Die Situation der deutschen Minderheit und der deutschen

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VORTRAG von Bernard Buckenmeyer, eingeladen von dem "INTERNATIONALEN INSTITUT
für NATIONALITÄTENRECHT UND REGIONALISMUS" in München
24. Februar 2012, Heiligenhof, Bad Kissingen
Sehr geehrte Damen und Herren,
Zuerst möchte ich mich für die großzügige Einladung bedanken.
Mein Name ist Bernard Buckenmeyer, geboren 1937 in Straßburg, beide Eltern Elsässer. Mein
Vater ist 1906 geboren, und hat noch das Leben im "Reichsland Elsass-Lothringen 1870 bis 1918"
gekannt. Er war Holzbildhauer, Dichter und Maler und sehr deutsch gesinnt. Meine Mutter, ein
fröhliches Wesen, als typische Elsässerin passte Sie sich jeweils den politischen, sprachlichen
Umständen an!
Hier ein gängiges elsässisches Schicksal: mein Großvater Karl Buckenmeyer:
- 1865: geboren als französischer Staatsbürger
- 1870: als 5 Jähriger wurde er Deutscher im Reichsland Elsass-Lothringen
- 1919: 54 Jahre alt, wurde er wieder Franzose
- 1940: die Nazi-Zeit, wieder Deutsch
- 1945: wieder Franzose
- 1948: gestorben und ist nie gefragt worden, was er sein möchte!
Bis zu meinem 8. Geburtstag war meine Muttersprache NUR Elsässisch (eine alemannische
Mundart, ähnlich dem Badischen), mit etwas Hochdeutsch von zwei Jahren Volksschule. Im Alter
von 8 bis 12 zogen meine Eltern in die "Franche-Comté" (nördlich von Lyon) in das "Innere
Frankreich" wie die Elsässer sagen. Als 12-Jähriger kam ich nach Straßburg zurück und konnte
perfekt französisch aber kaum noch deutsch!
Mit 18 habe ich mein Studium unterbrochen: das Fernweh, etwas typisches Deutsches, hat mich in
die große, weite Welt getrieben.
- 2,5 Jahre französischer Soldat in der Zentral-Sahara bei den Tuaregs.
- dann 2 Jahren in Kanada gearbeitet.
- dann 2 Jahren Volkszählung der Nomaden in Mauretanien, dort arabisch gelernt.
Als 30-Jähriger zurück ins Elsass: dort Soziologie-Studium an der Universität Straßburg, mit einem
Master-Diplom abgeschlossen.
Und dann war ich 35 Jahre lang tätig (für Schweizer Tour-Operators) rund um die Welt! Wen
wundert es, dass ich ledig bin? Der einzige von einer Generation von 18 Cousins und Cousinen
(Vetter).
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Ich bin wohl kein durchschnittlicher, aber ein echter Elsässer und habe nie den Kontakt mit dem
Elsass verloren: ich besitze eine 30-jährige Korrespondenz mit meinen Eltern: meine Mutter schrieb
mir auf französisch, mein Vater auf deutsch.
Von 1990 bis 2000 war ich aktiv in der politische Bewegung UPA "Elsässische Volkspartei",
gegründet von Bernard Wittmann, 62 Jahre alt, von Beruf Bau-Ingenieur, aber als fleißiger
Historiker ist er das lebendige Gedächtnis unserer Geschichte. Ohne ihn würde es keine
Autonomisten mehr geben im Elsass!
In den letzten Jahren war ich nur noch ein passives Mitglied, bin aber der festen Überzeugung: ohne
eine POLITISCHE AUTONOMIE (innerhalb Frankreichs) gehen die Sprache und die elsässische
Identität endgültig verloren!
Im März 2011, eingeladen von Professor PAN, des "Südtiroler Volksgruppen Institut" BOZEN,
habe ich einen Vortrag "Die PROBLEMATIK DES ELSASS" gehalten. Dort habe ich beobachtet,
wie die Südtiroler eine echte Autonomie im Rahmen des italienischen Staates genießen. Im
ladinischen Teil ist die Jugend dreisprachig (deutsch, italienisch, ladinisch) - eine "Traumwelt" für
einen frustrierten elsässischen Autonomisten!
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Darauf hin ist Herr ANDREAS TOSCANO DEL BANNER - München, mit einer ähnlichen Bitte
an mich heran getreten und somit bin ich heute hier (im Herzen von Mitteleuropa) und will
versuchen, Euch die Problematik des Elsass zu erörtern.
GEOGRAPHISCH gesehen ist das Elsass eine fruchtbare Rheinebene, die sich von Karlsruhe im
Norden bis Basel im Süden auf etwa 200 Km erstreckt. Knapp 40 Km breit, begrenzt im Westen
von den VOGESEN (ein Mittelgebirge, das seit jeher die Sprachgrenze bildete), im Osten fließt
Vater Rhein.
- Geschichtlicher Überblick:
abgesehen von einem nebulosen Herzogtum im 7. Jahrhundert war das Elsass nie ein selbständiges
Staatsgebilde!
Im frühen Mittelalter, in der Karolinger- und der Stauferzeit, war es als Elsass-Schwaben eine
wichtige Provinz im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Beispiel: Karl der Große und
Friederich der Zweite waren oft und gerne im Elsass.
Dann nach und nach wie ein Patchwork zerteilt in:
- die Ländereien des Straßburger Bischof,
- der schwäbischen Fürsten,
- einen symbolischen Zehn-Städte-Bund und die
- Habsburger Herrschaft des Süd-Elsass.
Allerdings war Straßburg eine freie Reichstadt, mit einer Armee mit berühmten Kanonen und
eigener Währung. Anekdote: 1970 hob man das Wrack des holländischen Schiffes BATAVIA aus
dem Meer empor. Es war 1629 an der Westküste Australiens versunken. Darin fanden sich
Silbertaler, 1615 in Straßburg geprägt!!
- 1525: angeregt durch Luthers Predigen haben sich die Bauern aufgelehnt (der Bundschuh),
wurden aber von den Fürsten nieder gemetzelt, da der Befehlshaber der Fürsten der Herzog von
Lothringen war. Dies ironisiert heute noch der Volksmund: "und so sprach Jesus zu seinen Jüngern:
traue nie einem Lothringer ...“
- Nach dem 30-jährigen Krieg (1618 bis 48), der für das Elsass verheerend war, hat sich der
Sonnenkönig Ludwig XIV. unser bemächtigt: Süd-Elsass durch den Westfälischen Friedensvertrag
1648, und dann den Rest mit Gewalt: die Strategie der verbrannten Erde von Felsmarschall
Turenne, heute "le Liberateur de l'Alsace" genannt, oder mit Drohungen: 1681 stand Kriegsminister
Louvois mit einer Armee von 30.000 Mann vor den Toren von Straßburg. Aber immerhin gab es ein
Jahrhundert lang Frieden im Lande, und derselbe König, der die Protestanten in Frankreich
verfolgte, hat bei uns den religiösen Frieden walten lassen, und hat das "Simultaneum" eingeführt:
Katholiken und Protestanten im selben Dorf mussten sich die einzige Dorfkirche teilen.
Jetzt ein Sprung in der Zeit:
- von 1870 bis 1918 wurden wir als REICHSLAND Elsass-Lothringen (es war nur das kleine
deutschsprachige Teil von Lothringen) in das Wilhelminische Reich integriert, und kannten sowohl
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in der Wirtschaft als in der Kultur einen bemerkenswerten Aufschwung. Es hat sich aber auch in
dieser Zeit unter den Elsässern das Bewusstsein entwickelt, dass Sie eine andere Identität haben als
die der deutschen Nation: 200 Jahren Leben mit Frankreich und besonders die Französische
Revolution haben die Elsässer endgültig geprägt.
- 1919: die französische Regierung, vom Sieg berauscht, wollte mit einer radikalen, ungeschickten
Assimilationspolitik alles, was Deutsch war, verschwinden lassen. Anfänglich wurde sogar eine
regelrechte Apartheid-Politik geführt: die Bevölkerung wurde in 4 Kategorien eingeteilt, je
nachdem man zwei elsässische Eltern hatte, oder ein und ein „alt-deutscher“ usw., dies gebunden an
unterschiedliche Lebensmittelkarten! Innerfranzösische Beamte bekamen Spezialzulagen im Elsass!
- 1926 haben führende Kräften sich gegen diese Politik aufgelehnt mit dem "Elsass-Lothringische
Heimatbund Manifest". Hier einige Auszüge:
"In schicksalsschwerer Stunde treten die Unterzeichneten (es waren 102 aus dem Klerus,
Bürgermeister, Gewählte) vor das Elsässisch-Lothringische Volk, um es zur Tat aufzurufen, denn
das Maß ist voll bis zum Überlaufen. Sieben Jahren haben wir zugesehen, wie man uns Tag für Tag
in unserer eigenen Heimat entrechtet hat, wie all die Versprechungen die man uns FEIERLICH
gegeben, missachtet worden sind, wie man unsere Volkseigenschaften und Sprache, unsere
Überlieferungen und Gebräuche zu erdrosseln suchte. Wir wissen nunmehr, dass die
Assimilationsfanatiker es auf Wesen, Seele und Kultur unseres Volkes abgesehen haben. Wenn wir
von natürlichen und erworbenen Rechten und Freiheiten unserer Heimat sprechen, verhöhnt man
uns und überschüttet uns mit Verleumdungen und Drohungen!“
Und der Schluss-Paragraph: „Wir sind Anhänger der Friedensliebe, internationaler
Zusammenarbeit. Unser Land soll als Treffpunkt zweier großer Kulturen sein, seinen Anteil an der
Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland beizutragen".
Für mich, als Autonomist im Jahre 2011, ist dieses Manifest immer noch aktuell!
Es war ein großer Erfolg, die Mehrheit des Volkes bekannte sich dazu, immerhin sprachen 95%
damals noch Elsässisch.
Aber, wohl bemerkt, man wollte nicht zurück nach Deutschland, keinen selbständigen Staat, keine
Loslösung von Frankreich.
1928 machte Paris den führenden Autonomisten ein Prozess als Landesverräter. Noch während des
Prozesses wurden 2 von Ihnen als Abgeordnete ins Nationale Parlament in Paris gewählt!
Aber nach und nach wurde die Bewegung gelähmt:
- durch die katholische Kirche (75% Elsässer waren katholisch), die um die Abschaffung des
Konkordats bangte. (Anmerkung: Die französische Revolution zeigte sich sehr antiklerikal. Als
Napoleon an die Macht kam, stiftete er Ruhe im Land und verhandelte 1806 mit dem Papst ein
Vertrag aus, mit dem der katholische, protestantische und jüdische Klerus offiziell vom Staat
anerkannt und bezahlt wird. 1905, Elsass war damals deutsches Reichsland, wurde dieses
Konkordat in Frankreich abgeschafft, ist aber immer noch gültig bei uns, und die Elsässer "aller
couleurs“ halten fest daran.)
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Nun bekam die Kirche Garantien für den Erhalt dieses Konkordates und zeigte sich von nun an
patriotisch-französisch!
- Der Aufstieg Hitlers: In den 30er Jahren konnten ja alle Elsässer seine Propaganda am Radio
mitbekommen, und dies nahm den deutsch gesinnten Elsässern den Wind aus den Segeln, weil die
Elsässer nun mal keine Extremisten sind und zum Kompromiss neigen.
1940, kurz vor dem Zusammenbruch der französischen Armee, wurden etwa 200 Autonomisten und
Sympathisanten in Nancy eingesperrt, und der prominenteste, Doktor Karl Roos, wurde erschossen.
Anschließend haben die Nazis aus ihm einen Märtyrer gemacht, ein Märtyrer für die deutsche
Sache, der er nie war, und deswegen konnten nach Ende des Krieges die Franzosen alle
Autonomisten als Nazis abstempeln!
1940-45: das Elsass unter der Nazi-Herrschaft: Eine winzige Zahl von Elsässern erhoffte sich, dass
Hitler uns die ersehnte Autonomie gewähren würde. Es war ein Trugschluss. Hitler machte sich
nicht einmal die Mühe das Elsass rechtlich von Frankreich abzutrennen, und machte ein
"Oberrhein-Gau", bestehend aus Elsass und Baden, unter dem badischen Gauleiter Wagner.
Es wurde keinerlei Rücksicht auf die spezielle Lage des Elsass genommen. Von heute auf morgen
wurde die französische Sprache verboten, alle Namen wurden verdeutscht, tausende, darunter die
Juden, wurden nach Inner-Frankreich ausgewiesen. Das einzige KZ auf französischem Boden gab
es in den Vogesen: der Struthof. Alle Beamten wurden gezwungen einen Umschulungslehrgang mit
zu machen, mit dem üblichen Treueschwur auf Hitler, was etlichen bei den Franzosen zum
Verhängnis wurde, u.s.w.
- das schlimmste: 1942 wurden 140.000 junge Elsass-Lothringer (von 1,5 Millionen Einwohnern) in
die Wehrmacht eingezogen: dabei waren Sie rechtlich Franzosen. Fast alle kamen an die russische
Front, da man Ihnen misstraute. Etwa 40.000 kamen nicht zurück! Damit war die noch vorhandene
Sympathie für Deutschland verspielt, und nach dem Krieg hat dies Paris sehr schlau ausgenützt.
Überall waren Plakate mit dem Slogan "C’est chic de parler français!" In den Schulen wurde den
Kindern unter Strafe verboten sich in ihrer Muttersprache zu unterhalten! Jeder, der die deutsche
Kultur verteidigte, wurde als NAZI verleumdet.
DIE HEUTIGE LAGE.
Seitdem haben sich die Wogen geglättet, und die Elsässer haben sich angepasst, haben mehrheitlich
nur noch französisch mit ihren Kindern gesprochen: eine Tragödie! Merkt Euch dies: "In den 70er
Jahren konnten Tausende von Großeltern sich nicht mehr mit ihren Enkelkindern unterhalten! Heute
kann jeder französisch.
Das Elsass (also amtlich Departement Bas Rhin und Departement Haut Rhin) hat eine Bevölkerung
von 1,8 Millionen Einwohnern, davon:
- 200.000 INNER-Franzosen, im Namen der Gleichheit gibt es keine offizielle Statistik darüber.
Praktisch keiner von ihnen macht sich die Mühe Elsässisch zu lernen. Warum auch? "Parlez
français, on est en France ici!", so wurden etliche ältere Elsässer am Postschalter oder bei den
Behörden abgekanzelt.
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- 200.000 Einwanderer, die Mehrheit aus Nordafrika und der Türkei, deren Kinder, wenn hier
geboren, automatisch die französische Staatsbürgerschaft erhalten (Droit du sol//droit du sang).
- Von dem Rest (1,4 Millionen) können etwa die Hälfte unsere deutsche Mundart, genannt
Elsässischer Dialekt. Hochdeutsch beherrschen nur wenige. Kinder, die noch Elsässisch sprechen,
werden auf 10% geschätzt, und ich bin der Meinung, dies ist noch zu hoch gegriffen.
PRESSE
Per Erlass müssen der Sport und die
Themen für die Jugend in
Französisch sein. Früher waren
sogar die
Sterbeanzeigen
in
Deutsch verboten!
Eine reine
deutsche Presse gibt es nicht mehr.
Die sogenannten zweisprachigen
Ausgaben waren mehrheitlich in
Französisch, sind seit Anfang des
Jahres 2012 eingestellt, zu wenig
Nachfrage ... Ich habe Ihnen einige
Zeitschriften mitgebracht, die sich
für das Elsass einsetzen: "Land un
Sproch", "die Heimet", "L'Ami du
peuple": Sie können feststellen, dass
fast alles in Französisch geschrieben
ist.
FERNSEHEN
Ich beziehe mich nur auf den
Regional-Kanal: FR3-Alsace. Alles
ist Französisch, außer jeden Tag 8
(ACHT!) Minuten und eine halbe
Stunde samstags in Elsässisch, und diese Sendungen müssen mit französischen Untertiteln versehen
sein. Früher waren die Steuer- und Wahlformulare zweisprachig. Heute, nur noch Französisch.
WICHTIG: das Schulwesen: von A bis Z, von der Grundschule bis zu der Universität wird alles von
Paris geregelt und zwar einheitlich für ganz Frankreich (für die Gebäude müssen die lokalen
Steuern herhalten).
Deutsch wird allgemein wie eine andere Fremdsprache gelehrt, und mehr elsässer Schülern lernen
Englisch als Deutsch. Letztere wird als "La langue du voisin" bezeichnet! Es wäre aber ungerecht,
nicht die unzähligen Bemühungen unserer Lokal-Politiker zu erwähnen, die durch Anträge,
Vorschläge in Paris versucht haben, diesem Verschwinden unserer Lokal-Sprache und -Kultur
entgegen zu wirken.
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Ein Meilenstein setzte 1985 Pierre Deyon, Präsident der Hochschulen von Straßburg, also ein hoher
Staatsbeamter und ein Innerfranzose noch dazu: ganz offiziell gab er folgende Erklärung ab: "Es
gibt nur eine, streng wissenschaftliche Definition der Regional-Sprache im Elsass: das sind die
Varianten der Elsässer Mundart, und dessen Schriftsprache ist Deutsch. DEUSCH IST ALSO EINE
DER REGIONAL-SPRACHEN VON FRANKREICH!“ Und er fügte hinzu: „Dies wäre 1946 nicht
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leicht gewesen zu sagen, aber es gibt keinen Grund mehr, diese Selbstverständlichkeit zu leugnen.“
Aber währenddessen versucht man die Märe zu verbreiten, dass die deutsche Sprache erst durch
Bismarck ins Elsass eingeführt wurde!
Nun muss man wissen, dass die SPRACHLICHE UND KULTURELLE INTOLERANZ in
Frankreich eine lange Tradition hat:
Heute noch beruft sich der Staat auf den Erlass von Villars-Cotteret: Im öffentlichen Leben gibt es
nur die Französische Sprache! Mit diesem Erlass hat man alle Regional-Sprachen (Bretonisch,
Baskisch, Okzitanisch, Korsisch) abgewürgt. Nur: dieser Erlass - und man muss sich das auf der
Zunge zergehen lassen! - stammt aus dem Jahre 1536, unter dem französischen König François I.,
ein Zeitgenosse von Kaiser Karl dem Fünften! Der Sprach-Dünkel der Franzosen ist schon
einmalig. Hier ein Auszug aus einem Grammatik-Lehrbuch meiner Schulzeit: "Aber unsere Sprache
bewahrt ihre traditionsreichen Eigenschaften, die unserem nationalen Geist entsprechen: Klarheit,
Ausgewogenheit, Stil und Harmonie!“ Dies sagt alles! 1919, nach 48 Jahren Elsass als Reichsland,
erklärte Herr Coulet, neuer Rektor der Schulverwaltung im Elsass: "Es ist die Pflicht der Schule,
dass die Kinder jeden Tag ein Wort Deutsch vergessen und an dessen Stelle ein Wort Französisch
lernen!“ Heute im Jahre 2012 ist die Tat fast vollbracht!
1992 ist die Europäische Charta der Minderheitensprachen entstanden, von Frankreich wohl
unterschrieben, aber nie ratifiziert.
Um diese Zeit besuchte der Erziehungsminister Jacques Toubon das Elsass: einige Elsässer
Parlamentarier haben ihn darauf aufmerksam gemacht, dass die Verwaltung nur zögernd die
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Zweisprachigkeit fördern würde. Darauf der gereizte Minister: „Nehmt zur Kenntnis: Rien ne nous
oblige à rien! Nichts verpflichtet uns zu Nichts!“
Es ist dies der Ausdruck der immerwährenden Ideologie der Französischen Revolution von 1789: es
darf keine ethnische Minderheiten in Frankreich geben - keine Korsen, keine Elsässer usw.: es gibt
nur die "citoyens de la nation française"!
1999 hat sich dann doch eine Mehrheit im Parlament gefunden, die der Ratifizierung der
europäischen Charta zustimmen, und damit den Regionalisten handfeste politische Rechte zur
Förderung der Regionalsprachen gewähren wollte. Es wurde aber von Präsident Chirac blockiert
mit dem Hinweis, diese Ratifizierung könnte die nationale Einheit gefährden!!
Die RECHTSLAGE: Der Artikel 2 der heutigen französischen Verfassung sagt schlicht und
einfach: die Sprache der Republik ist französisch. 2005 wurde aber die Verfassung mit einem
Artikel 75 folgenderweise ergänzt: DIE REGIONALSPRACHEN SIND TEIL DES ERBGUTS
FRANKREICH.
Darauf hingewiesen gibt der Kulturminister 2010 diese Erklärung ab: “Jeder weiß, dass unser
Grundgesetz es verbietet spezifische Rechte für verschiedene Kategorien von Bürgern zu gewähren,
zudem noch in spezifischen Territorien. Unsere grundlegenden Prinzipien der Einheit des
französischen Volkes, der Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetz und der Unteilbarkeit der
Republik verbieten dies ausdrücklich." Somit sind alle Bürgerinitiativen zur Förderung der
elsässisch-deutschen Sprache abhängig von dem guten, bzw. schlechten Willen des Staates!
Hier etwas Lustiges über dieses Kapitel:
1991: die "Schlacht von Pulversheim“ (ein Dorf im Süd-Elsass) Der Verein ABC wollte eine
zweisprachige Klasse eröffnen und hatte die Erlaubnis des Bürgermeisters einige leer stehende
Räumlichkeiten des öffentlichen Schulgebäude zu benutzen. Der Präfekt (Vertreter der Staatsmacht
in jedem Departement), angestachelt von staatlichen Lehrern, wollte den ABC-Kindern den Zugang
zu den Toiletten verbieten mit dem Hinweis, diese seien Staatseigentum. Bei einer
Protestkundgebung zeichnete unser berühmter Zeichner Tomi Ungerer ein Plakat mit der Aufschrift
"Hier ist es verboten auf deutsch zu pinkeln!"
Zu der Situation der deutschen Sprache muss man wissen, dass sie im Laufe der Jahrhunderte eine
wichtige Rolle im Elsass gespielt hat und keine Randerscheinung war. Und dies seit der Ansiedlung
der Alemannen. Hier einige Beispiele:
- 860 schrieb Ottfried von Weissenburg (Nord-Elsass) das Evangelienbuch in 16.000 Reimen. Es
war das erste Gedicht in Reimen der deutschen Sprache. Viele elsässische Minnesänger, besonders
Gottfried von Strassburg, Autor von Tristan und Isolde, waren bekannt im ganzen Deutschen Reich.
- im 14. Jh.: Johannes Tauler, berühmter Vertreter der Rheinischen Mystik, Autor des
Weihnachtsliedes "Es kommt ein Schiff geladen"
- Sebastian Brant veröffentlicht 1494 das "Narrenschiff", eine Satire, die ein Bestseller in ganz
Europa wurde. Anekdote: nach dem Ersten Weltkrieg wurden etliche Namen "entdeutscht" (oder
anders gesagt "verwelscht". Übrigens haben die Nazis das gleiche getan, nur umgekehrt ...) Ein
innerfranzösischer Beamter hat an Hand seines Wörterbuchs die Brant-Straße umgetauft auf Rue
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Brûlée, also "verbrannte Strasse", und kein Bürgermeister hat bis jetzt die Zivilcourage gezeigt den
richtigen Namen zurück zu geben, und somit verschwindet nicht nur unsere Sprache, sondern auch
unser Geschichtsbewusstsein!
- Ab dem 19. Jh. wird die Literatur immer mehr in französischer Sprache produziert. Einige
bekannte Autoren, die in beiden Sprachen geschrieben haben: Friedensnobelpreisträger Albert
Schweitzer, er hat mal gesagt: “deutsch ist meine Muttersprache, weil der elsässische Dialekt, in
dem ich sprachlich wurzle, deutsch ist."
- Anfangs des 20. Jh.: Rene Schikele, der Bildhauer Hans Arp, der noch lebende André Weckmann,
Claude Vigée, bemerkenswerter elsässisch-jüdischer Schriftsteller, lebend in Israel und schon
vorgeschlagen für den Nobelpreis. Obwohl sein ganzes Werk in französisch geschrieben ist, hat er
ein episches Gedicht "Schwarzi sengessle flàkere im Wind" in reinem elsässer-deutsch geschrieben!
Nun muss man wissen, dass Hochdeutsch immer nur von einer kleine Minderheit gesprochen
wurde, auch in der Zeit des Reichlandes, wo die Bevölkerung in deutsch unterrichtet wurde, der
Pfarrer von der Kanzel in deutsch predigte, usw. Eine Situation ähnlich der jetzigen Schweiz (ich
hatte jahrelang Umgang mit Schweizern).
Meinem eigenen Vater, der deutsch gesinnt war und Hochdeutsch absolut beherrschte, wäre nicht in
den Sinn gekommen mich in Hochdeutsch anzusprechen.
In der ganzen Gesellschaft wurde also von jeher nur Mundart gesprochen, und dieses Elsässische
hat nicht dieselbe Entwicklung mitgemacht wie die anderen deutschen Mundarten, die sich
allmählich an die Hochsprache angelehnt haben. Durch 250 Jahre französischer Staatzugehörigkeit
blieb diese Tendenz zum Standart-Deutsch aus, und die 47 Jahre Reichsland und die vier Jahre des
Dritten Reichs haben in der Volkssprache keinen nennenswerten Einfluss gehabt.
Elsässisch ist also entfernter von Hochdeutsch als die meisten regionalen Sprachen in Deutschland
(genau wie in der Schweiz). Aber desto größer ist das Elsässische dem Einfluss der französischen
Sprache ausgesetzt und verkümmert zu einem "Pidgin". Diese Mischsprache, genannt CODE
SWITCHING, in der die Mundart und die französische Sprache innerhalb desselben Satzes
alternieren, kann man als eine recht gut funktionierende Sprachvarietät ansehen. In ihr drückt sich
auch elsässische Identität aus (so spricht eine elsässische Soziologin!)
Tatsache ist, dass dieses Code Switching überall und alltäglich praktiziert wird, auch von mir!
Man muss aber festhalten, dass trotz des Verschwindens der Mundart und trotz der Vorherrschaft
der französischen Sprache sowohl in der Privatsphäre als auch im öffentlichen Leben es eine
elsässische Identität gibt, die uns von den anderen Franzosen unterscheidet: ich beziehe mich auf
den Pastor und ehemaliger Präsident der protestantische Kirche des Elsass, Marc Lienhard.
Er hebt folgende Merkmale hervor:
- ein zahlenreiches, vielfältiges Vereinsleben. Allerdings ist dort die Umgangsprache immer mehr
Französisch (260 Vereine - 200.000 Mitglieder)
- die erstaunliche Vitalität des Volkstheaters in Mundart. Leider sind es eher Possen als Stücke mit
Niveau.
- die vielen Gesangsvereine bezeugen die Liebe zur Musik.
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- eine größere Verbundenheit mit der Religion, obwohl die Praxis zurück geht wie überall.
- die Liebe zur Natur: der Vogesenclub (ein Wanderclub) zählt 33.000 Mitglieder.
- der Elsässer liebt die Ordnung und die gepflegte Arbeit.
ABER er hat auch den Hang für starke Männer: Napoleon, de Gaule (darf ich zufügen Hitler?)
Marc Lienhard unterscheidet zwischen:
- der empfundenen Identität
- der zugewiesenen Identität
Die letztere hat allzu oft zu einer Überbewertung des Patriotismus geführt, ähnlich dem unehelichen
Kind, das unbedingt als legitim anerkennt sein will.
Noch einmal zur jetzigen Lage:
Bei jeder Umfrage findet man eine große Mehrheit von bis zu 80%, die mehr Deutsch-Unterricht
verlangen.
Darauf hin hat der Staat, nach und nach, in den Mittelschulen zweisprachige Klassen eingeführt:
dort gibt es 12 Stunden Deutsch-Unterricht. Etwa 10% der Kinder gehen in diese Klassen, auf
freiwilliger Basis wohl bemerkt.
Seit kurzem gibt es wieder einmal
eine Polemik, weil der Staat die 12
Stunden wöchentlich auf acht
Stunden reduzieren will mit der
Begründung, man spare Geld, und
mehr Kinder würden in den Genuss
von Deutsch-Unterricht kommen!
Wichtig war die Gründung der
Privaten ABC Schulen seit 1990
(von Richard Weiss), wo die
Kinder von klein auf, also seit dem
Kindergarten, von einer Person in
Deutsch, und einer anderen in
Französisch unterrichtet werden.
Dieses Verfahren hat sich als das
wirksamste bewährt, wurde aber
gegen
den
Widerstand
der
Lehrergewerkschaften
mühsam
eingeführt.
Beispiel: da man nicht genügend
Deutschsprachige hier fand, hat
man einige aus Deutschland
eingestellt. Diese müssen aber ein
Examen in Französisch bestehen!
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Die ABC Schulen werden von den Eltern selbst finanziert und bekommen Zuschüsse von den
lokalen Körperschaften und von der Europäischen Union.
Bis jetzt kommen kaum 5% der Kinder in den Genuss dieses Unterrichts.
ABER WIE SIEHT ES IM ALLTAG AUS?
Eine Anekdote: Herr Cronenberger, ein Bürgermeister, erzählt von seinem Besuch im Jahre 2008 in
einem Collège (Sekundar-Schule) im Süd-Elsass: gefragt, was die Schüler als spezifisch Elsässisch
betrachten, haben 182 Schüler (es waren 13-Jährige) mit folkloristischen Klischees geantwortet: der
Storch, der Weißwein, das Sauerkraut usw.
KEINER HAT DIE ELSÄSSISCHE MUNDART ERWÄHNT!
6 von 182 sprachen noch Elsässisch.
- Ich bin Teil einer großen Verwandtschaft; bei der letzten Familienfeier waren 100 Personen, drei
Generationen: nur zwischen uns "Alten" wurde Elsässisch gesprochen!
- auf der Strasse höre ich mehr Arabisch als Elsässisch (stört mich nicht, ich kann arabisch).
Ich fahre fast täglich mit dem Fahrrad in die Stadt Straßburg. Falls ich ein Kind Elsässisch sprechen
höre, bleibe ich stehen, denn es ist eine kleine Sensation!
In ganz Straßburg gibt es keine deutsche Buchhandlung. Gottlob gibt es eine gute in Kehl am
Rhein. Aber eine Englische, allerdings eine kleine.
Es gibt ein Goethe-Institut, aber in Nancy, und kein elsässer Politiker traute sich gegen diesen
Skandal zu protestieren.
Dabei schauen die Erwachsenen regelmäßig das
deutsche Fernsehen.
- Weihnachten wird noch nach deutscher Tradition
gefeiert. Daher der Erfolg des Straßburger
Christkindlmarkts: er ist "exotisch" für die Pariser, die
neuerdings mit dem TGV hierher in Scharen strömen.
Der Rhein ist keine Grenze mehr: sei es für Einkäufe
oder Ferien kreuzen sich beide Bevölkerungen.
Die deutschen Touristen machen den Trugschluss, das
Elsass wäre noch sehr "alemannisch" geprägt, weil man
in den Gaststätten, in den Geschäften ein Minimum
Deutsch spricht: BUSINESS OBLIGE!
- es stimmt aber auch, dass im nördlichsten Zipfel des
Elsass, mehrheitlich protestantisch, die Umgangsprache
immer noch Elsässisch ist.
Für eine Wiedergeburt der deutschen Sprache und Kultur besteht kein Anlass zu Optimismus:
weder unsere politische Klasse, noch die Europäische Union, und schlussendlich die Bevölkerung
selbst haben den notwendigen Willen gezeigt.
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Ein Hoffnungsschimmer sehe ich bei der Wirtschaft: seit 40 Jahren haben immer Elsässer in BadenWürttemberg und der Nord-Schweiz Arbeit gefunden, bis zu 65.000 an der Zahl. Das sind
immerhin 8% der gesamten Arbeiterschaft des Elsass. Nun geht diese Zahl der Grenzgänger zurück,
denn die älteren Elsässer, die noch fließend elsässisch konnten, gehen in den Ruhestand, und die
nachkommenden Generationen, die sogenannten Monolinges, weder elsässisch noch deutsch
beherrschen. Ganz offiziell wurde festgestellt, dass in den letzten acht Jahren über 10.000
Arbeitplätze verloren gingen, und man befürchtet, es werden 50.000 weniger werden! Dabei kennen
diese Nachbargegenden eine dynamische Wirtschaft und ein Mangel an Arbeitskräften, und das
Elsass kennt eine Arbeitslosigkeit von 8-9%, ähnlich wie in ganz Frankreich. Es mag zynisch
klingen: aber diese harte Realität beunruhigt unsere Lokal-Politiker, die Eltern werden hellwach,
und etliche Jugendliche machen jetzt schon ihren Eltern den Vorwurf: Warum habt ihr uns nicht
Elsässisch gelernt?
Mein Vortrag zieht eigentlich eine traurige Bilanz, aber „noch ist Polen nicht verloren“, sagt man,
und die Hoffnung stirbt zuletzt!
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!
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