Die Herrschaft der Mehrheit

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7. Workshop „Ordnungsökonomik und Recht“ im Rahmen der Förderinitiative
„interdisziplinäre Dozentenkolloquien“ der Hanns Martin Schleyer-Stiftung veranstaltet vom
Walter Eucken Institut
„Die Herrschaft der Mehrheit“ im Spannungsfeld des traditionellen Liberalismus
1. Einführung
Hayek widmet sein siebentes Kapitel „ Die Herrschaft der Mehrheit“ aus der 1960
erschienenen „Verfassung der Freiheit“ einer vergleichenden Analyse des traditionellen
Liberalismus und der demokratischen Bewegung. In seinen Ausführungen konstatiert er eine
Dichotomie der Demokratie. Nach Hayek ist sie als Methode grundsätzlich für eine politische
Willensbildung der Gesellschaft geeignet. Das Anliegen des Liberalismus zielt aber darauf ab,
eine Zwangsgewalt unabhängig davon zu begrenzen, ob diese einer demokratischen
Legitimation unterliegt oder nicht. Eine Überforderung der Demokratie wird deutlich, wenn
von ihr erwartet wird, dass sie per se ein totalitäres Regime verhindern kann. Dies ist nur
durch eine zusätzliche Beschränkung der Staatsgewalt im Sinne des traditionellen
Liberalismus möglich. Dieser Argumentationsstrang Hayeks kann auf aktuelle Debatten
Anwendung finden.
Mehrheitlich wird durch die Politikwissenschaft auf ein Demokratiedefizit im europäischen
Institutionengefüge verwiesen. Diese Kritik lenkt – obwohl in homogenen Gesellschaften
wesentlich1 - von der Intention des traditionellen Liberalismus ab, den Regelrahmen einer
europäischen Kompetenzhoheit insbesondere dann zu beschränken, wenn eine zunehmende
Demokratisierung nicht die Nachteile diskretionärer Entscheidungen aufwiegen kann. Eine
Bereinigung des Demokratiedefizits sei, so Hayek, nicht mit der Beschränkung einer
staatlichen Zwangsgewalt gleichzusetzen. Es erscheint daher lohnenswert Hayeks
Verfassungsmodell im Kontext der Europäischen Union zu diskutieren.
2. Dichotomie der Demokratie
Die Dichotomie der Demokratie ist der Ausgangspunkt von Hayeks Ausführungen, die er in
Kontrast zur Intention des „traditionellen Liberalismus“ setzt. Während Hayek zu Beginn des
Kapitels eine konfliktäre Zielbeziehung zwischen den Anliegen der „demokratischen
1
Die EU ist weder als ein Repräsentationsorgan eines souverän homogenen europäischen Volkes noch als ein
Bundesstaat anzusehen. Dies wurde unter anderem durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
30.06.2009 bestätigt: „Solange im Rahmen einer europäischen Bundesstaatsgründung nicht ein einheitliches
europäisches Volk als Legitimationssubjekt seinen Mehrheitswillen gleichheitsgerecht politisch wirksam
formulieren kann, bleiben die in den Mitgliedstaaten verfassten Völker der Europäischen Union die
maßgeblichen Träger der öffentlichen Gewalt, einschließlich der Unionsgewalt. Für den Beitritt zu einem
europäischen Bundesstaat wäre in Deutschland eine Verfassungsneuschöpfung notwendig, mit der ein erklärter
Verzicht auf die vom Grundgesetz gesicherte souveräne Staatlichkeit einherginge.“, siehe
Bundesverfassungsgericht (2009), S. 1.
1
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Bewegung“ und dem „traditionellen Liberalismus“ konstatiert, versöhnt er beide Ideale zum
Ende seines Kapitels zu komplementären Zielen:
„Die Demokratie ist ein Mittel zur Erhaltung der Freiheit, aber die individuelle Freiheit ist nicht weniger eine
wesentliche Bedingung für das Funktionieren der Demokratie.“2
Diese komplementäre Zielbeziehung kann nur unter bestimmten Voraussetzungen erfüllt
werden, auf die später genauer eingegangen werden. Den Unterschied zwischen dem
traditionellen Liberalismus und der demokratischen Bewegung sieht Hayek primär in den
Idealen, den Funktionen sowie den Vor- und Nachteilen:
Ideal des Liberalismus ist die Begrenzung einer staatlichen Zwangsgewalt bzw. eines
totalitären Systems - unabhängig davon - ob diese demokratisch legitimiert ist oder nicht.
Auch das Ideal der Demokratie zielt auf eine Beschränkung der Staatsgewalt. Die Demokratie
als Willensbildungsverfahren ist Ausdruck der jeweiligen Majoritätenmeinung und steht einer
autoritären Regierung entgegen. Das Verfahren allein verhindert aber nicht, dass das
demokratische Ideal auf Grund von Willkürherrschaft, Lobbying, Ad-hoc-Gesetzgebung oder
Selbsterhaltungsinteressen von Institutionen scheitern kann.
Ansatzpunkt des traditionellen Liberalisten ist daher nicht das Verfahren oder die Methode
mit der eine Zwangsgewalt begrenzt werden kann, sondern das Ziel der individuellen
Freiheitssicherung. Der Liberalismus kritisiert, dass die Demokratie allein als Methode nicht
verhindern kann, dass Vermachtungen entstehen, die die individuelle Freiheit einschränken
können.3 Eine Mehrheitsherrschaft kann nach Hayek daher im Endeffekt den liberalen
Grundsätzen entgegenstehen:
„Für den doktrinären Demokraten dagegen bildet die Tatsache, dass die Mehrheit etwas will, einen
ausreichenden Grund, es auch für gut zu halten; für ihn bestimmt der Mehrheitswille nicht nur, was Gesetz ist,
sondern auch, was ein gutes Gesetz ist.“4
Die Dichotomie der Demokratie sieht Hayek darin, dass sie primär ein Verfahren ist und sich
im Gegensatz zum Liberalismus nicht auf die Funktionen und Ziele des Staates bezieht. Zwar
kann die Demokratie als Methodik prima facie individuelle Freiheit sichern. Sie muss aber
kein Garant für eine liberale Gesetzgebung sein.5 Hayek spricht von einer „Überforderung der
Demokratie“ vor der schon Tocqueville in seinen Untersuchung „Über die Demokratie in
Amerika“ gewarnt hatte:
2
Hayek (1971), S. 142.
Vgl. Hayek (1971), S. 125-143.
4
Ebd., S. 126.
5
Vgl. Hayek (1971), S. 125-143.
3
2
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„Nichts ist so unwiderstehlich wie eine tyrannische Regierung, die im Namen des Volkes befiehlt, weil sie –
ausgerüstet mit dem moralischen Gewicht, das dem Willen der größten Zahl anhaftet – zugleich mit der
Entschiedenheit, der Schnelligkeit und der Hartnäckigkeit eines Einzelnen vorgeht.“6
Hayek untersucht, wie die Demokratie als Methode ausgestaltet sein muss, damit sie in ihren
Ergebnissen nicht den Grundsätzen des Liberalismus widerspricht. Er kommt zu dem
Ergebnis: Demokratie ist als Verfahren nur solange sinnvoll, wie die Menschen ähnliche Ziele
und Werte haben. Ohne gemeinsame Grundsätze kann keine Einigkeit darüber erfolgen,
welche Aufgaben eine Regierung durchzuführen hat. Kommt kein Konsens über eine
bestimmte Funktion der Zwangsgewalt zustande, darf diese auch keiner legitim ausüben. Es
ist demnach auch nicht undemokratisch, wenn die Mehrheit sich auf Grenzen ihrer eigenen
Gewalt einigt. Unterschiedliche Wertesysteme und Bedürfnisse können ein gemeinsames
Handeln in einer heterogenen Gesellschaft unmöglich machen.7
Hayek greift dieses Problem bereits in der Lektüre „Der Weg zur Knechtschaft“ auf. Darin
analysiert er, warum Demokratie in einer Planwirtschaft nicht funktionieren kann. Sein
Ergebnis: Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Menschen in einer heterogenen Gesellschaft über
ein bestimmtes Programm verständigen können, nimmt mit der Komplexität dieses
Programms ab. Es ist zwar prinzipiell möglich, dass sich die Menschen für einen
gemeinsamen Wirtschaftsplan entscheiden, aber es ist gleichwohl undenkbar, dass dieser in
seinen Details und Zielen allen individuellen Interessen gerecht werden kann:
„Wenn Menschen dahin übereinkommen, dass es eine zentrale Planwirtschaft geben muß, aber über die Ziele
verschiedener Ansicht sind, so läuft das ungefähr auf dasselbe hinaus, wie wenn eine Gruppe von Personen sich
zu einer gemeinsamen Reise entschließen würde, ohne sich jedoch über das Reiseziel einig zu sein, was zur
Folge hat, dass sie alle eine Reise unternehmen müssen, die die meisten ganz und gar nicht machen wollen.“8
Ein demokratisch9 legitimiertes Handeln des Staates kann nur so weit gehen, wie die
Menschen in einem bestimmten Punkt übereinstimmen. Wenn die Gewählten als
Repräsentanten des Volkes ihr Handeln auf Gebiete ausweiten, in denen keine
Übereinstimmung besteht, ist die individuelle Freiheit gefährdet. In einer Planwirtschaft wird
demnach eine Einigkeit vorausgesetzt, die in der Realität gar nicht bestehen kann. Mehrheiten
im Willensbildungsprozess sind nur bei Entscheidungen möglich, die mit „ja“ oder „nein“
6
Tocqueville (1985), S. 126.
Vgl. Hayek (1971), S. 125-130.
8
Hayek (1944/1956/2004), S. 57.
9
Denokratisch im Sinne einer Volksherrschaft/Herrschaft der Vielen, abgeleitet von dem griechischen Wort
„demos“ für „Volk/Volksmasse/Vollbürgerschaft“ und „kratein“ für „Herrschen/Macht ausüben“, siehe Schmidt
(2000), S. 19.
7
3
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beantwortet werden können oder lediglich zwei Alternativen zur Auswahl stellen. Ein
ökonomischer Wirtschaftsplan kann jedoch nicht allen Bedürfnissen in einer komplexen
Gesellschaft entsprechen. An wessen Bedürfnisse dieser ausgerichtet ist, entscheiden die
Gewählten und zwingen der Gemeinschaft damit eine „eigene Werteskala“10 auf. Das
Entstehen einer Diktatur ist in der Planwirtschaft unvermeidlich. Ein demokratischer
Willensbildungsprozess verhindert per se nicht die Entstehung einer Willkürherrschaft,
sondern dieses vermag nur die Begrenzung der Regierungsgewalt und eben dies ist der
ambivalente Charakter der Demokratie.11
Hayek sieht in der Überforderung der Demokratie einen Grund für ihr mögliches Scheitern.
Grundsätzlich erkennt er die Demokratie aber wegen folgender Attribute als geeignetes Mittel
an: Zum einen ist sie eine geeignete Methode, um widerstreitende Meinungen zu vereinen, da
„…[es] billiger ist, die Stimmen zu zählen als zu kämpfen.“12 Zum Zweiten ist das
demokratische Verfahren eher Freiheit schaffend als andere Regierungsformen vorausgesetzt die Mehrheit macht die individuelle Freiheit zu ihrem „bewussten Ziel“13 und
beschränkt sich dafür auch selbst. Zum Dritten vertritt Hayek ebenso wie Tocqueville das
Argument, dass Demokratie das politische Verständnis erhöht. Sie erzieht die Mehrheit zu
einer aktiven Teilnahme am Prozess der Meinungsbildung. Demokratie ist ferner ein
dynamischer Prozess. Mehrheitsentscheidungen sind Ausdruck einer Erwartungshaltung zu
einem bestimmten Zeitpunkt - der Wahl. Erwartungen können sich ändern, zum Beispiel,
wenn die Menschen zu einem späteren Zeitpunkt besser informiert sind, so dass die Meinung
einer Minderheit zur Ansicht einer Mehrheit wird. Die Demokratie als Mehrheitswille ist
allein aber keine Prävention gegen eine Willkürherrschaft, die der individuellen Freiheit
entgegensteht. Hayek sieht vor allem in der Selbstbindung der Regierung einen
Lösungsansatz, um die individuelle Freiheit nicht zu gefährden:
„Eine Regierung, die sich auf keinerlei Grundsätze festlegt und vorgibt, jedes einzelne Problem
unvoreingenommen zu beurteilen, sieht sich bald zur Verfolgung der Grundsätze gezwungen, die sie nicht selbst
gewählt hat, und zu Maßnahmen, die sie nie erwogen hat.“14
Hayeks Idee einer „begrenzten Demokratie“ spricht auch gegen die Begünstigung von
Interessengruppen durch „maßgeschneiderte“ Gesetze. In seinem späteren Werk „Recht,
Gesetz und Freiheit“ schlägt Hayek daher ein Verfassungsmodell vor, das sowohl die Ziele
10
Hayek (1944/1956/2004), S. 60.
Ebd., S. 54-65.
12
Hayek (1971), S. 131.
13
Ebd., S. 132.
14
Ebd., S. 136.
11
4
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der Demokratie als auch die des Liberalismus zu vereinen sucht.15 Wesentlich beeinflusst
wird er in der Skizzierung eines „Zwei-Kammer-Systems“ durch die Ideen Montesquieus und
Mills.
3. Das Verfassungsmodell von Hayek
Hayek stützt sich bei der Ausarbeitung seines Verfassungsmodells auf die Montesquieu’sche
Idee eines freiheitlichen Staatsmodells. Montesquieus Hauptanliegen ist die Beschränkung der
ungezügelten Herrschaft der Monarchie durch eine Verteilung und Beschränkung der
Gewalten. Er tritt nicht direkt für ein demokratisch legitimiertes Verfassungsmodell ein,
sondern sieht sich selbst als Anhänger einer konstitutionellen Monarchie mit demokratischen
Elementen: Im Fokus steht die Verteilung der gesetzgebenden, ausführenden und
rechtsprechenden Gewalt auf Bürgertum, Adel und Monarchie. Bei der gesetzgebende Gewalt
soll das Volk und bei der ausführenden der Monarch die stärkste Stellung haben. Die größten
Kompetenzen der rechtsprechenden Gewalt spricht Montesquieu dem Adel und Volk zu.
Ausschlaggebend ist für ihn nicht - wie häufig behauptet - eine strikte Trennung der drei
Staatsgewalten, sondern deren Verteilung16 und Balance. Nach Montesquieu gehört es zu
einem freiheitlichen Staatsmodell, dass nicht mehrere Gewalten nur in Händen eines
einzelnen Organs liegen.17
Hayek bezieht seine Ideen für ein Verfassungsmodell auch von Alexis de Tocqueville. Dieser
analysiert in „Über die Theorie in Amerika“ (1835-1840) etwa einhundert Jahre nach
Montesquieu die Nachteile von Demokratie. Grundsätzlich sieht Tocqueville zu einer
Demokratie keine akzeptable Alternative. Da aber die Freiheit des Menschen als sein höchstes
Gut anzusehen ist, muss diese mit der Demokratie in Einklang gebracht werden. Das kann
über Institutionen erreicht werden. Tocqueville schlägt zum Beispiel längere Wahlperioden
vor, um eine konsistente Politik zu erreichen. Neue Regeln für die Auslese von bewährten
Persönlichkeiten und deren Dirigierung in politische Ämter sowie eine Selbstbindung in der
Staatstätigkeit und Ausgabenpolitik können zudem der Freiheitssicherung hilfreich sein.18
John Stuart Mill liest die Studien Tocquevilles und erweitert die Erkenntnisse in seinen
„Considerations on Representative Government“. Mill schlägt vor, dass sich eine
15
Vgl. Hayek (1971), S. 125-143.
Montesquieu spricht in seinem 1748 erschienen „De l’esprit des Loix“ von „certaine distribution des trois
pouvoirs“ – also einer Verteilung der Gewalten, die nicht mit einer Isolierung oder Trennung gleichzusetzen ist.
Siehe dazu: Schmidt (2000), S. 84.
17
Vgl. Schmidt (1997), S. 50-63.
18
Ebd., S. 63-95.
16
5
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Repräsentativversammlung auf die Aufgaben beschränkt, die sie besser als andere
Institutionen bewältigen kann, zum Beispiel die öffentliche Debatte. Die Gesetzgebung soll
einer Expertendelegation überlassen werden. Zudem befürwortet Mill die Einführung eines
Verhältniswahlrechts, um auch kleine Parteien zu berücksichtigen. Bei der Finanzierung von
Wahlkämpfen soll es nach Mill Restriktionen geben.
Hayek unterstützt die von Mill präferierte Selbstbindung. Dennoch steht er einzelnen
Forderungen Mills, zum Beispiel das Stimmrecht nach der Bildung des Wählers zu
gewichten, kritisch gegenüber. Er hält das Mill’sche Verfassungsmodell mit nur einer
Parlamentskammer zudem für nicht ausreichend, um Vermachtungen zu verhindern.19
Im Kontrast zu Mill entwirft Hayek ein Verfassungsmodell, dessen Herzstück ein ZweiKammern-System (faktische Trennung von legislativer und exekutiver Gewalt) ist:
Abbildung 1 „Die Trennung der Staatsgewalt im Hayek’schen Verfassungsmodell“
Gesetzgebende
Versammlung
Ordnungsrahmen
(Regeln gerechten
Verhaltens)
Bindung
Regierende
Versammlung
Kompetenzgerichtshof
Staatsführung
innerhalb des
Ordnungsrahmens
Schlichtung
Kompetenzkonflik
te
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Prollius (2008), S. 146-163 und Hayek (2003),
S. 411-433.
Die Kammern sollen sich in ihrer Funktion als gesetzgebende und regierende Versammlung
dadurch unterscheiden, dass die erstere universale Regeln aufstellt, über deren Anwendung im
Einzelfall aber die zweite, regierende Versammlung entscheidet. 20 Universale oder abstrakte
Regeln sind für Hayek Gesetze bzw. allgemeine Spielregeln, die nur den Rahmen festlegen,
innerhalb dessen sich der Einzelne bewegen muss:21
19
Vgl. Schmidt (1997), S. 186ff.
Vgl. Prollius (2008), S. 146-163 und Hayek (2003), S. 411-433.
21
Vgl. Hayek (1971), S. 183.
20
6
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„Sie [die Rechtssätze] sind generell und abstrakt in dem Sinne, dass sie weder bestimmte Personen noch
bestimmte Zeitpunkte oder Orte nennen und dass es tatsächlich nicht voraussehbar ist, welche Wirkungen sie auf
bestimmte bekannte Personen haben werden. Sie beziehen sich nur auf das Verhalten der Menschen zueinander
– und zum Staate – aber nicht auf ihre private Sphäre. [Diese Gesetze dienen dazu]…, die Privatsphäre jedes
einzelnen abzugrenzen und diese Sphäre gegen alle, auch den Staat, zu schützen.“ 22
Es ist Aufgabe der Legislative einen Ordnungsrahmen festzulegen, der den Staat als
Zwangsgewalt selbst bindet. Er darf nicht der Begünstigung bestimmter Interessengruppen
dienen. Die Exekutive ist in ihrer eigentlichen Beschlussfassung an den durch die
gesetzgebende Versammlung geschaffenen Regelrahmen gebunden. Sie entscheidet nur
innerhalb dieses festgelegten Ordnungsrahmens, also nicht willkürlich, beispielsweise über
Sach- und Personalmittel.23 Der Ordnungsrahmen setzt sich aus Regeln gerechten Verhaltens
zusammen. Dies sind „Verbote ungerechten Verhaltens“.24 Sie geben die Voraussetzungen an,
unter denen eine Handlung erlaubt ist und stoßen an Grenzen, wo sie die geschützte Sphäre
Dritter übertreten. Dazu gehören zum Beispiel Eigentumsrechte. Das Regelsystem ist
abstrakt, d. h. auf eine unbekannte Anzahl von Fällen in der Zukunft anwendbar.25 Regeln
gerechten Verhaltens sind ferner Grundklauseln, die nur durch die gesetzgebende
Versammlung geändert werden können. Die Begrenzung der legislativen Gewalt auf einen
Ordnungsrahmen abstrakter Regeln bindet demnach die zweite Kammer in ihrer
vollziehenden Gewalt.26
Damit die Gewalten getrennt sind und nicht nur bei einem Staatsorgan liegen, schlägt Hayek
eine unterschiedliche Wahl und Zusammensetzung der zwei Vertretungskörperschaften vor.
Beide Versammlungen sollen sich nicht in ähnlichen Relationen aus Parteien oder
Interessengruppen zusammensetzen. Die Legislative könnte sonst der Exekutive den
Ordnungsrahmen und die Gesetze vorgeben, die die regierende Versammlung für ihre Zwecke
benötigt. Eine gleiche Zusammensetzung der Vertretungskörperschaften würde so unter
Umständen zu Vermachtungen und willkürlichen Entscheidungen führen.
Hayek schlägt zudem vor, dass die Versammlungen nicht auf die gleiche Art oder den
gleichen Zeitraum gewählt werden. So soll jede Gruppe von Personen gleichen Alters einmal
im Leben (Hayek schlug mit 4027 oder 45 Jahren vor) aus ihrem Kreis Volksvertreter für eine
Amtsperiode von 15 Jahren (Umgehung der Wiederwahlrestriktion) in die gesetzgebende
Versammlung wählen dürfen. Diese Vertreter (nomothetae) sollten noch nicht in der
22
Hayek (1963), S. 49.
Vgl. Hayek (1971), S. 183.
24
Hayek (2003), S. 185.
25
Ebd., S. 184-193.
26
Vgl. Hayek (1971), S. 183ff und 415f.
27
Vgl. Hayek (1967), S. 143-150.
23
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regierenden Versammlung oder in einer Partei gearbeitet haben. Sie müssen unabhängig von
der Regierungsorganisation Grundsätze der Besteuerung festlegen, einen Rechtsrahmen für
den Wettbewerbsmarkt setzen und sich mit einem Regelrahmen für Sicherheit, Gesundheit
etc. auseinandersetzen. Die Vertreter der gesetzgebenden Versammlung werden durch einen
Senat, bestehend aus ehemaligen Mitgliedern, kontrolliert.
Die regierende Versammlung setzt sich durch periodische Wahlen und nach Parteien
zusammen. Den Hauptkern der Regierung bildet ein Exekutivausschuss der Mehrheit. Dieser
wird durch eine organisierte Opposition kontrolliert.
Ein eigener Gerichtshof schlichtet als Judikative Kompetenzstreitigkeiten zwischen der
gesetzgebenden und der regierenden Versammlung. Er kann aber auch beiden Organen die
Kompetenz entziehen, wenn sich die geplanten Maßnahmen nicht nach den Regeln gerechten
Verhaltens richten. Die Judikative besteht aus Berufsrichtern sowie ehemaligen Mitgliedern
der gesetzgebenden und regierenden Versammlung und ist an die eigenen, früheren
Entscheidungen gebunden.28
Hayek setzt sich kritisch mit seinem Verfassungsmodell auseinander. Er befürchtet, dass man
ihm Konstruktivismus vorwerfen könnte, den er selbst als „Anmaßung von Wissen“ kritisiert
hat. Darum beruft er sich in seinem Verfassungsmodell auf David Hume, der in seinem
Aufsatz „Idea of a Perfect Commonwealth“ 1752 alle Pläne der Regierung, die darauf
abzielen eine Wirtschafts- oder Gesellschaftsordnung radikal zu verändern, verwirft und als
Beispiel Thomas Morus’ „Utopia“ oder die platonische Republik anführt. Hume tritt gegen
eine Verfassungsrevolution ein:
„An established government has an infinite advantage, by that very circumstance of its being established; the
bulk of mankind being governed by authority, not reason, and never attributing authority to any thing that has
not the recommendation of antiquity.“29
Er schlägt aber in seinem Aufsatz Institutionen vor, die die Entscheidungs- und
Kompetenzverteilung in der Regierung reformieren, um das Regieren zu erleichtern:30
„In all cases, it must be advantageous to know what is most perfect in the kind, that we may be able to bring any
real constitution or form of government as near it as possible, by such gentle alterations and innovations as may
not give too great disturbance to society.” 31
28
Vgl. Prollius (2008), S. 146-163 und Hayek (2003), S. 411-433.
Hume (1752), S. 221.
30
Vgl. Hume (1752), S. 221ff.
31
Hume (1752), S. 221.
29
8
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Hayek lehnt sich mit seinem Verfassungsmodell an die Intention Humes an. Er beschränkt
sich in seinem Modell auf Vorschläge für „leichte Verbesserungen“ der Verfassung, stellt
seine Erwartungshaltung hinsichtlich einer radikalen Neuordnung aber zurück.32
4. Das Demokratiedefizit der Europäischen Union
4.1. Keine Trennung von Legislative und Exekutive
In der Politikwissenschaft wird die Qualität der Demokratie in der Europäischen Union
mehrheitlich kontrovers diskutiert. Gründe einer defizitären Demokratie sehen Kritiker in der
mangelnden Partizipation der Unionsbürger am politischen Willensbildungsprozess und in
institutionellen Mängeln, insbesondere der unscharfen Trennung der Staatsgewalten. Diese
These soll im Folgenden in Bezug auf das europäische Institutionengefüge untersucht werden.
Im zweiten Schritt wird analysiert, warum sich das Ziel der Demokratie – die Begrenzung der
Staatsgewalt - nicht ohne eine politische Selbstbindung an einen abstrakten Regelrahmen im
Sinne der traditionellen Liberalisten einstellen kann. Die Dichotomie der Demokratie kann
nach Hayek nur durch eine zusätzliche Limitierung der legislativen und exekutiven
Kompetenzen überwunden werden.
Die Demokratie in der Europäischen Union wird hinsichtlich institutioneller und struktureller
Schwachpunkte kritisiert. Das strukturelle Defizit betrifft das Fehlen eines europäischen
Staatsvolkes, einer gemeinsamer Sprache und europäischer Medien. Das institutionelle
Demokratiedefizit bezieht sich auf die Organisation und Funktion der Staatsorgane. Da Hayek
in seinem Verfassungsmodell vor allem institutionelle Reformen vorgeschlagen hat, soll
darauf im Folgenden Bezug genommen werden:
Hayek tritt in seinem Verfassungsmodell für die Trennung der Staatsgewalten in einer
gesetzgebende und eine regierende Versammlung ein. Im europäischen Institutionengefüge
gibt es solch eine strikte Trennung nicht wie Abbildung 2 verdeutlicht.
Abbildung 2 „Die Trennung der Staatsgewalt auf Ebene der EU“
Gesetzgebende
Gewalt
Vollziehende
Gewalt
Rechtsprechende
Gewalt
Kompetenz
32
Vgl. Hennecke (2008), S. 129f in Verbindung mit Hayek (2003), S. 411.
9
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Europäische
Kommission
(initiative Legislative)
Ministerrat
Europäisches Parlament
(beschließende
Legislative)
Ministerrat,
Europäischer Rat,
Hoher Vertreter der EU
(initiative Exekutive)
Europäischer
Gerichtshof,
Gericht der
Europäischen Union
(Judikative)
Europäische
Kommission,
Ministerrat,
Hoher Vertreter der EU
(ausführende Exekutive)
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Tömmel (2008), S. 230ff.
Der Rat der Europäischen Union und die Europäische Kommission haben Kompetenzen, die
sich auf die Legislative und die Exekutive beziehen. Es gibt keine abgegrenzte legislative
Gewalt, die einen Ordnungsrahmen konstruiert, der sich aus allgemeinen und abstrakten
Regeln gerechten Verhaltens zusammensetzt und innerhalb dessen die Exekutive in ihrer
Beschlussfassung Restriktionen unterliegt. Der Rat der Europäischen Union und die
Europäische Kommission sind demnach beides Organe der gesetzgebenden und der
vollziehenden Gewalt. Sie setzen sich daher zum Teil aus den gleichen Mitgliedern
zusammen, so dass die Europäische Kommission und der Ministerrat Gesetze initiieren bzw.
beschließen können, die sie dann selbst in ihrer Exekutivfunktion vollziehen. Zudem
unterliegt der Ministerrat auf Europäischer Ebene keiner Kontrolle und die Mitglieder der
Europäischen Kommission können nur in ihrer Gänze durch das Europäische Parlament
abgesetzt werden.
4.2. Europäische Kommission
Die Zusammensetzung, Funktion und Unabhängigkeit der Kommission sind in den Artikeln
244 bis 250 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union geregelt. Die
Kommission hat das alleinige Initiativrecht für die EU-Gesetzgebung und unterbreitet die
Vorschläge dem Europäischen Parlament und dem Rat der Europäischen Union (Ministerrat).
Zudem führt sie die Funktion einer ausführenden Exekutive aus, indem sie die Umsetzung des
Haushaltes und der beschlossenen Programme kontrolliert. Die Kommissionsmitglieder
werden alle fünf Jahre von den Mitgliedstaaten gewählt und in die Kommission gesandt. Das
Europäische Parlament bestätigt das gesamt Kollegium via Zustimmungsvotum. Damit
unterliegt die Europäische Kommission nicht der Wiederwahlrestriktion der europäischen
10
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Bürger. Der Kommissionspräsident wird vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit
nominiert und danach vom Europäischen Parlament via Zustimmungsvotum bestätigt. Damit
sind die Bürger der Mitgliedstaaten weder unmittelbar noch mittelbar an der Wahl der
Kommission beteiligt, der aber mit dem Initiativmonopol eine besondere Kompetenzstellung
zukommt.
Im Institutionengefüge der EU gibt es keine legislative Gewalt, die sich nur auf die Erstellung
eines Ordnungsrahmens aus Regeln gerechten Verhaltens konzentriert. Da sich die
europäische Politik längst nicht mehr nur auf Fragen der Friedenssicherung oder den Handel
bezieht, sondern zum Beispiel Kompetenzen auf dem Bereich des Verbraucherschutzes oder
der
Sozialpolitik
hat,
kann
schwerlich
von
abstrakten
Regeln
und
damit
der
Nichtüberschreitung individueller Freiheitsbereiche ausgegangen werden.
4.3. Ministerrat
Der Rat der Europäischen Union ist nicht mit dem Europäischen Rat zu verwechseln. Der Rat
der EU oder Ministerrat ist in den Artikeln 237 bis 243 des Vertrages über die Arbeitsweise
der Europäischen Union geregelt und setzt sich je nach Sachthema aus den jeweiligen
Fachministern der Mitgliedstaaten zusammen. Gemeinsam mit dem Europäischen Parlament
übt der Ministerrat eine Zweikammer-Legislative aus. Er beschließt Gesetze und Rechtsakte
und kann internationale Verträge abschließen. Zudem werden dem Ministerrat Kompetenzen
der initiierenden und ausführenden Exekutive zuteil, indem er durch rotierende
Ratspräsidentschaften über die Gesetzgebungsagenda entscheidet. Das Demokratiedefizit
besteht in der Zusammensetzung des Ministerrates aus Fachministern der Mitgliedstaaten, die
nur mittelbar von den Bürgern der Europäischen Union gewählt und durch diese kontrolliert
werden. Die Bekleidung von Ministerposten erfolgt auf nationaler Ebene über Wahlen. Die
Bürger richten ihre Entscheidung über die Wahl einer Partei primär an der nationalen Politik
aus.
Es resultiert ein Exekutivföderalismus: Nationalen Regierungen (nationale Exekutive) üben
im Ministerrat legislative Funktionen aus, die Rückwirkungen auf die Mitgliedstaaten haben,
da sie keiner parlamentarischen Kontrolle auf nationaler Ebene unterliegen. Als Beispiel kann
die Einführung der biometrischen Reisepässe angeführt werden. Es entspricht nicht dem
demokratischen Prinzip, wenn nationale Regierungen über einen Umweg (EU) Gesetze
erzielen, die in den Nationalstaaten nicht durchsetzbar gewesen wären. Die Umgehung der
nationalen Legislative ist besonders bei Paketbeschlüssen über sachfremde Themen im
11
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Ministerrat gegeben. Diese können zu einer Überregulierung führen. Häufig werden
Verhandlungspakete aus unterschiedlichen Politikbereichen von den Mitgliedstaaten als
Option gesehen, Einzelinteressen auf europäischer Ebene durchzusetzen. Ein weiterer
Kritikpunkt ist die ungenügende Kontrollmöglichkeit des Europäischen Parlamentes. Diese
wurde aber im Rahmen des Lissabon-Vertrages gestärkt.
Dem Rat der Europäischen Union steht unterstützend der Ausschuss der ständigen Vertreter
(Comité des Representants Permanents) nach Artikel 240 des Vertrages über die Arbeitsweise
der Europäischen Union zur Seite. Dem Gremium sind etwa 250 Arbeitsgruppen aus 27
Mitgliedstaaten
untergeordnet,
in
denen
nationale
Beamte
in
themenbezogenen
Arbeitsgruppen zusammenarbeiten. Das COREPER bereitet die Ratssitzungen vor, indem es
die Tagesordnung für die Ratssitzung beschließt und dem Ministerrat entscheidungsreife
Entwürfe vorlegt. Diese bedürfen meist nur noch einer förmlichen Zustimmung. Der
Ausschuss filtert die relevanten Tagesordnungspunkte. Andere Themen kommen nicht auf die
Agenda des Ministerrates. Die Sitzungen des COREPERS und des Ministerrates finden in der
Regel nicht öffentlich statt. Eine demokratische Legitimierung und Kontrolle des
Ministerrates ist durch das hochgradig administrativ verflochtene COREPER nicht gegeben.33
Aktuell wird über eine Reform der Währungsunion entschieden, die den Stabilitätspakt
verschärfen soll. Die Kommission soll mit Interventionsrechten in die Wirtschaftspolitik
wettbewerbsschwacher Länder ausgestattet werden. Die EU-Kommission schlägt dafür ein
verändertes
Abstimmungsverfahren
vor.
Das
ex
ante
Abstimmungsverfahren
des
Ministerrates (Zwei-Drittel-Mehrheit), soll in ein ex-post Verfahren umgewandelt werden, d.
h. der Rat der EU stimmt nicht mehr im Vorhinein über die Eröffnung eines Defizitverfahrens
ab. Das Verfahren soll durch einen Automatismus ersetzt werden, d. h. jede
Kommissionsentscheidung zur Einleitung oder Verschärfung eines Verfahrens soll ohne
Abstimmung im Rat in Kraft treten, insofern die Mitgliedstaaten nicht ex-post binnen zehn
Tagen dagegen Einspruch erheben.34
4.4. Europäisches Parlament
Das Europäische Parlament wird in den Artikeln 223 bis 234 des Vertrages über die
Arbeitsweise der Europäischen Union geregelt. Es nimmt wie der Ministerrat seit der
Einführung des Mitentscheidungsverfahrens mit dem Vertrag von Maastricht die Funktion
einer beschließenden Legislative wahr. Innerhalb dieser besitzt es Mitwirkungsrechte an der
33
34
Vgl. Pfetsch (2001), S. 143 und Grünhage (2007), S. 103ff.
Vgl. o.V. (2010), S. 12.
12
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EU-Gesetzgebung,
Haushaltsrechte,
Kontroll-
sowie
Zustimmungsrechte
bei
Beitrittsabkommen. Die Wahl ins Europäische Parlament erfolgt im Gegensatz zum
Ministerrat allgemein und direkt für fünf Jahre durch die Bürger der Mitgliedstaaten. Die
These eines Demokratiedefizits wird vor allem darin gestützt, dass das Europäische Parlament
als einzig direkt gewähltes Staatsorgan bis zum Vertrag von Lissabon kaum legislative
Gewalt hatte. Das Initiativrecht liegt bei der Kommission. Das Europäische Parlament darf
die Kommission nicht direkt wählen, sondern nur per Zustimmungsvotum bestätigen oder
ablehnen.35 Mit dem Vertrag von Lissabon wurden die legislativen Kompetenzen des
Europäischen Parlamentes gestärkt, so dass das Mitentscheidungsrecht zum Regelfall wird.
Ausnahmen bestehen aber noch immer, zum Beispiel für die Außen- und Sicherheitspolitik
sowie polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit. Daher liegen die Kompetenzen des
Parlamentes hinter denen des Ministerrates.
Das Initiativmonopol der Europäischen Kommission in der Legislative hat nach wie vor
Bestand. Eine (formale) Änderung gibt es nach dem Lissabon-Vertrag für die Wahl des
Kommissionspräsidenten. Dieser wurde bislang durch den Europäischen Rat vorgeschlagen
und durch das Parlament bestätigt. Nach Lissabon wird dieser noch immer – basierend auf
einer Zwei-Drittel-Mehrheit - des Europäischen Rates vorgeschlagen. Der Europäische Rat
muss nun aber nach ausdrücklicher Regelung die Mehrheitsverhältnisse im Parlament
berücksichtigen. Das wurde bislang de facto schon berücksichtigt, da der Europäische Rat
sonst um das Zustimmungsvotum des Europäischen Parlamentes hätte fürchten müssen. Als
demokratische Fehlkonstruktion erweist sich vor allem, dass auch nach Lissabon die Wahl
des Kommissionspräsidenten via Zustimmungsvotum (absolute Mehrheit) durch das
Europäische Parlament erfolgt, die Kommission aber - und nur in der Gänze - durch eine
Zwei-Drittel-Mehrheit abgesetzt werden kann. Ein Misstrauensvotum für einzelne
Kommissionsmitglieder gibt es nicht. In dem Verfassungsmodell von Hayek wird die
gesetzgebende Versammlung durch einen Senat kontrolliert. Obwohl die Europäische
Kommission weder direkt noch indirekt durch das europäische Volk gewählt ist, hat sie als
einzige das Recht der initiativen Legislative und wird nur unzureichend kontrolliert. Das
entspricht weder den Idealen der demokratischen Bewegung noch denen des traditionellen
Liberalismus.36
4.5. Europäischer Rat
35
36
Vgl. Umbricht (2006), S. 1-14.
Vgl. Oppelland, (2010), S. 79-96.
13
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Der Europäische Rat ist in den Artikeln 235-236 des Vertrages über die Arbeitsweise der
Europäischen Union geregelt. Er besteht aus den Staats- und Regierungschefs der
Mitgliedstaaten, deren Außenministern, dem Präsident der Europäischen Kommission und
dem des Europäischen Rates. Die Funktionen des Europäischen Rates beziehen sich auch auf
die Exekutive. Er kann Leitlinien erlassen (Richtlinienkompetenz). Zudem repräsentiert er die
Europäische Union nach außen. Da der Europäische Rat viele Entscheidungen einstimmig
absegnen muss, ist eine Konsensfindung schwieriger als im Ministerrat. Für ein
demokratisches Defizit spricht, dass der Europäische Rat nicht unmittelbar von den Bürgern
der Europäischen Union gewählt wird, sondern nur indirekt über die nationalen Wahlen
legitimiert ist. Er wird in Abhängigkeit von den nationalen Wahlen periodisch neu
zusammengesetzt.37
5. Folgen der Zentralisierung in einer heterogenen Gesellschaft
Der zweite Teil der kritischen Betrachtung widmet sich der Analyse einer schleichenden
Zentralisierung von Kompetenzen. Hayek problematisiert in der „Verfassung der Freiheit“
eine zunehmende Verlagerung von Kompetenzen und Aufgaben im Kontext einer
heterogenen Gesellschaft:
„Es ist nicht einzusehen, warum eine Mehrheit von Menschen, die sich für bestimmte Zwecke in einem Staat
oder einer überstaatlichen Organisation zusammengeschlossen haben, das Recht haben sollten, ihren
Machtbereich nach Belieben auszudehnen. Die herrschende Theorie der Demokratie leidet daran, daß sie
gewöhnlich im Hinblick auf eine ideale homogene Gesellschaft entwickelt wird und dann auf die sehr
unvollkommenen und oft willkürlichen Einheiten, die die bestehenden Staaten darstellen, angewendet wird.“ 38
Obwohl seinerzeit die Wirtschaftspolitik (Ordnungspolitik) vorrangig als nationalstaatliche
Aufgabe verstanden wurde, wirft Hayek in seiner „Verfassung der Freiheit“ auch Fragen auf,
die heute aktuell sind.
Während sich 1951 sechs Staaten (Belgien, BRD, Frankreich, Italien, Niederlande und
Luxemburg) aus primär ökonomischen Gründen bzw. zur Friedenssicherung zur
Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl zusammengeschlossen haben, hat sich die
Legitimationsgrundlage und Kompetenz der Gemeinschaft seither verändert. Mit den
Römischen Verträgen wurde 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)
gegründet, in der sich die sechs Staaten auf eine gemeinsame Landwirtschafts-, Verkehrs-,
37
38
Vgl. Umbricht (2006), S. 1-14.
Hayek (1971), S. 128.
14
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Wettbewerbs- und Handelspolitik einigten. 1970 kam ein Eigenmittelsystem dazu, dass sich
unter anderem aus Zöllen, Agrarabgaben, national erhobenen Mehrwertsteuereinnahmen,
Anteilen des BSP der Mitgliedstaaten etc. zusammensetzte. 1972 erweiterten sich die
Kompetenzen der EWG auf Energie-, Regional- und Umweltpolitik. Mit dem Vertrag von
Maastricht wurden der EU 1992 Zuständigkeiten auf den Gebieten der Bildung, Kultur,
Gesundheitswesen,
Verbraucherschutz,
Industrie,
Entwicklungshilfe,
Außen-
und
Sicherheitspolitik sowie Justiz und Inneres zuteil. Zudem erweiterte sich die Anzahl der
Mitgliedsländer seit 1951 von sechs auf 27, wodurch die Heterogenität (Kultur,
Wirtschaftsstruktur, Einkommen, Interessenlager) der Europäischen Union gestiegen ist.
Einer höheren Vielfalt steht damit eine „engere Union“ gegenüber, deren Kompetenzfelder
sich immer weiter vertiefen und jenseits „abstrakter Regeln“ befinden.39
Nach Hayek kann eine politische Vertiefung nicht mit einer steigenden Heterogenität einer
Gesellschaft harmonisieren. Je heterogener eine Gesellschaft und deren Bedürfnisse sind,
desto anfälliger sind die Staatsorgane für eine Werteskala. Der von Hayek antizipierte
abstrakte Regelrahmen schließt eine Vertiefung von Kompetenzen und damit der
Interventionsmöglichkeiten in den Freiheitsbereich Einzelner aus.
Eine Vertiefung der Europäischen Union ist sowohl auf institutioneller als auch auf
politischer Ebene zu sehen. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde die Beschlussfassung mit
qualifizierter Mehrheit im Rat der Europäischen Union von 137 auf 181 Politikbereiche
ausgedehnt. Dieser kann damit jetzt auch einfacher in Themen wie Verkehrspolitik,
Asylpolitik oder polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit entscheiden. Zudem kann der
Ministerrat für Teilbestimmungen des Familienrechtes mit grenzüberschreitendem Bezug von
einem Einstimmigkeitsverfahren zu Mehrheitsbeschlüssen übergehen. Die Kompetenzen der
EU werden nach Lissabon ferner in den Bereichen der Energiepolitik, Raumfahrt, Tourismus,
Sport und Katastrophenschutz ausgedehnt.
Zu kritisieren ist des Weiteren der steigende Disproportionalitätsfaktor nach Lissabon. Die
Sitzverteilung im Europäischen Parlament begünstigt zunehmend kleinere, bevölkerungsarme
Länder, was dem demokratischen Grundprinzip der Gleichheit widerspricht. Kam nach dem
Vertrag von Nizza ein Sitz im europäischen Parlament auf 80.000 Einwohner in Malta, sind
es nach Lissabon nur noch 67.000 Malteser. Nach Nizza kommen auf einen deutschen
Abgeordneten im europäischen Parlament (bei 82.500.000 Deutschen) rund 830.000 Deutsche
und nach Lissabon auf einen Sitz im Europäischen Parlament schon 860.000 deutsche. Diese
39
Vgl. Brasche (2003), S. 13-23 und 195ff.
15
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Änderung tritt ab der Europawahl 2014 in Kraft. Der Bevorteilung kleiner Länder steht ab
2014 das Konzept der doppelten Legitimität im Ministerrat gegenüber, was zusätzliche
Verwirrung stiftet. Demnach wird die qualifizierte Mehrheit nach der doppelten Mehrheit von
Mitgliedsstaaten und Bevölkerung berechnet. Wenn 55% der Mitgliedsstaaten, die
gemeinsam mindestens 65% der europäischen Bevölkerung auf sich vereinen, einem
Beschluss zustimmen, ist die genannte Legitimität erreicht. Infolge des Prinzips der doppelten
Legitimität im Rat werden tendenziell die Mitgliedsstaaten bevorzugt, die einen Großteil der
europäischen Bevölkerung auf sich vereinen wie zum Beispiel die BRD, Frankreich, Italien
und Großbritannien. Sind sich diese vier Staaten politisch einig, vereinen sie bereits die 65%
der europäischen Bevölkerung auf sich – für eine qualifizierte Mehrheit im Rat ausreichend.
Letztlich sollen also im Parlament die Interessen kleinerer, bevölkerungsarmer Länder
gestärkt und im Ministerrat geschwächt werden. Dies widerspricht jeglicher konsistenter
Logik.40
Die Verlagerung von Kompetenzen (durch Lissabon erneut bestätigt) auf eine hierarchisch
höher gestellte Körperschaft steht dem Subsidiaritätsprinzip entgegen. Der Grundsatz der
Subsidiarität kommt aus der katholischen Soziallehre und besagt, dass der jeweils kleineren
Einheit vor der jeweils größeren ein Vorrang eingeräumt werden soll, es sei denn, die kleinere
Einheit
kann
ihre
Aufgaben
nicht
allein
bewältigen.
Hayek
beschreibt
das
Subsidiaritätsprinzip in „Recht, Gesetz und Freiheit“ wie folgt:
„Eine friedliche offene [große] Gesellschaft ist nur möglich, wenn sie die Methode zur Abschaffung von
Solidarität aufgibt, die in der kleinen Gruppe am wirksamsten ist…“ 41
Mit dem Vertrag von Maastricht bekam der Grundsatz über die Subsidiarität erstmals eine
verbindliche Grundlage im Primärrecht der Europäischen Union. Nach dem Vertrag von
Lissabon soll er unter der „Hausnummer“ des Artikels 5 EU-Vertrag als ordnungspolitischer
Grundsatz für eine Kompetenzabgrenzung zwischen der Europäischen Union, den
Mitgliedsstaaten und den Ländern bzw. Regionen sorgen. Mit dem Vertrag von Lissabon
werden
den
Mitgliedstaaten
nun
neue
Verfahrensrechte
zugestanden,
um
ihnen
Interventionsmöglichkeiten gegen die Verlagerung nationaler Kompetenzen zu geben. Nach
Lissabon werden zwei neue Kontrollinstrumente geschaffen: Die Subsidiaritätsrüge und die
Subsidiaritätsklage. Als Präventivkontrolle ist die Rüge ein Instrument mit dem die nationalen
Parlamente binnen einer Acht-Wochen-Frist nach Vorlage eines Entwurfs eine begründete
40
41
Vgl. CEP (2010).
Hayek (2003), S. 301.
16
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Stellungnahme über die Unvereinbarkeit von europäischen Gesetzgebungsakten mit dem
Subsidiaritätsprinzip abgeben können. Die Europäische Kommission muss ihren Entwurf aber
nur dann überprüfen, wenn ein Drittel (Ausnahmen in den Bereichen Justiz und Inneres) aller
nationalen Parlamente eine Unvereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip postulieren.
Praktisch ist eine Subsidiaritätsrüge unter den restriktiven Voraussetzungen der erforderlichen
Quoren und Fristen nicht möglich.
Die Subsidiaritätsklage ist ein ex-post Kontrollrecht der nationalen Parlamente. Diese können
gegen einen bereits erlassenen Rechtsakt vor dem Europäischen Gerichtshof klagen. Auch
hier ist die Diskrepanz zwischen de facto und de jure ersichtlich. Der Europäische Gerichtshof
genießt in Fragen der Subsidiarität Bewertungsspielräume und konzentriert sich auf eine
Evidenzkontrolle, d. h. erklärt Gesetze für legitim, wenn sich nur irgendein sachlicher Grund
zu
deren
Gunsten
anführen
lässt.
Der
Gesetzgeber
hat
damit
einen
hohen
Gestaltungsspielraum, der auch als „Entscheidungsprimat europäischer Politik“ bezeichnet
wird.42
Bislang haben die europäischen Richter noch keinen Gesetzesakt wegen eines Verstoßes
gegen das Subsidiaritätsprinzip zurückgezogen oder für nichtig erklärt.
Jegliche Kompetenzerweiterung der EU schränkt den legislativen Spielraum der nationalen
Parlamente erheblich ein. Um eine effektive Subsidiaritätskontrolle durchführen zu können
und die Position der Mitgliedsstaaten als deren Wächter aufzuwerten, müssen die Instrumente
grundlegend hinsichtlich ihrer Fristigkeiten und der erforderlichen Quoren reformiert werden.
Für einen Abbau der Barrieren, die bei einer Subsidiaritätsklage zu erwarten sind, wäre die
Errichtung eines
Europäischen
Gerichtshofes
für
Kompetenzfragen
innerhalb
der
Europäischen Union sinnvoll. An diesem sollten Verfassungsrichter der Mitgliedsstaaten
gemeinsam mit Richtern des Europäischen Gerichtshofes arbeiten. Hayek schlägt in seinem
Verfassungsmodell vor, auch Vertreter der legislativen und exekutiven Kammer zu
integrieren, um Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Vertretungskörperschaften zu
schlichten. Bevor diese aber nicht klar in ihrer gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt
abgegrenzt werden, erscheint die Umsetzung redundant. Entscheidungen der Judikative
dürfen nicht nur aufgrund eines Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip, sondern auch unter
Beachtung bestehender EU-Kompetenzen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit43
42
Vgl. Silberhorn (2007), S. 1ff und Koch,/Kullas (2010), S. 6-12.
Die Intensität der Maßnahme der Organe der EU muss im Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen. Das
bedeutet, dass die Union, wenn sie zwischen verschiedenen Handlungsformen wählen kann, bei gleicher
Wirksamkeit diejenige zu wählen hat, die den Mitgliedstaaten und den Einzelnen die meiste Freiheit belässt,
siehe dazu: Europa (2009).
43
17
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getroffen werden. Dies steht im Gegensatz zur praktizierten Evidenzkontrolle. Die Bedeutung
einer unabhängigen Judikative hat Hayek bereits in der „Verfassung der Freiheit“
unterstrichen. Diese soll sich an ihre eigenen, früheren Entscheidungen binden und
Kompetenzkonflikte schlichten. Die Verfassungswirklichkeit sieht anders aus:
Ein Beispiel ist das „Mangold“-Urteil. Unter der Rot-grünen Regierung wurde 2002 die
Altersgrenze, ab der Arbeitnehmer uneingeschränkt befristete Arbeitsverhältnisse eingehen
können, von 58 auf 52 Jahre gesenkt, um die Beschäftigungschancen älterer Arbeitsloser zu
erhöhen. Von der EU wurde im Jahr 2000 die „Richtlinie zur Festlegung eines allgemeinen
Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf“
verabschiedet, nach der es untersagt war, Beschäftigte und Berufstätige Alters wegen zu
diskriminieren. Im Jahr 2003 klagten zwei gewerkschaftsnahe Rechtsanwälte (Mangold und
Helm) vor dem Bundesarbeitsgericht in München gegen die Herabsetzung der Altergrenze
und begründeten dies mit einem Verstoß gegen die EU-Richtlinie. Der Rechtstreit kam vor
den Europäischen Gerichtshof. Dieser erklärte die Unvereinbarkeit der deutschen Vorschrift
mit dem europäischen Diskriminierungsverbot. Er ordnete zudem eine sofortige Wirkung des
Urteils an, was die nationale Vorschrift unmittelbar aushebelte. Da es sich um eine nationale
Arbeitsmarktmaßnahme handelte, die in die Kernkompetenz der Bundesrepublik fällt (keine
grenzüberschreitende Auswirkung), ist hier ein Widerspruch zum Subsidiaritätsprinzip zu
konstatieren.44
Die Ausweitung der europäischen Kompetenzen durch den Europäischen Gerichtshof spricht
zudem gegen das Gewaltentrennungsprinzip, das im Mittelpunkt des Hayek’schen
Verfassungsmodells steht. Hayek charakterisiert die „unbeschränkte Demokratie“ mit einer
zunehmenden Ausdehnung von staatlicher Kontrolle, insbesondere in der Wirtschaft. Mit dem
Mangold-Urteil wird die nationale Gesetzgebung für nichtig und die europäische für geltend
erklärt. Damit nimmt die Judikative auch legislative Aufgaben wahr, was das europäische
Verfassungsprinzip zusätzlich verklärt. Das Bundesverfassungsgericht betätigte das Urteil des
Europäischen Gerichtshofes im August 2010 mit der Begründung, dass
„… ein Kompetenzverstoß der europäischen Organe und Einrichtungen [nicht] hinreichend qualifiziert ist. [Eine
hinreichende Qualifizierung] setzt voraus, dass das Handeln der Unionsgewalt offensichtlich kompetenzwidrig
ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Europäischer Union zu einer
strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten der Mitgliedstaaten führt.“45
44
45
Vgl. cep/Gerken/ Herzog (2008), S. 2-5 und Bundesverfassungsgericht (2010), S. 1-4.
Bundesverfassungsgericht (2010), S. 2.
18
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Was genau eine „bedeutsame Verschiebung“ ist, wird nicht weiter begründet. Dieses zu
beurteilen, würde Hayek vermutlich als „Anmaßung von Wissen“ bezeichnen. Ein weiteres
Beispiel für eine Aushöhlung nationaler Kompetenzen ist das 2006 durch den Europäischen
Gerichtshof bestätige Tabakwerbeverbot. Die Europäische Kommission wollte Tabakwerbung
in Zeitungen aus gesundheitspolitischen Gründen verbieten. Da ihr dazu die Gesetzkompetenz
fehlte, begründete sie ein EU-weites Tabakwerbeverbot mit einer auszuschließenden
Binnenmarktsbehinderung. Ein nationales Tabakwerbeverbot würde de facto zu einem
Verkaufsverbot ausländischer Zeitungen mit Tabakwerbung führen. Dies behindere den
Binnenmarkt. Der europäische Gesetzgeber ignorierte dabei, dass alle zuvor vorhandenen
nationalen Verbote von Tabakwerbung ohnehin ausländische Zeitungen ausgenommen
hatten.46
6. Fazit
Die Analyse hat gezeigt, dass die individuelle Freiheit von Menschen nur erhöht werden
kann, wenn mit einer Verringerung des Demokratiedefizits auch eine Einschränkung des
staatlichen Zwangsmonopols (Kompetenzen) einhergeht. Je heterogener ein Staatenbund ist,
desto höher sind die Präferenzkosten. Diese entstehen, wenn die Bedürfnisse bzw. die
Vorstellungen der Menschen hinsichtlich einer bestimmten Maßnahme oder Politik
divergieren.47 Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Gesetzgebungsakt in einer zentralisierten EU
den Freiheitsbereich Einzelner einschränkt, wird daher mit der Heterogenität einer
Gesellschaft - deren Kultur und Wünschen - größer. In einer Gesellschaft divergierender
Bedürfnisse wie dem europäischen Staatenbund kann eine freiheitliche Demokratie nur
solange wirksam bleiben wie sich der Gesetzgeber „…in der Ausübung seiner Zwangsgewalt
auf Aufgaben beschränkt, die demokratisch durchgeführt werden können.“48 Hayek empfiehlt
dafür ein System abstrakter Regeln. Dass die Demokratie und die Strömung des Liberalismus
kein Widerspruch sein müssen, sondern komplementär zueinander stehen, stellt er im letzten
Teil der „Herrschaft der Mehrheit“ heraus. Dies setzt aber voraus, dass die Demokratie als
reines Verfahren (Institution) oder Methode nicht letztlich zu Vermachtungen führt, die den
individuellen Freiheitsbereich des Einzelnen einschränken. In seinem Verfassungsmodell
versucht Hayek die Ideale der Demokratie mit denen des traditionellen Liberalismus durch
46
Vgl. cep/Gerken,/Herzog (2008), S. 2-5.
Vgl. Koch,/Kullas, (2010), S. 20f.
48
Vgl. Hayek (1971), S. 142.
47
19
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Gewaltentrennung und Selbstbindung der Staatsorgane in Einklang zu bringen. Hayeks
Verfassungsmodell stellt damit institutionenökonomische Ansätze dar, die selbst 50 Jahre
nach der Veröffentlichung der „Verfassung der Freiheit“ von aktueller Relevanz sind.
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