SS 2014 Prof. Dr. Hans-Werner Hahn Vorlesung: Zwischen Revolution und deutscher Reichsgründung 1871: Europäische Geschichte 1848-1871. 7. Der Krimkrieg und die Erosion der Wiener Ordnung Literatur: Winfried BAUMGART, Der Friede von Paris, München 1972. DERS., Europäisches Konzert und nationale Bewegung. Internationale Beziehungen 1830-1878, 2. Aufl. Paderborn 2007. Ludwig DEHIO, Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte, 1948, Neuauflage Zürich 1996. Anselm DOERING-MANTEUFFEL, Die deutsche Frage und das europäische Staatensystem 1815-1871, München 1993. Klaus HILDEBRAND, Die "Krimkriegssituation" - Wandel und Dauer einer historischen Konstellation der Staatenwelt, in: Deutschland in Europa. Gedenkschrift f. Andreas Hillgruber, hrsg. v. Jost Dülffer u. a., Berlin 1990, S. 3751. Paul KENNEDY, Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000. Frankfurt a. M. 1989. Jörn LEONHARD, Bellizismus und Nation. Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750-1914, München 2008. Matthias SCHULZ, Normen und Praxis. Das europäische Konzert der Großmächte als Sicherheitsrat 1815-1860, München 2009. I. Europäisches Mächtesystem im Wandel: In den fünfziger Jahren vollzogen sich entscheidende Veränderungen in den Beziehungen der europäischen Mächte. Damit wurden einerseits die außenpolitischen Voraussetzungen für die Entstehung neuer Nationalstaaten (Italien, Deutschland) geschaffen. Andererseits wirkten die außenpolitischen Veränderungen auch auf die Innenpolitik der europäischen Staaten zurück. Die vom System der Pentarchie und dem Prinzip des Gleichgewichts geprägte Ordnung des Wiener Kongresses hatte bis 1850 alle Herausforderungen noch einigermaßen überstanden. Nach der Revolution von 1848/49 machten sich jedoch verschiedene neue Elemente immer stärker bemerkbar, die das 1815 geschaffene Staatensystem stark unter Druck setzten. 1. Zwischen den beiden deutschen Großmächten Österreich und Preußen gab es ein neues Rivalitätsverhältnis. Es war unklar, ob der Deutsche Bund auf Dauer seine Funktion als Schlussstein des Gleichgewichtssystems erfüllen würde. 2. Aufgrund unterschiedlicher Machtinteressen auf dem Balkan kam es zu wachsenden Spannungen zwischen Österreich und Russland. 1 3. Napoleon III. brauchte zumindest langfristig außenpolitische Erfolge, um sein autoritäres Herrschaftssystem zu stabilisieren, und wollte deshalb auf Dauer die Ordnung von 1815 nicht akzeptieren. Während die meisten europäischen Konservativen mit großen Bedenken auf diese Bestrebungen reagierten, plädierte der preußische Bundestagsgesandte von Bismarck bald dafür, sich ganz am "gesunden Staatsegoismus" zu orientieren und notfalls gemeinsam mit dem neuen Frankreich Preußens Ansprüche gegen Österreich durchzusetzen. 4. Die öffentliche Meinung spielte für die Außenpolitik der einzelnen Mächte eine zunehmend wichtigere Rolle. Dies galt vor allem für Großbritannien. Hier zeigte man in der öffentlichen Meinung zum einen wachsende Sympathien für die liberalen Bewegungen in anderen Teilen Europas, also für die Kräfte der Veränderung. Dies trug zum Normwandel im Mächtesystem bei. Zum anderen verlangte man in der öffentlichen Meinung Großbritanniens aber vor allem eine Außenpolitik, die ganz an den britischen Interessen orientiert war und diese nicht durch eine zu starke Einbindung in Mächtesysteme (multilaterales Europa). beeinträchtigen sollte. 5. Auch die wirtschaftlichen Fragen und Interessen wurden mit dem Durchbruch der Industrialisierung und der wachsenden weltwirtschaftlichen Verflechtungen wichtiger für die Außenpolitik. Dies galt besonders für Großbritannien. 6. In den europäischen Gesellschaften der Jahrzehnte zwischen 1850 und 1870 wuchs die Bereitschaft, die jeweiligen außen- und innenpolitischen Zielsetzungen auch mit Gewalt durchzusetzen, d. h. in Kriegen, die mit den Interessen der Nation oder der zivilisatorisch-religiösen Mission des entsprechenden Landes gerechtfertigt wurden. II. Der Beginn des Krimkrieges: Die neuen Konstellationen traten im Krimkrieg offen hervor. Auslösendes Element dieses Krieges war die orientalische Frage, also die Frage nach dem Erhalt, der Zurückdrängung oder der Auflösung des Osmanischen Reiches. Der damit einhergehende Kampf um die Vorherrschaft auf dem Balkan und im Mittelmeer tangierte alle europäischen Mächte mit Ausnahme von Preußen. Wichtig war vor allem das russische Interesse, seine Einflusszonen auf Kosten des Osmanischen Reiches auszudehnen und die Kontrolle über die Meerengen zwischen dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer zu erhalten. Im Meerengenvertrag von 1841 war die Durchfahrt von Kriegsschiffen in Friedenszeiten untersagt worden. Russland strebte unter Nikolaus I. eine Ausweitung seiner Macht im Orient an. Dies stieß vor allem auf Widerstand Englands, aber auch Frankreichs und Österreichs. Anlass des Krimkrieges war ein Streit um die heiligen Stätten der Christenheit. Russlands Forderungen nach Privilegien für die orthodoxen Christen stellte Napoleon III. nun (auch aus innenpolitischen Motiven) einen eigenen Schutzanspruch gegenüber den katholischen Interessen im Heiligen Land entgegen. Das „Mönchsgezänk“ im Heiligen Land bildete aber nur einen Vorwand. Dem Zaren ging es vor allem um eine Art Protektorat über das Osmanische Reich. Nachdem der Sultan 1853 weit reichende Forderungen des 2 russischen Unterhändlers Menschikow abgelehnt hatte, rückten russische Truppen im Sommer 1853 in die Donaufürstentümer Moldau und Walachei ein. Sultan Abdul Medschid, der sich der Unterstützung durch die westlichen Mächte sicher war, erklärte am 4. Oktober 1853 daraufhin Russland offiziell den Krieg. Nach schweren Niederlagen der türkischen Truppen griffen am 28. März 1854 Großbritannien und Frankreich in die Auseinandersetzungen ein. Großbritannien, wo sich in der Öffentlichkeit eine antirussische Stimmung aufbaute, sah vor allem die eigenen Machtinteressen gefährdet. Napoleon III. sah eine willkommene Gelegenheit, die Stellung Frankreichs zu stärken und bessere Voraussetzungen für die Revision der Ordnung von 1815 zu schaffen. Am 27./28 1854 März erfolgte die englisch-französische Kriegserklärung an Russland. Im Juni 1854 landeten französische und britische Truppen bei Warna. III. Folgen für die deutsche Politik: Für die deutschen Staaten ergab sich eine schwierige Situation. Österreich war einerseits ein langjähriger Partner Russlands gewesen, hatte andererseits aber eigenen Machtinteressen auf dem Balkan. Außenminister Buol-Schauenstein versuchte zunächst eine Vermittlungsaktion. Ziel war es, den Status quo zu erhalten. Das bedeutete aber auch: russischer Rückzug aus den Donaufürstentümern. Preußen, wo Prinz Wilhelm und die Wochenblattpartei gegen die zu vorsichtige Krim-Politik von König und Regierung Front machten, schloss sich zunächst der österreichischen Politik an. Im April 1854 kam es zu einem preußisch-österreichischen Schutz- und Trutzbündnis, das die Forderung nach Räumung der Donaufürstentümer wiederholte und dem später auch die anderen deutschen Staaten beitraten. Es zeigte sich aber, dass selbst viele traditionelle Parteigänger Österreichs wenig Lust verspürten, sich über den Deutschen Bund für die Habsburger Großmachtpolitik instrumentalisieren zu lassen. Darüber hinaus nutzte Preußen die Chance, sich als Schutzmacht der klein- und mittelstaatlichen Friedensinteressen aufzuspielen. Das vor allem eigene Interessen verfolgende Österreich erlitt innerhalb des Deutschen Bundes einen gewissen Prestigeverlust. IV. Der weitere Verlauf des Krim-Krieges: Nachdem Zar Nikolaus I. im Sommer 1854 neue Forderungen der Westmächte und Österreichs abgelehnt hatte, weil sie auf eine zu große Schwächung der russischen Schwarzmeerposition hinausliefen, verstärkten Franzosen und Engländer ihre militärischen Operationen. Hierzu zählte vor allem die Belagerung der russischen Festung Sewastopol, die sich ein Jahr hinzog und besonders auf russischer Seite hohe Opfer forderte. Anfang Dezember 1854 geriet Russland weiter unter Druck, weil Österreich jetzt durch einen Allianzvertrag auf die Seite der Westmächte trat. Österreich hatte im August 1854 nach Absprache mit der Türkei und den Westmächten Truppen in die von Russland geräumten Donaufürstentümer verlegt, um den Status quo zu sichern, griff aber darüber hinaus nicht in die Kämpfe ein, es band jedoch russische Kräfte. Im Gegenzug 3 versicherten die Westmächte der österreichischen Seite Unterstützung gegen Russland und ein Stillhalten in der italienischen Frage, bei der es um die österreichische Herrschaft in Oberitalien ging. Immerhin unterstützte das Königreich Piemont-Sardinien, das sich 1848 in Italien an die Spitze der antihabsburgischen Bewegung gestellt hatte, die französisch-britische Seite mit einem 15 000 Mann-Korps auf der Krim. Preußen blieb im Unterschied zu Österreich bei seiner neutralen Haltung und lehnte mit der großen Mehrheit der deutschen Bundesstaaten eine von Österreich geforderte Mobilmachung des Bundesheeres ab. Dies trug langfristig dazu bei, die preußische Position in Deutschland zu stärken. Am 2. März 1855 starb Zar Nikolaus I.. Sein Nachfolger Alexander II. wollte den Krieg rasch beenden, die im April 1855 in Wien aufgenommenen Friedensverhandlungen scheiterten jedoch. Nach dem Fall der Festung Sewastopol am 23. September 1855 setzten neue Verhandlungen ein, die schließlich zu einer Friedenskonferenz in Paris (Beginn 25. Februar 1856) führten. Russland, Frankreich, Großbritannien, Österreich, die Türkei und Sardinien, später auch Preußen einigten sich im April 1856 auf einen Friedensvertrag. Er beinhaltete geringe Landabtretungen Russlands im Donaudelta, die Aufnahme des Osmanischen Reiches in die europäische Staatengemeinschaft und die Garantie ihres territorialen Bestandes, die Internationalisierung der Donauschifffahrt, die Neutralisierung des Schwarzen Meeres (Russland darf keine Kriegshäfen unterhalten, das Schwarze Meer darf von Kriegsschiffen nicht befahren werden) und die Bekräftigung der Meerengenbestimmungen von 1841. V. Folgen des Krimkrieges für das europäische Mächtesystem: 1. Beschleunigte Erosion bisheriger Strukturen. Das europäische Mächtekonzert wurde zwar nicht zerstört, aber die Spannungen zwischen den Großmächten wuchsen, vor allem durch das von Napoleon III. beförderte Nationalitätenprinzip. 2. Russland war der große Verlierer, der demütigende Bedingungen hinnehmen musste und sich zunächst der inneren Modernisierung zu widmen hatte. 3. Der zweite Verlierer war Österreich, das zu hoch gepokert hatte und am Ende isoliert war. Der neue Gegensatz zu Russland wirkte lange nach. In Deutschland hatte die österreichische Politik Sympathien verloren. Zudem erwies sich Frankreich nicht als dauerhaft verlässlicher Partner, weil Napoleon III. in der Italienpolitik bald eigene Akzente setzen wollte. 4. Preußen profitierte vom Krimkrieg, weil es in Deutschland geschickt operierte und weil es durch den Krieg zur Entfremdung zwischen Russland und Österreich kam. Diese "Krimkriegssituation" begünstigte dann Bismarcks Politik in den sechziger Jahren. 5. Einer der beiden großen Gewinner der neuen Lage war Großbritannien. Es hatte seine Mittelmeerposition behauptet und sich weiter von dauerhafteren 4 Bindungen an Europa gelöst. Richtschnur waren künftig allein die britischen Interessen. 6. Den größten Erfolg verbuchte das Frankreich Napoleon des III., das nun wieder "erstklassige" Großmacht war und auch durch die Friedenskonferenz an Prestige gewonnen hatte. Napoleon hatte sich Instrumente gesichert, die er zu weiterer Revisionspolitik einsetzen konnte. Während der Friedenskonferenz kam es sogar zu einer russisch-französischen Annäherung, weil auch die neue russische Regierung (Außenminister Gortschakov) nun endgültig die Prinzipienpolitik (Politik der antirevolutionären Heiligen Allianz) zugunsten von Interessenpolitik zurücktreten ließ. Real- und Interessenpolitik wurden seit dem Krimkrieg überhaupt auch in der Außenpolitik zur wichtigsten Richtschnur der Mächte. Allianzen wurden nicht mehr auf der Grundlage gemeinsamer ideologischer Prinzipien (Heilige Allianz) geschlossen. Die neue Lage eröffnete all denen große Chancen, die auf Veränderung setzten. Dies erkannte auch Bismarck, der seine Grundeinschätzungen durch den Verlauf des Krimkrieges bestätigt sah. Im "Prachtbrief", einer außenpolitischen Denkschrift vom 26. April 1856, hat er die Konsequenzen aus der neuen Lage gezogen und Überlegungen angestellt, wie die künftigen Auseinandersetzungen mit Österreich zu führen seien. Bismarck wurde endgültig zum Pragmatiker, der sich von seinen hochkonservativen Förderern löste und auch unbefangen über die Kooperation mit Napoleon III. nachdachte. 5