Geschichte der Mathematik

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1
Geschichte der Mathematik
Sommersemester 2005/2006
Prof. Dr. Joachim Hilgert
Felix Kleins Vorstellungen zur Reform des gymnasialen
Mathematikunterrichts
Nils Martin Stahl
Lichterfelder Str. 7
32825 Blomberg
05235/5385
E-Mail: [email protected]
Lehramt Gymnasium/Gesamtschule
Fächer: Mathematik und Geschichte
Matrikel- Nr.: ……
Fachsemester: 6
2
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
3
Hauptteil
1 Felix Klein- ein kurzer biographischer Abriss
2 Die Situation in Preußen Ende des 19. Jahrhunderts -
4-8
9-12
mathematisch-naturwissenschaftlich gebildete Fachkräfte werden benötigt
3 Kleins Vorstellungen zu den Aufgaben des Mathematikunterrichts- Lehrziele
13-16
4
Inhaltliche Reformvorschläge
17-22
5
Methodische Überlegungen Felix Kleins
23-25
6
Die Umsetzung und die Bedeutung von Kleins Vorstellungen
26-28
Schluss
29
Quellenverzeichnis
30
Literaturverzeichnis
31-32
3
Einleitung
Die vorliegende Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, die Vorstellungen Felix Kleins zur
Reform des gymnasialen Mathematikunterrichts zu untersuchen. Nach einer kurzen
biographischen Einführung zur Person Kleins und der Darstellung der Situation im
Deutschen Reich gegen Ende des 19. Jahrhunderts, welche einen hohen Bedarf an
mathematisch qualifizierten Fachkräften erforderte, möchte ich mich folgenden Fragen
genauer widmen:

Welche Lernziele, Unterrichtsinhalte und Methoden schlägt Klein für eine
Verbesserung des Unterrichts vor?

Wie aktuell sind Kleins Vorstellungen für den heutigen Mathematikunterricht?

Welche Bedeutung hat Felix Klein für die Reform des mathematischen
Unterrichts?
Bei der Beantwortung dieser Fragen helfen einige Quellen, insbesondere die „Meraner
Beschlüsse“1, auf die sich diese Arbeit besonders konzentrieren wird.
Die Forschung hat sich schon recht ausführlich mit Felix Kleins Leistungen für die
Verbesserung des Mathematikunterrichts an höheren Schulen beschäftigt. Ich möchte hier
im Besonderen auf die Arbeiten von Inhetveen2, Schuberth3 und Tobies4 verweisen. Diese
Bücher gaben mir zahlreiche Tipps und Anregungen.
1
Der Meraner Lehrplan für Mathematik (1905), Wiederabdruck in: Klein, Felix und Schimmack, Rudolf:
Vorträge über den mathematischen Unterricht an den höheren Schulen, Teil 1: Von der Organisation des
mathematischen Unterrichts, Leipzig 1907, S. 208-220. Es handelt sich bei dieser Quelle um einen späteren
exakten Wiederabdruck. Den originalen Abdruck konnte ich leider nicht besorgen. Man findet ihn unter
anderem in der Zeitschrift für mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht 36 (1905), S. 543-553.
2 Inhetveen, Heide: Die Reform des gymnasialen Mathematikunterrichts zwischen 1890 und 1914. Eine
sozioökonomische Analyse, Bad Heilbrunn 1976.
3 Schuberth, Ernst: Die Modernisierung des mathematischen Unterrichts. Ihre Geschichte und Probleme
unter besonderer Berücksichtigung von Felix Klein, Martin Wagenschein und Alexander I. Wittenberg,
Stuttgart 1971.
4 Tobies, Renate: Felix Klein (Biographien hervorragender Naturwissenschaftler, Techniker und Mediziner
Band 50), Leipzig 1981.
4
1 Felix Klein – ein kurzer biographischer Abriss
Felix Klein wurde am 25. April 1849 in Düsseldorf geboren. 5 Im Alter von 6 Jahren trat er
in eine private Elementarschule ein, die er 2 ½ Jahre lang besuchte.6 Im Herbst 1857
wechselte er auf das achtklassige humanistische Gymnasium Düsseldorfs, wo er sein
Abitur ablegte.7 Als 16-jähriger nahm Felix Klein zum Wintersemester 1865 das Studium
der Mathematik und der Naturwissenschaften in Bonn auf – vor allem unter dem Physiker
und Mathematiker Professor Plücker, dessen Assistent er bereits nach einem halben Jahr
wurde.8 Am 12. Dezember 1868 promovierte er bei Rudolf Lipschitz; Klein war zu diesem
Zeitpunkt gerade einmal 19 Jahre alt.9
Es folgten weitere Studienaufenthalte in Göttingen bei Professor Clebsch und kürzere
Stippvisiten nach Berlin und Paris.10 Höhepunkt der Berliner Zeit war die Bekanntschaft
mit dem Norweger Sophus Lie, mit dem Klein in der Folge eine enge Freundschaft
verband und mit dem er eng zusammen arbeitete, um auf dem Gebiet der höheren
Geometrie gemeinsam zu forschen.11
Klein habilitierte am 7. Januar 1871 in Göttingen, wo er 1871/72 als Privatdozent
fungierte.12
1872 wurde Klein als ordentlicher Professor nach Erlangen berufen. Berühmt geworden ist
seine Antrittsrede, das so genannte „Erlanger Programm“. Klein klassifizierte hierin die
Geometrie auf gruppentheoretischer Basis, wodurch das „Erlanger Programm“ eine
„begriffliche Synthese für die bis dahin getrennten geometrischen Disziplinen“13
darstellte.14
Felix Klein wurde zu einem der bedeutendsten Vertreter der Geometrie des 19.
Jahrhunderts.15
1875 verließ er Erlangen in Richtung Technische Hochschule München. 1880 folgte er
einem Ruf der Universität Leipzig, wo er Professor für Geometrie wurde. 1886 wechselte
5
Tobies, S. 8.
Tobies, S. 11.
7 Tobies, S. 11.
8 Popplow, Ulrich: Felix Klein – Lebensweg und Persönlichkeit, in: Festschrift zum 100-jährigen Jubiläum
des Felix-Klein-Gymnasiums, Göttingen 1990, S. 23.
9 Tobies, S. 18.
10 Fischer, Gerd: Abitur 1865: Reifeprüfungsarbeit in Mathematik von Felix Klein, in: Festschrift zum 100jährigen Jubiläum des Felix-Klein-Gymnasiums, Göttingen 1990, S. 29.
11 Tobies, S. 22 f..
12 Tobies, S. 25.
13 Tobies, S. 36.
14 Tobies, S. 35.
15 Tobies, S. 27.
6
5
Klein an die Universität Göttingen, an der er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1913
blieb.16
Unter seinem Einfluss wurde Göttingen um das Jahr 1900 herum zum „Mekka der
Mathematik“.17
Kleins
mathematische
Leistungen
sind
insbesondere
auf
den
Gebieten
der
Liniengeometrie, nichteuklidischen Geometrie, Gruppentheorie und Geometrie („Erlanger
Programm“), Funktionentheorie, Geschichte der Mathematik und der Förderung des
mathematischen Unterrichts anzusiedeln, mit dem sich diese Arbeit noch ausführlich
beschäftigen wird.18
In meinem Mathematikstudium ist der Name von Felix Klein zum ersten Mal im 3.
Semester in der Veranstaltung „Grundzüge der Algebra“ aufgetaucht. Hier wurde die
„Kleinsche Vierergruppe“, die einfachste Gruppe, die nicht zyklisch ist, studiert. Die
„Kleinschen Gruppen“ tragen seinen Namen.19
Für Mathematikstudenten ist des Weiteren interessant, dass sich Felix Klein immer wieder
dafür stark gemacht hat, neben den Mathematikvorlesungen auch Übungen zu diesen und
mathematische Seminare einzuführen.20 Die Übungen sollten dazu dienen, das in den
Vorlesungen erworbene Wissen einzuüben, anzuwenden und zu veranschaulichen. 21 In den
Seminaren sollte jeder Teilnehmer ein mathematisches Thema selbstständig erarbeiten und
in einem Vortrag präsentieren.22 Diese Form der Übungen und Seminare zusätzlich zu den
Mathematikvorlesungen an den Universitäten besteht heute noch und ist im Wesentlichen
der Initiative Felix Kleins zu verdanken.
Was kann man zur Persönlichkeit Felix Kleins sagen? Er war auf jeden Fall ein sehr hart
arbeitender Mensch, der seinen straffen Tagesablauf minutiös plante und auch einhielt. Er
war nahezu den ganzen Tag lang mit Mathematik beschäftigt, sodass sogar seine
Lieblingstochter Elisabeth einen Termin mit ihm verabreden musste, wenn sie mit ihrem
Vater sprechen wollte.23
16
Fischer, S. 29.
Kaiser, Hans und Nöbauer, Wilfried: Geschichte der Mathematik, 3. Auflage München 2002, S. 67.
18 Kaiser, S. 311.
19 Tobies, S. 46.
20 Tobies, S. 38 und 64.
21 Mattheis, Martin: Felix Kleins Gedanken zur Reform des mathematischen Unterrichts vor 1900, in: Der
Mathematikunterricht 46 (2000), Heft 3: Felix Klein und die Berliner Schulkonferenz des Jahres 1900, S. 42.
22 Tobies, S. 64.
23 Tobies, S. 65.
17
6
Die sich daraus ergebenden Überbelastungen und „übermenschlichen Anstrengungen“24
führten zu einem gesundheitlichen Zusammenbruch Kleins im Herbst 1882.25 Von
November 1911 an musste Klein ein ganzes Jahr lang im Sanatorium in Hahnenklee im
Harz verbringen, weil sein körperlicher Zustand so schlecht war.26 Hier entstand auch das
berühmte Gemälde von Max Liebermann.27
.
Aus: Spangenberg, Arno: Felix Klein – ein Wegbereiter für modernen Mathematikunterricht, in: Festschrift
zum 100-jährigen Jubiläum des Felix-Klein-Gymnasiums, Göttingen 1990, S. 22.
Nach seiner Emeritierung 1913 setze sich Klein keinesfalls zur Ruhe. Er schrieb
historische Arbeiten über die Mathematik des 19. Jahrhunderts, lieferte Beiträge zur
Einsteinschen Relativitätstheorie und gab seine eigenen gesammelten mathematischen
Abhandlungen heraus.28
Im Alter von 76 Jahren verstarb Klein nach längerer Krankheit am 22. Juni 1925 in
Göttingen.29
Bei diesem kurzen biographischen Einstieg kann es nicht darauf ankommen, Kleins
Lebensweg vollständig wiederzugeben. Das würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.
24
Popplow, S. 24.
Tobies, S. 55 und S. 95: Klein lag in einem heftigen Wettstreit mit dem französischen Mathematiker Henri
Poincaré auf dem Gebiet der automorphen Funktionen. Dieser zehrte so an seiner Gesundheit, dass Klein
zusammenbrach. Den Wettstreit gewann er allerdings.
26 Tobies, S. 86.
27 Tobies, S. 96.
28 Tobies, S. 87.
29 Tobies, S. 94.
25
7
Er war in so vielen Gremien, Ausschüssen und Organisationen tätig, die hier alle gar nicht
aufgeführt werden können. Die Biographie von Renate Tobies ist hervorragend dazu
geeignet, mehr über Felix Klein zu erfahren.
Um einen Eindruck von dem vielfältigen und umfangreichen Wirken Kleins zu bekommen,
möchte ich eine kleine Auswahl seiner Publikationen angeben:30
Felix Klein: Elementarmathematik vom höheren Standpunkt aus.
Bd. 1: Arithmetik, Algebra, Analysis.
Bd. 2: Geometrie. Vorlesung gehalten im Sommersemester 1908
Bd. 3: Präzisions- und Approximationsmathematik
Erschienen in: Grundlehren der mathematischen Wissenschaften Bd. 14 bis 16
Teubner Verlag Leipzig (1908/09 Nachdruck mit Zusätzen 1911/13)
Felix Klein, Das Erlanger Programm : Vergleichende Betrachtungen über neuere
geometrische Forschungen
Verlag Harry Deutsch, Frankfurt/ Main 1995, veröffentlicht 1871
Klein/Riecke: Über angewandte Mathematik und Physik in ihrer Bedeutung für den Unterricht
an den höheren Schulen.
Leipzig und Berlin 1900
Klein, Riecke: Neue Beiträge zur Frage des mathematischen und physikalischen Unterrichts
an den höheren Schulen
Vorträge gehalten Ostern 1904 in Göttingen, veröffentlicht Leipzig und Berlin, 1904
Klein/Schimmack: Der mathematische Unterricht an den höheren Schulen.
Leipzig 1907
Felix Klein: Gesammelte mathematische Abhandlungen. 3 Bände
Bd. 1: Liniengeometrie. Grundlegung der Geometrie. Zum Erlanger Programm
Bd. 2: Anschauliche Geometrie. Substitutionsgruppen und Gleichungstheorie. Zur
mathematischen Physik
Bd. 3: Elliptische Funktionen, insbesondere Modulfunktionen. Hyperelliptische und
Abelsche Funktionen. Riemannsche Funktionentheorie und automorphe Funktionen.
Erstausgabe Berlin 1921/22/23. Hrsg. v. Fricke, Ostrowski & Vermeil
Springer Verlag, Berlin 1923
Felix Klein: Vorlesungen über das Ikosaeder und die Auflösung der Gleichungen vom fünften
Grade, herausgegeben von Peter Slodowy
Birkhäuser Verlag Basel, 1993 (Nachdruck der Ausgabe von 1884)
Felix Klein: Einleitung in die analytische Mechanik
Teubner, Stuttgart 1991
Felix Klein: Vorlesung über die moderne Entwicklung des mathematischen Unterrichts
1910/11
Vieweg, Wiesbaden 1996
Felix Klein:: Über die elliptischen Normalcurven der n-ten Ordnung und zugehörige
Modulfunctionen der n-ten Stufe.
Hirzel, Leipzig 1885
30
Ich beziehe mich auf folgende Bibliographie aus dem Internet, die ich genauso übernommen habe:
http://www.hillebrand.de/familie/felix_klein/bibliographie.html (30.04.2006).
8
Felix Klein: Die Anforderungen der Ingenieure und die Ausbildung der mathematischen
Lehramtskandidaten
in: Zeitschrift für den mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht Nr. 27, 1896
Felix Klein: Ausgewählte Kapitel der Zahlentheorie. Vorlesungen, gehalten im Wintersemester
1895/96 und Sommersemester 1896. Ausgearbeitet von A. Sommerfeld und Ph. Furtwängler.
Leipzig, 1907
Felix Klein. Madeleine Semer. 1874-1921.
Matthias Grünewald Verlag, Mainz 1929
Felix Klein: Ueber Riemann's Theorie der algebraischen Functionen und ihrer Integrale. Eine
Ergänzung der gewöhnlichen Darstellungen.
Teubner, Leipzig 1882
Felix Klein: Über die Differentialgesetze für die Erhaltung von Impuls und Energie in der
Einsteinschen Gravitationstheorie (aus: 'Nachrichten von der K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen).
Göttingen, 1918
Felix Klein: Über die Integralform der Erhaltungssätze und die Theorie der räumlich geschlossenen Welt. ( aus: 'Nachrichten von der K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen).
Göttingen, 1918
Felix Klein: Vorlesungen über höhere Geometrie. Bearbeitet und herausgegeben von W.
Blaschke.
(GMW, Bd. 22)Springer, Berlin, (3. Aufl.) 1926
Felix Klein: Vorlesungen über die Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert. 2 Bde.
(GMW, Bde. 24 u. 25) Springer, Berlin, 1926-1927
Felix Klein: Vorlesungen über nicht - euklidische Geometrie. Neu bearbeitet von W. Rosemann.
(GMW, Bd.26) Springer, Berlin, 1928
Felix Klein: Über Lame'sche Functionen.
Ueber Körper, welche von confocalen Flächen zweiten Grades begränzt sind.
Ueber hyperelliptische Sigmafunctionen.
Ueber den Hermite'schen Fall der Lame'schen Differentialgleichung.
Ueber Realitätsverhältnisse bei der bei einem beliebigen Geschlechte zugehörigen
Normalcurve der phi.
Ueber Riemann'sche Flächen, Doppelvorles.1891-92;
Leipzig, 1881 - 1894
Felix Klein & R.Fricke: Vorlesungen über die Theorie der elliptischen Modulfunktionen I und II
Teubner Stuttgart, 1966 (Reprint von 1890/92)
Felix Klein & Adolf Harnack: Universität und Schule. Vorträge auf der Versammlung deutscher
Philologen und Schulmänner am 25 Sep 1907 in Basel Leipzig: Teubner 1907.
Felix Klein: : Vorlesungen über die hypergeometrische Funktion gehalten an der Universität
Göttingen im Wintersemester 1893 / 94.
(GMW Bd. 39) Springer, Berlin 1933
Felix Klein: 62. Einleitung in die analytische Mechanik. Vorlesung, gehalten in Göttingen
1886/87. Hrsg. v. E. Dietzel u. M. Geisler.
Teubner Stuttgart 1991. (Teubner-Archiv zur Mathematik; Bd.15)
Felix Klein und Arnold Sommerfeld: Über die Theorie des Kreisels
1897 - 1910
9
2 Die Situation in Preußen Ende des 19. Jahrhunderts – mathematischnaturwissenschaftlich gebildete Fachkräfte werden benötigt
In diesem Teil der Arbeit soll es darum gehen darzustellen, welche Rolle der
Mathematikunterricht an höheren Schulen in Preußen gegen Ende des 19. Jahrhunderts
spielte und warum seine Reform notwendig wurde. Dabei möchte ich mich auf Preußen
beschränken, da es das größte und bevölkerungsreichste Gebiet im Deutschen Reich war31
und eine „Vorreiterrolle in Wissenschafts- und Bildungsfragen“32 einnahm. Göttingen, wo
Felix Klein sein didaktisches Wirken entfaltete, befand sich auf preußischem Gebiet.
Immerhin war er ab 1908 Mitglied des preußischen Herrenhauses, der Ersten Kammer des
preußischen Landtages.33 Außerdem ist in der Sekundärliteratur immer nur von Preußen
die Rede.
Wie sieht die Situation im Deutschen Reich aus? Nach der Industriellen Revolution (Ende
des 18. Jahrhunderts bis Mitte des 19. Jahrhunderts) kommt es seit Mitte des 19.
Jahrhunderts bis zum 1. Weltkrieg zu einer zweiten umfangreichen Industrialisierung.34 Bis
1880 war das Deutsche Reich ein Agrarstaat gewesen35, der sich nun zum Industriestaat
entwickelte36 und zur wirtschaftlichen Weltmacht aufstieg37.
Die wirtschaftliche und technische Intelligenz wird immer wichtiger und löst die
„Handarbeiter“ ab.38 Die Anzahl der Banken, Kreditinstitute und Börsen stieg enorm an
und das Versicherungswesen bildete sich heraus; es gab also einen steigenden Bedarf an
mathematischen Fachkräften in diesem Bereich.39
Aber nicht nur hier war das so, sondern auch noch in anderen Sektoren. Die
Naturwissenschaften wurden mathematisiert:40 Im Schiffbau, der insbesondere militärisch
eine wichtige Rolle spielte, im Hoch- und Tiefbau, in der Geodäsie - das Anlegen und die
31
Inhetveeen, S. 13. Neben z.B. Bayern ist Preußen als ein Reichsland des Deutschen Reiches anzusehen,
das ein eigenes Schulsystem und einen eigenen Lehrplan hatte. Die Kulturhoheit der Länder blieb nach der
Reichsgründung 1871 weiter bestehen. Die preußische Bildungspolitik war maßgebend für viele andere
deutsche Länder. (vgl. auch Mattheis, Martin: Die Entwicklung des höheren Schulwesens in Preußen von
1871 bis 1900, in: Der Mathematikunterricht 46 (2000), Heft 3: Felix Klein und die Berliner Schulkonferenz
des Jahres 1900, S. 5).
32 Mattheis, Martin: Zur Einführung, in: Der Mathematikunterricht 46 (2000), Heft 3: Felix Klein und die
Berliner Schulkonferenz des Jahres 1900, S. 3.
33 Tobies, S. 82.
34 Inhetveeen, S. 28.
35 Inhetveeen, S. 30.
36 Inhetveeen, S. 31.
37 Inhetveeen, S. 36.
38 Inhetveeen, S. 46.
39 Inhetveeen, S. 55.
40 Inhetveeen, S. 57.
10
Nutzung neuer Transportwege, Strassen etc. wurde im Laufe der Industrialisierung
unverzichtbar – auch im Bergbau waren mathematische Kenntnisse unabdingbar. In der
Chemie und Medizin musste man besonders in den Bereichen Stereometrie,
Infinitesimalrechnung und Funktionenlehre gebildet sein.41
Mathematik war also wichtig, um sich auf wirtschaftlichem und militärischem Gebiet mit
ausländischen Konkurrenten messen und sich gegen diese durchsetzen zu können.42
Der Bedarf an mathematisch qualifizierten jungen Menschen stieg enorm.43 Hier hatte die
Schule die Aufgabe, auf die neuen Bedürfnisse hin auszubilden. Denn eine Aufnahme
einer an den Erfordernissen ausgerichteten mathematischen Vorbildung in die Lehrpläne
der einzelnen Studienfächer an den Universitäten hätte zwei Folgen gehabt: verlängerte
Studienzeiten für die Studenten und einen großen finanziellen Mehraufwand für die
Hochschule.44 Mit andern Worten: Kommen Abiturienten schon mathematisch gut
vorgebildet auf die Universität, so wird diese entlastet.
Noch aber war Mathematik an höheren Schulen, insbesondere am humanistischen
Gymnasium, unterrepräsentiert.45
Dazu muss man wissen, dass das höhere preußische Schulwesen mit dem Lehrplan von
1882 in drei verschiedene Schultypen gegliedert war, die insgesamt nur von 3% aller
Schüler – die anderen gingen auf die Volksschule – besucht wurden: das humanistische
Gymnasium, das Realgymnasium und die Oberrealschule. Die humanistischen Gymnasien,
die hauptsächlich von Kindern gebildeter und besitzender Stände besucht wurden, waren
einseitig auf den altsprachlichen Unterricht fixiert, was dem Humboldtschen Bildungsideal
entsprach. Das Realgymnasium und die Oberrealschule wandten sich überwiegend der
mathematisch-naturwissenschaftlichen Seite der Bildung zu, was darin begründet lag, dass
ihre Klientel aus Schichten kam, die nach einer solchen Bildung verlangte, z.B. aus der
mittleren Kaufmannsschicht. Eine Übersicht über die Abiturprüfungen gegen Ende des 19.
Jahrhunderts soll diese Tatsachen noch einmal verdeutlichen:46
41
Inhetveeen, S. 61 ff..
Tobies, S. 75.
43 Inhetveeen, S. 78. Noch schärfer formuliert Inhetveen diese Tatsache auf S. 151: „Aus der
Verwissenschaftlichung einiger wichtiger gesellschaftlicher Produktions- und Reproduktionsbereiche
resultierte ein qualitativer Neu- und quantitativer Mehrbedarf an mathematischen und
naturwissenschaftlichen Qualifikationen.“
44 Inhetveeen, S. 184.
45 Spangenberg, S. 18.
46 Inhetveen, S. 74 und S. 188; Mattheis, Martin: Die Entwicklung des höheren Schulwesens in Preußen von
1871 bis 1900, S. 8 f.. Hieraus wurden auch die Daten für die selbst erstellte Tabelle entnommen. Bei der
schriftlichen Abiturprüfung im Fach Mathematik mussten vier Aufgaben gerechnet, jeweils eine in den
Bereichen Planimetrie, Stereometrie, Trigonometrie und Algebra. Einen Abdruck der originalen Abiturarbeit
in Mathematik von Felix Klein findet man in Fischer, S. 30-35.
42
11
humanistisches
Realgymnasium
Oberrealschule
Gymnasium
schriftlich
Deutsch
Deutsch
Deutsch
Latein
Französisch
Französisch
Griechisch
Englisch
Englisch
Mathematik
Physik
Physik
Latein
Latein
Mathematik
Chemie
Mathematik
mündlich
Religionslehre
Religionslehre
Religionslehre
Latein
Französisch
Französisch
Griechisch
Englisch
Englisch
Französisch
Geschichte
Geschichte
Geschichte
Geographie
Geographie
Geographie
Mathematik
Mathematik
Mathematik
Physik
Physik
Chemie
Chemie
Latein
Alle drei Abiturzeugnisse berechtigten zu einem Studium an einer Universität oder
Technischen Hochschule. Aber der Abiturient des Gymnasiums musste eine Art
Ergänzungsprüfung in Mathematik und Naturwissenschaften ablegen, wenn er an einer
Technischen Hochschule studieren wollte; und wer sein Abitur auf dem Realgymnasium
oder der Oberrealschule machte, durfte ohne weiteres Mathematik oder ein
naturwissenschaftliches Fach studieren. Wollte er ein anderes Studium beginnen, musste er
einen Nachweis von hinreichender Kenntnis in alten Sprachen erbringen. Nur wer sein
Abitur auf einem Gymnasium erreichte, war berechtigt, Medizin oder Theologie zu
studieren. Es gab also deutliche Unterschiede zwischen Gymnasien und Realanstalten
(= Realgymnasium und Oberrealschule).47
Ich kann mir gut vorstellen, dass diese Ergänzungsprüfungen eine hohe Hürde darstellten
und sich deshalb z.B. viele Absolventen des Gymnasiums scheuten, ein mathematisches
oder naturwissenschaftliches Fach zu studieren. Und das, obwohl der Bedarf an
Fachkräften mit mathematischer, naturwissenschaftlicher Bildung stieg.
Des Weiteren ist zu beachten, dass die meisten Schüler, die eine höhere Schule besuchten,
auf das humanistische Gymnasium gingen. Im Jahr 1900 waren es knapp ¾ aller Schüler.
Folgende Tabellen über die Verteilung der Schüler und Schulen auf die höheren Schularten
verdeutlicht dies:48
47
Mattheis, Die Entwicklung des höheren Schulwesens in Preußen von 1871 bis 1900, S. 12 und S. 20.
Tabelle aus Inhetveen, S. 80. In den nächsten 10 Jahren bis 1913 verschob sich der Anteil so stark, dass
ca. 50% das Gymnasium besuchten und je 25 % das Realgymnasium bzw. die Oberrealschule. Das lag an der
Gleichberechtigung aller drei höheren Schulen im Jahr 1900 und am gesteigerten Bedarf an mathematisch
qualifizierten Fachkräften.
48
12
% der höheren
1900
1901
1902
1903
Gymnasium
72,2
72,3
71,6
70,9
Realgymnasium
19,1
18,6
18,9
19,6
Oberrealschule
8,7
9,1
9,5
9,5
% der Schüler
1900
1901
1902
1903
Gymnasium
71,4
70,9
70,1
69,2
Realgymnasium
17,2
17,1
17,5
18,0
Oberrealschule
11,4
11,9
12,4
12,9
Schulen
Am humanistischen Gymnasium war die Mathematik ein eher unterrepräsentiertes Fach,
welches „den Wert der Mathematik in einer reinen Verstandesschulung sah“ und auf
Praxisorientierung und Anwendungsbezug nahezu komplett verzichtete.49 Da aber nur ca.
¼ aller Schüler höherer Schulen eine breitere mathematisch-naturwissenschaftliche
Bildung bekam, wie sie in Banken, im Versicherungswesen oder auch in der Medizin
erforderlich war, ist ein Mangel an mathematisch qualifizierten Arbeitskräften vorhanden
gewesen.
Das macht deutlich, dass eine Reform des mathematischen Unterrichts unumgänglich und
notwendig war. Felix Klein ist Motor dieser Reform gewesen. Mit ihm und seinen
Vorstellungen werde ich mich im Folgenden ausführlich beschäftigen.50
49
Mattheis, Die Entwicklung des höheren Schulwesens in Preußen von 1871 bis 1900, S. 9.
Im Jahr 1900 wurden die drei Typen des höheren Schulwesens per Dekret des Kaisers gleichgestellt. Mit
der Richtertschen Schulreform von 1925 wurde ein vierter Schultyp der höheren Schule eingeführt, die
Deutsche Oberschule. Das nationalsozialistische Regime verringerte die Zahl der humanistischen Gymnasien
erheblich und verordnete eine Zusammenfassung der anderen drei Schultypen zur Oberschule. Eine
Neugliederung in altsprachliche, neusprachliche und mathematisch-naturwissenschaftliche Gymnasien fand
nach dem 2. Weltkrieg statt. Diese Gliederung wurde 1972 mit der Neuordnung der gymnasialen Oberstufe
im Prinzip aufgehoben.
50
13
3 Kleins Vorstellungen zu den Aufgaben des Mathematikunterrichts – Lehrziele
Felix Klein war eine, wenn nicht die entscheidende Person bei der Reform des
gymnasialen Mathematikunterrichts. Ich möchte
darauf verzichten genau darzulegen,
wann Klein wo welche Lehrziele, Inhalte und Unterrichtsmethoden vorgeschlagen hat.
Dies ist meiner Ansicht nach als Einheit zu sehen: Klein vertrat im Großen und Ganzen
immer wieder dieselben Ziele, Inhalte und Methoden. Diese werden insbesondere in den so
genannten Meraner Beschlüssen51 von 1905 deutlich, weshalb ich mich in meinen
Ausführungen besonders hierauf beziehen werde. Aber natürlich äußerte sich Klein auch
vor und nach den Meraner Beschlüssen zur Verbesserung des mathematischen Unterrichts.
Grundsätzlich ist zunächst einmal festzuhalten, dass sich Felix Klein vor 1900 nur für eine
Verbesserung des Hochschulunterrichts an den Universitäten interessierte. Für Fragen des
höheren Schulwesens hatte er wenig übrig. Zwar geht er in seiner Erlanger Antrittsrede
1872 auf den Schulunterricht ein - wohl aus taktischen Gründen forderte er einen stärkeren
Anwendungsbezug der Mathematik in den Schulen und Hochschulen, um mathematische
Übungen und Seminare an der Universität durchsetzen zu können. In den 1890er Jahren
machte sich Klein insbesondere für die Verbesserung der Ausbildung der mathematischen
Lehramtskandidaten
stark. Erst ab ca. 1900 beschäftigte sich Klein mit Fragen des
höheren Schulwesens. Er nahm an der dritten preußischen Schulkonferenz in Berlin vom
6.-8. Juni 1900 teil, die sich mit Fragen des höheren Schulwesens beschäftigte. Der
preußische Ministerialdirektor Althoff forderte von Klein ein Gutachten zu dieser
Konferenz an, in dem Klein darlegen sollte, welche Fortschritte in der Verbesserung des
mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts seit der letzten Schulkonferenz von
1890 erzielt werden konnten. Von diesem Zeitpunkt an beschäftigte sich Klein sehr
intensiv mit dem mathematischen Unterricht an höheren Schulen und entwickelte
vielfältige Vorstellungen zu seiner Verbesserung.52
51
Der Meraner Lehrplan für Mathematik (1905), Wiederabdruck in: Klein, Felix und Schimmack, Rudolf:
Vorträge über den mathematischen Unterricht an den höheren Schulen, Teil 1: Von der Organisation des
mathematischen Unterrichts, Leipzig 1907, S. 208-220.
52 Mattheis, Felix Kleins Gedanken zur Reform des mathematischen Unterrichts vor 1900, S. 41-53.
Es ist noch zu bemerken, dass nicht alle Forscher genau dieser Ansicht sind. Tobies, S. 75, bemerkt, dass sich
Klein Zeit seines Lebens den Problemen des mathematischen Unterrichts widmete und sich in seiner
Göttinger Zeit verstärkt diesen Fragen zuwandte und seine Ideen in die Realität umzusetzen versuchte. Ich
denke, dass diese Aussage nicht unbedingt der von Mattheis widerspricht. Ich würde festhalten, dass sich
Klein ab 1900 verstärkt der Verbesserung des Mathematikunterrichts an Gymnasien zuwandte.
14
Betrachten wir nun die Lehrziele: was soll der Mathematikunterricht nach Auffassung
Felix Kleins leisten? Was soll er den Schülern (für ihr späteres Leben) bringen – auch auf
der Meta-Ebene?
Die Meraner Beschlüsse von 1905 geben eine Antwort. Sie listen diese Lehrziele auf.
Doch zunächst einmal kurz dazu, wie die Meraner Beschlüsse überhaupt zu Stande kamen:
Die Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte, die 1822 gegründet worden war,
beschäftigte sich Ende des 19. Jahrhunderts intensiv mit Fragen des höheren Unterrichts.
Klein hielt auf der Breslauer Versammlung 1904 eines der Hauptreferate, in dem er sich
für die Verbesserung des mathematischen und physikalischen Unterrichts beschäftigte. Um
die
Veränderungswünsche
genauer
auszuarbeiten,
wurde
eine
12-köpfige
Unterrichtskommission gebildet, in der Klein die führende Rolle einnahm. Aus der
Tätigkeit
dieser
Kommission
gingen
Reformvorschläge
hervor,
die
auf
der
Naturforscherversammlung 1905 in Meran (Oberitalien) vorgestellt wurden.53
Welche Lehrziele wurden nun formuliert?
Zunächst einmal sollen die Schüler zum logischen Denken erzogen werden.54 Das Fach
Mathematik hat die Aufgabe, das logische Denken der Schüler zu schulen. Es ist in vielen
Lebensbereichen wichtig. Die Mathematik soll den Verstand schärfen. Klein ist der
Meinung, dass das Ziel allen mathematischen Unterrichts das selbstständige Nachdenken
sei.55
Die beiden Sonderaufgaben des Mathematikunterrichts sind „Stärkung des räumlichen
Anschauungsvermögens“ und „Erziehung zum funktionalen Denken“.56
Neben dem logischen Denken ist also auch die Anschauung wichtig. Beide haben ihre
Berechtigung und beide sind bedeutend für den Unterricht und die Schüler. Das
Anschauungsvermögen
erleichtert
das
Verstehen
wissenschaftlicher
Sachverhalte
einerseits und dient andererseits dazu, mathematische Hypothesen mit Hilfe der
Anschauung überhaupt erst aufstellen zu können, dann zu überprüfen und so
mathematisches Wissen zu schaffen.57
53
Tobies, S. 80 f..
Meraner Beschlüsse, S. 209.
55 Tobies, Renate [2]: Felix Klein und der Verein zur Förderung des mathematischen und
naturwissenschaftlichen Unterrichts, in: Der Mathematikunterricht 46 (2000), Heft 3: Felix Klein und die
Berliner Schulkonferenz des Jahres 1900, S. 49.
56 Meraner Beschlüsse, S. 209.
57 Inhetveen, S. 164.
54
15
Funktionen sind für Klein in erster Linie Mittel, Veränderungen zu beschreiben.58 Der
Funktionsbegriff soll also der Kern des Mathematikunterrichts sein. Er dient dazu,
„lebensweltliche Erscheinungen mit metrischen Prädikatoren zu beschreiben und
gesetzmäßige
Abhängigkeiten
zwischen
den
so
quantifizierten
Größen
mittels
mathematischer Funktionen darzustellen“.59 Funktionales Denken beinhaltete also auch die
Fähigkeit, Sachverhalte bzw. Umweltsituationen zu mathematisieren, zu formalisieren und
die uns umgebende Erscheinungswelt mathematisch zu betrachten. Das sind meiner
Meinung nach weitere Meta-Ziele, die sich aus dem Lehrziel „Erziehung zum funktionalen
Denken“ unmittelbar ergeben bzw. mit diesem verhaftet sind.
Lehrziele des Mathematikunterrichts am Ende der Gymnasialzeit sind, „einen
wissenschaftlichen Überblick über die Gliederung des Lehrstoffes zu erhalten“,
„Umweltsituationen zu mathematisieren und so Einzelaufgaben durchführen zu können“,
und eine „Einsicht in die Bedeutung der Mathematik für die exakte Naturkenntnis und die
moderne Kultur überhaupt“ zu gewinnen.60 Mit dem letzen Punkt ist gemeint, dass den
Schülern klar werden soll, dass die Mathematik in allen Lebensbereichen eine große Rolle
spielt und eigentlich unverzichtbar für die Menschen und die Industriegesellschaft ist.
Vergleicht man diese Lehrziele, die vor über 100 Jahren formuliert worden sind, mit den
heutigen, aktuellen Lehrzielen des Mathematikunterrichts, so kann man viele
Übereinstimmungen feststellen. Ich beziehe mich im Wesentlichen auf die von Friederich
Zech61 formulierten Ziele, die auch Prof. Dr. Martin Bruns in seiner Veranstaltung
„Didaktik der Geometrie II“ im Wintersemester 2005/06 an der Universität Paderborn
vertreten hat.
Das „Anschauungsvermögen“ und die „Fähigkeit des logischen Denkens“ werden von
Zech als die beiden ersten fachübergreifenden Ziele des Mathematikunterrichtes genannt.
Auch die von Klein geforderten Ziele des „selbstständigen Nachdenkens“, des
„Formalisierens“, der „Fähigkeit, einfache Umweltsituationen zu mathematisieren“ und
„Umwelterscheinungen mathematisch zu verstehen“ tauchen auf.62
Jedoch gibt Zech sehr viel mehr Lehrziele an als Klein und differenziert diese stärker aus.
Heutzutage sind im Mathematikunterricht unter anderem noch wichtig: „Kommunikations-
58
59
60
61
62
Schuberth, S. 24.
Inhetveen, S. 170.
Meraner Beschlüsse, S. 210.
Zech, Friederich: Grundkurs Mathematikdidaktik, 10. Auflage Weinheim und Basel 2002.
Zech, S. 54-60.
16
und Kooperationsfähigkeit“, „Sprachförderung“, „Kreativität“ und „Lerntransfer“.63
Ähnliche Lehrziele, die noch weiter ausdifferenziert werden als bei Zech, findet man bei
Tietze.64
Das Ziel, Mathematik als Kulturgut zu erkennen, welches sich auch in den Meraner
Beschlüssen befindet, taucht im Skript „Didaktik der Stochastik“ von Prof. Dr. Peter
Bender auf Seite 14 auf, dessen Veranstaltung ich dieses Semester besuche.
Insgesamt kann man festhalten, dass die Lehrziele der Meraner Beschlüsse heute nach über
100 Jahren noch größtenteils gültig und anerkannt sind. Es sind jedoch neue Ziele
hinzugekommen, was meiner Ansicht nach wahrscheinlich an den veränderten
Anforderungen an die Menschen liegt. Die Gesellschaft hat sich verändert. In unserer
heutigen Zeit, in der zum Beispiel Teamwork sehr wichtig ist, muss ein Ziel des
Mathematikunterrichts eben auch „Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft“
heißen.
63
Zech, S. 54-60.
Tietze, Uwe-Peter; Klinka, Manfred und Wolpers, Hans: Mathematikunterricht in der Sekundarstufe II,
Band 1: Fachdidaktische Grundfragen – Didaktik der Analysis, Braunschweig/Wiesbaden 1997, S. 29-36.
64
17
4 Inhaltliche Reformvorschläge
In diesem Kapitel soll es darum gehen, wie Felix Klein den Mathematikunterricht
inhaltlich verbessern wollte. Durch welche Änderungen im Lehrplan sollten welche
Lehrziele erreicht werden?
Zunächst einmal hat sich Klein als Ziel gesetzt, den mathematisch-naturwissenschaftlichen
Unterricht allgemein aufzuwerten. Denn dieser war im Fächerkanon der höheren Schulen
gegenüber den philologischen und historischen Disziplinen deutlich unterrepräsentiert. Die
Schulen sollten nach Kleins Auffassung weder eine einseitig sprachlich-geschichtliche,
noch
eine
einseitig
mathematisch-naturwissenschaftliche
Richtung
haben.65
Der
Mathematikunterricht sollte gleichberechtigt sein.66
Auch die Mathematiklehrer waren den Lehrern anderer Fächer nicht gleichgestellt. Sie
konnten nicht in höhere Ämter des Schuldienstes aufsteigen. Auch in diesem Bereich
strebte Klein eine Gleichstellung an.67
Felix Klein forderte an der Gleichberechtigung aller höheren Schulen festzuhalten, die von
Kaiser Wilhelm II. per Erlass vom 26. November 1900 verfügt worden war.68
Nun zum Inhalt des Lehrplans. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die von Klein
geforderten Sonderaufgaben des Mathematikunterrichts: „Stärkung des Anschauungsvermögens“ und „Erziehung zum funktionalen Denken“. Der Meraner Lehrplan zeigt, wie
diese Ziele erreicht werden sollen:69
Der Meraner Lehrplan (1905): Mathematischer Lehrplan für die Gymnasien
A. Unterstufe
Sexta
Die Grundrechenarten mit ganzen Zahlen, benannten und unbenannten, im beschränkten Zahlbereich. Die deutschen
Maße, Gewichte und Münzen. Übungen in der dezimalen Schreibweise und in den einfachsten dezimalen Rechnungen als
Vorbereitung für die Bruchrechnung.
Quinta
RECHNEN. Fortgesetze Übung im Rechnen mit bekannten Dezimalzahlen, unter Erweiterung des Gebietes der zur
Verwendung kommenden Maße (auch ausländische Gewichte und Münzen), Längenmessungen verschiedener Art (auch
im Gelände); einfachste Aufgaben der Flächen- und Raumberechnung unter Verwertung des Zusammenhanges zwischen
Rauminhalt und Gewicht. (Bei allen derartigen Rechnungen ist stets ein Überschlag der Größenordnung des Ergebnisses
vorauszuschicken). Teilbarkeit der Zahlen. Gemeine Brüche (zunächst als benannte Zahlen).
65
Kaiser, S. 297.
Tobies [2], S. 35.
67 Tobies, S. 76.
68 Kaiser, S. 297; Mattheis, Die Entwicklung des höheren Schulwesens in Preußen von 1871 bis 1900, S. 17.
69 Inhalte, die das Anschauungsvermögen stärken sollen, sind rot unterlegt und Inhalte, die das funktionale
Denken stärken, sind blau unterlegt. Dabei habe ich einfach zur Illustration exemplarisch einige Themen
markiert. Es besteht kein Anspruch auf vollständige Markierung.
64
18
PROPÄDEUTISCHE Raumlehre. Einführung in die Grundbegriffe der Raumanschauung, jedoch derart, dass der Raum
vorwiegend als Träger planimetrischer Beziehungen erscheint. Raumausdehnungen, Flächen, Linien, Punkte zunächst an
der Umgebung erläutert und bestätigt an den verschiedensten Körpern. Ebene Figuren zunächst als Teile der
Körperbegrenzung, dann als selbstständige Gebilde, an welchen die Begriffe der Richtung, des Winkels, des
Parallelismus, der Symmetrie zum Verständnis zu bringen sind. Übung im Gebrauche des Lineals und Zirkels,
beständiges Zeichnen und Messen.
Quarta
RECHNEN. Dezimalbruchzerlegung. Abgekürztes Rechnen (an einfachsten Beispielen). Regeldtri unter Vermeidung
aller Übertreibung schematischer Formen. Aufgaben aus dem bürgerlichen Leben, insbesondere einfache Fälle der
Prozent-(Zins-, Rabatt-)Rechnung. Vorbereitung des arithmetischen Unterrichts durch Wiederholung geeigneter, früher
gelöster Aufgaben unter Verwendung von Buchstaben statt bestimmter Zahlen. Deutung vorgelegter
Buchstabenausdrücke und Auswertung solcher Ausdrücke durch Einsetzung bestimmter Zahlenwerte. Zusammenhang
der Kopfrechenregeln mit den Klammerregeln.
RAUMLEHRE. Lehre von den Geraden, Winkeln und Dreiecken. Beweglichkeit der Figuren; Abhängigkeit der
Dreiecksstücke voneinander; Übergangsfälle (rechtwinklige Dreiecke, gleichschenklige, gleichseitige). Einfache
Parallelogrammsätze, ausgehend von der Konstruktion der Gebilde.
Untertertia
ARITHMETIK. Systematische Zusammenfassung der Grundrechenregeln durch Buchstabenformeln. Begriff der
relativen Größen, entwickelt an praktischen Beispielen und veranschaulicht durch die beiderseits unendlich ausgedehnte
Zahlenlinie. Rechenregeln für relative Größen. Fortsetzung der Übungen in Auswertung von Buchstabenausdrücken
unter Heranziehung der negativen Größen und steter Betonung des funktionalen Charakters der auftretenden
Größenveränderungen. Anwendung auf reine und eingekleidete Gleichungen ersten Grades mit einer Unbekannten.
Unterschied zwischen identischen und Bestimmungsgleichungen.
RAUMLEHRE. Erweiterung der Lehre vom Parallelogramm. Das Trapez. Fundamentale Sätze der Kreislehre.
Betrachtung des Einflusses, den die Größen- und Längenänderung einzelner Stücke auf den Gesamtcharakter der Figur
ausübt. Konstruktionen im engen Anschluß an den Lehrgang, unter Ausschluß aller nur durch Kunstgriffe lösbaren
Aufgaben.
Obertertia
ARITHMETIK. Ergänzung und Erweiterung der Buchstabenrechnung, namentlich Zerlegung von Polynomen. Einfachste
Sätze über Proportionen. Reine und eingekleidete Gleichungen ersten Grades mit einer in ihm auftretenden Variablen.
Abhängigkeit eines Größenausdrucks von einer in ihm auftretenden Variablen. Graphische Darstellung einfacher linearer
Funktionen und Benutzung dieser Darstellung zur Auflösung von Gleichungen.
RAUMLEHRE. Flächenvergleichung und Flächenberechnung unter Heranziehung von Gebilden mit verwickelterer
geradliniger Begrenzung; Annäherungsberechnung krummlinig begrenzter Flächenstücke. Wiederholung der schon in
Quinta vorgekommenen Raumberechnungen. Aufgaben wie in Untertertia.
Untersekunda
ARITHMETIK. Potenzen und Wurzeln. Reine und eingekleidete Gleichungen zweiten Grades mit einer Unbekannten.
Zusammenhang zwischen Koeffizienten und Wurzeln. Betrachtung des von einer Variablen abhängigen quadratischen
Ausdrucks in seiner dadurch bedingten Veränderlichkeit unter graphischer Darstellung. Lösung von Aufgaben zweiten
Grades mit einer Unbekannten durch Schnitte von Geraden und Parabeln. Betrachtung der graphischen Darstellung als
Mittel zur Veranschaulichung empirisch gefundener Zusammenhänge.
RAUMLEHRE. Ähnlichkeitslehre unter besonderer Verwendung der Ähnlichkeitslage. Proportionen am Kreis.
Berechnung von Näherungswerten für Kreisumfang und Kreisinhalt durch polygonale Annäherung. Eingehende der
gegenseitigen Abhängigkeit von Seitenverhältnissen und Winkelwerten beim Dreieck, besonders beim rechtwinkligen.
Aufstellung und Erprobung von Tabellen für diese Abhängigkeit (als Vorbereitung für die Trigonometrie), im Anschluß
daran praktische Aufgaben (Aufnahmen am Messtisch).
B. Oberstufe
Obersekunda
ARITHMETIK. Erweiterung des Potenzbegriffs, Auffassung der Potenz als Exponentialgröße, Begriff und Anwendung
des Logarithmus. Arithmetische Reihen erster Ordnung und geometrische Reihen, Anwendung der letzteren auf
Zinseszins- und Rentenrechnung (in einfachsten, der Wirklichkeit entnommenen Aufgaben). Graphische Darstellung der
gegenseitigen Abhängigkeit von Numerus und Logarithmus. Rechenstab. Lösung quadratischer Gleichungen mit zwei
Unbekannten sowohl durch Rechnung als durch graphische Darstellung.
RAUMLEHRE. Trigonometrie unter Anknüpfung an die konstruktive Planimetrie. Verwendung zu praktischen Aufgaben
der Dreiecks- und Vierecksmessung. Charakterisierung der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen der Winkeländerung
und der Funktionsänderung durch die Formeln der Goniometrie; graphische Darstellung dieser Abhängigkeit.
Behandlung geeigneter Aufgaben auf mehrfachem Wege, konstruktiv und mit Hinzunahme der Rechnung. Einzugehen
auf die harmonischen Beziehungen und die Grundlagen der neueren Geometrie als Abschluß der Planimetrie.
19
Unterprima
ARITHMETIK. Zusammenhängende Betrachtung der bisher aufgetretenen Funktionen in ihrem Gesamtverlauf nach
Steigen und Fallen (unter eventueller Heranziehung der Begriffe des Differentialquotienten und des Integrals), mit
Benutzung zahlreicher Beispiele aus der Geometrie und der Physik, insbesondere der Mechanik. Einfachste Sätze der
Kombinatorik mit einigen Übungsbeispielen.
RAUMLEHRE. Stereometrie unter Berücksichtigung der wichtigsten Elemente der Projektionslehre. Übungen im
stereometrischen Zeichnen. Einfachste Sätze der sphärischen Trigonometrie. Mathematische Geographie, einschließlich
der Lehre von den Kartenprojektionen.
Oberprima
1. Kegelschnittslehre sowohl in analytischer als in synthetischer Behandlung, mit Anwendung auf die Elemente
der Astronomie.
2. Wiederholungen aus dem Gesamtgebiet des mathematischen Schulunterrichts, womöglich an der Hand
größerer Aufgaben, die rechnerisch und zeichnerisch durchgeführt werden müssen.
3. Rückblicke unter Heranziehung geschichtlicher und philosophischer Gesichtspunkte.
Aus: Der Meraner Lehrplan für Mathematik (1905), Wiederabdruck in: Klein, Felix und Schimmack, Rudolf: Der mathematische
Unterricht an höheren Schulen, Teil 1: Von der Organisation des mathematischen Unterrichts, S. 213-216.
Es wird deutlich, dass sich der Funktionsbegriff durch alle Klassen zieht und ein sehr
entscheidender ist. Diese starke Betonung des Funktionsbegriffes ist ein großartiger
Änderungsvorschlag gegenüber den damals aktuellen Lehrplänen. Denn Funktionen
wurden im Allgemeinen nicht im Unterricht behandelt und der Funktionsbegriff gänzlich
ausgespart.70 Nun ist er der Kern des Mathematikunterrichts, weil er so wichtig für viele
Anwendungsgebiete der Natur- und Technikwissenschaften ist.71 Er stellt das „Bindeglied
zwischen den verschiedenen Kapiteln der Schulmathematik“72 dar.
Der Meraner Lehrplan legt sehr viel Wert auf die Anschauung. Sie zieht sich ebenfalls
durch alle Schuljahre hindurch. Dazu gehört meiner Meinung nach auch die Betonung der
„graphischen Darstellung“ von Funktionen bzw. Abhängigkeiten, die immer wieder
auftaucht. Mit Hilfe des räumlichen Vorstellungsvermögens soll einerseits Wissen
veranschaulicht, andererseits Wissen ermöglicht bzw. gebildet werden.73
Zudem setzte sich Klein für einen stärkeren Praxisbezug des Mathematikunterrichts ein,
der die Anwendungen der Mathematik mehr einbeziehen sollte.74 Dennoch wäre es nach
seiner Auffassung ein großer Fehler, nur auf die Anwendungen zurückzugreifen.75 Das
logische Element sei immer noch der „Kern der Sache“,76 weshalb auch der abstrakte
Beweis seine Berechtigung habe.77 Man müsse ein gutes Zwischenmaß finden.
70
71
72
73
74
75
76
77
Inhetveeen, S. 170.
Inhetveeen, S. 171.
Tietze, S. 218.
Inhetveen, S. 162.
Inhetveen, S. 148.
Tobies [2], S. 26.
Inhetveen, S. 148.
Tobies [2], S. 26.
20
Felix Klein befürwortete immer wieder die Einführung der Infinitesimalrechnung
(= Differential- und Integralrechnung) in den Oberstufenunterricht.78 Dabei sollte es sich
um die „allereinfachsten Beispiele von Differentiation und Integration“ handeln.79 Für das
Verständnis dieses Gebietes hat wiederum der Funktionsbegriff eine bedeutende Rolle.
Im Meraner Gremium konnte aber keine Einigung darüber erzielt werden, ob die
Differential- und Integralrechnung im Oberstufenunterricht eingeführt werden sollte oder
nicht. Man kam überein, dass die Einführung dem jeweiligen Lehrer überlassen blieb, der
aber wenigstens dafür zu sorgen hatte, dass „der mathematische Unterricht in der Prima
des Gymnasiums bis an die Schwelle der Infinitesimalrechnung herangeführt werden
muss“.80
Die Befürworter im Meraner Gremium, insbesondere Felix Klein, argumentierten damit,
dass die Infinitesimalrechnung unentbehrlich in zahlreichen Wissenschaften sei, und somit
insbesondere bedeutsam für die Schüler, die sich nach dem Abitur mit Mathematik oder
Naturwissenschaften beschäftigen wollten.81 Die Differential- und Integralrechnung gehöre
zur mathematischen Allgemeinbildung.82 Ohne sie kann man die „„Grundlinien der
wissenschaftlichen Naturerklärung nicht verstehen““.83
Die Gegner waren der Ansicht, dass es sich um berufsvorbildendes Detailwissen, nicht um
Allgemeinwissen handle und dass man sich auf Elementarmathematik an den Schulen
beschränken sollte, so dass die Infinitesimalrechnung der Hochschule überlassen werden
sollte.84
In der Tat jedoch sperrten sich nur wenige Lehrer gegen die Einführung, die sie ja
freiwillig tun konnten. Das lag auch daran, dass Felix Klein immer wieder massiv bei den
Lehrern dafür warb.85 So fanden die infinitesimalen Grundbegriffe und Methoden in den
folgenden Jahren de facto Einzug in die höheren Schulen, obwohl sie noch nicht
lehrplanmäßig eingeführt wurden.86
78
Tobies, S. 79.
Meraner Beschlüsse, S. 219.
80 Meraner Beschlüsse, S. 210.
81 Klein, Felix und Schimmack, Rudolf: Vorträge über den mathematischen Unterricht an den höheren
Schulen, Teil 1: Von der Organisation des mathematischen Unterrichts, Leipzig 1907, S. 133 ff..
82 Inhetveen, S. 202.
83 Tobies [2], S. 32.
84 Inhetveen, S. 202.
85 Mattheis, S. 58.
86 Inhetveen, S. 205; Tietze, S. 218 bemerkt, dass die Meraner Vorschläge dafür sorgten, dass die
Infinitesimalrechnung bis zum Ende des 1. Weltkrieges an höheren Schulen etabliert wurde.
79
21
Neben diesen Neurungen im Lehrplan sollten einige Unterrichtsthemen des alten Lehrplans
weggelassen werden. Auf Spezialkenntnisse, wie zum Beispiel spezielle analytische
Umformungen oder spezielle geometrische Konstruktionen, sollte verzichtet werden.87
„Vereinfacht könnte man sagen, dass durch die „Meraner Vorschläge“ der Gymnasialunterricht aus Mathematik stoffmäßig dem wesentlichen Kenntnisstand in der
Wissenschaft Mathematik zur Zeit der französischen Revolution entsprach.“88
Die Ziele Kleins in Anlehnung an die Meraner Vorschläge hat er später noch häufig
formuliert. Ich halte die folgenden 10 Punkte für eine gute Zusammenfassung seiner
inhaltlichen Ziele:89
a)
Einschränkung der formalen Operationen der Algebra
b) Behandlung des Funktionsbegriffs
c)
Einführung der Elemente der Differential- und Integralrechnung
d) Gemeinsame Behandlung der Planimetrie und Stereometrie
e)
Behandlung der Kegelschnitte (analytisch, synthetisch, projektiv?)
f)
Vertiefung des Geometrieunterrichts in Prima nach der erkenntnistheoretischen Seite hin
g) Das Verhältnis des geometrischen Zeichnens zum Stereometrieunterricht
h) Stärkere Betonung der Anwendungen
i)
Stärkere Betonung der geschichtlichen Entwicklung
j)
Freiere Gestaltung des Unterrichts auf der Oberstufe
Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass Klein seit 1892 Ferienkurse für Mathematiklehrer
in Göttingen hielt, die alle zwei Jahre stattfanden.90 In diesen Weiterbildungskursen ging
es darum, den Lehrern neue Forschungskenntnisse zu vermitteln.91
Insgesamt kann man festhalten, dass Teile der Ideen der Meraner Beschlüsse und des
Meraner Lehrplans noch im heutigen Lehrplan verankert sind. Die Anschauung, der
Funktionsbegriff und die Differential- und Integralrechnung in der Oberstufe sind noch in
der heutigen Zeit grundlegende und zentrale Ideen des Mathematikunterrichts. Dabei muss
man beachten, dass der moderne Funktionsbegriff und die Begriffe der
87
Meraner Beschlüsse, S. 209.
Kaiser, S. 298.
89 Klein, Felix: Abhandlungen über den mathematischen Unterricht in Deutschland, hrsg. von Felix Klein,
Band 2: Die höheren Schulen in Süddeutschland und Mitteldeutschland, Leipzig und Berlin 1913, S. VIII.
90 Tobies, S. 96 f..
91 Tobies [2], S. 23.
88
22
Infinitesimalrechnung natürlich heute viel allgemeiner und präziser sind als die
damaligen.92
Im Übrigen: Lehrerfortbildungen gibt es heutzutage auch noch. Aber Klein war halt der
erste, der diese für das Fach Mathematik veranstaltete.
92
Schuberth, S. 108.
23
5 Methodische Überlegungen Felix Kleins
Nun stellt sich die Frage, wie Felix Kleins Vorstellungen aussahen, den Unterrichtsstoff
den Schülern zu vermitteln. Welche Methoden und didaktischen Prinzipien schlägt er vor?
Dabei ist es sinnvoll, zunächst den damals üblichen Mathematikunterricht an einem
Gymnasium kurz zu skizzieren, um die Bedeutung von Kleins Veränderungsvorschlägen
erfassen zu können. In der Regel wurden im Unterricht nur Sätze und Beweise
vorgetragen. Praxisbezug oder praktische Beispiele gab es sehr selten. Klein kennzeichnete
die Schulmathematik als „künstlich“, da Beispiele zu den mathematischen Theorien fehlen
würden.93
Der Mathematikunterricht war vorwiegend wissenschaftlich und nicht pädagogisch oder
methodisch durchgearbeitet.94 Der Lehrer dozierte, ohne auf das Alter und den psychischen
Entwicklungsstand des Kindes Rücksicht zu nehmen.95
Felix Klein forderte statt dieses streng logisch-deduktiven einen genetischen Aufbau des
Mathematikunterrichts, was eine Abwendung von der Euklidischen Methode bedeutete.
Das Ziel müsse sein, „überall an den vorhandenen Vorstellungskreis [der Schüler]
anzuknüpfen, die neuen Kenntnisse mit dem vorhandenen Wissen in organische
Verbindung zu setzen, endlich den Zusammenhang des Wissens in sich und mit dem
übrigen Bildungsstoff der Schule von Stufe zu Stufe mehr und mehr zu einem bewußten zu
machen“.96 Das heißt, dass der Ausgangspunkt des Lernens die Anschauung sein soll.97
Immer wieder soll auf die Vorerfahrungen und Vorkenntnisse der Schüler zurückgegriffen
werden, das alte Wissen mit den neuen Erkenntnissen verknüpft werden, um so neues
Wissen zu bilden. Vernetzung ist wichtig.
93
Schuberth, S. 10 f.. Schuberth spricht davon, dass die Sätze und Beweise dogmatisch vorgetragen wurden.
Das Wort „dogmatisch“ stellt aber einen Widerspruch zum Schema Satz-Beweis dar, da man bei einem
Beweis nichts glauben muss, sondern ihn logisch nachvollziehen kann. Ich denke, was Schuberth damit
ausdrücken will, ist folgendes: Es war gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Mathematikunterricht üblich, dass
abstrakte Beweise schon in unteren Klassen verwendet wurden. Schuberth meint wahrscheinlich, dass die
Schüler von ihrem geistigen Entwicklungszustand noch gar nicht in der Lage waren, solche Beweise zu
verstehen, selbst wenn sie es versuchten. Sie mussten diese einfach glauben oder sogar auswendig lernen,
ohne das logische Element fassen zu können.
94 Schuberth, S. 10 ff..
95 Inhetveen, S. 212.
96 Meraner Beschlüsse, S. 208.
97 Siehe dazu auch Klein, Felix: Elementarmathematik vom höheren Standpunkt aus, Band I: Arithmetik,
Algebra, Analysis, 3. Auflage Berlin 1925 (ND 1968), S. 227: „Man wird auf der Schule stets zuerst an die
lebhafte konkrete Anschauung anknüpfen müssen und erst allmählich logische Elemente in den Vordergrund
bringen können“.
24
Die genetische Methode sieht vor, erst den Einzelfall zu behandeln und zu verstehen. Dann
geht der Lehrer zu einer Systematisierung, Axiomatisierung und Formalisierung über. Eine
logische Struktur soll also nach und nach entwickelt werden.98
Das beinhaltet auch, dass mathematische Fachsprache erst nach und nach erlernt wird und
sich die Schüler anfänglich durchaus der Umgangssprache bedienen dürfen. Das
genetische Prinzip soll zu wissenschaftlichem Denken hinführen.99
Das genetische Prinzip ist bei Felix Klein noch unausgereift. Eine methodische
Ausgestaltung dieses „genetischen Unterrichts“ wurde in den 60er und 70er Jahren des 20.
Jahrhunderts von M. Wagenschein und A. Wittenberg durchgeführt.100
Das genetische Prinzip ist auch heutzutage noch ein wichtiges didaktische Prinzip.101 Prof.
Dr. Martin Bruns und Prof. Dr. Peter Bender von der Universität Paderborn legen ihren
Studenten diese Methode nahe. Für Herrn Bruns ist dabei besonders das dialogische
Gespräch die leitende Prämisse. Die Schüler haben „altes Wissen“. Durch das dialogische
Gespräch entsteht „neues Wissen“.
Ein weiterer Gesichtspunkt zu diesem didaktischen Prinzip: Die Geschichte an sich zeigt
Genese. Deshalb halte ich eine Veranstaltung wie „Geschichte der Mathematik“ besonders
für Lehramtstudenten für wichtig, aber auch für Schüler. Felix Klein forderte,
geschichtliche Aspekte mit in den Unterricht aufzunehmen.102
Neben dem genetischen vertritt Klein ein psychologisches Prinzip. Es soll der „Lehrgang
mehr als bisher dem natürlichen Gang der geistigen Entwicklung“ angepasst werden.103
Hier spielt das genetische Prinzip mit hinein. Der Geometrieunterricht soll an die
natürliche Anschauung anknüpfen und Beweise erst später verwendet werden.104 Abstrakte
Beweise sollen auf höhere Klassen verschoben werden.105
Schließlich führt Klein noch ein utilitaristisches Prinzip an. Damit meint er, dass die
Schüler „die Fähigkeit zur mathematischen Betrachtung der uns umgebenden
Erscheinungswelt zur möglichsten Entwicklung bringen“.106 Die Schüler sollen erkennen,
98
Schuberth, S. 85 f..
Schuberth, S. 77 ff..
100 Schuberth, S. 68.
101 Siehe zum Beispiel Kronfellner, Manfred: Historische Aspekte im Mathematikunterricht. Eine
didaktische Analyse mit unterrichtspraktischen Beispielen (Schriftreihe Didaktik der Mathematik Band 24),
Wien 1998, S. 12-16 und Wittmann, Erich: Grundfragen des Mathematikunterrichts, Braunschweig 1974, S.
97-106 und S. 110.
102 Klein, Felix: Abhandlungen über den mathematischen Unterricht in Deutschland, S. VIII: „stärkere
Betonung der geschichtlichen Entwicklung“.
103 Meraner Beschlüsse, S. 208.
104 Meraner Beschlüsse, S. 216.
105 Meraner Beschlüsse, S. 209.
106 Meraner Beschlüsse, S. 208.
99
25
dass Mathematik und auch der Mathematikunterricht nützlich für sie sind, dass
Mathematik eine große Bedeutung für sie im Alltag hat.
Aufgaben des Mathematikunterrichts sollen aus dem bürgerlichen Leben entstammen und
wirkliche Verhältnisse wiederspiegeln.107 Klein schlägt vor, die negativen Zahlen durch
Beispiele aus der Praxis einzuführen, wie etwa durch Schulden, die man bei einer Bank
hat.108 Diese praxisbezogene Einführung der negativen Zahlen, sei es durch das
Kontomodell, das Wasserstandsmodell oder das Temperaturmodell, findet sich heutzutage
in nahezu allen Schulbüchern wieder. Auch Herr Bruns schlägt in seiner Veranstaltung
Didaktik der Arithmetik eine solche Einführung der negativen Zahlen in den Unterricht
vor.
Anwendungsbezug
und
Praxisorientierung
sind
heute
wichtige
Prinzipien
des
Mathematikunterrichts. Dadurch wird die Aufgabe interessant für den Schüler und
bekommt Bedeutung für ihn. Das hat zur Folge, dass der Schüler besser lernt.
Prof. Dr. Gerhard Tulodziecki, Professor der Universität Paderborn, nennt als zwei
Merkmale einer guten Aufgabe, dass sie „auf die Erfahrungs- und Vorstellungswelt der
Jugendlichen bezogen“ sein soll und „ein Bedürfnis bei den Jugendlichen ansprechen
[soll], da sie nur dann Bedeutsamkeit erhält und zu einem Handlungsziel führt, sie lernend
zu bewältigen“.109 Das stimmt mit Felix Kleins Vorstellungen überein.
107
Meraner Beschlüsse, S. 216.
Meraner Beschlüsse, S. 217.
109
Tulodziecki, Gerhard: Unterricht mit Jugendlichen. Eine handlungsorientierte Didaktik mit
Unterrichtsbeispielen, 3. Auflage Bad Heilbrunn 1996, S. 86.
108
26
6 Die Umsetzung und die Bedeutung von Kleins Vorstellungen
In diesem letzten Kapitel möchte ich aufzeigen, welche Wirkungen Kleins Vorstellungen
zur Verbesserung des mathematischen Unterrichts – insbesondere natürlich die Meraner
Beschlüsse - an Gymnasien gehabt haben. In welchem Umfang und wann wurden sie in
die Tat umgesetzt? Des Weiteren soll die Gesamtleistung Felix Kleins für den
mathematischen Unterricht gewürdigt werden.
Felix Klein vertrat einen Großteil der Reformvorschläge der Meraner Beschlüsse von 1905
in den folgenden Jahren weiter vehement. Hierzu gehören insbesondere die Lehrziele
„Verbesserung des Anschauungsvermögens“ und „Erziehung zum funktionalen Denken“,
das inhaltliche Ziel der Einführung der Infinitesimalrechnung in den Unterricht der
höheren Schulen und die Methode des „genetischen Unterrichts“.
Durch das Erwerben neuer Positionen und Ämter im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts
war es Klein möglich, großen Einfluss auf Entscheidungsträger auszuüben und schließlich
seine Vorstellungen zu verwirklichen. So war er unter anderem seit 1894 Mitglied im
„Verein zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts“
(Ehrenmitglied ab 1917), Leiter des Unterausschusses für Lehrerbildung des „Deutschen
Ausschusses für mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht“ (DAMNU) seit
1908 (Ehrenmitglied ab 1919), Mitglied des preußischen Herrenhauses als Vertreter der
Universität Göttingen (ab 1908) und Vorsitzender der „Internationalen Mathematischen
Unterrichtskommission“ (IMUK) seit 1908. In allen diesen Funktionen beeinflusste Klein
diese Organisationen durch seine Vorstellungen maßgeblich.110
Wann und in welchem Umfang konnten Kleins Vorstellungen nun verbindlich umgesetzt
werden?
In der Unterrichtsrealität gab es in der Zeit von 1905-1925, also direkt nach
Bekanntwerden der Meraner Beschlüsse, eine starke Orientierung an diesen, was an der
Reformfreudigkeit vieler höherer Schulen lag. Rein rechtlich und formal wurden in
anderen Ländern des Deutschen Reiches höhere Schulen in Baden (1912), Württemberg
(1912), Bayern (1914) und teilweise in Hessen viel früher als in Preußen im Sinne der
Meraner Lehrpläne umgestaltet.111
In Preußen arbeitete der DAMNU neue Lehrpläne für den Mathematikunterricht noch
während des 1. Weltkrieges aus, die 1922 als „Neue Lehrpläne für den mathematischen
110
111
Tobies, S. 78-85 und S. 96.
Inhetveen, S. 91.
27
und naturwissenschaftlichen Unterricht an den höheren Lehranstalten“ erschienen.112 Sie
werden als „revidierte Meraner Lehrpläne“ bezeichnet, da einige wenige Punkte verändert
worden sind, zum Beispiel allzu vorsichtige Formulierungen.113 Die Infinitesimalrechnung
sollte beispielsweise nun verbindlich eingeführt werden.
Die 1922 erschienenen Lehrpläne bildeten die Grundlage für die 1925 herausgegebenen
Richertschen Lehrpläne, die neuen, offiziellen preußischen Lehrpläne. Diese stimmten
weitgehend mit den Meraner Lehrplänen überein und bildeten so einen Abschluss der
Reform.114
Dieser neue Lehrplan, der also im Großen und Ganzen mit dem Meraner Lehrplan
übereinstimmte, blieb im Wesentlichen bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts
erhalten.115 Ausgelöst durch den Sputnik-Schock, der die wissenschaftlich-technische
„Rückständigkeit der kapitalistischen Mächte“ verdeutlichte, kam es zu der bislang letzten
großen Reform des mathematischen Unterrichts.116 Diese zeichnet sich durch eine Reihe
grundlegender Änderungen des Lehrplans aus. Besondere Bedeutung erhalten die
Mengenlehre und der Strukturbegriff (Gruppe, Ring, …).117 Die Taylor-Formel und die
darstellende Geometrie fielen u.a. weg.118 Für allgemein bildende Schulen sind die KMKEmpfehlungen seit 1972 verbindlich.119 Welche große Bedeutung die Meraner Beschlüsse
für den heutigen Lehrplan und welchen Niederschlag sie darin finden, wurde in dieser
Arbeit in den Kapitel 3-5 bereits besprochen.
Felix Kleins Beitrag zur Umgestaltung des mathematischen Unterrichts an höheren
Schulen war so groß, dass in der Literatur immer wieder der Begriff „Kleinsche Reform“
auftaucht und synonym für die gesamte Reformbewegung verwendet wird. Das allein
verdeutlicht seine hervorragenden Leistungen und Verdienste auf dem Gebiet der
Schulmathematik. Zweifellos war er der bedeutendste „subjektive Faktor“ der
Reformgeschichte.120 Dennoch kann man ihn nicht als alleinverantwortlich für die
Reformen zeichnen.121 Als Einzelkämpfer konnte Klein vermutlich wenig erreichen. Die
reformbeteiligten Gruppen, in denen Klein oftmals Mitglied und manchmal sogar
Vorsitzender war, wie DAMNU, IMUK, der Förderverein oder die Breslauer
112
113
114
115
116
117
118
119
120
121
Inhetveen, S. 89.
Schuberth, S. 15.
Inhetveen, S. 89 und Schuberth, S. 15.
Kaiser, S. 298.
Inhetveen, S. 237.
Inhetveen, S. 239.
Inhetveen, S. 239.
Inhetveen, S. 240.
Inhetveen, S. 133.
Inhetveen, S. 133.
28
Versammlung der Naturforscher, sind für das Zustandekommen der Veränderungen auch
wichtig. Ohne die Hilfe dieser Gremien, die Klein teilweise selbst initiiert oder geschaffen
hat, wären Reformen nicht herbeizuführen gewesen. Felix Klein war aber die Lichtgestalt
und hervorstechende Persönlichkeit innerhalb dieser Gruppierungen. Die Meraner
Beschlüsse zum Beispiel trugen ganz eindeutig seine Handschrift122 und gehen auf seine
Anregung zurück.123
Kleins große Leistung für den mathematischen Unterricht wurde insbesondere in Göttingen
gewürdigt. Dort erhielt die 1890 gegründete „Kaiser Wilhelm II. Realschule“ am 30. April
1949 den Namen „Felix-Klein-Oberschule“, ab 1956 dann „Felix-Klein-Gymnasium“
(kurz: FKG).
Zum Gymnasium gehört auch die „Felix-Klein-Gymnasium Halle“, eine Sporthalle, die ca.
1200 Besuchern Platz bietet. Ich selbst war am 1. April diesen Jahres in dieser Halle als
Zuschauer des Basketballspiels BG Göttingen-Paderborn Baskets. Paderborn konnte 93:91
gewinnen und somit fünf Spieltage vor Saisonende den Aufstieg in die 1. Liga perfekt
machen.
122
123
Spangenberg, S. 19.
Kaiser, S. 67.
29
Schluss
Felix Klein wollte den Mathematikunterricht grundlegend verbessern. Dazu formulierte er
zunächst zwei Sonderaufgaben, die ein guter Mathematikunterricht erfüllen sollte:
Stärkung des Anschauungsvermögens und Erziehung zum funktionalen Denken.
Besonders auf die Anschauung legte Klein Zeit seines Lebens Wert. Sie sollte
Ausgangspunkt der Schulmathematik sein. Trotzdem ist das logische Element, zu dem
unter anderem auch mathematische Beweise gehören, in keinem Fall zu vernachlässigen.
Inhaltlich ist der Funktionsbegriff der Kern des Mathematikunterrichts. Er soll sich durch
alle Jahrgangsstufen wie ein roter Faden ziehen. Gleiches gilt für die Raumlehre, die
ebenfalls in jeder Klasse von der Unter- bis zur Oberstufe behandelt werden sollte. Zudem
plädierte Klein vehement für die Einführung der Differential- und Integralrechnung in den
Oberstufenunterricht der Gymnasien.
Der Unterricht soll nach Kleins Auffassung genetisch gestaltet werden, das heißt, die
Schüler sollen Schritt für Schritt lernen, indem sie immer wieder auf ihre Vorkenntnisse
und Vorerfahrungen zurückgreifen. Neben diesem didaktischen Prinzip hält Klein das
psychologische und utilitaristische Prinzip für wichtig, damit die Lehrziele erreicht werden
können.
Im Wesentlichen sind diese Ziele, Inhalte und Methoden in den Meraner Beschlüssen von
1905 zu finden. Im Großen und Ganzen traten diese 1925 als Richertsche Lehrpläne in
Preußen in Kraft.
Viele der Vorstellungen Kleins, die schon über 100 (!) Jahre alt sind, findet man in der
heutigen Schulmathematik bzw. in didaktischen Mathematikvorlesungen an Universitäten
wieder. Der Funktionsbegriff ist aus den heutigen Lehrplänen ebenso wenig wegzudenken
wie die Infinitesimalrechnung. Das genetische, psychologische und utilitaristische Prinzip
sind noch immer gebräuchliche und wichtige didaktische Prinzipien. Und auch die
Lehrziele von damals sind heute noch aktuell.
Jedoch muss man beachten, dass Inhalte, Ziele und Methoden heute viel umfangreicher
und ausgereifter sind als damals. Sie sind viel präziser und ausgefeilter formuliert. Viele
Begriffe, wie der Funktionsbegriff, sind allgemeiner als zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Felix Klein war jedenfalls der Hauptinitiator, der dafür gesorgt hat, dass diese Ziele,
Inhalte und Methoden überhaupt Einzug in den mathematischen Unterricht gefunden
haben. Das ist seine große Leistung für die Schulmathematik.
30
Quellenverzeichnis
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Schimmack, Rudolf: Vorträge über den mathematischen Unterricht an den höheren
Schulen, Teil 1: Von der Organisation des mathematischen Unterrichts, Leipzig 1907,
S. 208-220.
Klein, Felix: Abhandlungen über den mathematischen Unterricht in Deutschland, hrsg. von
Felix Klein, Band 2: Die höheren Schulen in Süddeutschland und Mitteldeutschland,
Leipzig und Berlin 1913.
Klein, Felix: Elementarmathematik vom höheren Standpunkt aus, Band I: Arithmetik,
Algebra, Analysis, 3. Auflage Berlin 1925 (ND 1968).
Klein, Felix und Schimmack, Rudolf: Vorträge über den mathematischen Unterricht an den
höheren Schulen, Teil 1: Von der Organisation des mathematischen Unterrichts, Leipzig
1907.
31
Literaturverzeichnis
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Festschrift zum 100-jährigen Jubiläum des Felix-Klein-Gymnasiums, Göttingen 1990,
S. 29-35.
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1914. Eine sozioökonomische Analyse, Bad Heilbrunn 1976.
Kaiser, Hans und Nöbauer, Wilfried: Geschichte der Mathematik, 3. Auflage München
2002.
Kronfellner, Manfred: Historische Aspekte im Mathematikunterricht. Eine didaktische
Analyse mit unterrichtspraktischen Beispielen (Schriftreihe Didaktik der Mathematik Band
24), Wien 1998.
Mattheis, Martin: Die Entwicklung des höheren Schulwesens in Preußen von 1871 bis
1900, in: Der Mathematikunterricht 46 (2000), Heft 3: Felix Klein und die Berliner
Schulkonferenz des Jahres 1900, S. 5-21.
Mattheis, Martin: Felix Kleins Gedanken zur Reform des mathematischen Unterrichts vor
1900, in: Der Mathematikunterricht 46 (2000), Heft 3: Felix Klein und die Berliner
Schulkonferenz des Jahres 1900, S. 41-61.
Mattheis, Martin: Zur Einführung, in: Der Mathematikunterricht 46 (2000), Heft 3: Felix
Klein und die Berliner Schulkonferenz des Jahres 1900, S. 3-4.
Popplow, Ulrich: Felix Klein – Lebensweg und Persönlichkeit, in: Festschrift zum 100jährigen Jubiläum des Felix-Klein-Gymnasiums, Göttingen 1990, S. 23-28.
Schuberth, Ernst: Die Modernisierung des mathematischen Unterrichts. Ihre Geschichte
und Probleme unter besonderer Berücksichtigung von Felix Klein, Martin Wagenschein
und Alexander I. Wittenberg, Stuttgart 1971.
32
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Festschrift zum 100-jährigen Jubiläum des Felix-Klein-Gymnasiums, Göttingen 1990,
S. 18-22.
Tietze, Uwe-Peter; Klinka, Manfred und Wolpers, Hans: Mathematikunterricht in der
Sekundarstufe II, Band 1: Fachdidaktische Grundfragen – Didaktik der Analysis,
Braunschweig/Wiesbaden 1997.
Tobies, Renate: Felix Klein (Biographien hervorragender Naturwissenschaftler, Techniker
und Mediziner Band 50), Leipzig 1981.
Tobies, Renate [2]: Felix Klein und der Verein zur Förderung des mathematischen und
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Klein und die Berliner Schulkonferenz des Jahres 1900, S. 22-40.
Tulodziecki, Gerhard: Unterricht mit Jugendlichen. Eine handlungsorientierte Didaktik mit
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Wittmann, Erich: Grundfragen des Mathematikunterrichts, Braunschweig 1974.
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http://www.hillebrand.de/familie/felix_klein/bibliographie.html (30.04.2006).
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