21-Auswanderung - Rheingau

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Die Auswanderung aus Johannisberg in nassauischer Zeit
(1806-1866)
Im 19. Jahrhundert wurde auch das Herzogtum Nassau von mehreren Auswanderungswellen
erfasst, die vorwiegend wirtschaftlich, besonders nach der gescheiterten 48-er Revolution aber
auch politisch motiviert waren. Namentlich sind über 900 Rheingauer bekannt, die zwischen
1806 und 1866 aus dem Herzogtum auswanderten. Bei vorsichtiger Schätzung sind das mit
ihren Familienangehörigen ca. 2700 Personen, was in etwa der Einwohnerzahl von
Geisenheim im Jahre 1865 entspricht. Bevorzugtes Zielland war für die Rheingauer
Australien (ca. 60 Prozent)1, gefolgt von Nordamerika (ca. 35 Prozent) und einigen anderen
Ländern, wie zum Beispiel Argentinien, Brasilien, Chile und Algerien. Bevorzugtes
Auswanderungsziel in Nordamerika war der Staat Texas. Dort war nämlich der Geisenheimer
Gustav Dresel seit 1847 als nassauischer Generalkonsul tätig. Aus dem Amt Rüdesheim, in
dem auch das Dorf Johannisberg, lag wanderten in dem genannten Zeitraum mehr als 600
namentlich bekannte Bürger aus, allein 1855 waren es über 100. Johannisberg selbst
verließen, soweit wir wissen, zwischen 1845 und 1858 zehn Ledige und sechs Familien.2
Insbesondere die 1850-er Jahre müssen als wahre Notstandsjahre im Herzogtum angesehen
werden. 1853/54 kam es zu einer verheerenden Getreide- und Kartoffelfäule, dazu kamen
schlechte Weinjahre. Selbst bis dahin recht vermögende Gutsbesitzer wurden durch die
nassauische Zehntablösung ab 1840 in den Konkurs getrieben. Im „Rheingauer Bürgerfreund“
vom 1. Oktober 1851 ist denn auch zu lesen: „So ist es auch bei unseren wanderungslustigen
Mitbürgern in den meisten Fällen ein Mangel an Nahrungsmitteln, was sie forttreibt (...)“ oder
am 18.Januar des folgenden Jahres: „Dem Bürgersmanne mangelt es, selbst der Reichere
klagt und fühlt die Noth (...).“ In Geisenheim verfloss die Nachkirmes 1856 „sehr lauffaul.“
„Kein Wunder, wenn man die“ –einzufügen ist miserablen- „Zeiten und Verhältnisse
bedenkt“, wie der Kommentator des Blattes am 17.Mai bemerkte.
Die nassauischen Behörden, die der Auswanderung ihrer Bürger zunächst ablehnend
gegenüber standen, mussten einsehen: „Auswanderungen können nicht mit Zwang verhindert
werden“, wie in der Zeitung am 5. April 1854 ausgeführt wurde.
Abbildung 1: Auswanderungsanzeige aus dem „Rheingauer Bürgerfreund“ vom 30.6.1852.
Dabei war der Vorgang der Auswanderung eine langwierige und kostspielige Prozedur, deren
Ausgang durchaus unsicher war. Im „Rheingauer Bürgerfreund“ erschien am 23.April 1854
eine regierungsamtliche Bekanntmachung, in der die Regularien der Auswanderung in allen
Details mitgeteilt wurden. Zunächst musste der Auswanderungswillige eine Bescheinigung
eines aufnahmebereiten Landes vorlegen können. Dann musste über den Schultheiß (ab 1849
Bürgermeister) die Entlassung aus dem nassauischen Untertanenverband beantragt werden.
Wenn dieser keine Einwände, zum Beispiel weil der Antragsteller noch Schulden hatte,
geltend machte, wurde das Gesuch an den zuständigen Amtmann weitergeleitet. Für die
beantragte Entlassungsurkunde war im vorhinein ein Stempelgeld von zwölf Gulden zu
entrichten, das war fast ein Zehntel des Jahreslohnes einer Magd. Wenn dann die
übergeordnete Behörde keine Vorbehalte gegen die geplante Auswanderung vorbrachte,
wurde im nassauischen Intelligenzblatt eine Anzeige veröffentlicht, in der der
Auswanderungsbereite seinen Namen, sein Alter, seinen Wohnsitz und sein Zielland nannte.
Inzwischen musste er mit einem Auswanderungsagenten, oft böswilligen und raffgierigen
Menschen, die die Auswanderer gerne ausnutzten, einen Reisekontrakt abschließen. 1851/52
kostete zum Beispiel der Transfer von Biebrich nach Rotterdam für einen Erwachsenen einen
Gulden und 52 Kreuzer und von dort in die Vereinigten Staaten noch einmal 65 Gulden im
Winter und 75 Gulden im Sommer. Darin enthalten war bei diesen Angebot die Beköstigung
an Bord, die jedoch in der Regel sehr dürftig war. 1854 zahlte man für einen Malter (= 100
kg) Weizen in Bingen 18 Gulden und zwölf Kreuzer. Die beschwerliche, mehrwöchige
Überfahrt brachte dann die Auswanderer an ihr Zielland. Dort empfing sie oft ein nicht
weniger ausbeuterischer Agent, der sie an ihren endgültigen Bestimmungsort brachte. Um den
Unannehmlichkeiten mit den nassauischen Behörden aus dem Weg zu gehen und sich
etwaigen Gläubigern zu entziehen, verließen nicht wenige Menschen, von denen uns heute in
der Regel jegliche Nachricht fehlt, illegal das Land.
Abbildung 2: Auswanderertransport nach Nordamerika. Holzstich 1857.
Der erste Johannisberger Auswanderer, der uns bekannt ist, ist Georg Friedrich Kunz, der sich
1845 als 27-jähriger mit der „Washington“ nach Texas einschiffte.
Ihm folgten 1849 der Müller Brambach und der Schafhirte Aumüller, die das Land Richtung
Australien verließen. Schafhirten wurden dort für die riesigen Schafsfarmen sehr gesucht, so
dass man diesen mitunter sogar die freie Überfahrt anbot. Der erst 19-jährige Aumüller setzte
mit dem Schiff „Beulah“ von London nach Sydney über und siedelte sich in Neu-Südwales
an, wo er 1859 naturalisiert wurde. Dort war A.A. Dangar sein Arbeitgeber, der 1852 seinen
Schafhirten ein Jahresverdienst von 14 englischen Pfund bot. Dangar besuchte 1854 auf einer
Deutschlandreise, über die er ein Tagebuch niederschrieb, auch Johannisberg, wo er Winzer
für sein Weingut anwarb. Darunter vermutlich den 21-jährigen Ignatz und den 24-jährigen
Karl Gietz, die am 23. September 1854 nach Australien auswanderten. Der heute
weltberühmte Weinbau von Neu- Südwales geht im wesentlichen auf das Wirken Rheingauer
Winzer zurück. Australien war auch das Ziel von Georg Gerstadt und seiner Familie, die am
30. Oktober 1851 das Herzogtum verlassen hatten. Ebenfalls emigrierten Simon Kranz am 17.
April und Nikolaus Martin am 21. Juli 1857 nach dem Fünften Kontinent. Martin heiratete
1865 in Sydney Agnes Artz aus Wollmerschied.
Nach Nordamerika wanderte am 7. August 1852 Gerhard, der Sohn von Wendelin Gietz, mit
seiner Familie aus. Ihm folgte am 16. Oktober 1854 seine Schwester Margarethe mit ihrem
Ehemann, der aus Wollmerschied stammte. Im Jahre 1852 verließ auch Jacob Gietz mit seiner
Familie das Dorf. Am 10. August 1854 kehrte Johann Gerstadt mit seiner Familie
Johannisberg für immer den Rücken. Der letzte bekannte Auswanderer nach Nordamerika in
nassauischer Zeit war 1858 der Witwer Konrad Bieger.
Zu den ersten Emigranten aus Johannisberg gehören ferner die Schwestern Catharina und
Franziska Bieger, die 1849 vermutlich auch nach Nordamerika ausgewandert sind.
Der prominenteste Auswanderer aus Johannisberg war sicherlich Wendelin Gietz (17971867), dessen Lebensgeschichte sehr gut dokumentiert ist.3 Der Auswanderer, dessen Familie
seit Beginn des 17. Jahrhunderts in Johannisberg ansässig war, amtierte 1827 bis 1830 und
1848 bis 1851 als politisches Oberhaupt der Gemeinde. Schon sein Großvater und sein Vater
hatten in Johannisberg das Schultheißenamt bekleidet. Wendelin Gietz, ein durchaus
begüterter Mann, dem die „Elstermühle“, eine Mahl- und Ölmühle, und einige Äcker und
Grundstücke in den Gemarkungen von Johannisberg, Geisenheim und Winkel gehörten,
entschloss sich Anfang 1855 aus persönlichen und wirtschaftlichen, vielleicht auch
politischen Gründen zur Auswanderung. Ende 1854 waren innerhalb von drei Monaten seine
Frau und sein ältester Sohn gestorben sowie seine älteste Tochter ausgewandert, nachdem sein
zweitältester Sohn schon zwei Jahre zuvor das Land verlassen hatte. Außerdem war er 1854
mit allen seinen Immobilien in Konkurs geraten. Seine Resignation als Bürgermeister 1851
kann durchaus politisch bedingt sein.
Abbildung 3: Wendelin Gietz (Foto im Besitz von Wendel Gietz)
Wendelin Gietz war ein vom Schicksal gezeichneter Mann, als er 58-jährig mit einer
Haushälterin, drei Kindern und einem Neffen am 19. April 1855 das Herzogtum in Richtung
Dünkirchen verließ. Von dort ging die Seereise
in 75 Tagen nicht wie in der
Auswanderungsannonce angegeben nach Australien, sondern nach Argentinien. Dort suchte
die Regierung in Santa Fe seit 1853 „tausend ehrbare und hart arbeitende Bauern“ für die
Besiedelung der Pampa, wie es in dem Ansiedlungsvertrag hieß. Gietz wurde mit anderen
Siedlern 1856 der Kolonie La Esperanza, der ältesten kontinuierlich bestehenden Siedlung des
Landes, zugewiesen. Der Ansiedlungsagent Aaron Castellanos, ein Spanier, hatte die Summe
von 1200 Francs für die Überfahrt gegen eine Rückzahlung in drei Jahren zu einem Zinssatz
von 10 Prozent vorgelegt. Die Regierung von Santa Fe stellte jeder Siedlerfamilie Zucht- und
Arbeitstiere, Saatgut, einige Grundnahrungsmittel sowie ein beträchtliches Stück Land und
ein Zweizimmer- Haus zur Verfügung. Diese Sachleistungen sollten zinslos in zwei Jahren
abbezahlt werden. Dazu sollten die Siedler fünf Jahre lang ein Drittel ihrer Ernte an
Castellanos abtreten. Eine allzu große Belastung, wie sich herausstellen sollte. Die Regierung
mußte eingreifen und die Forderungen des Siedlungsagenten gegen eine großzügige
finanzielle Abfindung ablösen. Trotz dieser Unterstützung durch die Regierung überlebte die
Kolonie die ersten vier Jahre nur gerade so. Viele Kolonisten verließen ihr Land und zogen in
die Städte. Nach harten Anfangsjahren blühte Esperanza erst allmählich auf. Ende der 1880-er
Jahre wurde es zu einer der reichsten Gemeinden Argentiniens, deren Vermögen auf zwei
Millionen Goldpesos geschätzt wurde. Dank seiner kaufmännischen Kenntnisse und seiner
kommunalpolitischen Erfahrung war Wendelin Gietz maßgeblich an dem Aufbau und der
Ausgestaltung der jungen Kolonie beteiligt, so zum Beispiel als Mitglied des Stadtrats. Die
Kinder von Wendelin Gietz und sein Neffe etablierten sich rasch in der neuen Heimat. Sie
gründeten eine Tochterkolonie von Esperanza, wirkten in verschiedenen kommunalen Ämtern
und gaben eine Lokalzeitung heraus. Die Familie Gietz genoss ein hohes öffentliches
Ansehen und galt als tatkräftig und fortschrittlich. Noch heute leben und wirken Mitglieder
dieser Familie in Argentinien. Wendelin hatte Recht, als er 1859 an seine in Johannisberg
gebliebene Schwester schrieb: „Wir haben alle Freiheiten, die wir uns nur wünschen mögen.
Die Colonie verschönert sich mit jedem Tag.“ Die Familie Gietz hatte ihr Glück in der neuen
Heimat gefunden.
Vgl. Patricia CLOOS and Jürgen TAMPE: „Greetings from the land where milk and honey flows”. The german
emigration to New-South-Wales. Canberra o.J.
2
Vgl. Wolf-Heino STRUCK: Die Auswanderung aus dem Herzogtum Nassau (1806-1866). Wiesbaden 1966.
3
Vgl. Walter HELL: Die Auswanderung des Wendelin Gietz aus Johannisberg im Rheingau nach Argentinien
(1855)- Ein bemerkenswertes Einzelschicksal. In: Nassauische Annalen. Bd. 113 (2002), S. 395-407
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