkeit der
Interessenkategorie unterstellen. Die moralische Qualität des Tötens von
frühem menschlichem Leben ist nicht so präzise zu verorten, wie sie
nahelegen.
Eine ähnliche Kritik gilt für die ethische Analyse des Tötens von
Tieren. Für die unzähligen, täglich geschlachteten Tiere wird von Singer
und Birnbacher angenommen, dass ihr Töten, wenn schmerzlos, aufgrund fehlenden Überlebensinteresses moralisch akzeptabel sei
(Birnbacher 2006, S. 243). Nun lässt sich bereits pauschal vermuten, dass
die Tierproduktion unter kapitalistischen Konkurrenzzwängen nicht in
der Lage ist, den Nutztieren zu einem auch nur einigermaßen leidfreiem
Leben zu verhelfen, so dass auch der Interessen-Tierethiker dennoch
gegen den Konsum von Tierprodukten votieren muss. Allerdings behindert er eine klare Stellungnahme dadurch, dass er den psychologischen
Zirkel zwischen dem in seinem Ende und dem in seinem
„Lebensalltag“ missachtetem tierischem Leben nicht aufzubrechen vermag. Die meisten Tierproduzenten sind nicht in der Lage, ein Tier
10
So habe ich auch bereits argumentiert in Leist 2005, Kap. 4. Vgl. nicht unähnlich,
nur umständlicher und mit Assoziationen an das „Potentialitätsargument“: Marquis
2009.
13
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artgemäß zu behandeln, das zu töten sie sich im Recht sehen. Weil die
Interessenethiker das Töten als moralisch akzeptabel einräumen (und
einräumen müssen), bleibt meines Erachtens ihr Einfluss auf den Tierschutz entsprechend begrenzt.
Singer hat durch sein frühes Buch Animal Liberation (1975) fraglos
zur Sensibilisierung unseres Umgangs mit Tieren beigetragen. Die
Freiheit zu töten aber unterläuft diese Wirkung. Tiere, die moralisch
gesehen getötet werden dürfen, dürfen auch zu menschlichen Zwecken
instrumentalisiert werden; und Tiere, die von Menschen genutzt werden
dürfen, werden unter durchschnittlichen Menschen – wie Menschen nun
einmal sind – leiden müssen. Es gibt kein gutes Tierleben unter falschen
Bedingungen, eben der Bedingung des Getötetwerdens. Rationalistische
Philosophen wie die Vertreter des Interessenarguments können sich zwar
im Rahmen ihrer Begriffe vehement gegen das Leid von Tieren wenden,
und sie tun das auch. Aber sie müssen die Klarheit ihrer Argumentation
für relevanter halten als die psychologische Abwertungstendenz der Tiere,
zu der sie mit ihrer Klarheit beitragen. Im Konflikt zwischen ihrer
begrifflichen Klarheit und dem Tierschutz sind sie vorrangig Philosophen
und erst sekundär Tierschützer. Diese Philosophen tragen, zugespitzt
ausgedrückt, dazu bei, dass den Tieren mehr Leid geschieht, als nötig
wäre.11
Im Fazit scheint mir deshalb naheliegend, dass die angewandte Ethik
zum Tierschutz kaum mehr etwas beitragen kann, wenn sie dem
landläufigen Töten von Nutztieren nichts entgegenzusetzen hat. Die
Sensibilität vieler Fleischkonsumenten und -produzenten im Umgang mit
den Tieren hat sich in den westlichen Ländern während der letzten Jahre
zweifellos gesteigert. Gegenwärtig aber scheinen die Möglichkeiten des
ethischen Tierschutzes an eine Grenze gelangt zu sein. Die professionelle
11
Der vorangehend unterstellte psychologische Zusammenhang kann auch
bezweifelt werden und muss deshalb mit empirischen Belegen untermauert werden.
Anregend finde ich den Kontrast zwischen dem instrumentellen und dem ehrvollen
Umgang mit Tieren, wie ihn etwa der Film „Facing Animals“ des Holländers Jan
van IJken belegt (s. http://freefromharm.org/). „Lieblingstiere“ werden nicht getötet,
der sorgende Umgang mit ihnen und die Tötungshemmung gehen Hand in Hand.
Von daher liegt nahe, dass für die Mehrzahl von Menschen auch das Umgekehrte
gilt: Akzeptierte Tötung zieht akzeptiertes Leiden nach sich. Aber zugegeben: der
eben geäußerte Vorwurf gegenüber den Interessenethikern bedarf einer umfangreicheren Empirie.
14
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Abschirmung des Leids, das Tieren in der Fleischproduktion zugefügt
wird, der allgemeine Freibrief, Tiere zu nutzen, die weitgehende Freiheit
im Abwägen zwischen menschlichen und tierischen Interessen bei
Höherrangigkeit der menschlichen – das alles sind Rahmenbedingungen,
unter denen eine wesentliche Verbesserung des gegenwärtigen Loses der
Tiere kaum mehr möglich scheint. Meines Erachtens würde nur der
Appell an das ganze „artgerechte“ Leben eines Tiers nicht nur das
frühzeitige Töten von Schweinen, Kälbern und Hühnern in zweifelhaftem Licht erscheinen lassen, sondern auch die Interessenabwägung
zugunsten der menschlichen Interessen erheblich erschweren. Ohne einen
Sinn dafür zu entwickeln, wie das Ganze eines Lebens beschaffen ist,
bleibt das Tier ein verwertbarer Gegenstand, und zu dieser Rechenmentalität sollte die angewandte Ethik nicht – wie über den Interessenbegriff – beitragen, sondern sie sollte sie verhindern!
5. Von der Naturethik zur Umweltgerechtigkeit
Zeitgleich mit den diversen technischen Revolutionen in der Medizin
stellte sich in den 1970er und 1980er Jahren ein erstes, sich eruptiv
verbreitendes Bewusstsein von den ökologischen Grenzen des Naturverbrauchs ein. In Deutschland wurde 1980 die Bundespartei der Grünen
gegründet und ihre Vertreter schafften es 1983 in den Bundestag. Wie
manche in dieser ersten Generation ökologiebewusster Politiker waren
etwa um dieselbe Zeit auch die ökologischen Ethiker der ersten
Generation häufig Wertfundamentalisten. Arne Naess (1989) und
Holmes Rolston (1988) waren beispielsweise „Tiefenökologen“ der Art,
dass sie in der Natur, in einzelnen Lebewesen, Arten und Biotopen einen
ethischen Wert zu erkennen versuchten. Eine solche „Öko-“ oder
„Physiozentrik“ würde im Unterschied zur „anthropozentrischen“ Ethik
die Wertgewichte so weit verschieben, dass nicht nur kurz- oder
längerfristige Nutzeneinbußen gegen das industrielle Zerstören der Umwelt stünden, sondern auch moralische Gründe. Aus menschlicher Sicht
„unnütze“ Natur, wie viele Spezies oder unbevölkerte Landschaften,
könnten dann gegen den Bau von Staudämmen oder Abräumanlagen mit
Gründen geschützt werden.12 An solchen Beispielen kristallisierte sich
12
Für ein Beispiel der ersteren Art kann man an den „Snail Darter“, eine vom
Aussterben bedrohte Fischart, denken, die den Bau des Tellico Staudamms in
15
Anton Leist
für einflussreiche Ökoethiker der ersten Generation die Überzeugung,
dass eine zeitgemäß reformierte Moral eine Moral auch der Natur, die
umgeschriebene Ethik eine „Naturethik“ sein müsste.13
Wie schwer es aufgeklärten Moralphilosophen jedoch fällt, einer
solchen Erwartung zu entsprechen, lässt sich wiederum beispielhaft an
der Interessenethik bzw. am Utilitarismus zeigen. Die moderne Ethik ist
mit der philosophischen Aufklärung an der Einsicht orientiert, dass
menschliche Interessen (Hume, Bentham, Mill) oder menschliche Vernunft (Kant) die Grundpfeiler der Moral sind, wobei die empfindungsfähige Natur teils einbezogen (Utilitarismus), teils aber auch als vernunftund damit wertlos gezähmt und kontrolliert werden soll (Kant). Unter
diesen Modernen offeriert die Perspektive der Interessen also noch die
günstigste Basis für eine Naturethik, die aber auch dort ihre Grenze hat,
wo die „natürliche Natur“, also Spezies, Biotope, Landschaften, Wasser,
Kristalle, nicht selbst empfindungsfähig ist. Wird die Grenze der Moral
anhand von Empfindungsfähigkeit gezogen, kann das Aussterben einer
Art kein moralisch relevantes Phänomen sein, die Forderung nach
„ökozentrischen Werten“ scheint auf einem Missverständnis zu beruhen,
weil „Wert“ (als Objekt von moralischer Relevanz) an Empfindungsfähigkeit und damit an eine genuin menschliche Eigenschaft geknüpft ist
– selbst in ihrem Vorkommen bei den Tieren. Über die empfindungsfähigen, auch wildlebenden Tiere hinaus kann es deshalb eine moderne
„Naturethik“ nicht geben.
Singer hat diese Grenze in seinen Publikationen stillschweigend anerkannt, indem er sich neben den bereits erwähnten mensch- und
tierzentrierten Themen außer dem Problem des Klimawandels keines
ökologischen Themas angenommen hat, das zu einem Wandel der Wertbasis herausforderte.14 Man darf Singer sicher unterstellen, dass er das
Interessenargument nicht aufzugeben bereit ist und also die menschlichen
Interessen als einzigen Maßstab auch für den Schutz der Natur anerkennt.
Bei – aus heutiger Sicht noch harmlosen – Umweltproblemen wie Wald Tennessee verhinderte (s. Plater 2008). Für letzteres Beispiel an den geplanten
„Harris Supersteinbruch“ in Schottland, der auch durch ökologische Argumente
verhindert wurde (s. Barton 1996).
13
S. die Überblicke und Sammlungen von Angelika Krebs, in Krebs 1999 und
Krebs (Hg.) 1997.
14
Zum Klimawandel schlägt er ein Menschenrecht auf gleiche Emissionen vor: s.
Singer 2002, Kap. 2. Für Gründe gegen diesen Vorschlag s. Leist 2011a.
16
Anton Leist
sterben/Katalysator oder Ozonloch/FCKW-freie Kühlschränke mag der
Naturschutz auf dieser Basis noch unstrittig aus menschlichen Interessen
ermittelt werden können. Aber in welchem Interesse das Erhalten des
Snail-Darters gewesen sein soll, ist unerfindlich, während die Vorteile
eines Staudamms für die Energiegewinnung auf der Hand liegen.
Manche „pragmatistischen“ Umweltethiker wie Bryan Norton (2005)
sind der Meinung, dass es der Verteidigung einer „intrinsischen“ Werthaftigkeit der Natur gar nicht bedarf, weil die gegenwärtigen
zivilisatorischen Eingriffe in die Natur allein aufgrund ihrer langfristigen
Rückwirkung auf die menschlichen Interessen ebenso kritisiert werden
können wie unter ökozentrischen Prämissen. Doch eine solche Vermutung irrt in Hinblick auf das reale Ausmaß der Konflikte.
Anhand des häufig zitierten Arguments, bestimmte aussterbende
Spezies „könnten“ sich in der Zukunft als für Menschen nützlich
erweisen, zeigt sich schnell, wie spekulativ eine vermutete Konvergenz
der Positionen tatsächlich ist. Die biologischen Unterschiede zwischen
vielen Spezies sind minimal, dem möglichen Nutzen steht auch ein
möglicher Schaden gegenüber, der mögliche Nutzen ist heute völlig
unvorhersehbar, usw. Überdies belegen nicht nur die menschliche
Ressourcengewinnung, sondern auch der verbrauchende „Genuss“ der
natürlichen Umwelt durch Freizeitsport, Zersiedelung, Verbrauch von
Tiefenwasser, internationaler Fischvorräte, Folgen von Straßen- und
Flugverkehr, Nebeneffekte von Windkrafträdern, nicht zu sprechen vom
Großproblem Klimawandel, dass die menschlichen Interessen mit dem
Konservieren der „natürlichen Natur“ keineswegs konvergieren. Die den
Menschen umgebende Natur wird seit Jahrtausenden den menschlichen
Zwecken unterworfen und seinen Bedürfnissen angepasst, und das
geschieht bisher im Bewusstsein völliger Berechtigung. Bestenfalls
begrenzt und unter speziellen menschlichen Wertprämissen, wie etwa
dem Bewahren einer Kulturlandschaft als „Heimat“, könnten deshalb
starke Konservierungsgründe dem weiteren Umarbeiten der Natur zu
einer künstlichen Natur im Weg stehen.15 Auch dann aber handelt es sich
um keinen generellen und kategorischen Schutz, denn der Interessen 15
S. dazu das „Heimatargument“ in Krebs 1999, S. 55f sowie Krebs im
vorliegenden Band. Krebs schließt sich auch dem Plädoyer des wertkonservativen
Philosophen Roger Scruton an: Scruton 2012.
17
Anton Leist
konflikt zwischen materiellem Wohlstand und zu bewahrender Heimat,
und Heimat generell, kann je nach den Umständen verschieden ausfallen.
Wiederum hat Dieter Birnbacher die begrifflichen Möglichkeiten des
Interessenarguments für die ökologische Ethik vielleicht am weitestgehend ermittelt. Zwar steht er auch dann einer Naturideologie kritisch
gegenüber, wenn sie insgesamt vorteilhafte Folgen hätte („funktionale
Argumente“: 2006, Kap. 5), aber er tendiert zu der Ansicht, dass der
Eigenwert der Natur durch „inhärente Werte“ imitiert werden könne, in
denen die instrumentelle Werthaltung jeweils an ein Ende gelangt (2006,
S. 112-6). Anstatt dem Wald einen „intrinsischen“ Wert zuzubilligen,
sollte der subjektive Werttheoretiker dem Wald einen Selbstwert im
Rahmen einer geeigneten Nutzung des Walds, etwa des ästhetischen
Wohlgefallens beim Spaziergang, zuschreiben.16 Meines Erachtens bewirkt diese Terminologie eher Verwirrung, denn die Rede von inhärenten
Werten ändert nichts am zugrundeliegenden, wenn auch weit gefassten,
instrumentellen menschlichen Verhältnis zur Natur, in diesem Fall eben
dem Zweck der Natur zur ästhetischen Erfahrung. Während die Natur,
hätte sie einen intrinsischen Wert, ihre Nutzer irgendwann dazu zwingen
könnte, sie angemessen zu beachten, bleibt der inhärente Wert von den
subjektiven Interessen abhängig – Nutzer, denen die Ästhetik der Natur
fremd ist, verhalten sich wie Nutzer, denen die Ästhetik der Musik fremd
ist. In einer liberalen Gesellschaft, die sich zugute hält, zwischen
individuellen Lebensstilen und strengen moralischen Normen zu unterscheiden, lässt sich deshalb mit ästhetisch-ökologischen Gründen gegen
materiellen Wohlstand nur schwach opponieren, wenn im letzteren auch
Armut im Spiel ist. Unklar ist aber bereits, was der Ethiker einer
Mehrheit von Bürgern entgegenzusetzen hat, die beliebig höheren Wohlstand dem Naturgenuss vorziehen.17
Das Problem des Gewichtens der ästhetischen, oder wie Ott umfassender sagt (Ott 2009, S. 83), der „kulturellen“ Naturinteressen (Schönheit,
Heimat, Erholung, Faszination, Spiritualität), lässt beispielhaft die
vollständige Überforderung und damit normative Untauglichkeit der
Interessenethik, und stellvertretend auch der kognitiven Ethik, für öko 16
Ähnlich Krebs (Hg.) 1997, S. 371.
Worauf ein Ethiker wie Konrad Ott die These „starker“ (substitutionsresistenter)
im Unterschied zu „schwacher“ (substitutionsfähiger) Nachhaltigkeit stützen will,
bleibt deshalb unklar: s. einschlägig Ott 2009.
17
18
Anton Leist
logische Probleme erkennen. Die Interessenethik konnte bei den im
Rahmen der säkular-christlichen Ethik anstehenden bioethischen
Grundsatzkonflikten der 1970er und 1980er Jahre eine große Relevanz
entfalten, weil sie mit dem Interessenbegriff ein methodisch attraktives
Instrument für Entscheidungen über die Grenzfragen der Moral
anzubieten vermochte. Obwohl einseitig und nicht zwingend vertreten,
entfaltete dieser einfache Gedanke eine ungewöhnliche soziale Wirkung
– eben angesichts von Zuständigkeitsproblemen an der Grenze des moralisch Relevanten.
Wie von Mills Utilitarismus bereits hinlänglich bekannt, sind jedoch
gerechte Verteilungen durch das Nutzenprinzip kaum oder nur vage zu
begründen. 18 Geht es beim Argumentieren mit Interessen um das
Summieren, Vergleichen und Gewichten von Interessen, wie das bei
Gerechtigkeit nötig ist, ist die utilitaristische Grundidee untauglich und
verführt bekanntlich zum Missachten von Rechten. Die Diagnose ist vielleicht nicht allzu gewagt, dass es nach 40 Jahren umfangreichen
Ethikdisputs nicht mehr vordringlich darum geht, eine religiöse oder
metaphysische Moral absoluter Ver- und Gebote zu korrigieren, sondern
eher darum, Konflikte zwischen als solchen moralisch legitimen menschlichen Interessen zu entscheiden. Die ethisch brisanten Themen sind
inzwischen von den Grenzen der Moral in ihre Mitte, nämlich in die
Mitte verschärfter Gerechtigkeitskonflikte eingewandert, wo sie mit dem
einfachen Interessenprinzip nicht beantwortet werden können.
Illustrieren lässt sich das am Konflikt zwischen der Schönheit einer
Landschaft und den Kosten ihres ökonomischen Nichtnutzens. Dazu
müssten die beteiligten Interessen in einen Wertvergleich gebracht
werden. Wie sollen diese Interessen ideal, also mit „ethischen Gründen“,
verglichen werden? Angenommen sogar, das ginge, so stellen sich
konkrete ökologisch-ökonomische Konflikte immer innerhalb selbst
bereits normativ geregelter gesellschaftlicher Kontexte. Die höheren
Transportkosten beispielsweise, die durch das Vermeiden von Küstenstreifen durch Frachtschiffe entstehen, schlagen sich in höheren Güterkosten nieder. Je nachdem, um welche Güter es sich handelt, werden
bereits bestehende ungleiche Wohlfahrtsverteilungen verschärft. Sollen
18
S. Mill 1871, Kap. 5. Vielleicht ist es nicht unnötig zu erinnern, dass Rawls
(1971) seine bis heute maßgebliche Gerechtigkeitstheorie in scharfer Abgrenzung
zum Utilitarismus entwickelt hat.
19
Anton Leist
diese betroffenen Interessen alle mit einbezogen werden? Wie soll
geprüft werden, ob sie berechtigt oder unberechtigt sind? Wann handelt
es sich bei den betroffenen Interessen um elementare oder um luxuriöse?
Sollte nicht überhaupt der Gewinn durch niedrigere Transportkosten in
die elementaren Interessen der Bewohner fremder Länder fließen? Ist die
Zahl der beteiligten Interessen irgendwie abzugrenzen? Das Interessenprinzip versagt angesichts dieser Fülle von Fragen.
Die Interessenethik war die naheliegendste Antwort auf die säkularchristliche Moral in der Phase nach dem II. Weltkrieg, ja wurde von
dieser geradezu herausgefordert. Weder Jonas’ Schöpfungsverantwortung, noch die parallel entwickelte Diskursethik waren in der Lage, der
Bioethik ein zeitgemäßes inhaltliches Profil zu geben – ebenso wenig wie
andere Erben von Kants Ethik das vermochten.19 Aufgrund ihres ebenfalls kognitiven Charakters ist eben auch die Interessenethik für die Probleme in der „Mitte der Moral“ untauglich. „Kognitiv“ ist eine Ethik, zur
Erinnerung, wenn sie sich nur aus abstrakten normativen Elementen wie
Werten und Normen speist, ohne deren sozialen Hintergrund einzubeziehen. „Zeitgemäß“ wäre eine gegenwärtige Ethik hingegen dann,
wenn sie die Eigenschaften des normativen Minimalismus und der sozial
angemessenen Skepsis miteinander verbindet. Auf den ersten Blick
scheint die Interessenethik diese Anforderungen optimal zu erfüllen,
denn normativ-minimalistisch ist sie allemal. Zum Verhängnis wird ihr
allerdings, dass sie ein falsches, rationalistisches Verständnis von Skepsis
hat bzw. dass sie mit einzelnen, voneinander getrennten Interessen einen
Schritt zu minimalistisch ansetzt. Bei der Skepsis gegenüber Moral sollte
man bedenken, dass sie mit der Moral ein soziales Verhältnis beurteilt
und voraussetzt – die Moral also nicht vom einsamen, irrealen Standpunkt aus beurteilt werden kann. „Bloß“ kognitiv wird die Ethik dann,
wenn sie diese Voraussetzung ignoriert, in der Folge entwickelt sie sozial
rigorose bis autistische Rezepte, denen in der realen Gesellschaft deshalb
keine sozialen Strukturen entsprechen, weil deren Voraussetzungen in
den Grundlagen der Moral ignoriert wurden. Wie die rhetorischen
Tendenzen in Birnbachers indirektem Utilitarismus zeigen, lässt sich
19
Abgesehen von der anhaltenden, schwer zu beendenden und deshalb kaum
aussagekräftigen Diskussion über den normativen Gehalt des Würdebegriffs hat die
kantianische Ethik zur Bioethik so gut wie nichts beigetragen. Zur Anwendung auf
die Tiere s. jetzt den riskanten Versuch von Korsgaard 2012.
20
Anton Leist
dieses grundsätzliche Defizit zwar im nachhinein etwas reparieren, aber
nur auf Kosten moralischer Parteilichkeit.
In der politischen und gesetzgeberischen Praxis ist die Gesellschaft
der entsprechenden Bioethik vorhersehbar nicht gefolgt. Soweit die
medizinischen Praktiken in den letzten Jahrzehnten liberalisiert wurden,
geschah das eher in Kenntnis der rationalen Uneindeutigkeit der Grenzen
der Moral als ihrer interessentheoretischen Präzisierbarkeit. Nur ideologisch, starr-glaubend, lässt sich die Grenze der Moral fixieren, und die
Interessenethik ist damit eine mit den säkular-christlichen Prinzipien
durchaus vergleichbare Ideologie. Unsere Ansichten und Gefühle zu den
Grenzen des menschlichen Lebens sind wesentlich prägnanter als die
zum Verhältnis gegenüber Tieren oder der Natur im weiteren Sinn.
Soziale Tumulte wie in der Singer-Affäre sind nicht zufällig beim Tierschutz oder unter ökologischen Ethikern kaum bekannt – mit Ausnahme
vielleicht des parteiinternen Streits der ersten Generation grüner Politiker.
Wenn die angewandte Ethik heute eher in das Stadium eines pluralistischen, konsensorientierten und grundsatzfernen Arbeitens übergegangen
ist, dann nicht nur aufgrund der weniger ideologisch geprägten Auseinandersetzung, sondern auch aufgrund aktueller Themen, die eher im
Zentrum der Moral als an ihren Grenzen liegen.
6. Eine sozialnormative angewandte Ethik
Moral, das ist nicht nur eine Menge von Rechten, Pflichten und Werten,
sondern eine spezielle Art sozialer Beziehungen. Zwar ist es nicht unüblich, von der Moral so zu reden, dass sie in den sozialen Beziehungen als
selbst unabhängige Größe angerufen wird, aber das entspringt einer
einseitigen, kognitiven Haltung zur Moral. Die Moral wird dann von den
sozialen Beziehungen abgespalten – und ebenso alle möglichen Gründe,
warum man der Moral folgen sollte und warum sie sozial fordernd ist.
Die Moral kann meines Erachtens nicht aus dem Geflecht der Rechte,
Pflichten und Werte allein begründet werden, sondern sie benötigt ein
Verständnis der sozialen Beziehung, im Rahmen derer sie ihre Funktion
hat. Ein von Aristoteles ausgehendes Modell für dieses Verständnis ist
die Freundschaft unter miteinander eng vertrauen Personen. Ein anderes,
von Hume ausgehendes Modell ist das des bloßen Einhaltens von Rech-
21
Anton Leist
ten unter einander fremden Personen, die aus der Sicherheit durch
geltende Rechte Vorteile genießen.
Viele angewandte Ethiker bedienen sich heute der Kohärenzmethode,
die von den sozialen Voraussetzungen möglicher moralischer Verbindlichkeiten abstrahiert, und sie tragen deshalb zur Lösung realer sozialer
Konflikte nur begrenzt bei. Nur wenn sich zwischen den Geltens- und
den Befolgensgründen nicht nur unterscheiden ließe, sondern letztere als
normativ irrelevant ausgeklammert werden könnten, wären die rein
kognitiv ermittelten Normen „wahr“ oder „gültig“, ungeachtet dessen,
wie sich die realen Menschen verhalten. Wiederum bietet die Interessenethik ein anschauliches Beispiel für die Willkür einer solchen Unterstellung: warum sollte die bloße Existenz von Interessen per se dazu
taugen, normative Forderungen an andere zu stellen? Derselbe Einwand
gilt aber gegen alle abstrakten, vermeintlich normativen Begriffe wie
Würde, Solidarität, Menschsein, Natalität usw., und natürlich auch gegen
alle aus unseren abstrakten Ansichten heraus ermittelten Forderungen:
warum sollten sie anderen gegenüber verbindlich sein? Die allgemeine
Antwort hierauf kann nur lauten: verbindlich werden solche Forderungen
dann, wenn alle Beteiligten und Betroffenen darin einstimmen sollten,
dass sie verbindlich sind.
Die eben formulierte Bedingung kann im Sinn eines kategorischen
und im Sinn eines bedingten Sollens verstanden werden. Die kategorische Form wird von der kantianischen Tradition unterstellt, die
bedingte von der kontraktualistischen. Die kategorische Form benötigt
ein „moralisches Erkennen“, weshalb die bedingte viel naheliegender ist
– auf das je konkrete Maß dessen, was moralischen Forderungen in
sozialen Beziehungen psychologisch abverlangt werden kann, kommt es
deshalb an.20 Es kann dann nicht „eine“ Moral, sondern nur viele moralische Verbindlichkeiten geben, und keine außerhalb effektiv gelebter
sozialer Beziehungen. Die Aufgabe des Ethikers, und gesteigert die des
mit konkreten Problemen beschäftigten angewandten Ethikers, muss deshalb die des Ermittelns tatsächlicher und potentieller, anzubahnender
20
Tugendhats (2003) Kritik am humeanischen Kontraktualismus unterstellt den
ausschließlichen (kantianischen) Kontrast von selbstinteressierten und moralischen
Motiven. Eine solche Trennung wäre nur sinnvoll, wenn das Sollen eine nichtpsychologische Quelle haben könnte. Zu entsprechender Kritik an Tugendhat s.
Leist 2006.
22
Anton Leist
sozialen Beziehungen sein. Der allgemeine für die verschiedensten
Angebote geltende sozialnormative Rahmen könnte sein, dass moralische
Normen im Geist kooperativer Beziehungen gesucht und gefunden werden. Moralische Normen sind deshalb immer nur rekonstruktiv zu
postulierende, nie als solche normativ-kognitiv „erkannte“. Nur die
längerfristige (implizite oder explizite) Akzeptanz in dem entsprechenden Kollektiv kann die Garantie bieten, dass die Normen berechtigt sind.
Aufgrund teils ihrer frühen Konzentration auf die Grenzfragen der
Moral, sowie teils des verbreiteten kohärentistischen Methodenmodells
spielt ein solches sozialnormatives Verständnis in der angewandten Ethik
soweit eher eine geringe Rolle. Die kontraktualistische Medizinethik
Robert Veatchs (1991), der Versuch von Mark Bernstein (1997), Jennifer
Swanson (2011) und anderen, die moralische Bedeutung der Tiere in der
Gerechtigkeitstheorie von Rawls zu ermitteln, David Schlosbergs
Gerechtigkeitsansatz zur Umwelt (Schlosberg 2007), sind ungewöhnlich
in der angewandten Ethik. Hier ist auch nicht der Platz, um die
verschiedenen sozialen Sphären in ihren Unterschieden, Zielen und
Voraussetzungen zu charakterisieren und allererst zu prüfen, ob sich aus
ihnen überhaupt ein gemeinsames Verständnis kooperativen Handelns
extrahieren lässt. Die Beziehungen zwischen Arzt und Patient sind offensichtlich, bei unklar gewordenem Ideal, einer Freundschaft näher (wenn
auch nicht identisch), und die über den Weltmarkt verflochtener Bürger
nördlicher und südlicher Ländern sind offensichtlich, wieder bei
unklarem Ideal, eher der reinen Nutzenkooperation näher. Die moralischen Normen können deshalb für beide Beziehungen nicht dieselben
sein.
Die sozialnormative Ethik muss sich entsprechend vor allem dagegen
verwahren, mit einer speziellen Form des Kontraktualismus identifiziert
zu werden. Selbst für die internationalen Beziehungen zwischen den
Verursachern und den Betroffenen des Klimawandels herrschen
Spielräume der Fairness, die mit dem potentiellen Nutzen durch ein für
alle vorteilhaftes Klimaabkommen gekoppelt werden könnten (s. Leist
2011a; 2011b). Damit Fairness wirksam und gültig werden kann, ist aber
ein Nutzen durch Fairness vorausgesetzt. Demgegenüber bleiben abstrakt
an Menschenrechte appellierende Varianten der Klimaethik nicht nur
politisch ergebnislos, sondern sind eben auch nur weitere Varianten der
geläufigen Moralideologie. Die eine für alle Menschen unter allen
Umständen gültige Moral ist eine Fiktion der westlich-christlichen Kultur,
23
Anton Leist
und sie wird überwiegend nicht einmal im Westen anders als rhetorisch
wahrgenommen.
7. Das zukünftige Thema: Internationale Umweltgerechtigkeit
Sofern sich in der angewandten Ethik in den etwa 40 Jahren ihrer
neueren Geschichte überhaupt eine interessante Entwicklung zugetragen
hat, so ist es die ihrer Aufgabenerweiterung durch die Globalisierung.
Der Gründung der Zeitschrift Bioethics 1987 (durch Peter Singer) ist
2001 die des Ablegers Developing World Bioethics gefolgt, und ähnlich
sind alle Themen der angewandten Ethik heute teils durch die internationale Dimension der realen Probleme, teils durch die erweiterten
kulturellen Differenzen geprägt. Die ethischen Traditionen Europas sind
dadurch nicht überflüssig geworden, aber unter ihnen bietet sich
diejenige am vielversprechendsten an, die sowohl soziale und kulturelle
Kontexte berücksichtigen wie elementarste menschliche Eigenschaften
beachten kann, ohne ihren Blick durch spezielle metaphysische
Voraussetzungen wie der Summe von Einzelinteressen oder der inhaltlich gebietenden Vernunft einschränken zu lassen.
National wie international haben sich im Laufe der 40 Jahre zudem
materielle Knappheit und deren soziale Folgen in den Vordergrund
geschoben. Die größte ethische Aufmerksamkeit gehört heute unter allen
Themen der angewandten Ethik solchen wie Ressourcengerechtigkeit,
Migrationsgerechtigkeit, Klimagerechtigkeit, Zertifikatmarktgerechtigkeit, transgenerationeller Gerechtigkeit – also Varianten der internationalen Gerechtigkeit als einer erweiterten Umweltgerechtigkeit. In
dieser Entwicklung drückt sich eine Einsicht aus, die im Grund auch in
der Frühphase der angewandten Ethik bereits gemacht werden konnte,
über der Konzentration auf die Grenzprobleme aber leicht zu übersehen
war: dass nämlich Gerechtigkeit die bei weitem wichtigste, weil für die
Stabilität der Gesellschaft verantwortliche moralische Norm ist. Noch
immer denken viele Ethiker bei „Moral“ nicht vorrangig an Gerechtigkeit,
sondern an eine ungeordnete Vielfalt von Werten. Damit demonstrieren
sie wiederum, dass in ihrem Verständnis von Moral keine Verbindung zu
den sozialen Strukturen vorgesehen ist, die für den Bestand der
Gesellschaft am wichtigsten sind.
24
Anton Leist
Wenn wir stattdessen alle moralischen Fragen, seien es die Grenzoder die Verteilungsfragen, aus dem Geflecht sozialer kooperativer
Beziehungen angehen wollen, dann ergibt sich aus der Art der
kooperativen Beziehungen indirekt auch eine mögliche Antwort auf den
moralischen Status der an diesen Beziehungen Beteiligten.21 Die Gründe
für diesen Status folgen dann nicht aus einem abstrakten Begriff der
Moral, sondern aus den vollziehbaren und mindestens ansatzweise bereits vollzogenen Handlungen und Interaktionen. Der sozialnormative
Ansatz ist offen dafür, welche moralischen Perspektiven gegenseitig
eingeräumt werden. Die Moral ist nach ihm ein soziales Regelwerk, das
fortwährend neu erfunden und justiert werden muss, nicht Ergebnis eines
zu erkennenden menschlichen „Wesens“. Allein schon aufgrund ihrer
prinzipiellen Offenheit darin, die moralischen Bedürfnisse in einer sich
verändernden Welt je neu zu beantworten, sollte die konstruktive
Grundidee der angewandten Ethik die der kooperativen Beziehungen
sein.22
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21
S. beispielsweise meinen Versuch, die Tiere als gemeinschaftliche Partner
einzuordnen: Leist 2005, Kap. 8. Auch Wolf (2008, 179) spricht von „quasi vertragsähnlichen Beziehungen zwischen ungleichen Partnern“, versucht aber verschiedene Quellen für die Mensch-Tier-Moral zu identifizieren.
22
Mit Dank für Hinweise an Christian Thies und Ursula Wolf.
25
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