VORWORT Die vorliegende Einführung in die Moralphilosophie ist historisch und systematisch aufgebaut. Einerseits geht sie systematisch auf die wichtigen ethischen Begriffe und Argumentationen ein; andererseits zeigt sie, daß die aktuellen moralphilosophischen Standpunkte als Teil unserer Zivilisationsgeschichte historisch entstanden sind und verstanden werden sollten. Das Buch wurde in der Überzeugung geschrieben, daß der historische und der systematische Aspekt unlösbar miteinander verbunden sind. Die Geschichte besteht nicht aus einer Ansammlung toter Fakten, die jenseits aller systematischen Versuche der Menschheit, ihr Dasein zu begreifen, verstanden werden können. Jedoch können wir die heutigen ethischen Begriffe nicht ohne ihre historische Entwicklung verstehen. Deshalb habe ich versucht darzustellen, wie sich die antiken Denker an der aktuellen Ethikdebatte beteiligen würden und wie sich in der geschichtlichen Entwicklung von Gesellschaft, Wissenschaft und Philosophie die moderne Vorstellung von moralischen Pflichten herausbildet, die auf dem freien Willen des Menschen beruht. Leitmotiv der Darstellung ist also das Spannungsverhältnis zwischen den verpflichtenden ethischen Normen und dem Wert der individuellen Freiheit: Kann man, wie der ethische Kognitivismus, zu der durchaus begründeten Auffassung kommen, daß ethische Normen und Werte existieren, die unseren Willen einschränken? Oder ist, wie von einzelnen Voluntaristen behauptet wird, eine typisch ethische Aussage wie „Es ist unzulässig, jemanden totzuschlagen“ weder wahr noch unwahr, sondern lediglich eine subjektive Willensbekundung? Dieses Problem wird zuerst in den Kapiteln über Sokrates und die Sophisten (Kapitel 2 b, c) und Aristoteles (Kapitel 3 a) aufgeworfen; es ist das zentrale Thema in der Diskussion über das Verhältnis zwischen antiker und moderner Ethik (Kapitel 4); taucht wiederum in Verbindung mit Augustins religiösem Voluntarismus auf (Kapitel 6 a); nimmt eine zentrale Stellung bei der Darstellung von Kants Philosophie ein (Kapitel 11 a, b); und prägt zuletzt die Analyse ethischer Aussagen (Kapitel 12 a). Obwohl die historischen und die systematischen Aspekte der Darstellung miteinander verbunden sind, wird auf die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse in den Kapiteln 2 a, 3 b, 5, 6 b, 7 b in besonderen Abschnitten eingegangen. Der vor allem am systematischen Zusammenhang zwischen den verschiedenen ethischen Auffassungen interessierte Leser kann diese Abschnitte überspringen. An dieser Stelle muß auch kurz auf die beiden Worte Ethik und Moral eingegangen werden. Beide Worte sind ähnlichen Ursprungs, 6 VORWORT stammen aus dem Lateinischen und Griechischen. „Moral“ leitet sich aus dem lateinischen „mos“ ab, was Brauch oder Sitte bedeutet; „Ethik“ stammt hingegen vom griechischen „ethos“, was ebenfalls Brauch und Sitte bedeutet, jedoch ebenso die Charaktereigenschaften einer Person bezeichnet. Später benutzte man beide Wörter, um den Lebenswandel einer Person und um das Verhältnis zwischen den einzelnen Angehörigen einer Gesellschaft zu charakterisieren. In diesem Sinne werden sie auch heute im Alltag verwendet. Reden wir von der Moral eines Menschen, dann denken wir an dessen Handlungen und Charakterzüge und sprechen von mehr oder weniger moralischen Handlungen oder Handlungsnormen. Hier kann das Wort „Moral“ normalerweise ohne Bedeutungsveränderung durch das Wort „Ethik“ ersetzt werden. Gelegentlich wird allerdings das Wort „Ethik“ speziell als Bezeichnung einer philosophischen Fachdisziplin benutzt, etwa im Sinne von „Moralphilosophie“. In vorliegendem Buch spielt eine solche Unterscheidung keine Rolle; „Moral“ und „Ethik“, „ethisch“ und „moralisch“ werden als gleichbedeutend betrachtet und benutzt. Das Buch wurde ursprünglich für den Unterricht im propädeutischen studium generale geschrieben, das für norwegische Universitätsstudenten obligatorisch ist und außer dem Fach Ethik auch Philosophiegeschichte und Wissenschaftstheorie beinhaltet. Es dient somit als Ergänzung zu grundlegenden Darstellungen der Philosophiegeschichte wie etwa Jostein Gaarders Sofies Welt und der etwas anspruchsvolleren, ebenfalls ins Deutsche übersetzten, zweibändigen Geschichte der Philosophie von G. Skirbekk und N. Gilje. Wie diese Werke kann auch die vorliegende Einführung ohne besondere Vorkenntnisse gelesen werden. Zahlreiche Personen haben mich mit ihrem fachlichen, sprachlichen und moralischen Rat unterstützt. Ich bedanke mich besonders bei Tove Andreassen, Berit Johannesen, Ester Moen, Bjørn Myskja, Bjørn Quiller und Elling Schwabe-Hansen. In Verbindung mit der deutschen Ausgabe danke ich Michael Kienecker vom Verlag für die Zusammenarbeit und den beiden Übersetzern Rainer Benjamin Hoppe und Martin Frank für ihre Arbeit. Für finanzielle Unterstützung bedanke ich mich bei der Organisation MUNIN und der Historisch-Philosophischen Fakultät sowie dem Philosophischen Institut der Norwegischen Technisch-Naturwissenschaftlichen Universität (NTNU). Trondheim, August 2002 Truls Wyller