Pedro Páramo

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Gert Pinkernell, Überlegungen zum Roman Pedro Páramo von Juan Rulfo
(angestellt im Rahmen eines Hauptseminars)
Der Roman ist im Kern die Geschichte des Niederganges eines einst florierenden Dorfes. Den
Anstoß gab, laut Aussage des Autors, ein Besuch in dem Dorf seiner Kindheit, das er ähnlich
verlassen und heruntergekommen vorfand wie im Roman Juan Preciado das Heimatdorf
Comala seiner Mutter vorfindet.
Dieser Niedergang von Comala ist, wie sich im Fortgang des Textes herausstellt, in der
Hauptsache Schuld des Großgrundbesitzers und Willkürherrschers Pedro Páramo (der in
literarischer Hinsicht den Typ des „bösen“ Caziquen der mexikanischen Caziquen-Romane
repräsentiert). Jedoch sind viele oder gar alle anderen Dorfbewohner irgendwie mitschuldig:
der Verwalter Fulgor Sedano, der sich von der Autorität Don Pedros als Chef beeindrucken
lässt und sich zum willigen Handlanger seiner Machtergreifung und seiner
Unrechthandlungen macht; der Padre Rentería, der sich der Selbstherrlichkeit Pedros nicht
widersetzt, obwohl er das kraft seines Priesteramtes sollte und vielleicht könnte; der Notar
und Anwalt Gerardo, der in der Hoffnung auf Bezahlung das Recht im Sinne Pedros beugen
hilft und so zur Rechtlosigkeit im Dorf beiträgt; Pedros unehelicher Sohn Miguel, der sich als
Vergewaltiger und Mörder über alle moralischen Schranken hinwegsetzt und das Unrecht in
Comala vermehrt; die Bettlerin Dorotea, die Miguel bei der Überlistung und Nötigung der
weiblichen Opfer hilft; die Haushälterin Damiana, die billigend duldet, dass Pedro seine
Mägde als Sexualobjekte benutzt; die Gastwirtin Eduviges, die ihr Haus für Mordaktionen zur
Verfügung stellt; der anonyme Schwager, der akzeptiert, dass Pedro der Familie seiner
Schwester das Land wegnimmt; Pedros Jugendliebe Susana (!), die, nachdem sie sich von
Pedro hat heiraten lassen, ihn durch ihr quasi egozentrisches Versinken in Träumereien
affektiv verhungern und schließlich in lähmende Frustration und zerstörerisch wirkenden
Groll versinken lässt; der Revolutionär Tilcuate, der sich von Pedro ködern lässt, zum
Berufsrevolutionär degeneriert und verhindert, dass die Revolution (1910-1928) eventuell
positive Veränderungen bewirkt.
Allerdings ist das „Böse“ und Negative, von Anbeginn an gegenwärtig um Pedro Páramo:
Sein Großvater und sein Vater sind gewaltsam umgekommen. Er gibt die Gewalt quasi nur an
die nächste Generation weiter. Dass er das kann, und zwar sehr effizient, ist allerdings vor
allem möglich dank der gesellschaftlich-politischen Verhältnisse in Mexiko. Denn das Land
wird beherrscht von Großgrundbesitzern seines Schlages, die das Geld und die Macht
monopolisieren und die „die Gesetze selber machen“, wie Pedro sagt. Der Roman ist insofern
durchaus politisch engagiert, als er (wenn auch sehr verhalten) diese gesellschaftlichpolitischen Verhältnisse kritisiert. Zwar ist die Handlung gegenüber der Entstehungszeit des
Romans (ca. 1950) um einige Jahrzehnte zurückverlegt, doch hatten sich in Rulfos Augen die
Machtstrukturen in Mexiko durch die Revolution offenbar nicht grundlegend verändert, als er
seinen Roman konzipierte.
Die zeitliche Einordnung der „Handlung“ ist relativ gut erkennbar: Es sind die Jahrzehnte vor
der 1910 beginnenden mexikanischen Revolution. Pedro stirbt allerdings erst hiernach, denn
in einer Art Zeitraffer wird an der Figur des Tilcuate ganz zum Schluss der Verlauf der
Revolution bis zum Cristeros-Aufstand 1927/28 evoziert.
Ein zentrales Motiv des Romans (mit autobiografischen Determinanten?) ist die frustrierte
Liebe: vor allem die Pedros zu Susana, aber auch die Susanas zu Florencio. Mit Sicherheit
autobiografisch bedingt ist das Motiv der Vatersuche und der Heimatsuche, die an der Figur
Juan Preciados ausgeführt werden.
Die für europäische Leser verwirrende und surreale Vermischung scheinbar lebender und
toter Figuren ist für Mexikaner akzeptabel. Für sie nämlich bleiben Tote sehr präsent.
Noch ein paar Überlegungen: Das Motiv des von seinen Einwohnern mehr oder weniger
verlassenen Dorfes spielt auch in einigen der Erzählungen Rulfos eine Rolle (z.B. in "Luvina"
oder "La Cuesta de las Comadres"). Es spiegelt offenbar eine Realität im Mexiko der ersten
Hälfte des 20. Jh., wo nach Beginn einer gewissen Industrialisierung des Landes viele Dörfler
in die Städte zogen wegen der dort besseren Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten und wegen
der größeren persönlichen Freiheit. Ein zusätzlicher Faktor der Landflucht waren die fast
pausenlosen Bürgerkriege zwischen 1910 und 1928 (gut geschildert in der Erzählung "El
llano en llamas"), während derer man in den Städten deutlich sicherer lebte als auf dem
Lande, wo Milizionäre und Soldaten brandschatzten, plünderten und mordeten. Es haben sich
damals in der Tat viele Dörfer mehr oder weniger entvölkert, so dass Comala keinen
untypischen Fall darstellt.
Rulfos Einstellung gegenüber der mexikanischen Revolution scheint mir übrigens sehr
ambivalent zu sein. Sicher war er im Kopf eher "links", also z.B. für die Landreform und
gegen die Macht und Willkür der Pedro Páramos in ihren Dörfern; im Bauch könnte er aber
auch ein bisschen "rechts" gewesen sein, was sich an der insgesamt negativen, wenn auch
nicht unfairen Darstellung der Revolutionäre zeigt und an der nicht nur abwertenden
Gestaltung des Titelhelden, der ja auch ein Opfer der von Gewalt geprägten Verhältnisse in
Mexiko ist und als frustrierter Liebender fast tragisch wirkt.
Die mexikanischen Verhältnisse, die einen Pedro Páramo und sein Handeln möglich machen,
zugleich aber auch das Verhalten seiner Mittäter und Opfer determinieren, sind denn auch ein
eindeutiger Kritikpunkt in Rulfos Texten, wo er die intellektuelle und mentale
Rückständigkeit, die sozialpolitische Apathie und die Gewaltbereitschaft der gesamten
Bevölkerung vorführt (und der katholischen Kirche eine Mitschuld daran zuweist). Insofern
ist Rulfo durchaus ein politisch, und zwar deutlich "links" engagierter Autor, so wie es die
meisten seiner Schriftsteller-Kollegen zu jener Zeit waren.
Ein weiterer interessanter Punkt, der vermutlich ebenfalls eine zeitgenössische Realität
spiegelt, ist die Erfahrung der Frustration und Desillusionierung, die fast alle Figuren in
"Pedro Páramo" und auch den meisten Erzählungen Rulfos kennzeichnet. Sie könnte die
Grundstimmung im Mexiko der 30er und 40er Jahre spiegeln, wo man zwar eine Revolution
gehabt hatte, nun aber erlebte, wie sich letztlich doch nicht viel verbessert hatte und wie
aufgrund des 1947 einsetzenden "Kalten Krieges" die konservativen Kräfte im Land sogar
wieder Oberwasser erhielten.
Von einigen Kritikern wurde übrigens die in „Pedro Páramo“ dargestellte Erfahrung der
Desillusionierung als prototypisch für den mexikanischen Nationalcharakter überhaupt
gesehen (eine Sicht, die heute wohl nur noch von historischem Interesse ist).
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