wolfgang huber - Forum Recht und Kultur im Kammergericht eV

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WOLFGANG HUBER
STAAT UND RELIGION.
ZWISCHEN
WELTANSCHAULICHER
NEUTRALITÄT
UND
RENAISSANCE
DES
RELIGIÖSEN
Berliner Kammergericht, 16. September 2010
I.
Wenn ich als Theologe zum Verhältnis zwischen Staat und Religion
Stellung nehme, dann besteht meine Aufgabe nicht darin, die
juristische Sicht auf dieses Thema noch einmal zu verdoppeln. Sehr
wohl
aber
kann
herauszufinden,
ob
es
es
die
Aufgabe
zwischen den
des
Theologen
sein,
verfassungsrechtlichen
Grundentscheidungen, von denen dieses Verhältnis in Deutschland
bestimmt ist, und theologischen Einsichten einen Zusammenhang,
ja eine Konvergenz – und ob es gegebenenfalls Divergenzen gibt.
Der für eine theologische Betrachtung ausschlaggebende
biblische Ausgangspunkt für diese Verhältnisbestimmung ist einfach
zu beschreiben Er liegt in dem so genannten „Zinsgroschenwort“
Jesu: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes
ist.“ Mit diesem Satz beantwortet Jesus die Frage, ob es Recht sei,
dem römischen Kaiser Steuern zu zahlen. Ein Ja hätte als
umstandslose Unterwerfung unter die römische Fremdherrschaft
gewirkt; ein Nein hätte sich als Aufruf zum Aufstand deuten lassen.
Jesu Antwort weist über solche politischen Parteinahmen hinaus.
Um seine Antwort anschaulich zu machen, lässt er sich einen
römischen Denar geben, auf dem das Bild des römischen Kaisers
2
Tiberius zu sehen ist. Auf ihn verweisend, sagt er: „Gebt dem
Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Matthäus 22,
21).
Damit
ist
nicht
eine
Gleichrangigkeit
der
beiden
angesprochenen Sphären ausgesprochen – und erst recht nicht
eine beziehungslose Trennung. Vielmehr ist die Unterscheidung
dieser beiden Sphären durch einen klaren Vorrang des Göttlichen
geprägt – wie er an einer anderen biblischen Stelle ähnlich präzise
und prominent formuliert ist, nämlich in der sogenannten clausula
Petri: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“
(Apostelgeschichte 5, 29).
Nicht nur im Blick auf die Grenzen politischer Machtausübung,
sondern ebenso auch im Blick auf die Verführungskraft des Geldes
wird
im
Neuen
Testament
von
einer
solchen
Kraft
der
Unterscheidung Gebrauch gemacht, nämlich in einem Wort aus der
Bergpredigt Jesu: „ Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er
wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem
einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen
und dem Mammon“ (Matthäus 6, 24).
Im Blick auf die beiden großen Gestaltungsmächte des
gemeinsamen Lebens – das Politische und das Ökonomische –
schärft das Christentum von seinem Ursprung her die Notwendigkeit
der Begrenzung ein. Über lange Zeit trat freilich die Unterscheidung
zwischen dem Ökonomischen und dem Göttlichen eher in den
Hintergrund – zu klar war der Vorrang der politischen Ordnung vor
der ökonomischen Macht. Heute freilich könnte es an der Zeit sein,
auch jene zweite Unterscheidung in ihrer aktuellen Bedeutung
herauszuarbeiten; denn kaum etwas scheint heute dringlicher zu
3
sein als eine Entmythologisierung des Ökonomischen; denn erst
dann wird die Globalisierung, in deren Bann wir alle zu stehen
scheinen, als eine Gestaltungsaufgabe erkannt; erst dann wird
Wirtschaft aus einem Selbstzweck wieder zu einem Mittel zum
Zweck gemacht.
Doch das ist heute nicht unser Thema. Mit dem Satz „Gebt
dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ habe ich
vielmehr deshalb begonnen, weil die Unterscheidung zwischen dem
Politischen und dem Göttlichen maßgeblich dafür ist, wie das
Verhältnis
zwischen
Staat
und
Religion
in
der
kulturellen
Überlieferung betrachtet und behandelt wurde, die wir mit Heinrich
August Winkler als „den Westen“ bezeichnen.1 Zusammen mit dem
Prinzip, dass der einzelnen menschlichen Person, der Gott seine
befreiende Gnade zuwendet, von Gott her ein unbedingter Wert
zukommt, bildet diese Unterscheidung zwischen den Sphären des
Politischen und des Göttlichen die fundamentale Voraussetzung für
die Ausbildung politischer ebenso wie religiöser Freiheit.
Der lange Weg, auf dem das geschah, mitsamt den Irrwegen,
die in dieser geschichtlichen Entwicklung eingeschlagen wurde, ist
heute nicht nachzuzeichnen. Die Trennung zwischen geistlicher und
weltlicher
Macht
persönlichen
im
Investiturstreit,
Gewissensfreiheit
Unabhängigkeit
in
staatsbürgerlicher
der
die
Anerkennung
Reformation
Rechte
vom
und
der
die
religiösen
Bekenntnis und damit der Übergang zu einer aufgeklärten
Säkularität der politischen Ordnung waren wichtige Etappen auf
1
Vgl. Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Von Den Anfängen in der
Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 2009, insbesondere 35 ff., sowie ders., Was
heißt westliche Wertegemeinschaft?, in: ders., Auf ewig in Hitlers Schatten?
Anmerkungen zur deutschen Geschichte, München 2007, 180-201.
4
diesem Weg. Die Vernunft der Aufklärung, auf die Ernst-Wolfgang
Böckenförde in diesem Zusammenhang unlängst wieder ganz zu
Recht hingewiesen hat, beruht gerade in dieser Hinsicht auf
Voraussetzungen, die tief in die Geschichte Europas mitsamt ihren
jüdisch-christlichen Wurzeln zurückreichen.2
Das
bleibende
Ergebnis
besteht
darin,
dass
eine
Freiheitsordnung, die politische und religiöse Freiheit gewährleistet,
auf der Unterscheidung, damit zugleich aber auch auf der
Anerkennung des Politischen wie des Religiösen beruht. Für den
Staat bedeutet dies, dass er Religion respektiert, ohne sich mit ihr
zu identifizieren, dass er den Glauben achtet, ohne über ihn zu
verfügen, dass er Glaubensgemeinschaften Raum gewährt, ohne
sie in seine Abhängigkeit zu bringen. Die Neutralität, zu der er um
der Religionsfreiheit willen verpflichtet ist, trägt deshalb, wie das
Bundesverfassungsgericht einmal gesagt hat, den Charakter einer
„offenen
und
übergreifenden,
die
Glaubensfreiheit
für
alle
Bekenntnisse gleichermaßen fördernden“ Neutralität.
Für religiöse Institutionen bedeutet diese Unterscheidung,
dass sie die ihnen anvertraute Botschaft verkündigen, komme sie
gelegen oder ungelegen, dass sie für die göttlich verbürgte Würde
des Menschen eintreten, auch wenn sie das in Konflikt mit
herrschenden Mächten führt, dass sie sich dabei aber nicht
staatliche Macht oder Art anmaßen, weil die ihnen anvertraute
Wahrheit sich durch das Wort durchsetzt, nicht mit den Mitteln
politischen Zwangs.
2
Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Reinigung des Glaubens, in: Frankfurter
Allgemeine Zeitung Nr. 215, 16. September 2010, 32.
5
Diese grundsätzliche Zuordnung von Staat und Religion kann
natürlich in unterschiedlichen Formen ausgestaltet werden. Ihr
entspricht allerdings meiner Überzeugung nach eine Ausgestaltung
besonders gut, in der sich die staatliche Religionsneutralität mit der
Anerkennung der individuellen wie der öffentlichen Bedeutung von
Religion verbindet. Darüber hinaus muss dem Staat daran gelegen
sein, dass das Bewusstsein für die Wurzeln einer solchen
Freiheitsordnung lebendig bleiben. Das Bundesverfassungsgericht
hat diesen Gedanken im Jahr 1995 folgendermaßen ausgedrückt:
„Ein Staat, der die Glaubensfreiheit umfassend gewährleistet und
sich damit zu religiös-weltanschaulicher Neutralität verpflichtet, kann
die
kulturell
vermittelten
und
historisch
verwurzelten
Wertüberzeugungen und Einstellungen nicht abstreifen, auf denen
der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht und von denen die
Erfüllung seiner eigenen Aufgaben abhängt. Der christliche Glaube
und die christlichen Kirchen sind dabei, wie immer man ihr Erbe
heute beurteilen mag, von überragender Prägekraft gewesen. Die
darauf zurückgehenden Denktraditionen, Sinnerfahrungen und
Verhaltensmuster können dem Staat nicht gleichgültig sein.“3
II.
Die christlichen Kirchen bejahen – mit manchen Nuancen im
Einzelnen – die Religionsneutralität des Staates. Sie befürworten
aus eigenen Gründen des christlichen Glaubens den säkularen
Charakter der staatlichen Rechtsordnung. Denn sie bekennen sich
um der unantastbaren Würde des Menschen willen die Geltung der
Menschenrechte
3
BVerfGE 93, 1, 22.
einschließlich
der
Religionsfreiheit.
Die
6
Menschenrechte lassen sich am ehesten durch einen Staat
verwirklichen, der sich gegenüber religiösen, weltanschaulichen und
ethischen Unterschieden neutral verhält, also einen säkularen Staat.
Die Religionsfreiheit hat ihre Bedeutung keineswegs nur darin, dass
sie ein Minderheitenrecht ist, sondern stellt auch eine angemessene
Antwort auf die heute zu beobachtende Pluralisierung von Religion
dar.
Das Eintreten der christlichen Kirchen für die Religionsfreiheit
als Menschenrecht gründet in der christlichen Glaubensgewissheit,
um deretwillen der Mitmensch als Nächster geachtet und in seiner
abweichenden Glaubensweise respektiert wird. Der christliche
Glaube stützt sich – insbesondere in seiner reformatorischen
Deutung, aber nicht allein in ihr – auf eine göttlich zugesprochene
Anerkennung der menschlichen Person, die unabhängig von ihren
Taten und damit auch von ihren Überzeugungen gilt. Für Glaubende
kommt es darauf an, von der eigenen Religionsfreiheit einen aktiven
Gebrauch zu machen, aber ebenso die Religionsfreiheit anderer zu
achten. Dazu gehört, dass Menschen sich erkennbar machen, also
auch in religiöser Hinsicht „Gesicht zeigen“.
Daher entspricht es dem Kern des christlichen Glaubens,
diese
Menschenwürde,
die
Menschenrechte
und
damit
die
Religionsfreiheit auch Menschen anderen Glaubens zuzuerkennen.
Die Religionsfreiheit ist auch in dieser theologischen Sicht universal.
Deshalb respektieren die christlichen Kirchen das Existenzrecht
anderer Religionen, einschließlich ihres Anspruchs auf ein Wirken in
der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Dies war nicht immer so. Die
Kirchen waren keineswegs Avantgardisten politischer Freiheit und
erst recht nicht der individuellen Religionsfreiheit. Die uns heute so
7
selbstverständlich erscheinende Anerkennung der Religionsfreiheit
als Menschenrecht ist in den christlichen Kirchen das Ergebnis
eines langen historischen und theologischen, teilweise sehr
schmerzhaften Entwicklungs- und Lernprozesses.
Die Verwirklichung der Religionsfreiheit als Menschenrecht
weltweit ist heute eine unaufgebbare Forderung und ein Anliegen
der beiden großen Kirchen in Deutschland. Die Bejahung der
individuellen wie der kollektiven, der negativen wie der positiven
Religionsfreiheit ist ein Ergebnis eines geistesgeschichtlichen
Prozesses insbesondere seit der Reformation. Die Menschenrechte
bilden inzwischen einen Schwerpunkt der christlichen Ethik. Heute
wird mehr denn je von den Religionsgemeinschaften erwartet, dass
sie aktiv mithelfen, Grundstrukturen zur Sicherung der Prinzipien der
Zivilgesellschaft in den Ländern zu schaffen, in denen die
Menschenrechte
noch
nicht
verwirklicht
sind.
Denn
die
Unterdrückung von Menschen wegen ihrer religiösen Überzeugung
gehört auch heute in vielen Ländern zur politischen Realität. Es sind
in
unserer
heutigen
Welt
vor
allem
Christen,
die
von
Beeinträchtigungen der Religionsfreiheit betroffen sind. Und es sind
vor
allem
islamisch
geprägte
Staaten,
von
denen
solche
Beeinträchtigungen ausgehen. Die Anlässe nehmen leider nicht ab,
sondern zu, deretwegen daran erinnert werden muss, dass die
Religionsneutralität des Staates eine elementare Voraussetzung für
die Gewährleistung der Religionsfreiheit ist.
III.
Mit dieser Überlegung tritt schon die Situation religiöser Pluralität in
den Blick, die zu den Signaturen unserer Zeit gehört. Die Religion
8
meldet sich in verstärktem Maß auf der öffentlichen Bühne – sowohl
weltweit als auch in Europa und in unserem Land. Heute geschieht
das
allerdings
so,
dass
wir
die
Pluralität
von
Religionen
wahrzunehmen haben. Nicht mehr „Staat und Religion“ oder „Staat
und Kirche“, sondern eben die „Staat und Religionen“ drängt sich
heute als Thema auf.
Auf der weltpolitischen Bühne treten Verbindungen zwischen
Religion und politischer Machtausübung auf, die man aus einer
europäischen Perspektive als längst überholt angesehen hatte. Die
islamistische Verbindung von Religion und Macht ist dafür ebenso
ein Beispiel wie der wieder erstarkte Hindu-Nationalismus in Indien.
Die neue Nähe zwischen Religion und Politik, die sich in den USA
unbeschadet des von der Verfassung vorgesehenen „wall of
separation“ zwischen Staat und Kirche in den letzten Jahrzehnten
entwickelt hat, weist ebenso in diese Richtung wie eine neue Nähe
zwischen Kirche und Staat in manchen orthodox geprägten
Ländern. „Der Staat und die Religionen“ ist nicht nur ein
europäisches Thema; und die Frage danach, wie dieses Verhältnis
bestimmt und geordnet werden kann, stellt sich keineswegs nur im
Horizont des christlichen Glaubens.
Wir sind dazu herausgefordert, kritisch zu prüfen, inwieweit die
europäische Entwicklung zu einem auf Dauer tragfähigen Modell
geführt hat, und ob wir dieses Modell auch für andere als verbindlich
ansehen können. Lässt sich der Verzicht der Religion darauf, sich
mit den Mitteln staatlichen Zwangs Anerkennung zu verschaffen,
mitsamt der dazu gehörigen Vorstellung vom säkularen Charakter
der
staatlichen
Ordnung
auch
für
andere
Traditionen
als
verpflichtend zur Geltung bringen? Taugt die Zusammengehörigkeit
9
von Demokratie, Religionsfreiheit und säkularem Staat als Modell?
Ist sie womöglich sogar eine unentbehrliche Voraussetzung für den
Frieden zwischen den Religionen wie auch für den Frieden
zwischen den Staaten? Neuerdings verstärken sich im Blick auf
diese Frage die skeptischen Stimmen. Die Evangelische Kirche in
Deutschland hat auf die mit der wachsenden Präsenz des Islam in
unserem Land verbundenen Herausforderungen in den letzten
Jahren mehrfach aufmerksam gemacht.4
Religiöse
Überzeugungen
und
religionsbestimmte
Verhaltensweisen betreffen nicht nur das private, sondern auch das
öffentliche Leben. Der moderne Staat erwartet, dass dies in einer
Form geschieht, die mit der Pluralität in der Gesellschaft vereinbar
ist. Die offene Gesellschaft westlicher Prägung lebt besonders
deutlich
von
einer
Vielfalt
von
Lebensvorstellungen,
Weltanschauungen und Religionen, deren Beziehungen zueinander
in einem zivilgesellschaftlichen Prozess öffentlicher Verständigung
auf der Grundlage gegenseitiger Toleranz gestaltet werden müssen.
In einem langen und durchaus schmerzhaften geschichtlichen
Lernprozess, zu dem die Konfessionskriege der frühen Neuzeit
genauso gehören wie der Übergang zu innerstaatlicher religiöser
Pluralität
im
18.
Jahrhundert,
haben
die
europäischen
Gesellschaften gelernt, Toleranz als das Komplementärprinzip zur
Religionsfreiheit zu begreifen. Toleranz meint dabei nicht: alles für
richtig zu halten und jedem Recht zu geben. Wenn alles gleich gültig
4
Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland. Gestaltung der christlichen
Begegnung mit Muslimen. Eine Handreichung des Rates der Evangelischen Kirche in
Deutschland, Gütersloh 2000; Klarheit und gute Nachbarschaft. Klarheit und gute
Nachbarschaft. Christen und Muslime in Deutschland. Eine Handreichung des Rates der
Evangelischen Kirche in Deutschland, Hannover 2006.
10
ist, wird alles gleichgültig. Oder noch etwas drastischer: Wer nach
allen Seiten hin offen ist, ist nicht mehr ganz dicht.
Religiöse Toleranz in einem ernsthaften Sinn meint das
Aushalten und Austragen von Differenzen in Anerkennung der
Verbindlichkeit von religiösen Überzeugungen. Eine freiheitliche
Gesellschaft, in der religiöse Überzeugungen ernst genommen
werden, braucht eine wache, selbstbewusste Toleranz, die den
Dialog einfordert, um gemeinsam Antworten auf die für alle
wichtigen Fragen zu suchen, und bleibend unvereinbare Positionen
auf diese gemeinsame Aufgabe bezieht. Im Blick auf das bleibend
Unvereinbare erscheint mit allerdings die Definition von Toleranz als
unzureichend, die sich in der Charta der Toleranz der UNESCO
findet: „Toleranz bedeutet Respekt, Akzeptanz und Anerkennung
der
Kulturen
unserer
Welt,
unserer
Ausdrucksformen
und
Gestaltungsweisen unseres Menschseins in all ihrem Reichtum und
ihrer Vielfalt. Toleranz ist Harmonie über Unterschiede hinweg.“
Dem will ich entgegenhalten: Wo Harmonie herrscht, braucht man
keine Toleranz.
Als Toleranz lässt sich eher mit Nikolaus
Knoepffler eine Einstellung bezeichnen, „wonach eine andere
Überzeugung bzw. Praxis zwar für falsch eingeschätzt wird, aber
andererseits doch nicht für derart falsch, dass es nicht möglich
wäre, diese Überzeugung und Praxis zu dulden.“5
Auf dem Hintergrund dieser Überlegung teile ich Goethes
Auffassung nicht, nach der Toleranz „nur eine vorübergehende
Gesinnung sein“ darf, die „zur Anerkennung führen“ muss. In ihr
zeige sich die „wahre Liberalität“. Zugespitzt sagt Goethe: „Dulden
5
Nikolaus Knoepffler, Toleranz und Umgang der Religionen mit bioethischen
Kontroversen, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 53, 2009, 252-266 (252 f.).
11
heißt beleidigen.“ Zwar kann eine Person meine Anerkennung auch
dann finden, wenn ich ihren Überzeugungen oder Handlungen nicht
zustimme; doch diese Überzeugungen oder Handlungen selbst kann
ich, unüberwindliche Differenzen vorausgesetzt, zwar dulden oder
respektieren,
aber
nicht
anerkennen.
Genau
für
solche
Konstellationen ist das Konzept der Toleranz entwickelt worden. Für
eine
Gesellschaft,
die
durch
unaufhebbare
Pluralität
von
Weltanschauungen, Religionen und ethischen Haltungen geprägt
ist, bildet solche Toleranz eine unaufgebbare Tugend. Zu ihr gehört
dann aber auch der klare Widerspruch gegen Überzeugungen und
Haltungen, die die Voraussetzung für Toleranz aufheben, weil sie es
an der Anerkennung der Personen und ihrer Würde fehlen lassen.
Gruppenbezogene
Menschenfeindlichkeit,
fundamentalistische
Überlegenheitsbehauptungen oder die Rechtfertigung von Gewalt
zur Durchsetzung der eigenen Überzeugungen oder Ziele sind
Haltungen, die elementare Bedingungen von Toleranz negieren und
deshalb auch ihrerseits keine Toleranz verdienen.
IV.
Die
Religionsneutralität
des
Staates
ist
funktional
auf
die
Religionsfreiheit bezogen. Wenn der Staat seine Religionsneutralität
nicht, wie in Frankreich distanzierend-laizistisch, sondern offen,
übergreifend und fördernd versteht, ermöglicht er die Wahrnehmung
der Religionsfreiheit nicht nur im privaten, sondern auch im
öffentlichen Raum, ohne in sie zu intervenieren. Da eine solche
Religionsneutralität des Staates im wohlverstandenen Interesse der
Religionen liegt, ist es ebenso in deren eigenem Interesse, dass
Vertreter
des
Staates
in
der
Bekundung
ihrer
religiösen
12
Überzeugungen einem Mäßigungsgebot unterliegen. Das schließt
die Selbstzurücknahme bei religionsbestimmten Handlungen wie
dem Tragen eines Kopftuchs ein. Die Art, in welcher in Deutschland
der Kopftuchstreit am Fall der Lehrerin Fereshta Ludin durch alle
Instanzen getragen wurde, war in meinen Augen kein Dienst an der
Religionsneutralität des Staates und damit auch nicht an der
Religionsfreiheit.
In der Religionsneutralität kommt der säkulare Charakter der
staatlichen Rechtsordnung exemplarisch zum Ausdruck. Der
säkulare Charakter des Staates ist auch von den Religionen als
Bedingung gleicher Freiheit zu bejahen und zu respektieren. Das
führt jedoch nicht zwingend auf die These, dass auch die
Gesellschaft säkular ist. Vielmehr ist die Gesellschaft durch religiöse
Pluralisierung gekennzeichnet, innerhalb deren die säkulare Option
eine – gerade in Europa und Deutschland – markante Rolle spielt.
Markant ist sie vor allem deshalb, weil in Europa, vor allem auch in
Deutschland, die Pluralisierung sich auf den antikirchlichen
Charakter der neuzeitlichen europäischen Revolutionen sowie auf
den epochalen Traditionsabbruch in den letzten Jahrzehnten des
vergangenen Jahrhunderts aufgelagert hat. Trotz der zum Teil
dramatischen
Entkirchlichungsprozesse
der
vergangenen
Jahrzehnte ist es jedoch unzutreffend, wenn von der säkularen
Option in der Gesellschaft auf einen säkularen Charakter der
Gesellschaft geschlossen und dieser mit dem säkularen Charakter
der staatlichen Rechtsordnung parallelisiert wird.
Vielmehr muss man eine Polarisierung des religiösen Bewusstseins
in Rechnung stellen, die sich besonders in der jungen Generation
zeigt, wie in diesen Tagen die 16. Shell-Jugendstudien deutlich
13
gezeigt hat: Während – mit einem deutlichen Gefälle zwischen West
und Ost – in der deutschgebürtigen jungen Generation nur eine
Minderheit Religion als ein wichtiges Thema ansieht, handelt es sich
bei der Mehrheit der Jugendlichen muslimischer Herkunft um ein
Thema von hoher Bedeutung. Diese Polarisierung ist es vor allem,
die dem Thema der Religion auch in unserer Gesellschaft neue
Aufmerksamkeit verschafft. Wenn dies nicht zu einer Vorherrschaft
fundamentalistischer Positionen und einer Abkehr vom freiheitlichen
Geist
der
Demokratie
führen
soll,
stellen
sich
den
Religionsgesellschaften selbst, aber auch den öffentlichen Schulen
große Bildungsaufgaben. Dass es einen guten, in der Schule fest
verankerten Religionsunterricht, den islamischen Religionsunterricht
eingeschlossen, gibt, liegt im wohlverstandenen Interesse der
Religionsgemeinschaften wie des Staates. Dafür ist es dringend zu
wünschen, dass auch die Selbstorganisation des Islam sich dahin
entwickelt,
dass
Religionsgemeinschaften,
vielleicht
sogar
Körperschaften des öffentlichen Rechts ihn öffentlich vertreten und
beispielsweise die Verantwortung für die Grundsätze übernehmen,
nach denen islamischer Religionsunterricht erteilt wird. Denn es ist
meine feste Überzeugung, dass ein ordentlicher Religionsunterricht
auch
für
die
Bildungsangebot
Integration
der
des
richtigere
Islam
Weg
in
ist
das
als
ein
schulische
staatlich
verantworteter Ethikunterricht für alle. Die christlichen Kirchen
haben deshalb in den zurückliegenden Jahren die Einführung eines
islamischen Religionsunterrichts stets unterstützt.
14
Ein Gutachten von Christian Waldhoff, das dem 68. Deutschen
Juristentag
vorgelegt
wird,6
schließt
im
Unterschied
zum
Religionsunterricht einen Weltanschauungsunterricht an staatlichen
Schulen aus. So weit er nach Landesrecht zulässig ist, muss er an
die strukturellen Voraussetzungen gebunden werden, die für den
Religionsunterricht gelten. Auch ist dafür Sorge zu tragen, dass er
nicht mit einem staatlichen Ethikunterricht verwechselt wird. Dort,
wo verschiedene Unterrichtsangebote im Bereich Religion/Ethik
nebeneinander stehen, kommt es besonders auf deren Verhältnis
zueinander an. Zu empfehlen ist die Einrichtung einer Fächergruppe
mit projektorientierte Unterrichtsphasen.
Aus diesen Gründen haben sich die Kirchen unter den
besonderen rechtlichen Bedingungen in Brandenburg und in Berlin
dafür eingesetzt, dass der Religionsunterricht auch in diesen
Bundesländern den Charakter eines ordentlichen Unterrichtsfachs
erhält. Auch wenn der in diesem Zusammenhang in Berlin
angestrengte Volksentscheid im vergangenen Jahr nicht erfolgreich
war, bleibt er doch darin bemerkenswert, dass es überhaupt möglich
war, das Thema des Religionsunterrichts in einer solchen Weise auf
die öffentliche Agenda zu setzen.
Doch der Bildungsauftrag der Religionsgemeinschaften reicht
weiter. Er ist umso unentbehrlicher, als alle Sozialisationsinstanzen
es heute weit schwerer haben als früher; denn sie konkurrieren mit
„heimlichen Erziehern“, unter denen die Massenmedien und ganz
besonders das Internet eine beherrschende Rolle wahrnehmen. Es
6
Christian Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität. Erfordern
weltanschauliche und religiöse Entwicklungen Antworten des Staates? Gutachten D
zum 68. Deutschen Juristentag, München 2010.
15
hat keinen Sinn, vor dieser Situation zu kapitulieren, sie muss
vielmehr aktiv angenommen werden. Die Kirchen stellen sich
deshalb gerade heute ihrem Bildungsauftrag auf neue Weise. Es
kommt nicht von ungefähr, dass die Kirchen in unserem Land zu
den größten Trägern von Kindergärten gehören. Die Hälfte aller
Kindergärten in Deutschland steht in kirchlicher Trägerschaft. Es ist
kein Zufall, dass sich evangelische wie katholische Schulen einer
größeren Nachfrage gegenüber sehen, als sie an Schülerinnen und
Schülern aufnehmen können. Die von ihrem christlichen Gewissen
geleiteten
Bürger
und
Bürgerinnen
sind
es,
die
in
freier
Entscheidung christliche Werte in Staat und Gesellschaft vertreten.
Die Kirchen selbst stehen zu ihrer öffentlichen Verantwortung.
Sie sehen den Staat in seiner Säkularität nicht als etwas Fremdes,
ihrem Glauben Feindliches an, sondern als die Chance der Freiheit,
die zu erhalten und zu realisieren auch ihre Aufgabe ist. Sie leisten
ihren Beitrag zur Bildung nicht nur in eigenen Einrichtungen,
sondern auch in den Bildungsinstitutionen des Staates. Sie haben
dazu nicht nur ein gutes Recht, sondern auch eine Pflicht.
Zu den Religionsgemeinschaften, von denen ein Beitrag zum
gesellschaftlichen
Gemeinschaften
Ethos
des
erwartet
Islam.
wird,
Dass
gehören
die
Frage
auch
nach
die
den
Voraussetzungen dafür, dass sie einen solchen Beitrag leisten
können,
in
einer
Islamkonferenz
unter
Leitung
des
Bundesinnenministers besprochen werden, ist zu begrüßen; die
großen Schwierigkeiten, die sich bei der Neuzusammensetzung der
Islamkonferenz unter Bundesinnenminister de Maizière gezeigt
haben, machen deutlich, wie steinig dieser Weg ist.. Dass der Islam
in anderer Form organisiert ist als die christlichen Kirchen, ist zu
16
respektieren; es ist aber kein Grund dafür, das geltende
Staatskirchenrecht insgesamt umzustellen. Denn dieses lässt Raum
für unterschiedliche Formen der Selbstorganisation von Religion.
Die besondere Verfasstheit des Islam rechtfertigt nicht eine
generelle
Abschwächung
Religionsfreiheit
sowie
der
des
Möglichkeiten
korporativen
korporativer
Wirkens
von
Religionsgemeinschaften in der Öffentlichkeit. Der Islam ist frei
darin, inwieweit er selbst von solchen Möglichkeiten Gebrauch
machen will. Wenn islamische Religionsgemeinschaften den Schritt
zur Körperschaft des öffentlichen Rechts nicht gehen wollen, so ist
dies ihr gutes Recht, so sehr man ihnen vielleicht auch einen
anderen Weg empfehlen möchte.
Zur
Religionsfreiheit
Religionsgemeinschaften
gehört
ihre
auch,
korporative
dass
Religionsfreiheit
unterschiedlich ausgestalten. Dabei ist die Erwartung berechtigt,
dass sie sich nicht nur äußerlich der Ordnung eines freiheitlichen
und demokratischen Rechtsstaats fügen, sondern dass sie die
Ordnung auch innerlich bejahen, wenn sie von der in ihr umfassend
gewährleisteten Religionsfreiheit Gebrauch machen. Deshalb ist die
Klärung der hiermit verbundenen Fragen ein notwendiges Element
des
interreligiösen
Handreichung
Dialogs.
„Klarheit
und
Darauf
gute
hat
die
EKD
Nachbarschaft“
in
ihrer
von
2006
ausdrücklich hingewiesen.
Zur korporativen Religionsfreiheit gehört auch das Recht,
Moscheen zu bauen. Ich habe dieses Recht immer wieder bejaht,
zugleich aber darauf hingewiesen, dass im Blick auf Zahl, Größe
und städtebauliche Dominanz dieser Gebäude ein maßvolles, auf
Dialog und Transparenz angelegtes Verhalten zu empfehlen ist. Es
17
wäre gut, wenn eine Verständigung über solche Grundsätze die
deutsche Antwort auf den schweizerischen Bürgerentscheid zum
Minarettverbot wäre.
Eine gute Nachbarschaft zwischen den Religionen erfordert
von den Religionen selbst eine Kultur des wechselseitigen Respekts
und des Streits um die Wahrheit; sie bilden die zwei Seiten aktiver
Toleranz. Angesichts der wachsenden Bedeutung des Islam in der
deutschen Gesellschaft ist, wie vom Wissenschaftsrat empfohlen,
die
Etablierung
von
islamischer
Theologie
an
deutschen
Universitäten zu fördern. Sie dient nicht nur der Erfüllung praktischer
Ausbildungsbedürfnisse, sondern auch der Entwicklung einer
religiösen Diskussionskultur.
An diesem Beispiel zeigt sich übrigens von einer weiteren
Seite, dass Religion dem säkularen Staat nicht gleichgültig sein
kann. Auch dem religiös neutralen Staat ist es nicht verboten,
sondern erlaubt – und in bestimmten Zusammenhängen sogar
geboten - , Aktivitäten – wie zum Beispiel Diakonie und Caritas – zu
fördern, die christlich motiviert und kirchlich verwurzelt sind. Er hat
auch das Recht und unter Umständen die Pflicht, Institutionen zu
achten, die ihren Ursprungsort in der jüdisch-christlichen Tradition
haben und vom jüdischen und christlichen Glauben her nach wie vor
eine spezifische Sinngebung erhalten.
Dafür ist die Pflicht des Staates zum Schutz der Sonn- und
Feiertage ein besonders deutliches Beispiel. Dessen Aktualität ist im
Zusammenhang mit der Liberalisierung der Ladenöffnung wieder ins
Bewusstsein getreten. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem
Urteil vom 1. Dezember 2009 über die Verfassungsbeschwerden
der
Evangelischen
Kirche
Berlin-Brandenburg-schlesische
18
Oberlausitz und des Erzbistums Berlin die bleibende Bedeutung des
Sonntags als eines „Tags der Arbeitsruhe und der seelischen
Erhebung“ (Art. 139 WRV) ausdrücklich bestätigt und dabei die
Bedeutung dieses Tages im Zusammenhang der Religionsfreiheit
ebenso hervorgehoben wie seine Bedeutung für die Familie, aber
ebenso auch für die Demokratie. Vereinzelt wurde dieses Urteil in
dem Sinn kommentiert, hier erfolge eine Privilegierung einer
christlich geprägten Institution, die ein Einzelfall bleiben müsse.
Richtiger wäre es gewesen zu sagen, dass der staatliche Schutz für
die Institution des Sonntags in einer Form erfolgen muss, die mit der
Religionsneutralität des Staates vereinbar ist. Das ist so lange der
Fall, wie der Staat nicht bestimmte religionsbestimmte Handlungen
am Sonntag zur Pflicht macht. Aber zu den staatlichen Pflichten
gehört es dafür zu sorgen, dass Interessen von Kommerz und
Konsum nicht den Vorrang erhalten vor der Wahrung der
Religionsfreiheit, dem Schutz der Familie und der Förderung der
Demokratie (deren üblicher Wahltermin bekanntlich der für die
allermeisten arbeitsfreie Sonntag ist). Deshalb halte ich das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Frage für wegweisend.
Denn der behutsame und fördernde Umgang mit dem Beitrag
religiöser
Traditionen,
insbesondere
der
jüdisch-christlichen
Tradition, zur kulturellen Prägung des Gemeinwesens, insbesondere
auch zu seiner Sozialkultur, liegt im wohlverstandenen Interesse
dieses Gemeinwesens selbst.
19
V.
Die Erinnerung an die Geschichte des Christentums wie an die
Geschichte Europas gebietet es zwar, Geduld für die Lernprozesse
zu haben, die andere brauchen, wie wir sie selbst gebraucht haben.
Doch ohne Wenn und Aber ist es notwendig, dass die individuelle
wie
die
korporative
Religionsfreiheit
mitsamt
der
religiösen
Neutralität des Staates und der gemeinsamen Verantwortung von
Staat und Religion für das Gemeinwesen geachtet werden. Ebenso
notwendig ist, dass alle Formen einer religiösen Legitimation von
Gewaltanwendung überwunden werden. Darin liegen unaufgebbare
Voraussetzungen für eine gemeinsame Zukunft.
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