Das Elsass unter Naziherrschaft

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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Das Elsass unter Naziherrschaft
Gauleiter Robert Wagner
Von Stefan Fuchs
Sendung: Freitag, 16.10.2015
Redaktion: Charlotte Grieser
Regie: Günter Maurer
Produktion: SWR 2015
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MANUSKRIPT
OT 01:
Die SA-Männer aus dem Elsass sind in vielen Abordnungen hier auf dem Platz
aufmarschiert, braune Kolonnen ergossen sich aus den vielen Zufahrtsstraßen zum
Platz hierhin. Stehen jetzt ausgerichtet, warten auf den Stabschef. Die Straßburger
Bevölkerung rings um den Platz. Das Münster blickt hernieder.
Die alten mittelalterlichen Giebel sind geschmückt mit den Fahnen des neuen
Reichs. Links neben uns der rote Sandbau aus der deutschen Zeit, die elsässische
SA ist aufmarschiert zur Vereidigung vor dem Stabschef. Die Männer aus dem
Elsass, die sich zum Deutschtum bekennen wollen und zu den Sturmscharen Adolf
Hitlers.
Ansage:
Das Elsass unter Naziherrschaft – Gauleiter Robert Wagner. Eine Sendung von
Stefan Fuchs.
OT 04:
Jetzt spricht der Gauleiter Wagner! Kameraden der SA, als vor etwa einem Jahr
unsere sieggewohnte junge deutsche Wehrmacht das Elsass von einer
jahrhundertewährenden Fremdherrschaft befreit hatte, schlossen sich schon die
ersten Elsässer und Elsässerinnen in der Nationalsozialistischen Deutschen
Arbeiterpartei zusammen. Aus den Hunderten, die sich in den Juli- und Augusttagen
des Jahre 1940 zusammenfanden, wurden Tausende. Und aus den Tausenden
Zehntausende. Und aus den Zehntausenden Hunderttausende. Heute marschieren
in der Freiheitsbewegung unseres Volkes und des Großdeutschen Reiches im Elsass
rund 250.000 Elsässer und Elsässerinnen. Das Elsass ist nunmehr für alle Zeiten ein
Teil der deutschen Nation und des Deutschen Reiches.
Sprecherin:
Am 25. Mai 1941 werden sechstausend SA-Männer auf dem in Karl-Roos-Platz
umbenannten Kléber-Platz im Zentrum Straßburgs auf Führer und Reich vereidigt.
Der Chef der Zivilverwaltung, Gauleiter Robert Wagner, feiert den Erfolg der
massiven Nazifizierungskampagne, mit der er das Elsass überzogen hat. Aber das
militärische Ritual und das Pathos einer angeblich historischen Stunde können nicht
darüber hinwegtäuschen: Dieses "urdeutsche Elsass" ist auch ein Jahr nach der
französischen Niederlage keine Realität. Hundertausende zu glühenden
Nationalsozialisten bekehrte Elsässer sind wenig mehr als eine Wunschvorstellung
der neuen Machthaber.
Zitator:
Nazis hatten wir keine im Dorf, nur so einen verrückten Deutschtümler, den Hans
Müller, Prokurist und Vogesenwanderer.
Sprecherin:
Vierzig Jahre später beschreibt der elsässische Dichter und Zeitzeuge André
Weckmann die Nazizeit in einem typischen Dorf im Unterelsass.
2
Zitator:
Die SA bestand pro forma aus einem Scharführer ohne Schar, die HJ aus einem
Gefolgschaftsführer ohne Gefolgschaft, der BDM aus einer Mädelschaftsführerin
ohne Mannschaft. Die Chargen stellten die Familie Müller und ihr Anhang. Wenn der
Kreisleiter nach Ixheim kam, führte man ihm einen etwas miesen Zirkus vor, was
dem Bonzen jedes Mal, auch pro forma, ein paar Wutausbrüche entlockte, ansonsten
war er mit Ixheim zufrieden: Das Dorf hielt sich still und brav, lieferte ab, was
abzuliefern war, und beflaggte lieber einmal zu viel als zu wenig.
Sprecherin:
1933 hatte Hitler seinen alten Weggefährten und Gauleiter Robert Wagner zum
Reichstatthalter in Baden gemacht. Ehrgeizig und fanatisch hatte der den Südwesten
in einen nationalsozialistischen Mustergau verwandelt, hatte in Baden früher als im
Rest des Reiches mit der Deportation von Juden begonnen. Nach der Kapitulation
Frankreichs, als dem Dritten Reich unversehens Elsass-Lothringen in die Hände fällt,
ist Hitler zunächst skeptisch. Im Ersten Weltkrieg hatte er die Elsässer in den
Uniformen des deutschen Kaiserreichs erlebt. Ihr vorgeblich uraltes "Deutschtum"
scheint Hitler mehr als fraglich. Für ihn ist klar, das wird kein "Anschluss" wie in
Österreich oder im Sudetenland. Hitler ist überzeugt, dass ein gutes Viertel der
elsässischen Bevölkerung unbelehrbare "Franzosenköpfe" sind und ins besetzte
Frankreich abgeschoben werden müssen, will man das Elsass unwiderruflich zum
Teil des Reichs machen. Mindestens ein Jahrzehnt veranschlagt Hitler für diese
Radikalkur zur Germanisierung der Elsässer und für ihre Umerziehung zu
Nationalsozialisten. Robert Wagner, der nun auch zum Chef der Zivilverwaltung im
Elsass wird, wiederspricht heftig: Er will das in spätestens fünf Jahren schaffen.
OT 05 Ludger Syré:
Da gab es Differenzen in der Sicht auf das Elsass zwischen Hitler und Wagner. Hitler
hat sich nicht wirklich für die Elsässer interessiert. Genauso wenig, wie er sich für die
Südtiroler interessiert hat. Das hatte für ihn nur ein taktisches Kalkül, wie man mit
denen umgeht.
Sprecherin:
Der Karlsruher Historiker Ludger Syré hat eine der wenigen deutschsprachigen
Studien zum Reichstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsass
verfasst.
OT 06 Ludger Syré:
Wagner wollte nicht begreifen, dass die Elsässer zwar eine deutsche Mundart
sprachen, aber keineswegs deutsch gesinnt waren. Und da Wagner ja ein
verhinderter Lehrer war, kam es ihm vor allen Dingen darauf an, den Elsässern diese
deutsche Gesinnung anzuerziehen. Er hat diesen Auftrag abgeleitet aus dem
Auftrag, den er von Hitler bekommen hatte, der ihm gesagt hatte, er werde hinterher
nicht fragen, wie er es geschafft hat, dieses Land deutsch zu machen.
Zitator:
Elsässer und Elsässerinnen, hier im deutschen Elsass wird Deutsch gesprochen.
Redet also, wie Euch der Schnabel gewachsen ist. Diejenigen, die das nicht können,
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mögen sich auf der Kreisleitung melden, die gerne bereit ist, ihnen behilflich zu sein,
dass sie dahin kommen, wo man französisch "parliert". Heil Hitler! Der Befehlshaber.
Sprecherin:
Unverhohlen drohen die Anordnungen der Zivilverwaltung im Straßburg des
Sommers 1940 allen französisch sprechenden Elsässern mit Deportation ins
unbesetzte Frankreich.
1918, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Rückkehr des "Reichslands
Elsass" zur französischen Republik, hatten auch die siegreichen Franzosen einen
Feldzug gegen die deutsche Sprache und Kultur geführt. Aber die
Germanisierungskampagne, die der verhinderte Volksschullehrer Wagner jetzt unter
der Losung der "Entwelschung" in die Wege leitet, trägt unübersehbar
psychopathische Züge.
OT 07 Ludger Syré:
Das lässt sich am besten daran ablesen, wie sehr er hinter den französischen
Fahnen her war. Aber noch mehr, wie er hinter den französischen Baskenmützen her
war, weil er der Meinung war, dass die Baskenmütze nicht nur ein Kleidungsstück ist,
sondern Ausdruck einer ganz bestimmten Gesinnung. Deshalb wollte er die
Baskenmützen aus dem Öffentlichkeitsbild vertreiben. Am 13. Dezember 1941
erschien im Verordnungsblatt dieses Chefs der Zivilverwaltung ein entsprechendes
Gesetz. Und damit die Elsässer nicht gewissermaßen mit einem Ersatz für die
Baskenmütze herumlaufen durften, fiel unter das Verbot, Zitat: "auch solche Mützen,
die den Franzosenmützen in Klammern Baskenmützen, nach Zuschnitt und
Aussehen ähnlich sind".
Sprecherin:
Das Denkmal des napoleonischen Generals und Elsässers Kléber muss aus dem
Zentrum Straßburgs weichen, französische Kriegerdenkmäler aus dem ersten
Weltkrieg werden gesprengt, französische Vornamen, Straßennamen und
Firmenbezeichnungen müssen eingedeutscht, werden. Die Hinweise auf den
Wasserhähnen "chaud" und "froid" verschwinden. Begrüßungen und
Verabschiedungen wie "Bonjour" und "Au revoir" werden unter Strafe gestellt.
Zitator:
Wir durften nicht mehr französisch sprechen: Aber haben wir es je getan! Wir durften
keine Baskenmütze mehr tragen, eine saublöde Anordnung, aber soll man seine
Freiheit einer Baskenmütze wegen riskieren?
Sprecherin:
André Weckmann.
Zitator:
Dass auf der Salzbüchse nicht mehr "Sel" stehen durfte, sondern "Salz", dass auf
einem Friedhof die französischen Inschriften herausgemeißelt wurden, dass die
Partei sämtliche Vereine auflöste, dass man in den Wirtsstuben ein Führerbild
aufhängen musste, dass wir alle Furz lang die Hakenkreuze heraushängen mussten,
das zeugte nicht gerade von der Gescheitheit der neuen Herren.
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Sprecherin:
Von Dezember 1940 bis Juni 1941 loderten überall im Elsass die Scheiterhaufen.
Französische Bücher und auch ihre Übersetzungen ins Deutsche wurden von der
Hitlerjugend den Flammen übergeben. Wer danach noch mit einem französischen
Buch angetroffen wurde, dem drohte eine "Entwelschungskur" im
Konzentrationslager Schirmeck. Der Minderwertigkeitskomplex der badischen
Nationalsozialisten gegenüber der französischen Kultur saß tief.
OT 08 Bernhard Vogler:
Und dann war auch das Bild vom Wagner, das war absolut katastrophal. Die
Deutschen hätten keinen dümmeren oder fanatischeren Gauleiter finden können.
Denn der hat den größten Teil der elsässischen Bevölkerung gegen ihn gewendet.
Sprecherin:
Der elsässische Historiker Bernhard Vogler stammt aus dem Hanauer Land. Er hat
die Annexion des Elsass durch die Nazis als Schulkind erlebt und leitete drei
Jahrzehnte das Institut für die Geschichte des Elsass an der Marc Bloch Universität
in Straßburg.
OT 09 Bernhard Vogler:
Je länger diese Lage dauerte, hatten die Elsässer den Eindruck, sie seien nur noch
eine badische Kolonie. Denn die ganzen Funktionäre und nicht nur die höheren
sondern auch die Mittelschicht der Beamten, die kamen alle aus Baden. Und nur aus
Baden! Es kamen keine aus Württemberg, Hessen, Pfalz oder weiter, nur Baden.
Trommel, Musik
OT 10 Ludger Syré:
Das Elsass war ja nun eindeutig vom deutschen Reich erobert worden, wie
Frankreich. Aber verwaltet oder in Beschlag genommen wurde es von Baden.
Sprecherin:
Der Karlsruher Historiker Ludger Syré.
OT 11 Ludger Syré:
Die Besonderheit, auf die Wagner sich auch offensichtlich sehr gut vorbereitet hatte,
war, wie verwalte ich dieses Elsass von Baden aus. Und das war etwas, was ihn in
Konfrontation zu den kooperationsbereiten Elsässer Politikern gebracht hat, weil die
gespürt haben, dass hier jetzt der badische Staat mit seinem gesamten
Behördenapparat in das Elsass kommt und dieses fremdverwaltet wird.
Sprecherin:
Von Anfang an versuchen die badischen Nationalsozialisten, ihre Kolonialsierung
des Elsass als angebliche Befreiung von französischer Fremdherrschaft auszugeben.
Tatsächlich hatte die französische Republik nach 1918 die elsässische Mundart
bekämpft, wo sie nur konnte. Seit den zwanziger Jahren wurde jede politische
Bewegung, die im Elsass für mehr Autonomie gegenüber dem jakobinischen
Zentralismus kämpfte, mit Hochverratsprozessen überzogen. Paris glaubte, in den
Autonomisten eine elsässische Version des Sudetendeutschen Kurt Henlein zu
erkennen. Der hatte 1938 mit seiner Beschwörung des "deutschen Volkstums" der
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Sudeten Hitler den Vorwand zur Annexion großer Teile der Tschechoslowakei
lieferte. Frankreich fürchtet nichts mehr als eine Wiederholung dieser Nazi-Strategie
im Elsass und in Lothringen.
Musik
Sprecherin:
1939, kurz vor Ausbruch des Krieges wird eine Gruppe autonomistischer
elsässischer Politiker wegen angeblicher "Spionage für den Feind" von der
französischen Militärpolizei verhaftet und ins Gefängnis von Nancy überführt. Einer
der Wortführer dieser sogenannten "Nanziger", der Germanist und Dialektforscher
Karl Roos, wird aufgrund gefälschter Zeugenaussagen zum Tode verurteilt und
hingerichtet. 1940 ist das eine Steilvorlage für die nationalsozialistische
Propagandamaschine. Sie instrumentalisiert die elsässischen Automisten, holt sie mit
großem Bahnhof aus dem Gefängnis im besetzten Frankreich und stilisiert den
Lokalpolitiker Karl Roos zum Märtyrer für das, was die Nazis unter elsässischem
"Deutschtum" verstehen. Im August 1940 schreibt Reichsleiter Martin Bormann an
den Leiter der Zivilverwaltung im Elsass:
Zitator:
Sehr geehrter Parteigenosse Robert Wagner! Der Führer äußerte gestern in einem
Gespräch, er hielte es für richtig, wenn der Elsässer Roos nicht länger als
elsässischer Autonomist betrachtet würde, sondern nach Meinung des Führers
müsse die Partei Roos für sich in Anspruch nehmen und ihn nur als großdeutschen
Freiheitskämpfer herausstellen. Vielleicht können Sie gelegentlich mit dem Führer
hierüber sprechen. Heil Hitler!
Sprecherin:
Auch die elsässische Mundart ist schon lange in die Propagandamühle der Nazis
geraten. In Freiburg erscheint seit 1933 das nationalsozialistische Kampfblatt "Der
Alemanne". Hier wird der alemannische Dialekt zur "germanischen Ursprache"
umgelogen. Die Mundart dient als Brückenkopf für den territorialen Anspruch des
Dritten Reiches links und rechts des Rheins. Da lockt etwa der alemannische Blutund-Boden-Dichter Hermann Burte die Nazis in der deutschen Schweiz:
Zitator:
Wir werben, wenn wir wissen, dass sie unsere Sprache sprechen, dass sie unseres
Blutes sind. Wir werben um ihre Liebe, selbst, wenn sie verschmäht wird. Aber die
große Mutter Germania will auch ihren unartigen Kindern nachgehen, will auch die
verlorenen Söhne zu sich zurückholen.
Sprecherin:
Nach der Machtübernahme in Straßburg erweisen sich die nationalsozialistischen
Liebeserklärungen an das Elsässische schnell als perfide Täuschung. Zuerst wollen
die badischen Nazis die Mundart von ihren zahlreichen französischen Einsprengseln
reinigen. Dann gerät das Elsässisch selbst ins Fadenkreuz der Germanisierer in
Straßburg. Noch kurz vor dem Ende seiner Herrschaft 1944 macht Gauleiter Wagner
ausschließlichen das Hochdeutsche zur Verkehrssprache des Elsass.
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OT 12 Gauleiter Wagner:
Was wir wollen ist eine Auslese des Elsass, eine Elite des Elsass. Wir wollen die
härtesten und die besten, die lebensfähigsten und wollen keine Scheißkerle!
Musik
OT 13 Jean-Laurent Vonau:
Wagner a eu une admiration de Bismarck. Bismarck …
Sprecherin:
Jean-Laurent Vonau gehört zu den Initiatoren der Gedenkstätte an der Stelle des
elsässischen Konzentrationslagers von Vorbruck-Schirmeck. Er war Professor für
Rechtsgeschichte an der Robert-Schuman Universität in Straßburg und hat mehrere
Darstellungen der Naziherrschaft im Elsass geschrieben.
OT 14 Jean-Laurent Vonau:
Il pense, naïvement que lorsque …
Übersetzer:
Gauleiter Wagner bewunderte Bismarck. Wie Bismarck durch Blut und Eisen 1870
die deutsche Einheit geschmiedet hatte. Diese Vorstellung fasziniert Wagner. Er ist in
dieser Beziehung unglaublich naiv. Er ist überzeugt, wenn die Elsässer ihre Leben
für Deutschland einsetzen müssen, werden endlich richtige Deutsche aus ihnen. Ihr
Blutopfer würde sie für immer mit dem Reich vereinen. Deshalb beginnt er mit der
Zwangsrekrutierung der Elsässer. Natürlich geschieht genau das Gegenteil: Je mehr
Opfer er verlangt, desto mehr Hass schlägt seiner Politik entgegen.
Sprecherin:
Bereits die De-facto-Annexion Elsass-Lothringens durch das Dritte Reich war ein
eklatanter Verstoß gegen internationales Recht. Im Waffenstillstand vom 22. Juni
1940 stand kein Sterbenswort von einer Abtretung französischer Gebiete links des
Rheins. Mit der Zwangsrekrutierung der Elsässer und Lothringer für die Wehrmacht
und die Waffen-SS aber begehen die nationalsozialistischen Zivilverwaltungen im
Elsass und in Lothringen eines der schwersten Kriegsverbrechen des gesamten
Zweiten Weltkriegs. Und es ist Robert Wagner vor allen anderen, der die
Zwangsrekrutierung betreibt.
OT 15 Jean-Laurent Vonau:
Vu ses relations personnelles …
Übersetzer:
Aufgrund seiner engen Beziehung zum Führer konnte Wagner seine ganz
persönliche Politik durchsetzen. Hitler war wie der Chef des Oberkommandos
Wilhelm Keitel gegen einen Wehrdienst der Elsässer in den Reihen der Wehrmacht.
Wagner hat ihn überredet. Er war ein Kämpfer der ersten Stunde, hatte 1923 am
Hitler-Putsch in München teilgenommen und mit Hitler in Festungshaft gesessen.
Einem derart altgedienten Parteisoldaten konnte man nichts abschlagen. Zuerst
sollten nur jene Elsässer eingezogen werden, die nicht zuvor schon in der
französischen Armee gedient hatten. Aber selbst daran hält sich Wagner nicht. Im
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Elsass wird bis zum Jahrgang 1908 eingezogen. Das unterscheidet Wagner auch
von Gauleiter Josef Bürkel in Lothringen. Dort wurden insgesamt 14 Jahrgänge
eingezogen, im Elsass waren es 21. Wagner bekam, was er wollte. Er war aufs beste
bekannt mit Bormann, mit Himmler, mit der ganzen Prominenz des Dritten Reichs,
Frick, Lammers. Er hatte ihr Vertrauen.
OT 16 Bernhard Vogler:
Der Befehl von Wagner stammt vom 25. August 42. Vorher gab’s schon, aber das
waren noch Freiwillige.
Sprecherin:
Der elsässische Historiker Bernhard Vogler.
OT 17 Bernhard vogler:
Man schätzt sie auf 130.000 mit Lothringen. Und für das Elsass allein ungefähr
100.000. Auf diese 100.000 sind 32.000 gefallen und 10.000 vermisst. Wenn man
dazurechnet die im Krieg 39 -40 gefallen sind und die Résistants und die in den KZ,
kommt man auf etwa 50.000. Das will etwa heißen 5% der Bevölkerung. Also das
Elsass hatte proportional dreimal mehr Tote als der Rest von Frankreich.
Atmo: Trommelfeuer
Zitator:
Das Trommelfeuer, die furchtbare Kälte, das Hurra-Gebrüll der angreifenden Russen,
das Kettengerassel von Hunderten von Panzern. Die Verzweiflung, die wahnsinnige
Angst: dann das Elsässer-Sein, das "Wackes-Sein", wissen, dass man nicht
dazugehört und trotzdem dabei ist.
Sprecherin:
André Weckmann wurde 1943 zwangsweise in die Wehrmacht eingezogen und an
der Ostfront verwundet. Er desertierte schließlich.
OT 18 Ludger Syré:
Wagner hat mit Zuckerbrot und Peitsche versucht, das Problem des Elsass in seinem
Sinne in den Griff zu bekommen.
Sprecherin:
Der Historiker Ludger Syré.
OT 19 Ludger Syré:
Da hatte er zwei Instrumente zur Verfügung. Das eine war das Sondergericht in
Straßburg, das er in seinem Sinne manipulieren konnte. Und wo man weiß, dass er
in viele Urteile eingegriffen hat und insbesondere auch viele Todesurteile hat fällen
und auch vollstrecken lassen. Das richtete sich vor allem gegen Deserteure, gegen
Flüchtige, und das zweite Instrument war dieses Lager Vorbruck bei Schirmeck.
OT 20 Emy Weisheimer:
Nous avions faim, nous avions froid …
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Sprecherin:
Emy Weisheimer wurde im Mai 1942 für 8 Monate im Lager Schirmeck interniert. Die
damals Zwanzigjährige hatte in den Vogesen als Führerin einer PfadfinderinnenGruppe Deserteure und geflohene Kriegsgefangene über die Grenze nach
Frankreich geschleust.
OT 21 Emy Weisheimer:
Selon le cas on nous …
Übersetzerin:
Wir haben gehungert, wir haben gefroren, wir waren den Schikanen der Wärterinnen
ausgeliefert. Je nachdem bedeutete das kein Essen, den Bunker, den Kopf rasieren.
Bei der Ankunft im Lager mussten wir uns beim Lagerkommandanten Karl Buck
melden. Man hatte uns eingeschärft, wie das zu geschehen hatte.
OT 22 Emy Weisheimer:
Il fallait dire « Sicherungshäftling meldet sich zur Stelle, Herr Kommandant! »
Übersetzerin:
Buck wollte den Grund unserer Internierung wissen. Er schrie uns an und fragte, ob
wir nach Frankreich wollten. Die schon länger da waren hatten uns gewarnt. Man
durfte auf keinen Fall ja sagen. Er brach sonst in wütendes Gebrüll aus.
Sprecherin:
Zehn Kilometer vom Sicherungslager Schirmeck entfernt, 700 Meter hoch in den
Vogesen wird im Mai 1941 das zweite elsässische Konzentrationslager eingerichtet.
Das KZ Natzweiler-Struthof ist ein typisches SS-Vernichtungslager. Mit
fluoreszierender Farbe wird den Häftlingen "NN" auf den Rücken gepinselt. Das
stand für die "Nacht und Nebel"-Dekrete der Wehrmacht. Die so Gebrandmarkten
hatten Widerstand geleistet oder Sabotageakte begangen und sollten möglichst
spurlos eliminiert werden. Insgesamt wurden 52.000 Menschen aus ganz Europa im
KZ Struthof und seinen zahlreichen Nebenlagern interniert. Mehr als die Hälfte
musste das mit dem Leben bezahlen.
OT 25 Wochenschau:
(Fanfare Wochenschau) In den Vogesen, wo es notwendig erscheint, werden die
deutschen Linien nach Zerstörung kriegswichtiger Anlagen aus dem französischen
Raum zurückgenommen, die Straßen gesperrt, Bahnanlagen und Fabriken zerstört
und wehrwichtige Gebäude in die Luft gesprengt. (Explosion)
Sprecherin:
Im November 1944 gelingt es französischen Panzerverbänden unter General
Leclerc, in einem schmalen Streifen von den Vogesen durch die elsässische Ebene
bis nach Straßburg vorzustoßen. Gauleiter Wagner und sein Gefolge müssen sich
Hals über Kopf bei Rhinau über den Rhein nach Baden absetzen. Aber das Elsass
ist noch lange nicht befreit. Eine letzte deutsche Gegenoffensive im Januar 1945
rückt noch einmal bis auf zwölf Kilometer an Straßburg heran. General Eisenhower
ordnet den Rückzug der amerikanischen Truppen in die Vogesen an. Nur der
wütende Protest de Gaulles verhindert, dass Straßburg erneut in die Hände der
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Nazis fällt. Fünf quälende Monate dauern die Kämpfe zur Befreiung ElsassLothringens. 29.000 amerikanische, 2.000 französische und 23.000 Soldaten der
Wehrmacht sterben bei dieser letzten großen Schlacht an der Westfront.
OT 26 Jean-Laurent Vonau:
En pays de Bade Bormann lui …
Übersetzer:
In Baden drängt Bormann Wagner, die Führung des Wehrwolfs zu übernehmen. Er
sollte im Untergrund den Widerstand organisieren und Sabotageakte ausführen.
Aber die Bevölkerung an den im Schwarzwald dafür ausgewählten Orten, hat sich
dagegengestellt, sie wollten keine Fortsetzung des Krieges. Sie fürchteten die
Vergeltung der Sieger.
Sprecherin:
Wagner irrt durch den Schwarzwald, hält sich unter falschem Namen in Konstanz
auf. Dann hört er zufällig vom Selbstmord seiner in Paris internierten Frau. Daraufhin
stellt er sich den amerikanischen Besatzungstruppen in Stuttgart. Im Sommer 1946
beginnt vor einem französischen Militärgericht in Straßburg der Prozess gegen den
ehemaligen Gauleiter und die Spitzen der elsässischen Zivilverwaltung. Nach acht
Tagen fällt das Urteil: Die Todesstrafe gegen Wagner und vier Mittäter wird am 4.
Mai 1946 im Morgengrauen in der Wantzenau vollstreckt. Wagner protestiert heftig,
als er sieht, dass das Erschießungskommando aus algerischen Soldaten besteht. Er
stirbt ohne jedes Zeichen der Reue.
OT 27 Jean-Laurent Vonau:
C’est un procès qui est bâclé …
Übersetzer:
Der Militärgerichtsprozess gegen Wagner wurde schlampig geführt. Ich bedauere
das sehr. Angesichts der Rolle Wagners im Dritten Reich hätte er in Nürnberg und
nicht in Straßburg vor Gericht gestellt werden müssen. Das Verfahren hat nicht
einmal 8 Tage gedauert. Für eine wirkliche Aufarbeitung seiner Verbrechen aber
hätte man mehrere Monate gebraucht. Es gibt unzählige Fragen, die unbeantwortet
geblieben sind. Es fand keine Rehabilitierung der Malgré-Nous statt. Ein gut
geführter Prozess gegen Wagner wäre für das Elsass ungeheuer wichtig gewesen.
Vor allem das Verbrechen der Zwangsrekrutierung hätte im Detail aufgeklärt werden
müssen.
Sprecherin:
1945, nach dem Ende des Naziterrors, ist das Elsass nicht mehr, was es einmal war.
Die hastige Entnazifizierung schert sich nicht um Details, ein Riss geht durch nahezu
jede elsässische Familie, Denunziationen und Ressentiments vergiften die
Beziehung zu den Innerfranzosen, der Missbrauch der Mundart durch die NaziIdeologie hat der elsässischen Doppelkultur den Todesstoß versetzt. Jean-Paul
Vonau gehört zu jenen Elsässern, die immer noch auf ausdrückliches
Schuldbekenntnis Deutschlands warten.
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OT 28 Jean-Laurent Vonau:
Die Kniebeugung de Brandt devant …
Übersetzer
Die Kniebeugung Brandts vor dem Denkmal der Opfer des Warschauer Aufstands
hat mich sehr berührt. Leider gab es nie eine vergleichbare Geste gegenüber den
elsässischen Opfern. Kein Kanzler, keine Kanzlerin haben jemals öffentlich
anerkannt, dass die Zwangsrekrutierung der Elsässer ein schweres
Menschenrechtsverbrechen war. Man hat nur mit Geld versucht, alles aus dem Weg
zu räumen, was einer deutsch-französischen Verständigung entgegenstand.
*****
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