7. Workshop „Ordnungsökonomik und Recht“ im Rahmen der Förderinitiative „interdisziplinäre Dozentenkolloquien“ der Hanns Martin Schleyer-Stiftung veranstaltet vom Walter Eucken Institut „Die Herrschaft der Mehrheit“ im Spannungsfeld des traditionellen Liberalismus 1. Einführung Hayek widmet sein siebentes Kapitel „ Die Herrschaft der Mehrheit“ aus der 1960 erschienenen „Verfassung der Freiheit“ einer vergleichenden Analyse des traditionellen Liberalismus und der demokratischen Bewegung. In seinen Ausführungen konstatiert er eine Dichotomie der Demokratie. Nach Hayek ist sie als Methode grundsätzlich für eine politische Willensbildung der Gesellschaft geeignet. Das Anliegen des Liberalismus zielt aber darauf ab, eine Zwangsgewalt unabhängig davon zu begrenzen, ob diese einer demokratischen Legitimation unterliegt oder nicht. Eine Überforderung der Demokratie wird deutlich, wenn von ihr erwartet wird, dass sie per se ein totalitäres Regime verhindern kann. Dies ist nur durch eine zusätzliche Beschränkung der Staatsgewalt im Sinne des traditionellen Liberalismus möglich. Dieser Argumentationsstrang Hayeks kann auf aktuelle Debatten Anwendung finden. Mehrheitlich wird durch die Politikwissenschaft auf ein Demokratiedefizit im europäischen Institutionengefüge verwiesen. Diese Kritik lenkt – obwohl in homogenen Gesellschaften wesentlich1 - von der Intention des traditionellen Liberalismus ab, den Regelrahmen einer europäischen Kompetenzhoheit insbesondere dann zu beschränken, wenn eine zunehmende Demokratisierung nicht die Nachteile diskretionärer Entscheidungen aufwiegen kann. Eine Bereinigung des Demokratiedefizits sei, so Hayek, nicht mit der Beschränkung einer staatlichen Zwangsgewalt gleichzusetzen. Es erscheint daher lohnenswert Hayeks Verfassungsmodell im Kontext der Europäischen Union zu diskutieren. 2. Dichotomie der Demokratie Die Dichotomie der Demokratie ist der Ausgangspunkt von Hayeks Ausführungen, die er in Kontrast zur Intention des „traditionellen Liberalismus“ setzt. Während Hayek zu Beginn des Kapitels eine konfliktäre Zielbeziehung zwischen den Anliegen der „demokratischen 1 Die EU ist weder als ein Repräsentationsorgan eines souverän homogenen europäischen Volkes noch als ein Bundesstaat anzusehen. Dies wurde unter anderem durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30.06.2009 bestätigt: „Solange im Rahmen einer europäischen Bundesstaatsgründung nicht ein einheitliches europäisches Volk als Legitimationssubjekt seinen Mehrheitswillen gleichheitsgerecht politisch wirksam formulieren kann, bleiben die in den Mitgliedstaaten verfassten Völker der Europäischen Union die maßgeblichen Träger der öffentlichen Gewalt, einschließlich der Unionsgewalt. Für den Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat wäre in Deutschland eine Verfassungsneuschöpfung notwendig, mit der ein erklärter Verzicht auf die vom Grundgesetz gesicherte souveräne Staatlichkeit einherginge.“, siehe Bundesverfassungsgericht (2009), S. 1. 1 7. Workshop „Ordnungsökonomik und Recht“ im Rahmen der Förderinitiative „interdisziplinäre Dozentenkolloquien“ der Hanns Martin Schleyer-Stiftung veranstaltet vom Walter Eucken Institut Bewegung“ und dem „traditionellen Liberalismus“ konstatiert, versöhnt er beide Ideale zum Ende seines Kapitels zu komplementären Zielen: „Die Demokratie ist ein Mittel zur Erhaltung der Freiheit, aber die individuelle Freiheit ist nicht weniger eine wesentliche Bedingung für das Funktionieren der Demokratie.“2 Diese komplementäre Zielbeziehung kann nur unter bestimmten Voraussetzungen erfüllt werden, auf die später genauer eingegangen werden. Den Unterschied zwischen dem traditionellen Liberalismus und der demokratischen Bewegung sieht Hayek primär in den Idealen, den Funktionen sowie den Vor- und Nachteilen: Ideal des Liberalismus ist die Begrenzung einer staatlichen Zwangsgewalt bzw. eines totalitären Systems - unabhängig davon - ob diese demokratisch legitimiert ist oder nicht. Auch das Ideal der Demokratie zielt auf eine Beschränkung der Staatsgewalt. Die Demokratie als Willensbildungsverfahren ist Ausdruck der jeweiligen Majoritätenmeinung und steht einer autoritären Regierung entgegen. Das Verfahren allein verhindert aber nicht, dass das demokratische Ideal auf Grund von Willkürherrschaft, Lobbying, Ad-hoc-Gesetzgebung oder Selbsterhaltungsinteressen von Institutionen scheitern kann. Ansatzpunkt des traditionellen Liberalisten ist daher nicht das Verfahren oder die Methode mit der eine Zwangsgewalt begrenzt werden kann, sondern das Ziel der individuellen Freiheitssicherung. Der Liberalismus kritisiert, dass die Demokratie allein als Methode nicht verhindern kann, dass Vermachtungen entstehen, die die individuelle Freiheit einschränken können.3 Eine Mehrheitsherrschaft kann nach Hayek daher im Endeffekt den liberalen Grundsätzen entgegenstehen: „Für den doktrinären Demokraten dagegen bildet die Tatsache, dass die Mehrheit etwas will, einen ausreichenden Grund, es auch für gut zu halten; für ihn bestimmt der Mehrheitswille nicht nur, was Gesetz ist, sondern auch, was ein gutes Gesetz ist.“4 Die Dichotomie der Demokratie sieht Hayek darin, dass sie primär ein Verfahren ist und sich im Gegensatz zum Liberalismus nicht auf die Funktionen und Ziele des Staates bezieht. Zwar kann die Demokratie als Methodik prima facie individuelle Freiheit sichern. Sie muss aber kein Garant für eine liberale Gesetzgebung sein.5 Hayek spricht von einer „Überforderung der Demokratie“ vor der schon Tocqueville in seinen Untersuchung „Über die Demokratie in Amerika“ gewarnt hatte: 2 Hayek (1971), S. 142. Vgl. Hayek (1971), S. 125-143. 4 Ebd., S. 126. 5 Vgl. Hayek (1971), S. 125-143. 3 2 7. Workshop „Ordnungsökonomik und Recht“ im Rahmen der Förderinitiative „interdisziplinäre Dozentenkolloquien“ der Hanns Martin Schleyer-Stiftung veranstaltet vom Walter Eucken Institut „Nichts ist so unwiderstehlich wie eine tyrannische Regierung, die im Namen des Volkes befiehlt, weil sie – ausgerüstet mit dem moralischen Gewicht, das dem Willen der größten Zahl anhaftet – zugleich mit der Entschiedenheit, der Schnelligkeit und der Hartnäckigkeit eines Einzelnen vorgeht.“6 Hayek untersucht, wie die Demokratie als Methode ausgestaltet sein muss, damit sie in ihren Ergebnissen nicht den Grundsätzen des Liberalismus widerspricht. Er kommt zu dem Ergebnis: Demokratie ist als Verfahren nur solange sinnvoll, wie die Menschen ähnliche Ziele und Werte haben. Ohne gemeinsame Grundsätze kann keine Einigkeit darüber erfolgen, welche Aufgaben eine Regierung durchzuführen hat. Kommt kein Konsens über eine bestimmte Funktion der Zwangsgewalt zustande, darf diese auch keiner legitim ausüben. Es ist demnach auch nicht undemokratisch, wenn die Mehrheit sich auf Grenzen ihrer eigenen Gewalt einigt. Unterschiedliche Wertesysteme und Bedürfnisse können ein gemeinsames Handeln in einer heterogenen Gesellschaft unmöglich machen.7 Hayek greift dieses Problem bereits in der Lektüre „Der Weg zur Knechtschaft“ auf. Darin analysiert er, warum Demokratie in einer Planwirtschaft nicht funktionieren kann. Sein Ergebnis: Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Menschen in einer heterogenen Gesellschaft über ein bestimmtes Programm verständigen können, nimmt mit der Komplexität dieses Programms ab. Es ist zwar prinzipiell möglich, dass sich die Menschen für einen gemeinsamen Wirtschaftsplan entscheiden, aber es ist gleichwohl undenkbar, dass dieser in seinen Details und Zielen allen individuellen Interessen gerecht werden kann: „Wenn Menschen dahin übereinkommen, dass es eine zentrale Planwirtschaft geben muß, aber über die Ziele verschiedener Ansicht sind, so läuft das ungefähr auf dasselbe hinaus, wie wenn eine Gruppe von Personen sich zu einer gemeinsamen Reise entschließen würde, ohne sich jedoch über das Reiseziel einig zu sein, was zur Folge hat, dass sie alle eine Reise unternehmen müssen, die die meisten ganz und gar nicht machen wollen.“8 Ein demokratisch9 legitimiertes Handeln des Staates kann nur so weit gehen, wie die Menschen in einem bestimmten Punkt übereinstimmen. Wenn die Gewählten als Repräsentanten des Volkes ihr Handeln auf Gebiete ausweiten, in denen keine Übereinstimmung besteht, ist die individuelle Freiheit gefährdet. In einer Planwirtschaft wird demnach eine Einigkeit vorausgesetzt, die in der Realität gar nicht bestehen kann. Mehrheiten im Willensbildungsprozess sind nur bei Entscheidungen möglich, die mit „ja“ oder „nein“ 6 Tocqueville (1985), S. 126. Vgl. Hayek (1971), S. 125-130. 8 Hayek (1944/1956/2004), S. 57. 9 Denokratisch im Sinne einer Volksherrschaft/Herrschaft der Vielen, abgeleitet von dem griechischen Wort „demos“ für „Volk/Volksmasse/Vollbürgerschaft“ und „kratein“ für „Herrschen/Macht ausüben“, siehe Schmidt (2000), S. 19. 7 3 7. Workshop „Ordnungsökonomik und Recht“ im Rahmen der Förderinitiative „interdisziplinäre Dozentenkolloquien“ der Hanns Martin Schleyer-Stiftung veranstaltet vom Walter Eucken Institut beantwortet werden können oder lediglich zwei Alternativen zur Auswahl stellen. Ein ökonomischer Wirtschaftsplan kann jedoch nicht allen Bedürfnissen in einer komplexen Gesellschaft entsprechen. An wessen Bedürfnisse dieser ausgerichtet ist, entscheiden die Gewählten und zwingen der Gemeinschaft damit eine „eigene Werteskala“10 auf. Das Entstehen einer Diktatur ist in der Planwirtschaft unvermeidlich. Ein demokratischer Willensbildungsprozess verhindert per se nicht die Entstehung einer Willkürherrschaft, sondern dieses vermag nur die Begrenzung der Regierungsgewalt und eben dies ist der ambivalente Charakter der Demokratie.11 Hayek sieht in der Überforderung der Demokratie einen Grund für ihr mögliches Scheitern. Grundsätzlich erkennt er die Demokratie aber wegen folgender Attribute als geeignetes Mittel an: Zum einen ist sie eine geeignete Methode, um widerstreitende Meinungen zu vereinen, da „…[es] billiger ist, die Stimmen zu zählen als zu kämpfen.“12 Zum Zweiten ist das demokratische Verfahren eher Freiheit schaffend als andere Regierungsformen vorausgesetzt die Mehrheit macht die individuelle Freiheit zu ihrem „bewussten Ziel“13 und beschränkt sich dafür auch selbst. Zum Dritten vertritt Hayek ebenso wie Tocqueville das Argument, dass Demokratie das politische Verständnis erhöht. Sie erzieht die Mehrheit zu einer aktiven Teilnahme am Prozess der Meinungsbildung. Demokratie ist ferner ein dynamischer Prozess. Mehrheitsentscheidungen sind Ausdruck einer Erwartungshaltung zu einem bestimmten Zeitpunkt - der Wahl. Erwartungen können sich ändern, zum Beispiel, wenn die Menschen zu einem späteren Zeitpunkt besser informiert sind, so dass die Meinung einer Minderheit zur Ansicht einer Mehrheit wird. Die Demokratie als Mehrheitswille ist allein aber keine Prävention gegen eine Willkürherrschaft, die der individuellen Freiheit entgegensteht. Hayek sieht vor allem in der Selbstbindung der Regierung einen Lösungsansatz, um die individuelle Freiheit nicht zu gefährden: „Eine Regierung, die sich auf keinerlei Grundsätze festlegt und vorgibt, jedes einzelne Problem unvoreingenommen zu beurteilen, sieht sich bald zur Verfolgung der Grundsätze gezwungen, die sie nicht selbst gewählt hat, und zu Maßnahmen, die sie nie erwogen hat.“14 Hayeks Idee einer „begrenzten Demokratie“ spricht auch gegen die Begünstigung von Interessengruppen durch „maßgeschneiderte“ Gesetze. In seinem späteren Werk „Recht, Gesetz und Freiheit“ schlägt Hayek daher ein Verfassungsmodell vor, das sowohl die Ziele 10 Hayek (1944/1956/2004), S. 60. Ebd., S. 54-65. 12 Hayek (1971), S. 131. 13 Ebd., S. 132. 14 Ebd., S. 136. 11 4 7. Workshop „Ordnungsökonomik und Recht“ im Rahmen der Förderinitiative „interdisziplinäre Dozentenkolloquien“ der Hanns Martin Schleyer-Stiftung veranstaltet vom Walter Eucken Institut der Demokratie als auch die des Liberalismus zu vereinen sucht.15 Wesentlich beeinflusst wird er in der Skizzierung eines „Zwei-Kammer-Systems“ durch die Ideen Montesquieus und Mills. 3. Das Verfassungsmodell von Hayek Hayek stützt sich bei der Ausarbeitung seines Verfassungsmodells auf die Montesquieu’sche Idee eines freiheitlichen Staatsmodells. Montesquieus Hauptanliegen ist die Beschränkung der ungezügelten Herrschaft der Monarchie durch eine Verteilung und Beschränkung der Gewalten. Er tritt nicht direkt für ein demokratisch legitimiertes Verfassungsmodell ein, sondern sieht sich selbst als Anhänger einer konstitutionellen Monarchie mit demokratischen Elementen: Im Fokus steht die Verteilung der gesetzgebenden, ausführenden und rechtsprechenden Gewalt auf Bürgertum, Adel und Monarchie. Bei der gesetzgebende Gewalt soll das Volk und bei der ausführenden der Monarch die stärkste Stellung haben. Die größten Kompetenzen der rechtsprechenden Gewalt spricht Montesquieu dem Adel und Volk zu. Ausschlaggebend ist für ihn nicht - wie häufig behauptet - eine strikte Trennung der drei Staatsgewalten, sondern deren Verteilung16 und Balance. Nach Montesquieu gehört es zu einem freiheitlichen Staatsmodell, dass nicht mehrere Gewalten nur in Händen eines einzelnen Organs liegen.17 Hayek bezieht seine Ideen für ein Verfassungsmodell auch von Alexis de Tocqueville. Dieser analysiert in „Über die Theorie in Amerika“ (1835-1840) etwa einhundert Jahre nach Montesquieu die Nachteile von Demokratie. Grundsätzlich sieht Tocqueville zu einer Demokratie keine akzeptable Alternative. Da aber die Freiheit des Menschen als sein höchstes Gut anzusehen ist, muss diese mit der Demokratie in Einklang gebracht werden. Das kann über Institutionen erreicht werden. Tocqueville schlägt zum Beispiel längere Wahlperioden vor, um eine konsistente Politik zu erreichen. Neue Regeln für die Auslese von bewährten Persönlichkeiten und deren Dirigierung in politische Ämter sowie eine Selbstbindung in der Staatstätigkeit und Ausgabenpolitik können zudem der Freiheitssicherung hilfreich sein.18 John Stuart Mill liest die Studien Tocquevilles und erweitert die Erkenntnisse in seinen „Considerations on Representative Government“. Mill schlägt vor, dass sich eine 15 Vgl. Hayek (1971), S. 125-143. Montesquieu spricht in seinem 1748 erschienen „De l’esprit des Loix“ von „certaine distribution des trois pouvoirs“ – also einer Verteilung der Gewalten, die nicht mit einer Isolierung oder Trennung gleichzusetzen ist. Siehe dazu: Schmidt (2000), S. 84. 17 Vgl. Schmidt (1997), S. 50-63. 18 Ebd., S. 63-95. 16 5 7. Workshop „Ordnungsökonomik und Recht“ im Rahmen der Förderinitiative „interdisziplinäre Dozentenkolloquien“ der Hanns Martin Schleyer-Stiftung veranstaltet vom Walter Eucken Institut Repräsentativversammlung auf die Aufgaben beschränkt, die sie besser als andere Institutionen bewältigen kann, zum Beispiel die öffentliche Debatte. Die Gesetzgebung soll einer Expertendelegation überlassen werden. Zudem befürwortet Mill die Einführung eines Verhältniswahlrechts, um auch kleine Parteien zu berücksichtigen. Bei der Finanzierung von Wahlkämpfen soll es nach Mill Restriktionen geben. Hayek unterstützt die von Mill präferierte Selbstbindung. Dennoch steht er einzelnen Forderungen Mills, zum Beispiel das Stimmrecht nach der Bildung des Wählers zu gewichten, kritisch gegenüber. Er hält das Mill’sche Verfassungsmodell mit nur einer Parlamentskammer zudem für nicht ausreichend, um Vermachtungen zu verhindern.19 Im Kontrast zu Mill entwirft Hayek ein Verfassungsmodell, dessen Herzstück ein ZweiKammern-System (faktische Trennung von legislativer und exekutiver Gewalt) ist: Abbildung 1 „Die Trennung der Staatsgewalt im Hayek’schen Verfassungsmodell“ Gesetzgebende Versammlung Ordnungsrahmen (Regeln gerechten Verhaltens) Bindung Regierende Versammlung Kompetenzgerichtshof Staatsführung innerhalb des Ordnungsrahmens Schlichtung Kompetenzkonflik te Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Prollius (2008), S. 146-163 und Hayek (2003), S. 411-433. Die Kammern sollen sich in ihrer Funktion als gesetzgebende und regierende Versammlung dadurch unterscheiden, dass die erstere universale Regeln aufstellt, über deren Anwendung im Einzelfall aber die zweite, regierende Versammlung entscheidet. 20 Universale oder abstrakte Regeln sind für Hayek Gesetze bzw. allgemeine Spielregeln, die nur den Rahmen festlegen, innerhalb dessen sich der Einzelne bewegen muss:21 19 Vgl. Schmidt (1997), S. 186ff. Vgl. Prollius (2008), S. 146-163 und Hayek (2003), S. 411-433. 21 Vgl. Hayek (1971), S. 183. 20 6 7. Workshop „Ordnungsökonomik und Recht“ im Rahmen der Förderinitiative „interdisziplinäre Dozentenkolloquien“ der Hanns Martin Schleyer-Stiftung veranstaltet vom Walter Eucken Institut „Sie [die Rechtssätze] sind generell und abstrakt in dem Sinne, dass sie weder bestimmte Personen noch bestimmte Zeitpunkte oder Orte nennen und dass es tatsächlich nicht voraussehbar ist, welche Wirkungen sie auf bestimmte bekannte Personen haben werden. Sie beziehen sich nur auf das Verhalten der Menschen zueinander – und zum Staate – aber nicht auf ihre private Sphäre. [Diese Gesetze dienen dazu]…, die Privatsphäre jedes einzelnen abzugrenzen und diese Sphäre gegen alle, auch den Staat, zu schützen.“ 22 Es ist Aufgabe der Legislative einen Ordnungsrahmen festzulegen, der den Staat als Zwangsgewalt selbst bindet. Er darf nicht der Begünstigung bestimmter Interessengruppen dienen. Die Exekutive ist in ihrer eigentlichen Beschlussfassung an den durch die gesetzgebende Versammlung geschaffenen Regelrahmen gebunden. Sie entscheidet nur innerhalb dieses festgelegten Ordnungsrahmens, also nicht willkürlich, beispielsweise über Sach- und Personalmittel.23 Der Ordnungsrahmen setzt sich aus Regeln gerechten Verhaltens zusammen. Dies sind „Verbote ungerechten Verhaltens“.24 Sie geben die Voraussetzungen an, unter denen eine Handlung erlaubt ist und stoßen an Grenzen, wo sie die geschützte Sphäre Dritter übertreten. Dazu gehören zum Beispiel Eigentumsrechte. Das Regelsystem ist abstrakt, d. h. auf eine unbekannte Anzahl von Fällen in der Zukunft anwendbar.25 Regeln gerechten Verhaltens sind ferner Grundklauseln, die nur durch die gesetzgebende Versammlung geändert werden können. Die Begrenzung der legislativen Gewalt auf einen Ordnungsrahmen abstrakter Regeln bindet demnach die zweite Kammer in ihrer vollziehenden Gewalt.26 Damit die Gewalten getrennt sind und nicht nur bei einem Staatsorgan liegen, schlägt Hayek eine unterschiedliche Wahl und Zusammensetzung der zwei Vertretungskörperschaften vor. Beide Versammlungen sollen sich nicht in ähnlichen Relationen aus Parteien oder Interessengruppen zusammensetzen. Die Legislative könnte sonst der Exekutive den Ordnungsrahmen und die Gesetze vorgeben, die die regierende Versammlung für ihre Zwecke benötigt. Eine gleiche Zusammensetzung der Vertretungskörperschaften würde so unter Umständen zu Vermachtungen und willkürlichen Entscheidungen führen. Hayek schlägt zudem vor, dass die Versammlungen nicht auf die gleiche Art oder den gleichen Zeitraum gewählt werden. So soll jede Gruppe von Personen gleichen Alters einmal im Leben (Hayek schlug mit 4027 oder 45 Jahren vor) aus ihrem Kreis Volksvertreter für eine Amtsperiode von 15 Jahren (Umgehung der Wiederwahlrestriktion) in die gesetzgebende Versammlung wählen dürfen. Diese Vertreter (nomothetae) sollten noch nicht in der 22 Hayek (1963), S. 49. Vgl. Hayek (1971), S. 183. 24 Hayek (2003), S. 185. 25 Ebd., S. 184-193. 26 Vgl. Hayek (1971), S. 183ff und 415f. 27 Vgl. Hayek (1967), S. 143-150. 23 7 7. Workshop „Ordnungsökonomik und Recht“ im Rahmen der Förderinitiative „interdisziplinäre Dozentenkolloquien“ der Hanns Martin Schleyer-Stiftung veranstaltet vom Walter Eucken Institut regierenden Versammlung oder in einer Partei gearbeitet haben. Sie müssen unabhängig von der Regierungsorganisation Grundsätze der Besteuerung festlegen, einen Rechtsrahmen für den Wettbewerbsmarkt setzen und sich mit einem Regelrahmen für Sicherheit, Gesundheit etc. auseinandersetzen. Die Vertreter der gesetzgebenden Versammlung werden durch einen Senat, bestehend aus ehemaligen Mitgliedern, kontrolliert. Die regierende Versammlung setzt sich durch periodische Wahlen und nach Parteien zusammen. Den Hauptkern der Regierung bildet ein Exekutivausschuss der Mehrheit. Dieser wird durch eine organisierte Opposition kontrolliert. Ein eigener Gerichtshof schlichtet als Judikative Kompetenzstreitigkeiten zwischen der gesetzgebenden und der regierenden Versammlung. Er kann aber auch beiden Organen die Kompetenz entziehen, wenn sich die geplanten Maßnahmen nicht nach den Regeln gerechten Verhaltens richten. Die Judikative besteht aus Berufsrichtern sowie ehemaligen Mitgliedern der gesetzgebenden und regierenden Versammlung und ist an die eigenen, früheren Entscheidungen gebunden.28 Hayek setzt sich kritisch mit seinem Verfassungsmodell auseinander. Er befürchtet, dass man ihm Konstruktivismus vorwerfen könnte, den er selbst als „Anmaßung von Wissen“ kritisiert hat. Darum beruft er sich in seinem Verfassungsmodell auf David Hume, der in seinem Aufsatz „Idea of a Perfect Commonwealth“ 1752 alle Pläne der Regierung, die darauf abzielen eine Wirtschafts- oder Gesellschaftsordnung radikal zu verändern, verwirft und als Beispiel Thomas Morus’ „Utopia“ oder die platonische Republik anführt. Hume tritt gegen eine Verfassungsrevolution ein: „An established government has an infinite advantage, by that very circumstance of its being established; the bulk of mankind being governed by authority, not reason, and never attributing authority to any thing that has not the recommendation of antiquity.“29 Er schlägt aber in seinem Aufsatz Institutionen vor, die die Entscheidungs- und Kompetenzverteilung in der Regierung reformieren, um das Regieren zu erleichtern:30 „In all cases, it must be advantageous to know what is most perfect in the kind, that we may be able to bring any real constitution or form of government as near it as possible, by such gentle alterations and innovations as may not give too great disturbance to society.” 31 28 Vgl. Prollius (2008), S. 146-163 und Hayek (2003), S. 411-433. Hume (1752), S. 221. 30 Vgl. Hume (1752), S. 221ff. 31 Hume (1752), S. 221. 29 8 7. Workshop „Ordnungsökonomik und Recht“ im Rahmen der Förderinitiative „interdisziplinäre Dozentenkolloquien“ der Hanns Martin Schleyer-Stiftung veranstaltet vom Walter Eucken Institut Hayek lehnt sich mit seinem Verfassungsmodell an die Intention Humes an. Er beschränkt sich in seinem Modell auf Vorschläge für „leichte Verbesserungen“ der Verfassung, stellt seine Erwartungshaltung hinsichtlich einer radikalen Neuordnung aber zurück.32 4. Das Demokratiedefizit der Europäischen Union 4.1. Keine Trennung von Legislative und Exekutive In der Politikwissenschaft wird die Qualität der Demokratie in der Europäischen Union mehrheitlich kontrovers diskutiert. Gründe einer defizitären Demokratie sehen Kritiker in der mangelnden Partizipation der Unionsbürger am politischen Willensbildungsprozess und in institutionellen Mängeln, insbesondere der unscharfen Trennung der Staatsgewalten. Diese These soll im Folgenden in Bezug auf das europäische Institutionengefüge untersucht werden. Im zweiten Schritt wird analysiert, warum sich das Ziel der Demokratie – die Begrenzung der Staatsgewalt - nicht ohne eine politische Selbstbindung an einen abstrakten Regelrahmen im Sinne der traditionellen Liberalisten einstellen kann. Die Dichotomie der Demokratie kann nach Hayek nur durch eine zusätzliche Limitierung der legislativen und exekutiven Kompetenzen überwunden werden. Die Demokratie in der Europäischen Union wird hinsichtlich institutioneller und struktureller Schwachpunkte kritisiert. Das strukturelle Defizit betrifft das Fehlen eines europäischen Staatsvolkes, einer gemeinsamer Sprache und europäischer Medien. Das institutionelle Demokratiedefizit bezieht sich auf die Organisation und Funktion der Staatsorgane. Da Hayek in seinem Verfassungsmodell vor allem institutionelle Reformen vorgeschlagen hat, soll darauf im Folgenden Bezug genommen werden: Hayek tritt in seinem Verfassungsmodell für die Trennung der Staatsgewalten in einer gesetzgebende und eine regierende Versammlung ein. Im europäischen Institutionengefüge gibt es solch eine strikte Trennung nicht wie Abbildung 2 verdeutlicht. Abbildung 2 „Die Trennung der Staatsgewalt auf Ebene der EU“ Gesetzgebende Gewalt Vollziehende Gewalt Rechtsprechende Gewalt Kompetenz 32 Vgl. Hennecke (2008), S. 129f in Verbindung mit Hayek (2003), S. 411. 9 7. Workshop „Ordnungsökonomik und Recht“ im Rahmen der Förderinitiative „interdisziplinäre Dozentenkolloquien“ der Hanns Martin Schleyer-Stiftung veranstaltet vom Walter Eucken Institut Europäische Kommission (initiative Legislative) Ministerrat Europäisches Parlament (beschließende Legislative) Ministerrat, Europäischer Rat, Hoher Vertreter der EU (initiative Exekutive) Europäischer Gerichtshof, Gericht der Europäischen Union (Judikative) Europäische Kommission, Ministerrat, Hoher Vertreter der EU (ausführende Exekutive) Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Tömmel (2008), S. 230ff. Der Rat der Europäischen Union und die Europäische Kommission haben Kompetenzen, die sich auf die Legislative und die Exekutive beziehen. Es gibt keine abgegrenzte legislative Gewalt, die einen Ordnungsrahmen konstruiert, der sich aus allgemeinen und abstrakten Regeln gerechten Verhaltens zusammensetzt und innerhalb dessen die Exekutive in ihrer Beschlussfassung Restriktionen unterliegt. Der Rat der Europäischen Union und die Europäische Kommission sind demnach beides Organe der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt. Sie setzen sich daher zum Teil aus den gleichen Mitgliedern zusammen, so dass die Europäische Kommission und der Ministerrat Gesetze initiieren bzw. beschließen können, die sie dann selbst in ihrer Exekutivfunktion vollziehen. Zudem unterliegt der Ministerrat auf Europäischer Ebene keiner Kontrolle und die Mitglieder der Europäischen Kommission können nur in ihrer Gänze durch das Europäische Parlament abgesetzt werden. 4.2. Europäische Kommission Die Zusammensetzung, Funktion und Unabhängigkeit der Kommission sind in den Artikeln 244 bis 250 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union geregelt. Die Kommission hat das alleinige Initiativrecht für die EU-Gesetzgebung und unterbreitet die Vorschläge dem Europäischen Parlament und dem Rat der Europäischen Union (Ministerrat). Zudem führt sie die Funktion einer ausführenden Exekutive aus, indem sie die Umsetzung des Haushaltes und der beschlossenen Programme kontrolliert. Die Kommissionsmitglieder werden alle fünf Jahre von den Mitgliedstaaten gewählt und in die Kommission gesandt. Das Europäische Parlament bestätigt das gesamt Kollegium via Zustimmungsvotum. Damit unterliegt die Europäische Kommission nicht der Wiederwahlrestriktion der europäischen 10 7. Workshop „Ordnungsökonomik und Recht“ im Rahmen der Förderinitiative „interdisziplinäre Dozentenkolloquien“ der Hanns Martin Schleyer-Stiftung veranstaltet vom Walter Eucken Institut Bürger. Der Kommissionspräsident wird vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit nominiert und danach vom Europäischen Parlament via Zustimmungsvotum bestätigt. Damit sind die Bürger der Mitgliedstaaten weder unmittelbar noch mittelbar an der Wahl der Kommission beteiligt, der aber mit dem Initiativmonopol eine besondere Kompetenzstellung zukommt. Im Institutionengefüge der EU gibt es keine legislative Gewalt, die sich nur auf die Erstellung eines Ordnungsrahmens aus Regeln gerechten Verhaltens konzentriert. Da sich die europäische Politik längst nicht mehr nur auf Fragen der Friedenssicherung oder den Handel bezieht, sondern zum Beispiel Kompetenzen auf dem Bereich des Verbraucherschutzes oder der Sozialpolitik hat, kann schwerlich von abstrakten Regeln und damit der Nichtüberschreitung individueller Freiheitsbereiche ausgegangen werden. 4.3. Ministerrat Der Rat der Europäischen Union ist nicht mit dem Europäischen Rat zu verwechseln. Der Rat der EU oder Ministerrat ist in den Artikeln 237 bis 243 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union geregelt und setzt sich je nach Sachthema aus den jeweiligen Fachministern der Mitgliedstaaten zusammen. Gemeinsam mit dem Europäischen Parlament übt der Ministerrat eine Zweikammer-Legislative aus. Er beschließt Gesetze und Rechtsakte und kann internationale Verträge abschließen. Zudem werden dem Ministerrat Kompetenzen der initiierenden und ausführenden Exekutive zuteil, indem er durch rotierende Ratspräsidentschaften über die Gesetzgebungsagenda entscheidet. Das Demokratiedefizit besteht in der Zusammensetzung des Ministerrates aus Fachministern der Mitgliedstaaten, die nur mittelbar von den Bürgern der Europäischen Union gewählt und durch diese kontrolliert werden. Die Bekleidung von Ministerposten erfolgt auf nationaler Ebene über Wahlen. Die Bürger richten ihre Entscheidung über die Wahl einer Partei primär an der nationalen Politik aus. Es resultiert ein Exekutivföderalismus: Nationalen Regierungen (nationale Exekutive) üben im Ministerrat legislative Funktionen aus, die Rückwirkungen auf die Mitgliedstaaten haben, da sie keiner parlamentarischen Kontrolle auf nationaler Ebene unterliegen. Als Beispiel kann die Einführung der biometrischen Reisepässe angeführt werden. Es entspricht nicht dem demokratischen Prinzip, wenn nationale Regierungen über einen Umweg (EU) Gesetze erzielen, die in den Nationalstaaten nicht durchsetzbar gewesen wären. Die Umgehung der nationalen Legislative ist besonders bei Paketbeschlüssen über sachfremde Themen im 11 7. Workshop „Ordnungsökonomik und Recht“ im Rahmen der Förderinitiative „interdisziplinäre Dozentenkolloquien“ der Hanns Martin Schleyer-Stiftung veranstaltet vom Walter Eucken Institut Ministerrat gegeben. Diese können zu einer Überregulierung führen. Häufig werden Verhandlungspakete aus unterschiedlichen Politikbereichen von den Mitgliedstaaten als Option gesehen, Einzelinteressen auf europäischer Ebene durchzusetzen. Ein weiterer Kritikpunkt ist die ungenügende Kontrollmöglichkeit des Europäischen Parlamentes. Diese wurde aber im Rahmen des Lissabon-Vertrages gestärkt. Dem Rat der Europäischen Union steht unterstützend der Ausschuss der ständigen Vertreter (Comité des Representants Permanents) nach Artikel 240 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union zur Seite. Dem Gremium sind etwa 250 Arbeitsgruppen aus 27 Mitgliedstaaten untergeordnet, in denen nationale Beamte in themenbezogenen Arbeitsgruppen zusammenarbeiten. Das COREPER bereitet die Ratssitzungen vor, indem es die Tagesordnung für die Ratssitzung beschließt und dem Ministerrat entscheidungsreife Entwürfe vorlegt. Diese bedürfen meist nur noch einer förmlichen Zustimmung. Der Ausschuss filtert die relevanten Tagesordnungspunkte. Andere Themen kommen nicht auf die Agenda des Ministerrates. Die Sitzungen des COREPERS und des Ministerrates finden in der Regel nicht öffentlich statt. Eine demokratische Legitimierung und Kontrolle des Ministerrates ist durch das hochgradig administrativ verflochtene COREPER nicht gegeben.33 Aktuell wird über eine Reform der Währungsunion entschieden, die den Stabilitätspakt verschärfen soll. Die Kommission soll mit Interventionsrechten in die Wirtschaftspolitik wettbewerbsschwacher Länder ausgestattet werden. Die EU-Kommission schlägt dafür ein verändertes Abstimmungsverfahren vor. Das ex ante Abstimmungsverfahren des Ministerrates (Zwei-Drittel-Mehrheit), soll in ein ex-post Verfahren umgewandelt werden, d. h. der Rat der EU stimmt nicht mehr im Vorhinein über die Eröffnung eines Defizitverfahrens ab. Das Verfahren soll durch einen Automatismus ersetzt werden, d. h. jede Kommissionsentscheidung zur Einleitung oder Verschärfung eines Verfahrens soll ohne Abstimmung im Rat in Kraft treten, insofern die Mitgliedstaaten nicht ex-post binnen zehn Tagen dagegen Einspruch erheben.34 4.4. Europäisches Parlament Das Europäische Parlament wird in den Artikeln 223 bis 234 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union geregelt. Es nimmt wie der Ministerrat seit der Einführung des Mitentscheidungsverfahrens mit dem Vertrag von Maastricht die Funktion einer beschließenden Legislative wahr. Innerhalb dieser besitzt es Mitwirkungsrechte an der 33 34 Vgl. Pfetsch (2001), S. 143 und Grünhage (2007), S. 103ff. Vgl. o.V. (2010), S. 12. 12 7. Workshop „Ordnungsökonomik und Recht“ im Rahmen der Förderinitiative „interdisziplinäre Dozentenkolloquien“ der Hanns Martin Schleyer-Stiftung veranstaltet vom Walter Eucken Institut EU-Gesetzgebung, Haushaltsrechte, Kontroll- sowie Zustimmungsrechte bei Beitrittsabkommen. Die Wahl ins Europäische Parlament erfolgt im Gegensatz zum Ministerrat allgemein und direkt für fünf Jahre durch die Bürger der Mitgliedstaaten. Die These eines Demokratiedefizits wird vor allem darin gestützt, dass das Europäische Parlament als einzig direkt gewähltes Staatsorgan bis zum Vertrag von Lissabon kaum legislative Gewalt hatte. Das Initiativrecht liegt bei der Kommission. Das Europäische Parlament darf die Kommission nicht direkt wählen, sondern nur per Zustimmungsvotum bestätigen oder ablehnen.35 Mit dem Vertrag von Lissabon wurden die legislativen Kompetenzen des Europäischen Parlamentes gestärkt, so dass das Mitentscheidungsrecht zum Regelfall wird. Ausnahmen bestehen aber noch immer, zum Beispiel für die Außen- und Sicherheitspolitik sowie polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit. Daher liegen die Kompetenzen des Parlamentes hinter denen des Ministerrates. Das Initiativmonopol der Europäischen Kommission in der Legislative hat nach wie vor Bestand. Eine (formale) Änderung gibt es nach dem Lissabon-Vertrag für die Wahl des Kommissionspräsidenten. Dieser wurde bislang durch den Europäischen Rat vorgeschlagen und durch das Parlament bestätigt. Nach Lissabon wird dieser noch immer – basierend auf einer Zwei-Drittel-Mehrheit - des Europäischen Rates vorgeschlagen. Der Europäische Rat muss nun aber nach ausdrücklicher Regelung die Mehrheitsverhältnisse im Parlament berücksichtigen. Das wurde bislang de facto schon berücksichtigt, da der Europäische Rat sonst um das Zustimmungsvotum des Europäischen Parlamentes hätte fürchten müssen. Als demokratische Fehlkonstruktion erweist sich vor allem, dass auch nach Lissabon die Wahl des Kommissionspräsidenten via Zustimmungsvotum (absolute Mehrheit) durch das Europäische Parlament erfolgt, die Kommission aber - und nur in der Gänze - durch eine Zwei-Drittel-Mehrheit abgesetzt werden kann. Ein Misstrauensvotum für einzelne Kommissionsmitglieder gibt es nicht. In dem Verfassungsmodell von Hayek wird die gesetzgebende Versammlung durch einen Senat kontrolliert. Obwohl die Europäische Kommission weder direkt noch indirekt durch das europäische Volk gewählt ist, hat sie als einzige das Recht der initiativen Legislative und wird nur unzureichend kontrolliert. Das entspricht weder den Idealen der demokratischen Bewegung noch denen des traditionellen Liberalismus.36 4.5. Europäischer Rat 35 36 Vgl. Umbricht (2006), S. 1-14. Vgl. Oppelland, (2010), S. 79-96. 13 7. Workshop „Ordnungsökonomik und Recht“ im Rahmen der Förderinitiative „interdisziplinäre Dozentenkolloquien“ der Hanns Martin Schleyer-Stiftung veranstaltet vom Walter Eucken Institut Der Europäische Rat ist in den Artikeln 235-236 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union geregelt. Er besteht aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, deren Außenministern, dem Präsident der Europäischen Kommission und dem des Europäischen Rates. Die Funktionen des Europäischen Rates beziehen sich auch auf die Exekutive. Er kann Leitlinien erlassen (Richtlinienkompetenz). Zudem repräsentiert er die Europäische Union nach außen. Da der Europäische Rat viele Entscheidungen einstimmig absegnen muss, ist eine Konsensfindung schwieriger als im Ministerrat. Für ein demokratisches Defizit spricht, dass der Europäische Rat nicht unmittelbar von den Bürgern der Europäischen Union gewählt wird, sondern nur indirekt über die nationalen Wahlen legitimiert ist. Er wird in Abhängigkeit von den nationalen Wahlen periodisch neu zusammengesetzt.37 5. Folgen der Zentralisierung in einer heterogenen Gesellschaft Der zweite Teil der kritischen Betrachtung widmet sich der Analyse einer schleichenden Zentralisierung von Kompetenzen. Hayek problematisiert in der „Verfassung der Freiheit“ eine zunehmende Verlagerung von Kompetenzen und Aufgaben im Kontext einer heterogenen Gesellschaft: „Es ist nicht einzusehen, warum eine Mehrheit von Menschen, die sich für bestimmte Zwecke in einem Staat oder einer überstaatlichen Organisation zusammengeschlossen haben, das Recht haben sollten, ihren Machtbereich nach Belieben auszudehnen. Die herrschende Theorie der Demokratie leidet daran, daß sie gewöhnlich im Hinblick auf eine ideale homogene Gesellschaft entwickelt wird und dann auf die sehr unvollkommenen und oft willkürlichen Einheiten, die die bestehenden Staaten darstellen, angewendet wird.“ 38 Obwohl seinerzeit die Wirtschaftspolitik (Ordnungspolitik) vorrangig als nationalstaatliche Aufgabe verstanden wurde, wirft Hayek in seiner „Verfassung der Freiheit“ auch Fragen auf, die heute aktuell sind. Während sich 1951 sechs Staaten (Belgien, BRD, Frankreich, Italien, Niederlande und Luxemburg) aus primär ökonomischen Gründen bzw. zur Friedenssicherung zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl zusammengeschlossen haben, hat sich die Legitimationsgrundlage und Kompetenz der Gemeinschaft seither verändert. Mit den Römischen Verträgen wurde 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet, in der sich die sechs Staaten auf eine gemeinsame Landwirtschafts-, Verkehrs-, 37 38 Vgl. Umbricht (2006), S. 1-14. Hayek (1971), S. 128. 14 7. Workshop „Ordnungsökonomik und Recht“ im Rahmen der Förderinitiative „interdisziplinäre Dozentenkolloquien“ der Hanns Martin Schleyer-Stiftung veranstaltet vom Walter Eucken Institut Wettbewerbs- und Handelspolitik einigten. 1970 kam ein Eigenmittelsystem dazu, dass sich unter anderem aus Zöllen, Agrarabgaben, national erhobenen Mehrwertsteuereinnahmen, Anteilen des BSP der Mitgliedstaaten etc. zusammensetzte. 1972 erweiterten sich die Kompetenzen der EWG auf Energie-, Regional- und Umweltpolitik. Mit dem Vertrag von Maastricht wurden der EU 1992 Zuständigkeiten auf den Gebieten der Bildung, Kultur, Gesundheitswesen, Verbraucherschutz, Industrie, Entwicklungshilfe, Außen- und Sicherheitspolitik sowie Justiz und Inneres zuteil. Zudem erweiterte sich die Anzahl der Mitgliedsländer seit 1951 von sechs auf 27, wodurch die Heterogenität (Kultur, Wirtschaftsstruktur, Einkommen, Interessenlager) der Europäischen Union gestiegen ist. Einer höheren Vielfalt steht damit eine „engere Union“ gegenüber, deren Kompetenzfelder sich immer weiter vertiefen und jenseits „abstrakter Regeln“ befinden.39 Nach Hayek kann eine politische Vertiefung nicht mit einer steigenden Heterogenität einer Gesellschaft harmonisieren. Je heterogener eine Gesellschaft und deren Bedürfnisse sind, desto anfälliger sind die Staatsorgane für eine Werteskala. Der von Hayek antizipierte abstrakte Regelrahmen schließt eine Vertiefung von Kompetenzen und damit der Interventionsmöglichkeiten in den Freiheitsbereich Einzelner aus. Eine Vertiefung der Europäischen Union ist sowohl auf institutioneller als auch auf politischer Ebene zu sehen. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit im Rat der Europäischen Union von 137 auf 181 Politikbereiche ausgedehnt. Dieser kann damit jetzt auch einfacher in Themen wie Verkehrspolitik, Asylpolitik oder polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit entscheiden. Zudem kann der Ministerrat für Teilbestimmungen des Familienrechtes mit grenzüberschreitendem Bezug von einem Einstimmigkeitsverfahren zu Mehrheitsbeschlüssen übergehen. Die Kompetenzen der EU werden nach Lissabon ferner in den Bereichen der Energiepolitik, Raumfahrt, Tourismus, Sport und Katastrophenschutz ausgedehnt. Zu kritisieren ist des Weiteren der steigende Disproportionalitätsfaktor nach Lissabon. Die Sitzverteilung im Europäischen Parlament begünstigt zunehmend kleinere, bevölkerungsarme Länder, was dem demokratischen Grundprinzip der Gleichheit widerspricht. Kam nach dem Vertrag von Nizza ein Sitz im europäischen Parlament auf 80.000 Einwohner in Malta, sind es nach Lissabon nur noch 67.000 Malteser. Nach Nizza kommen auf einen deutschen Abgeordneten im europäischen Parlament (bei 82.500.000 Deutschen) rund 830.000 Deutsche und nach Lissabon auf einen Sitz im Europäischen Parlament schon 860.000 deutsche. Diese 39 Vgl. Brasche (2003), S. 13-23 und 195ff. 15 7. Workshop „Ordnungsökonomik und Recht“ im Rahmen der Förderinitiative „interdisziplinäre Dozentenkolloquien“ der Hanns Martin Schleyer-Stiftung veranstaltet vom Walter Eucken Institut Änderung tritt ab der Europawahl 2014 in Kraft. Der Bevorteilung kleiner Länder steht ab 2014 das Konzept der doppelten Legitimität im Ministerrat gegenüber, was zusätzliche Verwirrung stiftet. Demnach wird die qualifizierte Mehrheit nach der doppelten Mehrheit von Mitgliedsstaaten und Bevölkerung berechnet. Wenn 55% der Mitgliedsstaaten, die gemeinsam mindestens 65% der europäischen Bevölkerung auf sich vereinen, einem Beschluss zustimmen, ist die genannte Legitimität erreicht. Infolge des Prinzips der doppelten Legitimität im Rat werden tendenziell die Mitgliedsstaaten bevorzugt, die einen Großteil der europäischen Bevölkerung auf sich vereinen wie zum Beispiel die BRD, Frankreich, Italien und Großbritannien. Sind sich diese vier Staaten politisch einig, vereinen sie bereits die 65% der europäischen Bevölkerung auf sich – für eine qualifizierte Mehrheit im Rat ausreichend. Letztlich sollen also im Parlament die Interessen kleinerer, bevölkerungsarmer Länder gestärkt und im Ministerrat geschwächt werden. Dies widerspricht jeglicher konsistenter Logik.40 Die Verlagerung von Kompetenzen (durch Lissabon erneut bestätigt) auf eine hierarchisch höher gestellte Körperschaft steht dem Subsidiaritätsprinzip entgegen. Der Grundsatz der Subsidiarität kommt aus der katholischen Soziallehre und besagt, dass der jeweils kleineren Einheit vor der jeweils größeren ein Vorrang eingeräumt werden soll, es sei denn, die kleinere Einheit kann ihre Aufgaben nicht allein bewältigen. Hayek beschreibt das Subsidiaritätsprinzip in „Recht, Gesetz und Freiheit“ wie folgt: „Eine friedliche offene [große] Gesellschaft ist nur möglich, wenn sie die Methode zur Abschaffung von Solidarität aufgibt, die in der kleinen Gruppe am wirksamsten ist…“ 41 Mit dem Vertrag von Maastricht bekam der Grundsatz über die Subsidiarität erstmals eine verbindliche Grundlage im Primärrecht der Europäischen Union. Nach dem Vertrag von Lissabon soll er unter der „Hausnummer“ des Artikels 5 EU-Vertrag als ordnungspolitischer Grundsatz für eine Kompetenzabgrenzung zwischen der Europäischen Union, den Mitgliedsstaaten und den Ländern bzw. Regionen sorgen. Mit dem Vertrag von Lissabon werden den Mitgliedstaaten nun neue Verfahrensrechte zugestanden, um ihnen Interventionsmöglichkeiten gegen die Verlagerung nationaler Kompetenzen zu geben. Nach Lissabon werden zwei neue Kontrollinstrumente geschaffen: Die Subsidiaritätsrüge und die Subsidiaritätsklage. Als Präventivkontrolle ist die Rüge ein Instrument mit dem die nationalen Parlamente binnen einer Acht-Wochen-Frist nach Vorlage eines Entwurfs eine begründete 40 41 Vgl. CEP (2010). Hayek (2003), S. 301. 16 7. Workshop „Ordnungsökonomik und Recht“ im Rahmen der Förderinitiative „interdisziplinäre Dozentenkolloquien“ der Hanns Martin Schleyer-Stiftung veranstaltet vom Walter Eucken Institut Stellungnahme über die Unvereinbarkeit von europäischen Gesetzgebungsakten mit dem Subsidiaritätsprinzip abgeben können. Die Europäische Kommission muss ihren Entwurf aber nur dann überprüfen, wenn ein Drittel (Ausnahmen in den Bereichen Justiz und Inneres) aller nationalen Parlamente eine Unvereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip postulieren. Praktisch ist eine Subsidiaritätsrüge unter den restriktiven Voraussetzungen der erforderlichen Quoren und Fristen nicht möglich. Die Subsidiaritätsklage ist ein ex-post Kontrollrecht der nationalen Parlamente. Diese können gegen einen bereits erlassenen Rechtsakt vor dem Europäischen Gerichtshof klagen. Auch hier ist die Diskrepanz zwischen de facto und de jure ersichtlich. Der Europäische Gerichtshof genießt in Fragen der Subsidiarität Bewertungsspielräume und konzentriert sich auf eine Evidenzkontrolle, d. h. erklärt Gesetze für legitim, wenn sich nur irgendein sachlicher Grund zu deren Gunsten anführen lässt. Der Gesetzgeber hat damit einen hohen Gestaltungsspielraum, der auch als „Entscheidungsprimat europäischer Politik“ bezeichnet wird.42 Bislang haben die europäischen Richter noch keinen Gesetzesakt wegen eines Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip zurückgezogen oder für nichtig erklärt. Jegliche Kompetenzerweiterung der EU schränkt den legislativen Spielraum der nationalen Parlamente erheblich ein. Um eine effektive Subsidiaritätskontrolle durchführen zu können und die Position der Mitgliedsstaaten als deren Wächter aufzuwerten, müssen die Instrumente grundlegend hinsichtlich ihrer Fristigkeiten und der erforderlichen Quoren reformiert werden. Für einen Abbau der Barrieren, die bei einer Subsidiaritätsklage zu erwarten sind, wäre die Errichtung eines Europäischen Gerichtshofes für Kompetenzfragen innerhalb der Europäischen Union sinnvoll. An diesem sollten Verfassungsrichter der Mitgliedsstaaten gemeinsam mit Richtern des Europäischen Gerichtshofes arbeiten. Hayek schlägt in seinem Verfassungsmodell vor, auch Vertreter der legislativen und exekutiven Kammer zu integrieren, um Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Vertretungskörperschaften zu schlichten. Bevor diese aber nicht klar in ihrer gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt abgegrenzt werden, erscheint die Umsetzung redundant. Entscheidungen der Judikative dürfen nicht nur aufgrund eines Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip, sondern auch unter Beachtung bestehender EU-Kompetenzen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit43 42 Vgl. Silberhorn (2007), S. 1ff und Koch,/Kullas (2010), S. 6-12. Die Intensität der Maßnahme der Organe der EU muss im Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen. Das bedeutet, dass die Union, wenn sie zwischen verschiedenen Handlungsformen wählen kann, bei gleicher Wirksamkeit diejenige zu wählen hat, die den Mitgliedstaaten und den Einzelnen die meiste Freiheit belässt, siehe dazu: Europa (2009). 43 17 7. Workshop „Ordnungsökonomik und Recht“ im Rahmen der Förderinitiative „interdisziplinäre Dozentenkolloquien“ der Hanns Martin Schleyer-Stiftung veranstaltet vom Walter Eucken Institut getroffen werden. Dies steht im Gegensatz zur praktizierten Evidenzkontrolle. Die Bedeutung einer unabhängigen Judikative hat Hayek bereits in der „Verfassung der Freiheit“ unterstrichen. Diese soll sich an ihre eigenen, früheren Entscheidungen binden und Kompetenzkonflikte schlichten. Die Verfassungswirklichkeit sieht anders aus: Ein Beispiel ist das „Mangold“-Urteil. Unter der Rot-grünen Regierung wurde 2002 die Altersgrenze, ab der Arbeitnehmer uneingeschränkt befristete Arbeitsverhältnisse eingehen können, von 58 auf 52 Jahre gesenkt, um die Beschäftigungschancen älterer Arbeitsloser zu erhöhen. Von der EU wurde im Jahr 2000 die „Richtlinie zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf“ verabschiedet, nach der es untersagt war, Beschäftigte und Berufstätige Alters wegen zu diskriminieren. Im Jahr 2003 klagten zwei gewerkschaftsnahe Rechtsanwälte (Mangold und Helm) vor dem Bundesarbeitsgericht in München gegen die Herabsetzung der Altergrenze und begründeten dies mit einem Verstoß gegen die EU-Richtlinie. Der Rechtstreit kam vor den Europäischen Gerichtshof. Dieser erklärte die Unvereinbarkeit der deutschen Vorschrift mit dem europäischen Diskriminierungsverbot. Er ordnete zudem eine sofortige Wirkung des Urteils an, was die nationale Vorschrift unmittelbar aushebelte. Da es sich um eine nationale Arbeitsmarktmaßnahme handelte, die in die Kernkompetenz der Bundesrepublik fällt (keine grenzüberschreitende Auswirkung), ist hier ein Widerspruch zum Subsidiaritätsprinzip zu konstatieren.44 Die Ausweitung der europäischen Kompetenzen durch den Europäischen Gerichtshof spricht zudem gegen das Gewaltentrennungsprinzip, das im Mittelpunkt des Hayek’schen Verfassungsmodells steht. Hayek charakterisiert die „unbeschränkte Demokratie“ mit einer zunehmenden Ausdehnung von staatlicher Kontrolle, insbesondere in der Wirtschaft. Mit dem Mangold-Urteil wird die nationale Gesetzgebung für nichtig und die europäische für geltend erklärt. Damit nimmt die Judikative auch legislative Aufgaben wahr, was das europäische Verfassungsprinzip zusätzlich verklärt. Das Bundesverfassungsgericht betätigte das Urteil des Europäischen Gerichtshofes im August 2010 mit der Begründung, dass „… ein Kompetenzverstoß der europäischen Organe und Einrichtungen [nicht] hinreichend qualifiziert ist. [Eine hinreichende Qualifizierung] setzt voraus, dass das Handeln der Unionsgewalt offensichtlich kompetenzwidrig ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Europäischer Union zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten der Mitgliedstaaten führt.“45 44 45 Vgl. cep/Gerken/ Herzog (2008), S. 2-5 und Bundesverfassungsgericht (2010), S. 1-4. Bundesverfassungsgericht (2010), S. 2. 18 7. Workshop „Ordnungsökonomik und Recht“ im Rahmen der Förderinitiative „interdisziplinäre Dozentenkolloquien“ der Hanns Martin Schleyer-Stiftung veranstaltet vom Walter Eucken Institut Was genau eine „bedeutsame Verschiebung“ ist, wird nicht weiter begründet. Dieses zu beurteilen, würde Hayek vermutlich als „Anmaßung von Wissen“ bezeichnen. Ein weiteres Beispiel für eine Aushöhlung nationaler Kompetenzen ist das 2006 durch den Europäischen Gerichtshof bestätige Tabakwerbeverbot. Die Europäische Kommission wollte Tabakwerbung in Zeitungen aus gesundheitspolitischen Gründen verbieten. Da ihr dazu die Gesetzkompetenz fehlte, begründete sie ein EU-weites Tabakwerbeverbot mit einer auszuschließenden Binnenmarktsbehinderung. Ein nationales Tabakwerbeverbot würde de facto zu einem Verkaufsverbot ausländischer Zeitungen mit Tabakwerbung führen. Dies behindere den Binnenmarkt. Der europäische Gesetzgeber ignorierte dabei, dass alle zuvor vorhandenen nationalen Verbote von Tabakwerbung ohnehin ausländische Zeitungen ausgenommen hatten.46 6. Fazit Die Analyse hat gezeigt, dass die individuelle Freiheit von Menschen nur erhöht werden kann, wenn mit einer Verringerung des Demokratiedefizits auch eine Einschränkung des staatlichen Zwangsmonopols (Kompetenzen) einhergeht. Je heterogener ein Staatenbund ist, desto höher sind die Präferenzkosten. Diese entstehen, wenn die Bedürfnisse bzw. die Vorstellungen der Menschen hinsichtlich einer bestimmten Maßnahme oder Politik divergieren.47 Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Gesetzgebungsakt in einer zentralisierten EU den Freiheitsbereich Einzelner einschränkt, wird daher mit der Heterogenität einer Gesellschaft - deren Kultur und Wünschen - größer. In einer Gesellschaft divergierender Bedürfnisse wie dem europäischen Staatenbund kann eine freiheitliche Demokratie nur solange wirksam bleiben wie sich der Gesetzgeber „…in der Ausübung seiner Zwangsgewalt auf Aufgaben beschränkt, die demokratisch durchgeführt werden können.“48 Hayek empfiehlt dafür ein System abstrakter Regeln. Dass die Demokratie und die Strömung des Liberalismus kein Widerspruch sein müssen, sondern komplementär zueinander stehen, stellt er im letzten Teil der „Herrschaft der Mehrheit“ heraus. Dies setzt aber voraus, dass die Demokratie als reines Verfahren (Institution) oder Methode nicht letztlich zu Vermachtungen führt, die den individuellen Freiheitsbereich des Einzelnen einschränken. In seinem Verfassungsmodell versucht Hayek die Ideale der Demokratie mit denen des traditionellen Liberalismus durch 46 Vgl. cep/Gerken,/Herzog (2008), S. 2-5. Vgl. Koch,/Kullas, (2010), S. 20f. 48 Vgl. Hayek (1971), S. 142. 47 19 7. Workshop „Ordnungsökonomik und Recht“ im Rahmen der Förderinitiative „interdisziplinäre Dozentenkolloquien“ der Hanns Martin Schleyer-Stiftung veranstaltet vom Walter Eucken Institut Gewaltentrennung und Selbstbindung der Staatsorgane in Einklang zu bringen. Hayeks Verfassungsmodell stellt damit institutionenökonomische Ansätze dar, die selbst 50 Jahre nach der Veröffentlichung der „Verfassung der Freiheit“ von aktueller Relevanz sind. Literaturverzeichnis BRASCHE, U. (2003): Europäische Integration: Wirtschaft, Erweiterung und regionale Effekte, München. 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