From Westphalia to Westfailure

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From Westphalia to Westfailure ?
Internationale Akteure und die Fallstricke Humanitärer
Intervention
- Reinhard Meyers –
Unter Bezug auf den Westfälischen Frieden von 1648 nutzt die Lehre von den Internationalen
Beziehungen die Metapher vom „Westfälischen System“ schon seit den späten 60er Jahren des
letzten Jahrhunderts, mehr aber noch seit dem Ende des Ost-West-Konflikts gern zur generellen
Beschreibung des modernen internationalen (Staaten-) Systems1. Sie verbindet damit ein
Bündel von Ideen und Vorstellungen über internationale Politik, die ausgehen vom Kernkonzept
der
einzelstaatlichen
Souveränität,
dem
staatlichen
Monopol
legitimer
physischer
Gewaltsamkeit innerhalb eines abgrenzbaren Territoriums (Max Weber), dem Prinzip der
Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten Dritter, dem Schutz der territorialen Integrität
der Akteure und dem Verbot der Gewaltanwendung in den zwischenstaatlichen Beziehungen
(Art.2 UNO-Charta). Im Sinne des klassischen Realismus dient die Metapher auch zur griffigen
Anzeige einer
Vorstellung
internationaler
staatenweltlicher
Ordnung,
die bewußt
mit
globalistischen oder gar die Menschheit zur Gänze umfassenden Ordnungsvorstellungen des
Idealismus kontrastiert2. Kurz – das Westfälische Modell
„ … based on the principles of autonomy, territory, mutual recognition and
control, offers a simple, arresting, and elegant image. It orders the minds of
policymakers. It is an analytic assumption for neo-realism and neo-liberal
institutionalism. It is an empirical regularity for various sociological and
constructivist theories of international politics. It is a benchmark for observers
who claim an erosion of sovereignty in the contemporary world. ...3.
Allerdings – von einer empirisch akkuraten Beschreibung der historischen Wirklichkeit ist das
Westfälische Modell doch recht weit entfernt: weder kann das Jahr 1648 als der terminus post
quem dienen, zu dem die Vertragsparteien von Münster und Osnabrück gleichsam mit einem
1
Paradigmatisch eines der im angloamerikanischen Raum am weitesten verbreiteten Lehrbücher: Charles W.
Kegley, Jr./Shannon L. Blanton: World Politics. Trend and Transformation. 2012-2013 ed., Wadsworth Cengage
Learning, S. 12 ff; genereller kritischer Überblick zu dieser Begriffspraxis Sebastian Schmidt: To Order the Minds of
Scholars: The Discourse of the Peace of Westphalia in International Relations Literature, in: International Studies
Quarterly (2011), 55, 601 – 623.
2
Zur weiteren Übersicht mit reichhaltigen Literaturangaben mein Stichwort Theorien der Internationalen
Beziehungen, in: Wichard Woyke (Hrsg.): Handwörterbuch Internationale Politik, 12.Aufl. Opladen: Budrich 2011,
S.490 – 520.
3
Stephen D. Krasner: Rethinking the sovereign state model, in: Review of International Studies (2001), 27, 17 – 42.
1
Federstrich das moderne internationale System und seine von der Fundamentalnorm der
Staatssouveränität her geordnete Völkerrechtsordnung aus der Taufe hoben4. Noch läßt sich
die empirische Referenz einer auf Gleichberechtigung aller Akteure und Interventionsverbot
abstellenden wissenschaftlichen Denk- und Argumentationsfigur festhalten, die sich im Laufe
der Diskussion vom historischen Substrat immer weiter entfernte5 und ein virtuelles, in mancher
Hinsicht gar hypertrophes Eigenleben gewann6. Wir konzedieren gern, daß Wissenschaft
ontologischer Weltbilder und methodologischer Großtheorien bedarf, um die unendliche Menge
realhistorischer Phänomene zu ordnen, zu strukturieren und (wenigstens) zu erklären7. Nicht
erst seit dem Einzug des Konstruktivismus in den Sozialwissenschaften, sondern schon seit der
Auseinandersetzung um Begriff und Wirkung des Vorverständnisses in der hermeneutischen
Philosophie wissen wir aber auch, dass Vorverständnisse und ontologische Weltbilder nicht nur
der Selbstverständigung wissenschaftlicher Schulen über den je eigenen Standort und die je
eigene „Denke, Rede und Schreibe“ dienen, sondern auf dem Weg über die Konstruktion von
„Wirklichkeit“ die Realitätsperzeptionen, Zieldefinitionen und Ziele umsetzenden Aktionen
gesellschaftlicher und politischer Handlungsträger wenigstens beeinflussen, wenn nicht
entscheidend prägen.
In diesem Kontext bleibt das Westfälische Modell bis auf weiteres relevant: Wegen seiner relativ
einfachen, eher schon unterkomplexen Akteursstruktur, wegen
seiner Insistenz auf dem
nationalen Interesse als Leitstern politischen Handelns, wegen seiner Interpretation des
Akteurs- und Handlungsumfeldes als einer nullsummenspielartigen, vom Sicherheitsdilemma
durchzogenen Anarchie, in der allein die eigene Stärke (oder wahlweise noch die Schwäche der
Anderen) über Erfolg und Misserfolg von Politik entscheidet, hat es bislang nicht nur die Kritik all
jener überlebt, die ihm in seiner nachgeradezu grandiosen Simplifikation komplex geschichteter
4
Hierzu Stephane Beaulac: The Westphalian Model in Defining International Law: Challenging the Myth, in:
Australian Journal of Legal History (2004), 7, 181 – 213.
5
Von der Regelung reichsverfassungsrechtlicher Angelegenheiten durch Intervention Dritter – nämlich Frankreich
und Schweden – im Westfälischen Frieden über die Pentarchie bzw. das Konzert der Mächte nach dem Wiener
Kongreß bis zur Neuordnung des Balkans durch den Berliner Kongreß 1878 ist die neuzeitliche Geschichte Europas
durchsetzt von schlagenden Beispielen für die Intervention Dritter in innere Angelegenheiten vorgeblich souveräner
Akteure – wobei es freilich einen Unterschied macht, ob man als Kleinstaat das Zusammenspiel oder die Soli der
Großen erdulden oder als Großmacht Tempo und Tonart der konzertanten Darbietung bestimmen kann. Lehrreich in
diesem Kontext Heinz Duchhardt: Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700 – 1785.
Paderborn: Schöningh 1997, und Winfried Baumgart: Europäisches Konzert und nationale Bewegung. Internationale
Beziehungen 1830 – 1878. Paderborn: Schöningh 1999.
6
Man vergleiche die unterschiedliche Anlage solcher Werke wie F.H.Hinsley: Power and the Pursuit of Peace.
Theory and Practice in the History of Relations between States. Cambridge: Cambridge UP 1967, und Kenneth N.
Waltz: Theory of International Politics. New York: McGrawHill 1979.
7
Hierzu als vorzüglicher Überblick Gert Krell: Weltbilder und Weltordnung. Einführung in die Theorie der
internationalen Beziehungen. 4.überarb.u.aktualis.Aufl. Baden-Baden: Nomos 2009.
2
historischer Tatbestände und kaum definitiv auf Anfangs- oder Endpunkte zu bringender,
vielfach zerfranster langfristiger Entwicklungsprozesse organisierte Heuchelei vorwerfen8. Auch
die Lebensendzeitprognosen all jener, die eine materiell-dialektische Verbindung zwischen der
Entwicklung des Westfälischen Systems und der zunächst europazentrischen, dann auf den
Weltzusammenhang ausgedehnten kapitalistischen
Wirtschaftsform mit ihren periodischen
9
Krisen und Zusammenbrüchen postulieren und dem Westfälischen System ob seines Verlustes
an Kontrolle des internationalen Finanzsystems, seiner defizitären Bilanz im Umweltschutz und
seines Versagens beim Nord-Süd [oder besser: Reich-Arm-] Ausgleich den Weg nach
Westfailure weisen10, hat es bis dato ignoriert – ein Johnny Walker der Internationalen
Politischen Ökonomie – born 1648 and still going strong ??
Nach der Meinung mancher meiner Fachkollegen – für die das Westfälische System als
mythische Denkfigur eher das Ergebnis einer Fixierung des 19. und 20. Jahrhunderts auf den
Begriff der Souveränität zu sein scheint11 denn die begriffliche Abstraktion eines historischen
Entwicklungsprozesses des 17. Jahrhunderts12 -
haben erst die Auswirkungen der
Globalisierung auf die Gegenstände, Prozesse und Strukturen von Krieg und Frieden13
(Transnationalisierung der Problemlagen, Ablösung der klassischen staatenzentrischen
internationalen Politik durch internationales Regieren: international governance, Ausbildung
transnationaler Öffentlichkeiten und deren durchgängiger Forderung nach Transparenz und
Rechenschaftspflichtigkeit des Akteurshandelns) zu einem Paradigmenwechsel im Nachdenken
über internationale Ordnungsstrukturen geführt und deren nationale durch postnationale
Konstellationen abgelöst14. Bestimmt man diesen Vorgang stärker aus der Perspektive der
Sicherheitspolitik15, liessen sich auch neben der klassischen westfälischen Konstellation mit
ihrem Bezug auf die Kernkonzepte innere und äußere Souveränität, staatliches Gewaltmonopol,
8
Krasner (wie Anm..3), S. 42.
Hierzu grundlegend Susan Strange: States and Markets. An Introduction to International Political Economy.
London: Blackwell 1988 und dies.: Casino Capitalism. Manchester: Manchester UP 1997.
10
Susan Strange: The Westfailure System, in: Review of International Studies (1999), 25, 345 – 354.
11
Andreas Osiander: Sovereignty, International Relations, and the Westphalian Myth, in: International Organization
(2001), 55,2, 251 – 287.
12
So die These Osianders: „…’Westphalia’ as generally understood in IR today is really a figment of the
nineteentrh-century imagination, stylized still further, and reified, by the discipline of IR itself in the twentieth
century...” – ebd. S. 284.
13
zur Übersicht meinen Beitrag: Krieg und Frieden,in: Hans J. Gießmann/Bernhard Rinke (Hrsg.): Handbuch
Frieden. Wiesbaden: VS-Verlag 2011, 21 – 50.
14
Bernhard Zangl/Michael Zürn: Frieden und Krieg. Sicherheit in der nationalen und postnationalen Konstellation.
Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003.
15
Hierzu relativ früh schon mein Beitrag: Von der Globalisierung zur Fragmentierung? Skizzen zum Wandel des
Sicherheitsbegriffs und des Kriegsbildes in der Weltübergangsgesellschaft, in: Paul Kevenhörster/Wichard Woyke
(Hrsg.): Internationale Politik nach dem Ost-West-Konflikt. Globale und regionale Herausforderungen. Münster:
agenda 1995, 33 - 82
9
3
Gleichrangigkeit der Akteure und Legitimität des Rekurses auf bewaffnete Gewalt wenn nicht
länger zur Durchsetzung der eigenen Interessen nach außen so doch zumindest zur Sicherung
der Freiheit der gesellschaftlichen Eigenentwicklung gegen Ein- und Übergriffe Dritter zwei
weitere Konstellationen unterscheiden, die unseren Kontext ausfüllen: Die prä-westfälische
Konstellation16 in der das staatliche Gewaltmonopol entweder nie ausgebildet war oder – als
Folge von Staatsversagen oder Staatszerfall - zusammengebrochen ist, in der der Staat das
seine Existenz seit der Hobbes’schen Vertragstheorie legitimierende Sicherheitsversprechen
(nach außen gegen militärische Angriffe, nach innen durch Garantie der Verkehrswege-,
Rechts- und Besitzsicherheit) nicht erfüllt, in der Gewalt vielmehr fragmentiert, privatisiert,
kommerzialisiert wird – nach Maßgabe politischer Willkür und nullsummenspielartiger
Verteilungskämpfe aufgeteilt unter Clans, Stammesherrn und Warlords. Und die postwestfälische Konstellation, geordnet vom Gedanken der kollektiven Sicherheit her, die ihre
Akteure in internationale oder multilaterale Entscheidungsprozesse und Handlungsstrukturen
einordnet, ihnen einen zumindest partiellen Souveränitätsverzicht abnötigt, im Sinne der
Agenda für den Frieden der Vereinten Nationen aus 1992 aber der Welt auch Chancen auf eine
konfliktpräventive Friedensdiplomatie, eine konflikteinhegende und/oder konfliktschlichtende
Friedenssicherung
und
eine
postkonfliktive
Friedenskonsolidierung
eröffnet.
Ulrich
17
Schneckener hat diese Konstellationen einmal pointiert zusammengefaßt:
„Während bei der westfälischen Konstellation Sicherheitspolitik primär eine
Domäne des Nationalstaats ist und bleibt, verweist Prä-Westfalia auf die
Privatisierung und Entstaatlichung von Sicherheit, verbunden mit dem Verlust
staatlicher Kontroll- und Handlungsfähigkeit. Post-Westfalia ist hingegen durch
Tendenzen zur Internationalisierung und Multilateralisierung von Sicherheit
geprägt, bei der staatliche Akteure Aufgaben an internationale Organisationen
oder multilaterale Gremien delegieren und damit bewußt de-factoEinschränkungen in ihrer Souveränität in Kauf nehmen.“
Dabei sollten wir festhalten, dass die eben kurz skizzierten Kategorien solche der
politikwissenschaftlichen Analyse sind, mit Blick auf die von ihnen abgedeckten historischen
Tatbestände aber allenfalls den Rang idealtypischer Konstrukte beanspruchen können. Kritisch
zu hinterfragen wären in diesem Zusammenhang
- die oft auch und gerade in der völkerrechtlichen Literatur geäusserte Behauptung, der
Westfälische
hierarchischen
Friede
etabliere
Gemengelage
eine
quasi
Epochenschwelle,
noch
den
mittelalterlicher
Umschlagspunkt
Gewalten
und
von
der
ineinander
verschachtelter Zuständigkeiten, Privilegien, Prärogative und Immunitäten zum Auftritt des straff
16
Hierzu Ulrich Schneckener: Post-Westfalia trifft Prä-Westfalia. Die Gleichzeitigkeit dreier Welten, in: Egbert
Jahn/Sabine Fischer/Astrid Sahm (Hrsg.): Die Zukunft des Friedens. Band 2: Die Friedens- und Konfliktforschung
aus der Perspektive der jüngeren Generationen. Wiesbaden: VS-Verlag 2005, 189 – 211.
17
Ebd., S. 193.
4
und zentralistisch organisierten einheitlichen internationalen Akteurs, ausgestattet mit absoluter
und exklusiver Macht und Herrschaft über ein wohldefiniertes Territorium, eingebunden in eine
Ordnung „…created by states, for states…“18,
-
die wirkmächtige definitorische Rolle einzelner Wissenschaftler in der Begründung eines
kompletten Traditionsduktus, demzufolge der Vertrag von 1648 das Verlassen eines
geschichteten, von Kaiser und Papst dominierten hierarchischen Abhängigkeitssystems
unterschiedlicher Gewalten besiegelt und eine auf dem Grundsatz der Gleichrangigkeit der
Akteure fußende internationale (Staaten-) Gesellschaft etabliert, deren Mitglieder als
„…individually independent of any higher authority…“19 betrachtet werden konnten,
und
schliesslich
- die Wirkung der globalisierungstypischen Phänomene von Kooperation, Verflechtung und
Entgrenzung auf das reale Substrat des Westfälischen Modells.
In ihrer Gesamtheit könnten diese Argumentationszusammenhänge den Schluss nahelegen,
unsere hyperbolische Metapher gerate über kurz oder lang in einen Zustand der
metaphorischen Hypertrophie.
I) 1648 als Epochenschwelle ?
Die Lexikonliteratur lebt von Vereinfachungen: aber es sind gerade diese Vereinfachungen, die
die Grundzüge einer Problemdiskussion in einer bestimmten Epoche plastisch hervortreten
lassen (und auch darüber Auskunft geben, wann und wo ein Phänomen überhaupt
problematisiert
wird).
Eine
überschlägige
Durchmusterung
völkerrechtlicher
und
politikwissenschaftlicher Nachschlagewerke – vom klassischen Strupp/Schlochauer20 über
Pipers Wörterbuch zur Politik
21
und Beck’s Lexikon der Politik22 bis zu neueren
englischsprachigen und französischen Werken ergibt ein zunächst verblüffendes Ergebnis: für
die deutschen Lexikographen – mit Ausnahme der Enzyklopädie der Neuzeit23- ist der
Stéphane Beaulac: The Westphalian Legal Orthodoxy – Myth or Reality ?, in: Journal of the History of
International Law (2000), 2, 148 – 177, hier S. 149 sowie Kalevi J. Holsti: Peace and War. Armed Conflict and
International Order, 1648 – 1989. Cambridge: Cambridge UP 1991.
19
Charles Fenwick: International Law. 4.Aufl. New York: Appleton-Century Crofts 1965, S.14, zit.n. Beaulac,.ebd.,
S.150
20
hier angezogen Karl Strupp/Hans-Jürgen Schlochauer (Hrsg.): Wörterbuch des Völkerrechts. Bd.III RapalloVertrag bis Zypern. Berlin: De Gruyter 1962.
21
Dieter Nohlen (Hrsg.):Pipers Wörterbuch zur Politik. Bd.5: Internationale Beziehungen. Hrsg.. Andreas Boeckh.
München: Piper 1984.
22
Dieter Nohlen (Hrsg.): Lexikon der Politik. Bd.6: Internationale Beziehungen. Hrsg. Andreas Boeckh. München:
C.H.Beck 1994.
23
Friedrich Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 14: Vater – Wirtschaftswachstum. Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2011.
18
5
Westfälische Friede überhaupt kein Thema24, für ihre angloamerikanischen und französischen
Kolleginnen und Kollegen aber desto mehr.25 Und: das Interesse am Sujet scheint ein Produkt
des ersten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts zu sein – Reaktion auf die – im 11.09.200126
symbolhaft aufscheinende - grundsätzliche Infragestellung der überlieferten Ordnungsprinzipien
des staatenzentrischen Systems durch neuartige Gewaltakteure, die sich ganz bewußt nicht
mehr an den überkommenen westfälischen Komment halten ?
Wie
dem
auch
sei
–
die
These
von
der
Epochenschwelle
scheint
vornehmlich
angloamerikanischen völkerrechtsgeschichtlichen und politikwissenschaftlichen Ursprungs27,
und wird in der eher historisch argumentierenden Literatur nur bedingt geteilt 28. Wenn schon
eine Epochenschwelle, dann aber eine langgestreckte: 1648 und der Pyrenäenfrieden zwischen
Frankreich und Spanien 1659 und der Friede von Oliva zwischen Schweden, Polen,
Brandenburg und Österreich 1660 gehören zusammen – und wenn man – wie Heinz Schilling29
- argumentiert, dass eine Gesamtwürdigung der Verträge von Münster und Osnabrück darauf
beharren müsse, dass mit ihnen
„…
ein
Schlußstrich
Staatenkonkurrenz
Epoche
und
gezogen…“
unter
eine
endemische
und
eine
durch
rechtlich
Glaubenskriege
„…neue
ungebändigte
gekennzeichnete
Grundordnung
für
das
Zusammenleben der Staaten und Völker ins Leben gerufen…“ wurde, „… die
fortan die Staatenbeziehungen nach alllgemein anerkannten oder von Fall zu
Fall neu auszuhandelnden Normen regelte…“
dann gehört der Friede von Utrecht mit seiner erstmaligen Nennung des Gleichgewichts als
rechtsgrundsätzliches
Regelungsmoment
der
Beziehungen
im
europazentrischen
Staatensystem unbedingt noch mit in diesen Zusammenhang.
24
So übrigens auch für die Klassiker der Völkerrechtsgeschichte nicht: vgl. Wilhelm G. Grewe: Epochen der
Völkerrechtsgeschichte. Baden-Baden: Nomos 1984; Strupp/Schlochauer referieren zwar die wesentlichen
Bestimmungen des Westfälischen Friedens, enthalten sich aber jeglicher Bewertung seiner möglichen Bedeutungen.
25
Vgl. den ausführlicheren Beitrag von Gregory A. Raymond: Westphalia, in: Martin Griffiths (Hrsg.): encyclopedia
of international relations and global politics. Abingdon, Oxon.:Routledge 2005, S. 856 ff.
26
Bernd Greiner: 9/11. Der Tag, die Angst, die Folgen.München: C.H.Beck 2011.
27
Belege in Stephane Beaulac: The Westphalian Legal Orthodoxy – Myth or Reality ?, in: Journal of the History of
International Law (2000), 2, 148 – 177, Anm. 1.
28
So etwa Martin Wight: Systems of States. Hrsg. Hedley Bull. Leicester: Leicester UP 1977, der die langfristige
Dauer der Ausbildung des modernen Staatensystems betont und als Eckpunkte der Entwicklung das Konzil von
Konstanz 1414 – 1418 einerseits und den Frieden von Utrecht 1713 andererseits ansetzt.
29
Konfessionalisierung und Staatsinteressen 1559 – 1660. [Handbuch der Geschichte der Internationalen
Beziehungen. Hrsg. Heinz Duchhardt/Franz Knipping, Bd.2]. Paderborn: Schöningh 2007, insbes. S. 591ff.
6
Das Problem solcher Interpretationen, die den Verträgen von 1648 nicht nur die Legitimation
eines „…commonwealth of
sovereign states…“ zuschreiben, die Formulierung einer
„…fundamental and comprehensive charter for all Europe…“30 (und von dort aus gleich die
Jahrhundertverbindungen zum Völkerbund und zu den Vereinten Nationen ziehen wollen),
sondern sie auch zur Rechtfertigungs-Grundlage staatlicher Machtpolitik stilisieren31, scheint
uns zunächst darin zu liegen, dass sie sich nicht mehr auf den Text der Verträge selbst
beziehen32, sondern auf einen Komplex miteinander verwobener literarischer Annahmen und
Meinungsäusserungen, der sich je länger desto mehr von der empirischen Vertragsgrundlage
entfernt33. Die instrumenta pacis Monasterii et Osnabrugiensis haben eben nicht als eine Art
lex fundamentalis Europae „…resolved the structure and codified the constitutional rules of the
European states system as it had emerged from the unity of medieval Christendom...”34. Viel
eher waren sie Reichsgrundgesetz, sicherten endlich den konfessionellen Frieden und
präzisierten die Reichsverfassung35 (und dieses durchaus unter tätiger “Mithilfe” auswärtiger
Mächte...), indem Rechte und Pflichten des Kaisers sowohl als auch der Reichsstände und
damit – bis zum Reichsdeputationshauptschluß 1803 – die Grundlagen für ein politisches
Miteinander der verschiedenen Gewalten festgeschrieben wurden. In diesem Kontext
befestigten die Verträge auch die Landeshoheit der Reichsstände (eine Kompetenz, die ihnen
im Grunde schon Karl V. einräumen musste) – nicht aber deren uneingeschränkte
30
Adam Watson: The Evolution of International Society. A comparative historical analysis. London: Routledge
1992, S. 186 ff.
31
Vgl. Evan Luard:International Society. London: Macmillan 1990, S. 96ff, , der dem Westfälischen Frieden
nachsagt, “... a new age and a new type of society, which lasted for 150 years…“eingeführt zu haben: „The concern
of the sovereigns and their great ministers who now controlled each state was no longer with the winning of crowns
elsewhere, as in the age of dynasties, nor with the type of faith that was practised in other countries; it was with
building up the power of their own states. ... Everywhere the dominant aim was the building of powerful and selfsufficient states, each able to deal on a basis of at least theoretical equality (“sovereign equality”) with other states .
.... Each was concerned to protect its own power by limiting the power that could be attained by any other, that is to
maintain the ‘balance of power’...” – ebd. S. 96 ff.
32
Hierzu Heinhard Steiger: Der Westfälische Frieden – Grundgesetz für Europa ?, in: Heinz Duchhardt (Hrsg.): Der
Westfälische Friede. Diplomatie, politische Zäsur, kulturelles Umfeld, Rezeptionsgeschichte. München: Oldenbourg
1998, S.33 – 80.
33
Besonders schmerzlich wird es dann, wenn die Lexikographie dem Westfälischen Frieden die Formulierung der
Grundsätze rex est imperator in regno suo und cuius regio, eius religio zuschreibt: Der erstere ist schon seit dem 13.
Jahrhundert bekannt und gewinnt seine Bedeutung zunächst in der Auseinandersetzung Phillip des Schönen mit dem
Papsttum, gegen dessen in der Bulle Unam Sanctam 1302 erhobenen Anspruch auf die plenitudo potestatis in
temporalibus Phillip seine später dann auch von England gegen den Kaiser genutzte Formel vom rex superiorem non
recognoscens est imperastor in regno suo setzt [hierzu Jürgen Dennert: Ursprung und Begriff der Souveränität.
Stuttgart: Gustav Fischer 1964]. Der zweite ist nach allgemeinem Verständnis ein Produkt des Augsburger
Religionsfriedens von 1555. Vgl. als „Aufhänger“ der Kritik paradigmatisch Marie-Claude Smouts/Dario Battistella/
Pascal Vennesson: Dictionnaire des relations internationales. Paris: Dalloz 2003, S. 494 f.
34
G.R.Berridge/Alan James : A Dictionary of Diplomacy. 2.Aufl. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2003, S.277.
35
Hierzu Benjamin Straumann: The Peace of Westphalia (1648) as a Secular Constitution, in: Constellations
(2008), 15, No 2, 173 – 188.
7
Souveränität36 : sie besitzen zwar das Bündnisrecht nach innen und aussen, und damit auch
das ius ad bellum, dürfen dieses aber doch nur zu ihrer Erhaltung und Sicherheit einsetzen,
nicht gegen Kaiser und Reich oder gegen dessen Landfrieden. M.a.W. – 1648 impliziert nicht
jenen Durchbruch des Souveränitätsprinzips, den insbesondere die angloamerikanische
Literatur dem Westfälischen Frieden gern unterstellt: „Die Auffassung der Zeit war ganz
eindeutig, dass eine Souveränität der Reichsstände nicht bestand“37 – weswegen ihrer einige
sich dann ja auch bemühten, nach dem Vorbild Brandenburg-Preussens Souveränität
ausserhalb des Reiches zu erlangen, um an der Politik der europäischen Mächte wirklich
gleichberechtigt teilnehmen zu können. Der diplomatische und völkerrechtliche Zäsurcharakter
des Westfälischen Friedens mag nicht bestritten werden38 - eine Zäsur freilich, die doch eher
langfristigere Entwicklungen zusammenfasst, bündelt und kodifiziert, statt quantensprungartig
aus dem Stand Neues zu schaffen. Gegenüber der begrifflich-überlieferungsgeschichtlichen
Verknüpfung
von
Westfälischem
Frieden
und
Westfälischem
System
–
als
vom
Mächtegleichgewicht her geordnetem System gleichberechtigter souveräner Staaten – wäre
folglich etliche Skepsis anzumelden: die Metapher vom Westfälischen System ist ein schönes
Beispiel dafür, was die Simplifizierung und Hypostasierung eines dem Grunde nach
vielschichtigen historischen Befundes alles hervorbringen kann.
II) Das Westfälische System als lehrgeschichtliches Konstrukt ?
Wo es raucht – so der Volksmund – ist nicht nur meist ein Feuer, sondern oft auch einer, der
das Feuer legt - und in unserem Fall lässt sich dieser in personam dingfest machen: Leo
Gross, Völkerrechtler der Fletcher School of Law and Diplomacy, der zur 300-Jahr-Feier des
Westfälischen Friedens 1948 im American Journal of International Law einen Beitrag
veröffentlichte, der als Grundlage für die Entwicklung einer ganzen Gestaltdiskussion
angesehen werden kann39, „…Westphalia…“- so Gross „…for better or worse, marks the end of
an epoch and the opening of another. It represents the majestic portal which leads from the old
into the new world...”40. Eine neue Welt freilich, die nicht als Gemeinschaft der Nationen zu
verstehen war, die sich der Herrschaft des Völkerrechts unterordneten: 1648 – so Gross –
„…led to the era of absolutist states, jealous of their territorial sovereignty to a
point where international law came to depend on the will of states more
Beaulac: The Westphalian Model… (wie Anm. 4), S. 208ff.
Steiger (wie Anm. 31), S.68.
38
So die Tendenz bei Anuschka Tischer: Westfälischer Friede, in: Enzyklopädie der Neuzeit (wie Anm. 23, Sp.
1020 – 1029.
39
Belege in Beaulac: The Westphalian Legal Orthodoxy... (wie Anm. 26), S. 149 ff..
40
Zitat nach Beaulac, ebd,, S. 149.
36
37
8
concerned with the preservation and expansion of their power than with the
etablishment of a rule of law41.
Die bei Gross im Prinzip der Nonintervention aufscheinende Grundbestimmung staatlichen
Handelns – nämlich ihre Selbständigkeit und ihr zentrales Machtmonopol um jeden Preis
gegenüber Dritten zu verteidigen und durchzusetzen - scheint dann zu weiten Teilen auch den
weiteren Gang der Debatte bestimmt zu haben: Quincy Wright leitete Mitte der 50er Jahre das
Interventionsverbot aus der durch 1648 bekräftigten Augsburger Religionsfriedensformel des
cuius regio, eius religio ab42, während John Herz Ende der 50er Jahre in einem Werk über
Weltpolitik im Atomzeitalter (deutsche Ausgabe 1961) ein Billard-Ball-Modell der internationalen
Politik konstruierte, in dem die Begriffstrias von Territorialität, Souveränität und Nonintervention
den staatlichen Akteuren gleichsam eine harte Schale verlieh, die sie vor Eingriffen Dritter
schützen sollte (und die durch die Politik der nuklearen Abschreckung noch verstärkt wurde).
Die Festigkeit des modernen, keiner höheren Gewalt unterworfenen Staates erklärt Hertz aus
seiner Schutzfunktion und der damit verknüpften erfolgreichen Sicherung des inneren (Rechts-)
Friedens wie der äußeren Unabhängigkeit43:
„Wir finden dieses Etwas weder im Rechtsbereich noch im Politischen, sondern
vielmehr in jener letzten, tiefsten Schicht, wo der Staat uns sozusagen in seiner
physischen Gestalt gegenübertritt: als sich vor uns ausbreitendes Gebiet, das
sich zur Selbstbehauptung mit Festungen und sonstigen Befestigungen als dem
greifbaren militärischen Ausdruck seiner Staatlichkeit umgibt. Dieses Phänomen
möchte ich … als die ‚Undurchdringlichkeit’ oder ‚Undurchlässigkeit’ oder aber
einfach als die ‚Territorialität’ des modernen Staates bezeichnen. Mit diesen
Ausdrücken soll das Eigentümliche des modernen Territorialstaates erfaßt
werden, sein Umschlossensein von einer ‚harten Schale’ des Schutzes gegen
Durchdringung von außen her, durch die er sich verteidigen und sich in seinem
Verhältnis zu anderen Einheiten wenigstens einigermaßen sicher fühlen konnte.
… Da die Staaten keiner höheren Gewalt unterstanden, so konnte es nur ihre
eigene territoriale Undurchdringbarkeit sein, die die Grundlage abgab für ihre
faktische Unabhängigkeit, ihre äußere Macht, souveräne Gewalt, sonstige
Rechte und Ansprüche.“
Sehr schön kann man sich die Essenz dieser Aussage vor Augen halten, wenn man sich etwa
eine Karte Frankreichs unter Ludwig XIV mitsamt dem System der Vauban’schen
Grenzbefestigungen vorstellt: die harte Schale wird in diesen Werken geradezu physisch
greifbar. Allerdings: Vorstellungsbilder wie das Billard-Ball-Modell laufen Gefahr, sich in der
wissenschaftlichen Imagination zu verselbständigen, vom historischen Substrat zu lösen, ein
Eigenleben zu führen – und dann in einer weiteren Stufe der dialektischen Entwicklung
41
Zitat nach Sebastian Schmidt (wie Anm. 1), S. 610.
Belege bei Schmidt, ebd., S. 613.
43
John H.Hertz: Weltpolitik im Atomzeitalter. Stuttgart: Kohlhammer 1961, insbes. S. 26 ff.
42
9
wiederum die Perzeption politischer und historischer Wirklichkeit zu präformieren – ein
klassischer Prozess der Konstruktion von Realität, wie er im Konstruktivismus immer wieder
thematisiert wird44. Wir können diesen Prozess an einem weiteren Kollegen-Beispiel
demonstrieren, das nun die Trennung des metaphorischen Konstrukts Westfälisches System
vom historischen Substrat des Westfälischen Friedens definitiv besiegelt: dem 1969 erstmals
publizierten, dann mehrfach erneut erschienenen und weidlich zitierten Beitrag Richard Falks
The Interplay of Westphalia and Charter Conceptions of the International Legal Order45. Dort
kontrastiert
Falk
die
westfälische
Konzeption
internationaler
Ordnung
Grundelementen der Souveränität, Territorialität und Nichtintervention -
–
mit
ihren
mit der UNO-
Konzeption, der Betonung internationaler Governance-Strukturen und kosmopolitischer
Entwicklungstrends der internationalen Beziehungen und befördert beide zu Modellen
internationaler Ordnung „… that can be posited for consideration whether or not they have
actually existed…“46! Kurz: die Verweise auf das westfälische System in der wissenschaftlichen
Literatur
„…have created a relatively robust and well-defined analytical referent. Because it
conveys a package of specific ideas about the nature of the international system,
the Westphalia concept can be put to a number of uses. Most significantly, it has
helped scholars concerned with the study of globalization and growing international
interdependence to orient their analyses of the state system and to define their
arguments more clearly by serving as a conceptual foil: various incarnations of the
Westphalia concept are essentially what interdependence is not, what
transnationalism is not, and what integration is not47
Im Boxsport nennt man so etwas einen Sparringspartner, im Geschäftsleben einen Strohmann.
Wir bevorzugen zur Bezeichnung dieses intellektuellen Entwicklungsergebnisses in der
Auseinandersetzung mit den Folgen von 1648 den Begriff der metaphorischen Hypertrophie !
44
Hierzu Paul Watzlawick (Hrsg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben ?
Beiträge zum Konstruktivismus. München: Piper 1983. Von ähnlich zäher Langlebigkeit wie das Billard-Ball-Modell
der internationalen Politik ist das Drei-Ebenen-System zu ihrer Analyse und Erklärung, das Kenneth N. Waltz in
seiner 1954 erschienenen Dissertation entwickelt hat: Man, the State, and War. A theoretical analysis. New York:
Columbia UP 1954 u.ö.
45
in Richard A.Falk/Cyril Black (Hrsg.): The Future of the International Legal Order. Bd. 1, Princeton, N.J.
Princeton UP 1969; zur Einschätzung vgl. Sebastian Schmidt (wie Anm. 1), S. 612 ff. Vgl. ferner auch Richard A.
Falk:Revisiting Westphalia, Discovering Post-Westphalia, in: The Journal of Ethics (2002), 6, 311 – 352.
46
Zitat nach Sebastian Schmidt, ebd., S. 613.
47
Sebastian Schmidt (wie Anm.1) S. 615.: ferner habe der jeweilige Verweis auf das westfälische Modell erlaubt,
„…to draw attention to trends in international politics…“ und der politikwissenschaftlichen Analyse eine
Zielgerichtetheit und Kohärenz verliehen, „…that might otherwise (sc. have) been more difficult to convey without
the clean package of ideas represented by the concept…“.
10
III) Risse im Monolith – ist die Metapher vom Westfälischen System noch zeitgemäß ?
Wenn es mit rechten – nämlich sicherheitspolitischen – Argumenten zuginge, müsste das
Westfälische System schon längst sein Leben als analytische Kategorie der Lehre von den
Internationalen Beziehungen ausgehaucht haben – besteht doch der bereits zitierte John Herz
1961 an gleicher Stelle48 darauf, dass die Undurchdringbarkeit ihrer harten Schale es sei, die
es rechtfertige, Machteinheiten als politisch unabhängig und rechtlich souverän zu betrachten;
unter klassischen Bedingungen stelle Macht die strategische, Unabhängigkeit die politische und
Souveränität die juristische Komponente jener Undurchdringbarkeit dar. Diese Prämisse gilt
aber nur solange, wie sich der Krieg aussschliesslich in der Horizontalen entfaltet: in dem
Moment, in dem sich seit den letzten Jahren des Ersten Weltkrieges eher zögerlich, im Zweiten
Weltkrieg dann umso entschiedener der Luftkrieg (und die Verbindung von Luft- und
Panzerwaffe) zum Vorläufer moderner Massenvernichtungswaffen entwickelte, war die
Undurchdringbarkeit der harten Schale des Hertz’schen Billardballs in Frage gestellt – und
gänzlich aufgehoben wurde sie durch die Entwicklung der modernen InterkontinentalRaketentechnik mitsamt ihrer Fähigkeit, nukleare Sprengköpfe punktgenau ins Ziel zu bringen49.
Allerdings: trotz gelegentlicher entschiedener Versuche, den Geist des Westfälischen Systems
mittels Exorzismus aus der Politikwissenschaft zu vertreiben50, zeigt eine kursorische
Durchsicht neuerer Lehrbücher, dass er sich weiterhin im Gewande von Erörterungen über den
Staat
als
(Haupt-)Akteur
internationaler
Politik
im
Fach
behauptet51.
Und
selbst
Veröffentlichungen, die die Weltpolitik schon seit langem erfolgreich aus der Perspektive der
Globalisierung angehen52, sehen in den überkommenen normativen Grundsätzen des
Westfälischen Systems – insonderheit der Doktrin der Staatssouveränität und Nichtintervention
– die normative Grundstruktur, die Verfassung der modernen Weltordnung: Territorialität,
Souveränität, Autonomie und Selbstbestimmung – all das kommt uns sehr bekannt vor, nur der
Begründungszusammenhang variiert ein wenig:
„… it was only in the twentieth century, as global empires collapsed, that
sovereign statehood and with it national self-determination finally acquired
48
Weltpolitik im Atomzeitalter (wie Anm. 43), S. 27f.
Gelungene knappe Übersicht bei David Jordan: Air and Space Warfare, in: David Jordan u.a.: Understanding
Modern Warfare. Cambridge: Cambridge UP 2008, S.179 – 223.
50
Vgl. Charles W. Kegley/Gregory A. Raymond: Exorcising the ghost of Westphalia: building world order in the
new millennium. Upper Saddle River, N.J.: Prentice Hall 2002.
51
Paradigmatisch Bruce Russett/Harvey Starr/David Kinsella: World Politics. The Menu for Choice. 8.Aufl.
Belmont, CA: 2006, S. 53 ff; Kegley/Blanton (wie Anm. 1), S. 12 ff..
52
John Baylis/Steve Smith/Patricia Owens (Hrsg.): The Globalization of World Politics. An introduction to
international relations. 5. Aufl. Oxford: Oxford UP 2011.
49
11
the status of universal organizing principles of world order.
...the
Westphalian Constitution by then had come to colonize the entire planet...”53
Der Wissenschaftsbetrieb in der Lehre von den Internationalen Beziehungen – ein Skriptorium
wie das aus Umberto Ecco’s Name der Rose54 ??
Dem wäre denn nun doch entgegenzuhalten, dass in mehr als einer Hinsicht Westfälisches
System und Garantie der Freiheit der gesellschaftlichen Eigenentwicklung gegen Dritte durch
Interventions- und Gewaltverbot analytisch notwendige Korrelate jenes Gleichgewichts des
Schreckens waren, das sich in den Jahrzehnten des Kalten Krieges zwischen den beiden
grossen Machtblöcken ausgebildet hatte. Ein Gleichgewicht, dessen Funktionieren zumindest im
euro-atlantischen Raum der gegenseitigen Anerkennung der Besitzstände ebenso bedurfte wie
des seit der Kuba-Krise mehr und mehr einvernehmlichen Einfrierens, Abschleifens oder
Einebnens von Konfliktanlässen und Interessendifferenzen im Prozess der kooperativen
Rüstungssteuerung, der KSZE und der MBFR. Jene Entwicklungen mögen ursächlich dazu
beigetragen haben, aus dem naturzuständlich – anarchischen, vom Sicherheitsdilemma
beherrschten Staatensystem der vierziger und frühen fünfziger Jahre eine (völker-) rechtlich
verfasste internationale Staatengesellschaft zu formen, deren Triebkraft nicht mehr das
nullsummenspielartige Konkurrenzverhalten ihrer Akteure war, sondern die Bündelung von je
einzelstaatlich immer schwieriger umzusetzenden Interessen zur gemeinsamen Hand:
Entwicklung kooperativer Lösungen für
Gemeinschaftsprobleme in Politik, Wirtschaft und
Gesellschaft55. Man kann diese Entwicklung eher funktionalistisch (als Ergebnis von
Sachzwängen moderner Industriegesellschaften und der Entwicklung der Produktivkräfte) oder
eher intergouvernementalistisch deuten (als bewußte, die je nationalen Interessen durchaus im
Blickfeld haltende Willensentscheidung der Staaten). Ihr Kennzeichen ist in beiden Fällen die
Entwicklung eines Korpus von Verhaltensregeln für die internationale Staatengesellschaft, die
abstellen
auf
Vertrauensbildung
und
Verlässlichkeit
des
künftigen
internationalen
Akteurshandelns als Entscheidungsparameter für das Akteurshandeln in der Gegenwart. In
diesem
Kontext
kommen
den
bekannten
Prinzipien
des
Westfälischen
–
Systems
Gleichrangigkeit der Akteure, Interventions- und Gewaltverbot - eindeutige Funktionen zu:
nämlich jene Staatengesellschaft flankierend zu stützen, die sich zwar nicht immer, aber doch
immer öfter der rationalen und kooperativen Lösung ihrer Probleme im Sinne der gegenseitigen
Anerkennung wie des konstruktiven Ausgleichs ihrer Interessendifferenzen zuwendet.
53
Ebd.
Umberto Ecco: Der Name der Rose. München: Hanser 1982, Erster Tag: Nach Nona.
55
Übersicht: mein Beitrag zum Thema Theorien internationaler Verflechtung und Integration, in: Wichard Woyke
(Hrsg.): Handwörterbuch Internationale Politik. 12. Aufl. Opladen: Budrich 2011, S. 520 – 537.
54
12
Unsere Argumentation hat bislang eine top-down – Perspektive vorausgesetzt, die das
Westfälische System von 1648 nicht grundsätzlich in Frage stellt. Problematisch wird es für
seine Rolle als analytische Leitinstanz der Internationalen Beziehungen allerdings dann, wenn
man die Gesamtheit neuerer weltgesellschaftlicher Transformationsphänomene ins Auge fasst,
die sich knapp mit dem Stichwort von der „Entgrenzung der Politik“56 belegen lassen – in aller
Kürze:
1) Entstehung, Ausbreitung und Ausdifferenzierung der verschiedenen Erscheinungsformen der
Globalisierung – verstanden als Sieg der Zeit über den Raum, verstanden aber auch als
erfolgreiche Durchlöcherung und Infragestellung klassischer Grenzziehungen durch moderne
Transport- und Kommunikationsmittel sowie die von diesen verbreiteten einheitlichen
Lebenserwartungen und Konsumstile: Macdonaldisierung ebenso wie die Madonnisierung der
Weltgesellschaft57;
2)
Veränderungen der Kriegführung durch den Wandel klassischer zwischenstaatlicher zu
asymmetrischen
Neuen
Kriegen
[typischerweise
ausgefochten
zwischen
staatlichen
Kombattanten einerseits und Freischärlern, Guerillas oder Warlords andererseits], verstanden
als Privatisierung und Kommerzialisierung des staatlichen Gewaltmonopols, Entwicklung
dauerhafter Kriegsökonomien und Vernetzung dieser mit organisierter Kriminalität und
globalisierter Schattenwirtschaft 58;
3)
Veränderungen der Perzeption und der Begrifflichkeit von Sicherheit, verstanden als
Entterritorialisierung,
Funktionalisierung
und
Individualisierung
eines
erstrebenswerten
gesellschaftlichen Zustandes, zum ersten Mal deutlicher greifbar im Human Development
Report der Vereinten Nationen von 199459.
56
Mathias Albert u.a.(Hrsg.): Die Entgrenzung der Politik. Internationale Beziehungen und Friedensforschung.
Frankfurt: Campus 2004.
57
Übersicht Stefan A. Schirm (Hrsg.): Globalisierung. Forschungsstand und Perspektiven. Baden-Badenn: Nomos
2006; immer noch nützlich Malcolm Waters: Globalization. 2.Aufl. London: Routledge 2001.
58
Übersicht in meinem Beitrag: Krieg und Frieden (wie Anm. 13).
59
Übersicht bei Pauline Kerr: Human Security, in: Alan Collins (Hrsg.): Contemporary Security Studies Oxford:
Oxford UP 2007, S. 91 – 108; grundlegend Mary Kaldor: Human Security. Reflections on Globalization and
Intervention. Cambridge: Polity Press 2007.
Mit dieser Entwicklung weitet sich der Sicherheitsbegriff, wird mehrdimensional, erstreckt sich auf Aussen-,
Wirtschafts-, Finanz-, Umwelt-, Entwicklungs- und Sozialpolitik neben dem Bereich des genuin Militärischen (läuft
damit allerdings auch Gefahr, überfrachtet und überlastet zu werden). In der Summe dieser Entwicklungen nimmt die
Bedrohung der Staaten durch staatliche Akteure ab, durch gesellschaftliche hingegen zu – und damit eröffnet sich
ein Reaktionsdefizit, weil sich zeigt (im Irak, in Afghanistan, im Sudan, in Subsahara-Afrika), dass militärische
Maßnahmen komplexe gesellschaftspolitische Probleme nicht lösen können. Der 11. September 2001 demonstriert
diese Lücke besonders deutlich – entstaatlichte, privatisierte, ubiquitäre terroristische Gewalt wirkt nicht zuletzt
deshalb so bedrohlich, weil die Staaten sie im Großmaßstab nur durch neue Stellvertreterkriege – oder präziser:
Kriege gegen die Stellvertreter, Unterstützer, Sympathisanten, aber kaum gegen die eigentlichen Urheber
13
Die Essenz all dieser Entwicklungen läuft schon lange auf eine Überwindung des Nationalstaats
als des alleinigen oder hauptsächlich bedeutsamen Akteurs der internationalen Politik hinaus –
er erhält mächtige Konkurrenz, die es sich leisten kann, ihn zu unterlaufen, ihre Geschäfte an
ihm vorbei zu betreiben oder ihn schlichtweg zu ignorieren60. Diese neuen Akteure der
internationalen Beziehungen – die in aller Regel keinen staatlichen Status beanspruchen
können, gleichwohl aber in vielen Fällen mächtiger sind als Klein- und selber gar Mittelstaaten lassen sich mit den Kategorien des überkommenen Westfälischen Modells nicht mehr fassen.
Aus unserer Perspektive vielleicht noch wichtiger: die Zerfransung, wenn nicht gar Auflösung
des klassischen staatlichen Gewaltmonopols. Seit dem Ende der Kolonialreiche in den fünfziger
und sechziger Jahren des 20.Jahrhunderts tritt mehr und mehr an die Stelle des klassischen
zwischenstaatlichen Krieges als zeitlich begrenzter Eruption organisierter Gewalt, nach
Clausewitz gipfelnd in der Entscheidungsschlacht zur Niederringung des Gegners, der
langdauernde Bürgerkrieg in der Form des low intensity conflict oder low intensity warfare. Aus
einem Instrument der Durchsetzung staatlichen politischen Willens, der Realisierung staatlicher
politischer, territorialer, ökonomischer, weltanschaulicher Interessen wird der Krieg zu einer
Form privatwirtschaftlicher Einkommensaneignung und Vermögensakkumulation, zu einem
Mittel klientelistischer Herrschaftssicherung und semi-privater Besetzung und Behauptung von
nur unter den besonderen Bedingungen einer spezifischen Kriegsökonomie überlebensfähigen
Territorien, Enklaven, Korridoren, Kontrollpunkten. In einer Gemengelage von privaten
Bereicherungs- und persönlichen Machtbestrebungen, Interventionen Dritter zur Verteidigung
bestimmter
Werte,
aber
auch
zur
Durchsetzung
je
eigener
Herrschafts-
und
Ausbeutungsinteressen, der gegenseitigen Durchdringung und Vermischung kriegerischer
Gewalt und organisiertem Verbrechen verliert der klassische Staatenkrieg seine überkommenen
Konturen. Partisanen- und Guerillaaktionen, Selbstmordattentate, terroristische Gewaltexzesse
unterlaufen die Trennung von Schlachtfeld und Hinterland, von zivilen und militärischen Zielen.
Die Ausbildung eines „Lumpenmilitariats“ („tagsüber Soldaten, in der Nacht Gangster“)
durchdringt die Trennlinie zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten. Das Miteinander
terroristischer Gewalt – bekämpfen können. Ob sie dabei immer die Richtigen treffen, wollen wir hier und jetzt nicht
entscheiden: Afghanistan zumal gibt zu erheblichen Zweifeln Anlass.
60
Die Vereinten Nationen zählen derzeit 192 Staaten als Mitglieder. Demgegenüber stehen ca. 82.100 internationale
Konzerne mit knapp 810.000 nationalen Filialen – manche von ihnen mit einem grösseren Jahresumsatz als dem BSP
des Ölstaats Norwegen (und natürlich auch mit einer Beschäftigtenanzahl, die die der Mitarbeiter des norwegischen
öffentlichen Dienstes bei weitem übertrifft). Wir zählen derzeit 240 IGOs – regierungsamtliche Internationale
Organisationen von der UNO bis zur Internationalen Kaffeeorganisation: denen gegenüber stehen ca. 7.600 INGOs –
nichtregierungsamtliche Internationale Organisationen von Amnesty International bis zur World Alliance of Baptists
und etwa 10.000 NGOs mit Sitz und vorwiegendem Betätigungsfeld im Sitzland. Zahlen nach Baylis/Smith/Owens
(wie Anm. 52), S.328.
14
bewaffneter Kämpfe, fragiler Kompromisse und Waffenstillstände, und erneuter bewaffneter
Auseinandersetzungen hebt die zeitliche Unterscheidung von Krieg und Nicht-Krieg auf. Das
genuin Neue an dieser Welt reprivatisierter Gewaltanwendung ist allerdings nicht so sehr das
Aufeinandertreffen staatlicher und nichtstaatlicher, gesellschaftlicher Gewaltakteure im selben
Raum- und Zeithorizont. Sondern die Fähigkeit lokal agierender Rebellen, Condottiere,
Warlords, Kriegsunternehmer, ihr Handeln durch effiziente Nutzung globalisierter Relationen und
Prozesse zu optimieren und entweder Formhülsen der Staatsgewalt wie moderne Freibeuter zu
kapern oder staatsfreie Räume einzurichten und zu behaupten, die einer informellen Ökonomie
und der organisierten Kriminalität den zur Finanzierung des Krieges notwendigen Freiraum
verschaffen61. In Abwandlung jenes berühmten Zitats des Generals von Clausewitz: der Krieg
ist nicht länger mehr die Fortsetzung des politischen Verkehrs, sondern die Fortsetzung des
Beutemachens unter Einmischung anderer Mittel!
An der Fortdauer eines solchen (Bürger-)Kriegszustandes haben viele Akteure ein
eigensüchtiges materielles Interesse – die Konfliktforschung fasst sie seit einigen Jahren unter
dem Begriff „spoiler“ – Spielverderber. Sie machen nicht nur den humanitären NGOs das Leben
schwer und tragen das Ihre zur Entwicklung fragiler Staatlichkeit wie zum Staatszerfall bei62 . Sie
sind auch der Schlusspunkt in einer Debatte, die seit Ende des Ost-West-Konflikts eine
Wandlung des Sicherheitsbegriffs konstatiert – und dies gleich in mehrfacher Hinsicht: Durch
Setzung einer Schutzverantwortung für einzelne Personen – responsibilty to protect: R2P – die
als Verwirklichungsbedingung menschlicher Sicherheit neben die überkommene Vorstellung von
der Sicherheit des Staates63 tritt. Und durch die Entterritorialisierung des Gegenstandes der
Bedrohungswahrnehmung: mit Blick auf die weltumspannenden Aktivitäten und Wirkungen des
internationalen Terrorismus ist der Ort, von dem eine (immer noch vorwiegend militärisch
verstandene) Bedrohung eines Staates ausgeht, nicht länger im Voraus zu lokalisieren64.
IV) Internationale Beziehungen zwischen Prä- und Post-Westfalia ?
Welche Konsequenz ziehen wir nun aus all dem für unsere Fragestellung ? Das
staatenzentrische Westfälische System scheint angeschlagen, aber noch nicht ausgezählt: die
61
Belege in meinem Krieg und Frieden (wie Anm.13).
Ulrich Schneckener (Hrsg.) Fragile Staatlichkeit : "states at risk" zwischen Stabilität und Scheitern: Baden-Baden:
Nomos 2006.
63
greifbar in der Unversehrtheit seines Territoriums und in der Garantie seiner ungestörten gesellschaftlichen
Eigenentwicklung.
64
Johannes Varwick: Humanitäre Intervention und die Schutzverantwortung (‚Responsibility to Protect’). Kämpfen für
die Menschenrechte ? Kieler Analysen zur Sicherheitspolitik Nr.25, Januar 2009, unter: www.isuk.org/1/?p=230
62
15
ehedem in der Verkettung von Staat und Krieg, bewaffneter Selbsthilfe zur
Durchsetzung
eigener
Partikularinteressen
und
rüstungswettlaufgenerierendem
Sicherheitsdilemma sich manifestierende historische Logik politischer Unvernunft65 nicht
immer, aber immer öfter von den sich ausbildenden Institutionen einer rechtlich
verfaßten Staatengesellschaft in die Schranken gewiesen. Die Suche nach einem für
alle Beteiligten akzeptablen Kompromiß durch Friedensdiplomatie, Verhandlung und
Kongreßwesen, der Rekurs auf das (Völker-) Recht als Instrument zur Regulierung und
Lösung inner- wie zwischenstaatlicher Konflikte, die Kontrolle des Machtstrebens und
der Machtausübung der Akteure durch die Anerkennung gemeinschaftlicher Interessen,
selbstbindender
Verhaltensregeln
und
Normen,
die
schon
im
aufgeklärten
Eigeninteresse die Erwartungsverläßlichkeit des Akteurshandelns in der internationalen
(Rechts-) Ordnung garantieren: all diese Entwicklungen lassen - nicht zuletzt seit 1992
gestützt von der Agenda für den Frieden der Vereinten Nationen - das überstaatliche
Konzept einer auf Recht und Vereinbarungen beruhenden internationalen Ordnung je
länger desto intensiver hervortreten.
Freilich verläuft dieser Prozeß – der auch als Zivilisierung der internationalen
Beziehungen durch Verrechtlichung des Konfliktaustrags66 begriffen werden kann –
nicht ohne Brüche und Rückschläge. Kooperative Konfliktbearbeitung schlägt immer
wieder einmal um in Konkurrenz und Feindschaft, gesellschaftlichen Antagonismus und
militärische Gewaltanwendung. Als Bauprinzipien oder Gestaltungselemente einer
internationalen Ordnung konkurrieren miteinander Konflikt und Kooperation; bewaffnete
Selbsthilfe der Staaten und auf dem Prinzip kollektiver Sicherheit fußendes
Kriegsverbot; hierarchisch-vertikale Koordination der Akteure durch einen Hegemon im
Geflecht einseitiger Abhängigkeiten und horizontale Selbstkoordination der Akteure im
Netzwerk
gegenseitiger
Regulierungs-Interdependenzen.
Der
gesellschaftliche
Systemkonflikt des Kalten Krieges vermittelte sich auf der zwischenstaatlichen Ebene
durch
eine
duopolistisch
Zweitschlagsbefähigung
strukturierte,
der
auf
Hauptakteure
nukleare
und
Abschreckung,
gesicherte
systemstrukturstabilisierendes
65
Ekkehart Krippendorff: Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Unvernunft. Frankfurt/Main: Suhrkamp
1998.
66
Volker Rittberger/Bernhard Zangl/Matthias Staisch: Internationale Organisationen. Politik und Geschichte. 3.
Aufl. Wiesbaden: VS-Verlag 2003.
16
Konfliktmanagement der Blockvormächte gestützte organisierte Friedlosigkeit 67 Die
internationale Gesellschaft der Nach-Kalten-Kriegs-Ära ist bislang hauptsächlich
charakterisiert
durch
eine
Mischverfassung,
die
Gleichzeitigkeit
von
Ungleichzeitigkeiten: durch den Wettbewerb eines polyzentrischen, auf Einvernehmen
der
Beteiligten,
gestützten,
kollektive
sich
Entscheidungsprozesse
allmählich
vor
allem
in
der
und
geteilte
Souveränitäten
internationalen
Zivilgesellschaft
ausdifferenzierenden Systems der Global Governance68 und der Weltordnungspolitik
einerseits,
eines
auf
die
kompetitive
Kooperation
der
Großmächte
und
Regionalverbände gestützten, im Prozeß von Macht- und Gegenmachtbildung, von
Hegemoniestreben und Machtbalance bestenfalls ein „ ... kooperatives Gleichgewicht
(unter Beimischung konfrontativer Mittel) ...“,69 verwirklichenden Systems der interregionalen Ordnung andererseits. Inwieweit diese sehr langfristigen Tendenzen durch
nicht-westfälische Mavericks von Al Khaida bis Lehman Bros. In andere Richtungen
gelenkt werden, bliebe abzuwarten.
Dabei
bildet
die
Dringlichkeit
der
Suche
nach
Modellen
einer
gelingenden
internationalen Ordnung seit 2001 den paradigmatischen Vorbildcharakter des
Westfälischen Friedens vor dem Hintergrund des Auseinanderfallens der Machtblöcke,
der visionären Beschwörung eines Kampfs der Kulturen (Huntington), und den
Bemühungen
um
die
Einhegung
sehr
realer
ethnonationalistischer
und
fundamentalistischer Konflikte umso plastischer ab. Mit seinen Grundzügen der
Säkularisierung des Politischen, der Bindung staatlicher Herrschaft und Kompetenz an
ein je beschreibbares, exclusives Territorium, der Verknüpfung und Verdichtung von
Herrschaftsrecht, Gewaltmonopol, Kompetenzkompetenz, Souveränitätsprinzip und
Nichteinmischungsgebot zum staatsrechtlichen Wesenskern des gegenüber Gleichen
Handlungsautonomie
beanspruchenden
neuzeitlichen
internationalen
Akteurs,
schließlich mit seinem Verweis auf die aus gegenseitiger Selbstbindungsbereitschaft der
67
Dieter Senghaas: Abschreckung und Frieden. Studien zur Kritik der organisierten Friedlosigkeit. Frankfurt/Main:
Europäische Verlagsanstalt 1969.
68
James N. Rosenau:Along the Domestic-Foreign Frontier. Exploring Governance in a Turbulent World.
Cambridge: Cambridge UP 1997; locus classicus dieser Debatte James N. Rosenau/Ernst-Otto Czempiel (Hrsg.):
Governance without Government. Order and Change in World Politics. Cambridge: Cambridge UP 1992.
69
Werner Link: Die Neuordnung der Weltpolitik. Grundprobleme globaler Politik an der Schwelle zum 21.
Jahrhundert. München: 1998.
17
Staaten abgeleitete, eben dort aber auch ihre Grenzen findende Rechtsförmlichkeit des
internationalen Verkehrs stellt das System von Münster und Osnabrück den
Ausgangspunkt für die Formulierung von Antworten auf die Frage, wie es unabhängigen
Staaten gelingen kann, als Mitglieder eines Systems, an dessen Erhaltung alle ein
Interesse haben müßten, ihre Interessen so zu verfolgen und so durchzusetzen, dass
weder das System selbst noch seine Einzelakteure dabei grundlegend beschädigt
werden.
Freilich – schon eine kursorische Übersicht der Geschichte der Internationalen
Beziehungen seit 1648 zeigt, daß ihr Bewegungsmoment unter dem Dach der sich
ausbildenden staatenüberwölbenden Rechtsordnung doch die Dialektik von Konflikt und
Kooperation blieb70. Solange die Staaten als Hauptakteure dieses Prozesses auftraten,
war die Fortgeltung der Grundprinzipien des Westfälischen Systems nicht zu bestreiten.
In dem Maße allerdings, in dem die traditionelle staatenzentrische Ordnung in Frage
gestellt wird
- zum einen durch grenzüberschreitende, wenn nicht kontinentübergreifende Prozesse
der Modernisierung, Industrialisierung, Demokratisierung und des damit verbundenen
sozialen Wandels, m.a.W. durch wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse, die
einen
„…Ausbruch
des
Politischen
aus
dem
kategorialen
Rahmen
des
Nationalstaats…“71 vermitteln
- zum anderen durch die Entgrenzung der Staatengesellschaft in der Folge von
Prozessen der Verregelung und Institutionalisierung internationaler Beziehungen, der
Ausbildung transnationaler Interessenkoalitionen in der Situation des Regierens ohne
Staat, der Entwicklung inter- und transgouvernementaler Politikverflechtungen und von
Mehrebenen-Systemen des Regierens in staatenüberwölbenden Zusammenhängen72
70
Hierzu immer noch klassisch F.H.Hinsley: Power and the Pursuit of Peace. Theory and Practice in the History of
Relations between States. 2.Auflage Cambridge: Cambridge UP 1967.
71
Ulrich Beck: Was ist Globalisierung ?Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung. Frankfurt/Main:
Suhrkamp 1997, S.13.
72
Ohne Zweifel ein analytisches Modell, das das Westfälische System als neue Orthodoxie internationaler Analysen
ablösen könnte. Hierzu kursorisch Michael Zürn: Regieren jenseits des Nationalstaats. Globalisierung und
Denationalisierung als Chance. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998. Grundsätzlicher Arthur Benz: Politik in
Mehrebenensystemen. Wiesbaden: VS-Verlag 2009; ders. (Hrsg.): Governance – Regieren in komplexen
Regelsystemen. Eine Einführung. Wiesbaden: VS-Verlag 2004; schliesslich Arthur Benz/Susanne Lütz/Uwe
Schimank/Georg Simonis (Hrsg.): Handbuch Governance. Theoretische Grundlagen und empirische
Anwendungsfelder. Wiesbaden: VS-Verlag 2007. Weiter gespannt zu den unterschiedlichen europäischen
18
- in dem Maße wäre zu prüfen, ob die Frage nach den Grundbedingungen einer
internationalen Ordnung so, wie sie im Anschluß an den Westfälischen Frieden immer
wieder gestellt wurde, heute noch gestellt werden kann. Unsere These heißt, daß der
Dialektik von Konflikt und Kooperation eine Dialektik von Verflechtung und Entgrenzung
zur Seite, wenn nicht gar entgegen tritt. Denn die sowohl mit dem Phänomen der
Verflechtung als auch mit dem Phänomen der Entgrenzung verknüpfte Beschädigung
der harten Schale, der inneren und äußeren Handlungsfreiheit des Nationalstaats
klassischer westfälischer Prägung torpediert nicht nur seinen Anspruch auf die
Hauptrolle im Spiel der internationalen Politik, sondern läßt ihn als Baustein einer
gelingenden internationalen Ordnung allenfalls noch in arbeitsteiliger Kooperation mit
anderen taugen. Angeschlagen, aber noch nicht ausgezählt….
Perspektiven Beate Kohler-Koch/Fabrice Larat (Hrsg.): European Multi-Level Governance. Contrasting Images in
National Research. Cheltenham: Edward Elgar 2009, und Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.): Governance-Forschung.
Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien. Baden-Baden: Nomos 2005; schliesslich Sebastian Botzem u.a.
(Hrsg.): Governance als Prozeß. Koordinationsformen im Wandel. Baden-Baden: Nomos 2009.
19
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