From Westphalia to Westfailure ? Internationale Akteure und die Fallstricke Humanitärer Intervention - Reinhard Meyers – Unter Bezug auf den Westfälischen Frieden von 1648 nutzt die Lehre von den Internationalen Beziehungen die Metapher vom „Westfälischen System“ schon seit den späten 60er Jahren des letzten Jahrhunderts, mehr aber noch seit dem Ende des Ost-West-Konflikts gern zur generellen Beschreibung des modernen internationalen (Staaten-) Systems1. Sie verbindet damit ein Bündel von Ideen und Vorstellungen über internationale Politik, die ausgehen vom Kernkonzept der einzelstaatlichen Souveränität, dem staatlichen Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit innerhalb eines abgrenzbaren Territoriums (Max Weber), dem Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten Dritter, dem Schutz der territorialen Integrität der Akteure und dem Verbot der Gewaltanwendung in den zwischenstaatlichen Beziehungen (Art.2 UNO-Charta). Im Sinne des klassischen Realismus dient die Metapher auch zur griffigen Anzeige einer Vorstellung internationaler staatenweltlicher Ordnung, die bewußt mit globalistischen oder gar die Menschheit zur Gänze umfassenden Ordnungsvorstellungen des Idealismus kontrastiert2. Kurz – das Westfälische Modell „ … based on the principles of autonomy, territory, mutual recognition and control, offers a simple, arresting, and elegant image. It orders the minds of policymakers. It is an analytic assumption for neo-realism and neo-liberal institutionalism. It is an empirical regularity for various sociological and constructivist theories of international politics. It is a benchmark for observers who claim an erosion of sovereignty in the contemporary world. ...3. Allerdings – von einer empirisch akkuraten Beschreibung der historischen Wirklichkeit ist das Westfälische Modell doch recht weit entfernt: weder kann das Jahr 1648 als der terminus post quem dienen, zu dem die Vertragsparteien von Münster und Osnabrück gleichsam mit einem 1 Paradigmatisch eines der im angloamerikanischen Raum am weitesten verbreiteten Lehrbücher: Charles W. Kegley, Jr./Shannon L. Blanton: World Politics. Trend and Transformation. 2012-2013 ed., Wadsworth Cengage Learning, S. 12 ff; genereller kritischer Überblick zu dieser Begriffspraxis Sebastian Schmidt: To Order the Minds of Scholars: The Discourse of the Peace of Westphalia in International Relations Literature, in: International Studies Quarterly (2011), 55, 601 – 623. 2 Zur weiteren Übersicht mit reichhaltigen Literaturangaben mein Stichwort Theorien der Internationalen Beziehungen, in: Wichard Woyke (Hrsg.): Handwörterbuch Internationale Politik, 12.Aufl. Opladen: Budrich 2011, S.490 – 520. 3 Stephen D. Krasner: Rethinking the sovereign state model, in: Review of International Studies (2001), 27, 17 – 42. 1 Federstrich das moderne internationale System und seine von der Fundamentalnorm der Staatssouveränität her geordnete Völkerrechtsordnung aus der Taufe hoben4. Noch läßt sich die empirische Referenz einer auf Gleichberechtigung aller Akteure und Interventionsverbot abstellenden wissenschaftlichen Denk- und Argumentationsfigur festhalten, die sich im Laufe der Diskussion vom historischen Substrat immer weiter entfernte5 und ein virtuelles, in mancher Hinsicht gar hypertrophes Eigenleben gewann6. Wir konzedieren gern, daß Wissenschaft ontologischer Weltbilder und methodologischer Großtheorien bedarf, um die unendliche Menge realhistorischer Phänomene zu ordnen, zu strukturieren und (wenigstens) zu erklären7. Nicht erst seit dem Einzug des Konstruktivismus in den Sozialwissenschaften, sondern schon seit der Auseinandersetzung um Begriff und Wirkung des Vorverständnisses in der hermeneutischen Philosophie wissen wir aber auch, dass Vorverständnisse und ontologische Weltbilder nicht nur der Selbstverständigung wissenschaftlicher Schulen über den je eigenen Standort und die je eigene „Denke, Rede und Schreibe“ dienen, sondern auf dem Weg über die Konstruktion von „Wirklichkeit“ die Realitätsperzeptionen, Zieldefinitionen und Ziele umsetzenden Aktionen gesellschaftlicher und politischer Handlungsträger wenigstens beeinflussen, wenn nicht entscheidend prägen. In diesem Kontext bleibt das Westfälische Modell bis auf weiteres relevant: Wegen seiner relativ einfachen, eher schon unterkomplexen Akteursstruktur, wegen seiner Insistenz auf dem nationalen Interesse als Leitstern politischen Handelns, wegen seiner Interpretation des Akteurs- und Handlungsumfeldes als einer nullsummenspielartigen, vom Sicherheitsdilemma durchzogenen Anarchie, in der allein die eigene Stärke (oder wahlweise noch die Schwäche der Anderen) über Erfolg und Misserfolg von Politik entscheidet, hat es bislang nicht nur die Kritik all jener überlebt, die ihm in seiner nachgeradezu grandiosen Simplifikation komplex geschichteter 4 Hierzu Stephane Beaulac: The Westphalian Model in Defining International Law: Challenging the Myth, in: Australian Journal of Legal History (2004), 7, 181 – 213. 5 Von der Regelung reichsverfassungsrechtlicher Angelegenheiten durch Intervention Dritter – nämlich Frankreich und Schweden – im Westfälischen Frieden über die Pentarchie bzw. das Konzert der Mächte nach dem Wiener Kongreß bis zur Neuordnung des Balkans durch den Berliner Kongreß 1878 ist die neuzeitliche Geschichte Europas durchsetzt von schlagenden Beispielen für die Intervention Dritter in innere Angelegenheiten vorgeblich souveräner Akteure – wobei es freilich einen Unterschied macht, ob man als Kleinstaat das Zusammenspiel oder die Soli der Großen erdulden oder als Großmacht Tempo und Tonart der konzertanten Darbietung bestimmen kann. Lehrreich in diesem Kontext Heinz Duchhardt: Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700 – 1785. Paderborn: Schöningh 1997, und Winfried Baumgart: Europäisches Konzert und nationale Bewegung. Internationale Beziehungen 1830 – 1878. Paderborn: Schöningh 1999. 6 Man vergleiche die unterschiedliche Anlage solcher Werke wie F.H.Hinsley: Power and the Pursuit of Peace. Theory and Practice in the History of Relations between States. Cambridge: Cambridge UP 1967, und Kenneth N. Waltz: Theory of International Politics. New York: McGrawHill 1979. 7 Hierzu als vorzüglicher Überblick Gert Krell: Weltbilder und Weltordnung. Einführung in die Theorie der internationalen Beziehungen. 4.überarb.u.aktualis.Aufl. Baden-Baden: Nomos 2009. 2 historischer Tatbestände und kaum definitiv auf Anfangs- oder Endpunkte zu bringender, vielfach zerfranster langfristiger Entwicklungsprozesse organisierte Heuchelei vorwerfen8. Auch die Lebensendzeitprognosen all jener, die eine materiell-dialektische Verbindung zwischen der Entwicklung des Westfälischen Systems und der zunächst europazentrischen, dann auf den Weltzusammenhang ausgedehnten kapitalistischen Wirtschaftsform mit ihren periodischen 9 Krisen und Zusammenbrüchen postulieren und dem Westfälischen System ob seines Verlustes an Kontrolle des internationalen Finanzsystems, seiner defizitären Bilanz im Umweltschutz und seines Versagens beim Nord-Süd [oder besser: Reich-Arm-] Ausgleich den Weg nach Westfailure weisen10, hat es bis dato ignoriert – ein Johnny Walker der Internationalen Politischen Ökonomie – born 1648 and still going strong ?? Nach der Meinung mancher meiner Fachkollegen – für die das Westfälische System als mythische Denkfigur eher das Ergebnis einer Fixierung des 19. und 20. Jahrhunderts auf den Begriff der Souveränität zu sein scheint11 denn die begriffliche Abstraktion eines historischen Entwicklungsprozesses des 17. Jahrhunderts12 - haben erst die Auswirkungen der Globalisierung auf die Gegenstände, Prozesse und Strukturen von Krieg und Frieden13 (Transnationalisierung der Problemlagen, Ablösung der klassischen staatenzentrischen internationalen Politik durch internationales Regieren: international governance, Ausbildung transnationaler Öffentlichkeiten und deren durchgängiger Forderung nach Transparenz und Rechenschaftspflichtigkeit des Akteurshandelns) zu einem Paradigmenwechsel im Nachdenken über internationale Ordnungsstrukturen geführt und deren nationale durch postnationale Konstellationen abgelöst14. Bestimmt man diesen Vorgang stärker aus der Perspektive der Sicherheitspolitik15, liessen sich auch neben der klassischen westfälischen Konstellation mit ihrem Bezug auf die Kernkonzepte innere und äußere Souveränität, staatliches Gewaltmonopol, 8 Krasner (wie Anm..3), S. 42. Hierzu grundlegend Susan Strange: States and Markets. An Introduction to International Political Economy. London: Blackwell 1988 und dies.: Casino Capitalism. Manchester: Manchester UP 1997. 10 Susan Strange: The Westfailure System, in: Review of International Studies (1999), 25, 345 – 354. 11 Andreas Osiander: Sovereignty, International Relations, and the Westphalian Myth, in: International Organization (2001), 55,2, 251 – 287. 12 So die These Osianders: „…’Westphalia’ as generally understood in IR today is really a figment of the nineteentrh-century imagination, stylized still further, and reified, by the discipline of IR itself in the twentieth century...” – ebd. S. 284. 13 zur Übersicht meinen Beitrag: Krieg und Frieden,in: Hans J. Gießmann/Bernhard Rinke (Hrsg.): Handbuch Frieden. Wiesbaden: VS-Verlag 2011, 21 – 50. 14 Bernhard Zangl/Michael Zürn: Frieden und Krieg. Sicherheit in der nationalen und postnationalen Konstellation. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003. 15 Hierzu relativ früh schon mein Beitrag: Von der Globalisierung zur Fragmentierung? Skizzen zum Wandel des Sicherheitsbegriffs und des Kriegsbildes in der Weltübergangsgesellschaft, in: Paul Kevenhörster/Wichard Woyke (Hrsg.): Internationale Politik nach dem Ost-West-Konflikt. Globale und regionale Herausforderungen. Münster: agenda 1995, 33 - 82 9 3 Gleichrangigkeit der Akteure und Legitimität des Rekurses auf bewaffnete Gewalt wenn nicht länger zur Durchsetzung der eigenen Interessen nach außen so doch zumindest zur Sicherung der Freiheit der gesellschaftlichen Eigenentwicklung gegen Ein- und Übergriffe Dritter zwei weitere Konstellationen unterscheiden, die unseren Kontext ausfüllen: Die prä-westfälische Konstellation16 in der das staatliche Gewaltmonopol entweder nie ausgebildet war oder – als Folge von Staatsversagen oder Staatszerfall - zusammengebrochen ist, in der der Staat das seine Existenz seit der Hobbes’schen Vertragstheorie legitimierende Sicherheitsversprechen (nach außen gegen militärische Angriffe, nach innen durch Garantie der Verkehrswege-, Rechts- und Besitzsicherheit) nicht erfüllt, in der Gewalt vielmehr fragmentiert, privatisiert, kommerzialisiert wird – nach Maßgabe politischer Willkür und nullsummenspielartiger Verteilungskämpfe aufgeteilt unter Clans, Stammesherrn und Warlords. Und die postwestfälische Konstellation, geordnet vom Gedanken der kollektiven Sicherheit her, die ihre Akteure in internationale oder multilaterale Entscheidungsprozesse und Handlungsstrukturen einordnet, ihnen einen zumindest partiellen Souveränitätsverzicht abnötigt, im Sinne der Agenda für den Frieden der Vereinten Nationen aus 1992 aber der Welt auch Chancen auf eine konfliktpräventive Friedensdiplomatie, eine konflikteinhegende und/oder konfliktschlichtende Friedenssicherung und eine postkonfliktive Friedenskonsolidierung eröffnet. Ulrich 17 Schneckener hat diese Konstellationen einmal pointiert zusammengefaßt: „Während bei der westfälischen Konstellation Sicherheitspolitik primär eine Domäne des Nationalstaats ist und bleibt, verweist Prä-Westfalia auf die Privatisierung und Entstaatlichung von Sicherheit, verbunden mit dem Verlust staatlicher Kontroll- und Handlungsfähigkeit. Post-Westfalia ist hingegen durch Tendenzen zur Internationalisierung und Multilateralisierung von Sicherheit geprägt, bei der staatliche Akteure Aufgaben an internationale Organisationen oder multilaterale Gremien delegieren und damit bewußt de-factoEinschränkungen in ihrer Souveränität in Kauf nehmen.“ Dabei sollten wir festhalten, dass die eben kurz skizzierten Kategorien solche der politikwissenschaftlichen Analyse sind, mit Blick auf die von ihnen abgedeckten historischen Tatbestände aber allenfalls den Rang idealtypischer Konstrukte beanspruchen können. Kritisch zu hinterfragen wären in diesem Zusammenhang - die oft auch und gerade in der völkerrechtlichen Literatur geäusserte Behauptung, der Westfälische hierarchischen Friede etabliere Gemengelage eine quasi Epochenschwelle, noch den mittelalterlicher Umschlagspunkt Gewalten und von der ineinander verschachtelter Zuständigkeiten, Privilegien, Prärogative und Immunitäten zum Auftritt des straff 16 Hierzu Ulrich Schneckener: Post-Westfalia trifft Prä-Westfalia. Die Gleichzeitigkeit dreier Welten, in: Egbert Jahn/Sabine Fischer/Astrid Sahm (Hrsg.): Die Zukunft des Friedens. Band 2: Die Friedens- und Konfliktforschung aus der Perspektive der jüngeren Generationen. Wiesbaden: VS-Verlag 2005, 189 – 211. 17 Ebd., S. 193. 4 und zentralistisch organisierten einheitlichen internationalen Akteurs, ausgestattet mit absoluter und exklusiver Macht und Herrschaft über ein wohldefiniertes Territorium, eingebunden in eine Ordnung „…created by states, for states…“18, - die wirkmächtige definitorische Rolle einzelner Wissenschaftler in der Begründung eines kompletten Traditionsduktus, demzufolge der Vertrag von 1648 das Verlassen eines geschichteten, von Kaiser und Papst dominierten hierarchischen Abhängigkeitssystems unterschiedlicher Gewalten besiegelt und eine auf dem Grundsatz der Gleichrangigkeit der Akteure fußende internationale (Staaten-) Gesellschaft etabliert, deren Mitglieder als „…individually independent of any higher authority…“19 betrachtet werden konnten, und schliesslich - die Wirkung der globalisierungstypischen Phänomene von Kooperation, Verflechtung und Entgrenzung auf das reale Substrat des Westfälischen Modells. In ihrer Gesamtheit könnten diese Argumentationszusammenhänge den Schluss nahelegen, unsere hyperbolische Metapher gerate über kurz oder lang in einen Zustand der metaphorischen Hypertrophie. I) 1648 als Epochenschwelle ? Die Lexikonliteratur lebt von Vereinfachungen: aber es sind gerade diese Vereinfachungen, die die Grundzüge einer Problemdiskussion in einer bestimmten Epoche plastisch hervortreten lassen (und auch darüber Auskunft geben, wann und wo ein Phänomen überhaupt problematisiert wird). Eine überschlägige Durchmusterung völkerrechtlicher und politikwissenschaftlicher Nachschlagewerke – vom klassischen Strupp/Schlochauer20 über Pipers Wörterbuch zur Politik 21 und Beck’s Lexikon der Politik22 bis zu neueren englischsprachigen und französischen Werken ergibt ein zunächst verblüffendes Ergebnis: für die deutschen Lexikographen – mit Ausnahme der Enzyklopädie der Neuzeit23- ist der Stéphane Beaulac: The Westphalian Legal Orthodoxy – Myth or Reality ?, in: Journal of the History of International Law (2000), 2, 148 – 177, hier S. 149 sowie Kalevi J. Holsti: Peace and War. Armed Conflict and International Order, 1648 – 1989. Cambridge: Cambridge UP 1991. 19 Charles Fenwick: International Law. 4.Aufl. New York: Appleton-Century Crofts 1965, S.14, zit.n. Beaulac,.ebd., S.150 20 hier angezogen Karl Strupp/Hans-Jürgen Schlochauer (Hrsg.): Wörterbuch des Völkerrechts. Bd.III RapalloVertrag bis Zypern. Berlin: De Gruyter 1962. 21 Dieter Nohlen (Hrsg.):Pipers Wörterbuch zur Politik. Bd.5: Internationale Beziehungen. Hrsg.. Andreas Boeckh. München: Piper 1984. 22 Dieter Nohlen (Hrsg.): Lexikon der Politik. Bd.6: Internationale Beziehungen. Hrsg. Andreas Boeckh. München: C.H.Beck 1994. 23 Friedrich Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 14: Vater – Wirtschaftswachstum. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2011. 18 5 Westfälische Friede überhaupt kein Thema24, für ihre angloamerikanischen und französischen Kolleginnen und Kollegen aber desto mehr.25 Und: das Interesse am Sujet scheint ein Produkt des ersten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts zu sein – Reaktion auf die – im 11.09.200126 symbolhaft aufscheinende - grundsätzliche Infragestellung der überlieferten Ordnungsprinzipien des staatenzentrischen Systems durch neuartige Gewaltakteure, die sich ganz bewußt nicht mehr an den überkommenen westfälischen Komment halten ? Wie dem auch sei – die These von der Epochenschwelle scheint vornehmlich angloamerikanischen völkerrechtsgeschichtlichen und politikwissenschaftlichen Ursprungs27, und wird in der eher historisch argumentierenden Literatur nur bedingt geteilt 28. Wenn schon eine Epochenschwelle, dann aber eine langgestreckte: 1648 und der Pyrenäenfrieden zwischen Frankreich und Spanien 1659 und der Friede von Oliva zwischen Schweden, Polen, Brandenburg und Österreich 1660 gehören zusammen – und wenn man – wie Heinz Schilling29 - argumentiert, dass eine Gesamtwürdigung der Verträge von Münster und Osnabrück darauf beharren müsse, dass mit ihnen „… ein Schlußstrich Staatenkonkurrenz Epoche und gezogen…“ unter eine endemische und eine durch rechtlich Glaubenskriege „…neue ungebändigte gekennzeichnete Grundordnung für das Zusammenleben der Staaten und Völker ins Leben gerufen…“ wurde, „… die fortan die Staatenbeziehungen nach alllgemein anerkannten oder von Fall zu Fall neu auszuhandelnden Normen regelte…“ dann gehört der Friede von Utrecht mit seiner erstmaligen Nennung des Gleichgewichts als rechtsgrundsätzliches Regelungsmoment der Beziehungen im europazentrischen Staatensystem unbedingt noch mit in diesen Zusammenhang. 24 So übrigens auch für die Klassiker der Völkerrechtsgeschichte nicht: vgl. Wilhelm G. Grewe: Epochen der Völkerrechtsgeschichte. Baden-Baden: Nomos 1984; Strupp/Schlochauer referieren zwar die wesentlichen Bestimmungen des Westfälischen Friedens, enthalten sich aber jeglicher Bewertung seiner möglichen Bedeutungen. 25 Vgl. den ausführlicheren Beitrag von Gregory A. Raymond: Westphalia, in: Martin Griffiths (Hrsg.): encyclopedia of international relations and global politics. Abingdon, Oxon.:Routledge 2005, S. 856 ff. 26 Bernd Greiner: 9/11. Der Tag, die Angst, die Folgen.München: C.H.Beck 2011. 27 Belege in Stephane Beaulac: The Westphalian Legal Orthodoxy – Myth or Reality ?, in: Journal of the History of International Law (2000), 2, 148 – 177, Anm. 1. 28 So etwa Martin Wight: Systems of States. Hrsg. Hedley Bull. Leicester: Leicester UP 1977, der die langfristige Dauer der Ausbildung des modernen Staatensystems betont und als Eckpunkte der Entwicklung das Konzil von Konstanz 1414 – 1418 einerseits und den Frieden von Utrecht 1713 andererseits ansetzt. 29 Konfessionalisierung und Staatsinteressen 1559 – 1660. [Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen. Hrsg. Heinz Duchhardt/Franz Knipping, Bd.2]. Paderborn: Schöningh 2007, insbes. S. 591ff. 6 Das Problem solcher Interpretationen, die den Verträgen von 1648 nicht nur die Legitimation eines „…commonwealth of sovereign states…“ zuschreiben, die Formulierung einer „…fundamental and comprehensive charter for all Europe…“30 (und von dort aus gleich die Jahrhundertverbindungen zum Völkerbund und zu den Vereinten Nationen ziehen wollen), sondern sie auch zur Rechtfertigungs-Grundlage staatlicher Machtpolitik stilisieren31, scheint uns zunächst darin zu liegen, dass sie sich nicht mehr auf den Text der Verträge selbst beziehen32, sondern auf einen Komplex miteinander verwobener literarischer Annahmen und Meinungsäusserungen, der sich je länger desto mehr von der empirischen Vertragsgrundlage entfernt33. Die instrumenta pacis Monasterii et Osnabrugiensis haben eben nicht als eine Art lex fundamentalis Europae „…resolved the structure and codified the constitutional rules of the European states system as it had emerged from the unity of medieval Christendom...”34. Viel eher waren sie Reichsgrundgesetz, sicherten endlich den konfessionellen Frieden und präzisierten die Reichsverfassung35 (und dieses durchaus unter tätiger “Mithilfe” auswärtiger Mächte...), indem Rechte und Pflichten des Kaisers sowohl als auch der Reichsstände und damit – bis zum Reichsdeputationshauptschluß 1803 – die Grundlagen für ein politisches Miteinander der verschiedenen Gewalten festgeschrieben wurden. In diesem Kontext befestigten die Verträge auch die Landeshoheit der Reichsstände (eine Kompetenz, die ihnen im Grunde schon Karl V. einräumen musste) – nicht aber deren uneingeschränkte 30 Adam Watson: The Evolution of International Society. A comparative historical analysis. London: Routledge 1992, S. 186 ff. 31 Vgl. Evan Luard:International Society. London: Macmillan 1990, S. 96ff, , der dem Westfälischen Frieden nachsagt, “... a new age and a new type of society, which lasted for 150 years…“eingeführt zu haben: „The concern of the sovereigns and their great ministers who now controlled each state was no longer with the winning of crowns elsewhere, as in the age of dynasties, nor with the type of faith that was practised in other countries; it was with building up the power of their own states. ... Everywhere the dominant aim was the building of powerful and selfsufficient states, each able to deal on a basis of at least theoretical equality (“sovereign equality”) with other states . .... Each was concerned to protect its own power by limiting the power that could be attained by any other, that is to maintain the ‘balance of power’...” – ebd. S. 96 ff. 32 Hierzu Heinhard Steiger: Der Westfälische Frieden – Grundgesetz für Europa ?, in: Heinz Duchhardt (Hrsg.): Der Westfälische Friede. Diplomatie, politische Zäsur, kulturelles Umfeld, Rezeptionsgeschichte. München: Oldenbourg 1998, S.33 – 80. 33 Besonders schmerzlich wird es dann, wenn die Lexikographie dem Westfälischen Frieden die Formulierung der Grundsätze rex est imperator in regno suo und cuius regio, eius religio zuschreibt: Der erstere ist schon seit dem 13. Jahrhundert bekannt und gewinnt seine Bedeutung zunächst in der Auseinandersetzung Phillip des Schönen mit dem Papsttum, gegen dessen in der Bulle Unam Sanctam 1302 erhobenen Anspruch auf die plenitudo potestatis in temporalibus Phillip seine später dann auch von England gegen den Kaiser genutzte Formel vom rex superiorem non recognoscens est imperastor in regno suo setzt [hierzu Jürgen Dennert: Ursprung und Begriff der Souveränität. Stuttgart: Gustav Fischer 1964]. Der zweite ist nach allgemeinem Verständnis ein Produkt des Augsburger Religionsfriedens von 1555. Vgl. als „Aufhänger“ der Kritik paradigmatisch Marie-Claude Smouts/Dario Battistella/ Pascal Vennesson: Dictionnaire des relations internationales. Paris: Dalloz 2003, S. 494 f. 34 G.R.Berridge/Alan James : A Dictionary of Diplomacy. 2.Aufl. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2003, S.277. 35 Hierzu Benjamin Straumann: The Peace of Westphalia (1648) as a Secular Constitution, in: Constellations (2008), 15, No 2, 173 – 188. 7 Souveränität36 : sie besitzen zwar das Bündnisrecht nach innen und aussen, und damit auch das ius ad bellum, dürfen dieses aber doch nur zu ihrer Erhaltung und Sicherheit einsetzen, nicht gegen Kaiser und Reich oder gegen dessen Landfrieden. M.a.W. – 1648 impliziert nicht jenen Durchbruch des Souveränitätsprinzips, den insbesondere die angloamerikanische Literatur dem Westfälischen Frieden gern unterstellt: „Die Auffassung der Zeit war ganz eindeutig, dass eine Souveränität der Reichsstände nicht bestand“37 – weswegen ihrer einige sich dann ja auch bemühten, nach dem Vorbild Brandenburg-Preussens Souveränität ausserhalb des Reiches zu erlangen, um an der Politik der europäischen Mächte wirklich gleichberechtigt teilnehmen zu können. Der diplomatische und völkerrechtliche Zäsurcharakter des Westfälischen Friedens mag nicht bestritten werden38 - eine Zäsur freilich, die doch eher langfristigere Entwicklungen zusammenfasst, bündelt und kodifiziert, statt quantensprungartig aus dem Stand Neues zu schaffen. Gegenüber der begrifflich-überlieferungsgeschichtlichen Verknüpfung von Westfälischem Frieden und Westfälischem System – als vom Mächtegleichgewicht her geordnetem System gleichberechtigter souveräner Staaten – wäre folglich etliche Skepsis anzumelden: die Metapher vom Westfälischen System ist ein schönes Beispiel dafür, was die Simplifizierung und Hypostasierung eines dem Grunde nach vielschichtigen historischen Befundes alles hervorbringen kann. II) Das Westfälische System als lehrgeschichtliches Konstrukt ? Wo es raucht – so der Volksmund – ist nicht nur meist ein Feuer, sondern oft auch einer, der das Feuer legt - und in unserem Fall lässt sich dieser in personam dingfest machen: Leo Gross, Völkerrechtler der Fletcher School of Law and Diplomacy, der zur 300-Jahr-Feier des Westfälischen Friedens 1948 im American Journal of International Law einen Beitrag veröffentlichte, der als Grundlage für die Entwicklung einer ganzen Gestaltdiskussion angesehen werden kann39, „…Westphalia…“- so Gross „…for better or worse, marks the end of an epoch and the opening of another. It represents the majestic portal which leads from the old into the new world...”40. Eine neue Welt freilich, die nicht als Gemeinschaft der Nationen zu verstehen war, die sich der Herrschaft des Völkerrechts unterordneten: 1648 – so Gross – „…led to the era of absolutist states, jealous of their territorial sovereignty to a point where international law came to depend on the will of states more Beaulac: The Westphalian Model… (wie Anm. 4), S. 208ff. Steiger (wie Anm. 31), S.68. 38 So die Tendenz bei Anuschka Tischer: Westfälischer Friede, in: Enzyklopädie der Neuzeit (wie Anm. 23, Sp. 1020 – 1029. 39 Belege in Beaulac: The Westphalian Legal Orthodoxy... (wie Anm. 26), S. 149 ff.. 40 Zitat nach Beaulac, ebd,, S. 149. 36 37 8 concerned with the preservation and expansion of their power than with the etablishment of a rule of law41. Die bei Gross im Prinzip der Nonintervention aufscheinende Grundbestimmung staatlichen Handelns – nämlich ihre Selbständigkeit und ihr zentrales Machtmonopol um jeden Preis gegenüber Dritten zu verteidigen und durchzusetzen - scheint dann zu weiten Teilen auch den weiteren Gang der Debatte bestimmt zu haben: Quincy Wright leitete Mitte der 50er Jahre das Interventionsverbot aus der durch 1648 bekräftigten Augsburger Religionsfriedensformel des cuius regio, eius religio ab42, während John Herz Ende der 50er Jahre in einem Werk über Weltpolitik im Atomzeitalter (deutsche Ausgabe 1961) ein Billard-Ball-Modell der internationalen Politik konstruierte, in dem die Begriffstrias von Territorialität, Souveränität und Nonintervention den staatlichen Akteuren gleichsam eine harte Schale verlieh, die sie vor Eingriffen Dritter schützen sollte (und die durch die Politik der nuklearen Abschreckung noch verstärkt wurde). Die Festigkeit des modernen, keiner höheren Gewalt unterworfenen Staates erklärt Hertz aus seiner Schutzfunktion und der damit verknüpften erfolgreichen Sicherung des inneren (Rechts-) Friedens wie der äußeren Unabhängigkeit43: „Wir finden dieses Etwas weder im Rechtsbereich noch im Politischen, sondern vielmehr in jener letzten, tiefsten Schicht, wo der Staat uns sozusagen in seiner physischen Gestalt gegenübertritt: als sich vor uns ausbreitendes Gebiet, das sich zur Selbstbehauptung mit Festungen und sonstigen Befestigungen als dem greifbaren militärischen Ausdruck seiner Staatlichkeit umgibt. Dieses Phänomen möchte ich … als die ‚Undurchdringlichkeit’ oder ‚Undurchlässigkeit’ oder aber einfach als die ‚Territorialität’ des modernen Staates bezeichnen. Mit diesen Ausdrücken soll das Eigentümliche des modernen Territorialstaates erfaßt werden, sein Umschlossensein von einer ‚harten Schale’ des Schutzes gegen Durchdringung von außen her, durch die er sich verteidigen und sich in seinem Verhältnis zu anderen Einheiten wenigstens einigermaßen sicher fühlen konnte. … Da die Staaten keiner höheren Gewalt unterstanden, so konnte es nur ihre eigene territoriale Undurchdringbarkeit sein, die die Grundlage abgab für ihre faktische Unabhängigkeit, ihre äußere Macht, souveräne Gewalt, sonstige Rechte und Ansprüche.“ Sehr schön kann man sich die Essenz dieser Aussage vor Augen halten, wenn man sich etwa eine Karte Frankreichs unter Ludwig XIV mitsamt dem System der Vauban’schen Grenzbefestigungen vorstellt: die harte Schale wird in diesen Werken geradezu physisch greifbar. Allerdings: Vorstellungsbilder wie das Billard-Ball-Modell laufen Gefahr, sich in der wissenschaftlichen Imagination zu verselbständigen, vom historischen Substrat zu lösen, ein Eigenleben zu führen – und dann in einer weiteren Stufe der dialektischen Entwicklung 41 Zitat nach Sebastian Schmidt (wie Anm. 1), S. 610. Belege bei Schmidt, ebd., S. 613. 43 John H.Hertz: Weltpolitik im Atomzeitalter. Stuttgart: Kohlhammer 1961, insbes. S. 26 ff. 42 9 wiederum die Perzeption politischer und historischer Wirklichkeit zu präformieren – ein klassischer Prozess der Konstruktion von Realität, wie er im Konstruktivismus immer wieder thematisiert wird44. Wir können diesen Prozess an einem weiteren Kollegen-Beispiel demonstrieren, das nun die Trennung des metaphorischen Konstrukts Westfälisches System vom historischen Substrat des Westfälischen Friedens definitiv besiegelt: dem 1969 erstmals publizierten, dann mehrfach erneut erschienenen und weidlich zitierten Beitrag Richard Falks The Interplay of Westphalia and Charter Conceptions of the International Legal Order45. Dort kontrastiert Falk die westfälische Konzeption internationaler Ordnung Grundelementen der Souveränität, Territorialität und Nichtintervention - – mit ihren mit der UNO- Konzeption, der Betonung internationaler Governance-Strukturen und kosmopolitischer Entwicklungstrends der internationalen Beziehungen und befördert beide zu Modellen internationaler Ordnung „… that can be posited for consideration whether or not they have actually existed…“46! Kurz: die Verweise auf das westfälische System in der wissenschaftlichen Literatur „…have created a relatively robust and well-defined analytical referent. Because it conveys a package of specific ideas about the nature of the international system, the Westphalia concept can be put to a number of uses. Most significantly, it has helped scholars concerned with the study of globalization and growing international interdependence to orient their analyses of the state system and to define their arguments more clearly by serving as a conceptual foil: various incarnations of the Westphalia concept are essentially what interdependence is not, what transnationalism is not, and what integration is not47 Im Boxsport nennt man so etwas einen Sparringspartner, im Geschäftsleben einen Strohmann. Wir bevorzugen zur Bezeichnung dieses intellektuellen Entwicklungsergebnisses in der Auseinandersetzung mit den Folgen von 1648 den Begriff der metaphorischen Hypertrophie ! 44 Hierzu Paul Watzlawick (Hrsg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben ? Beiträge zum Konstruktivismus. München: Piper 1983. Von ähnlich zäher Langlebigkeit wie das Billard-Ball-Modell der internationalen Politik ist das Drei-Ebenen-System zu ihrer Analyse und Erklärung, das Kenneth N. Waltz in seiner 1954 erschienenen Dissertation entwickelt hat: Man, the State, and War. A theoretical analysis. New York: Columbia UP 1954 u.ö. 45 in Richard A.Falk/Cyril Black (Hrsg.): The Future of the International Legal Order. Bd. 1, Princeton, N.J. Princeton UP 1969; zur Einschätzung vgl. Sebastian Schmidt (wie Anm. 1), S. 612 ff. Vgl. ferner auch Richard A. Falk:Revisiting Westphalia, Discovering Post-Westphalia, in: The Journal of Ethics (2002), 6, 311 – 352. 46 Zitat nach Sebastian Schmidt, ebd., S. 613. 47 Sebastian Schmidt (wie Anm.1) S. 615.: ferner habe der jeweilige Verweis auf das westfälische Modell erlaubt, „…to draw attention to trends in international politics…“ und der politikwissenschaftlichen Analyse eine Zielgerichtetheit und Kohärenz verliehen, „…that might otherwise (sc. have) been more difficult to convey without the clean package of ideas represented by the concept…“. 10 III) Risse im Monolith – ist die Metapher vom Westfälischen System noch zeitgemäß ? Wenn es mit rechten – nämlich sicherheitspolitischen – Argumenten zuginge, müsste das Westfälische System schon längst sein Leben als analytische Kategorie der Lehre von den Internationalen Beziehungen ausgehaucht haben – besteht doch der bereits zitierte John Herz 1961 an gleicher Stelle48 darauf, dass die Undurchdringbarkeit ihrer harten Schale es sei, die es rechtfertige, Machteinheiten als politisch unabhängig und rechtlich souverän zu betrachten; unter klassischen Bedingungen stelle Macht die strategische, Unabhängigkeit die politische und Souveränität die juristische Komponente jener Undurchdringbarkeit dar. Diese Prämisse gilt aber nur solange, wie sich der Krieg aussschliesslich in der Horizontalen entfaltet: in dem Moment, in dem sich seit den letzten Jahren des Ersten Weltkrieges eher zögerlich, im Zweiten Weltkrieg dann umso entschiedener der Luftkrieg (und die Verbindung von Luft- und Panzerwaffe) zum Vorläufer moderner Massenvernichtungswaffen entwickelte, war die Undurchdringbarkeit der harten Schale des Hertz’schen Billardballs in Frage gestellt – und gänzlich aufgehoben wurde sie durch die Entwicklung der modernen InterkontinentalRaketentechnik mitsamt ihrer Fähigkeit, nukleare Sprengköpfe punktgenau ins Ziel zu bringen49. Allerdings: trotz gelegentlicher entschiedener Versuche, den Geist des Westfälischen Systems mittels Exorzismus aus der Politikwissenschaft zu vertreiben50, zeigt eine kursorische Durchsicht neuerer Lehrbücher, dass er sich weiterhin im Gewande von Erörterungen über den Staat als (Haupt-)Akteur internationaler Politik im Fach behauptet51. Und selbst Veröffentlichungen, die die Weltpolitik schon seit langem erfolgreich aus der Perspektive der Globalisierung angehen52, sehen in den überkommenen normativen Grundsätzen des Westfälischen Systems – insonderheit der Doktrin der Staatssouveränität und Nichtintervention – die normative Grundstruktur, die Verfassung der modernen Weltordnung: Territorialität, Souveränität, Autonomie und Selbstbestimmung – all das kommt uns sehr bekannt vor, nur der Begründungszusammenhang variiert ein wenig: „… it was only in the twentieth century, as global empires collapsed, that sovereign statehood and with it national self-determination finally acquired 48 Weltpolitik im Atomzeitalter (wie Anm. 43), S. 27f. Gelungene knappe Übersicht bei David Jordan: Air and Space Warfare, in: David Jordan u.a.: Understanding Modern Warfare. Cambridge: Cambridge UP 2008, S.179 – 223. 50 Vgl. Charles W. Kegley/Gregory A. Raymond: Exorcising the ghost of Westphalia: building world order in the new millennium. Upper Saddle River, N.J.: Prentice Hall 2002. 51 Paradigmatisch Bruce Russett/Harvey Starr/David Kinsella: World Politics. The Menu for Choice. 8.Aufl. Belmont, CA: 2006, S. 53 ff; Kegley/Blanton (wie Anm. 1), S. 12 ff.. 52 John Baylis/Steve Smith/Patricia Owens (Hrsg.): The Globalization of World Politics. An introduction to international relations. 5. Aufl. Oxford: Oxford UP 2011. 49 11 the status of universal organizing principles of world order. ...the Westphalian Constitution by then had come to colonize the entire planet...”53 Der Wissenschaftsbetrieb in der Lehre von den Internationalen Beziehungen – ein Skriptorium wie das aus Umberto Ecco’s Name der Rose54 ?? Dem wäre denn nun doch entgegenzuhalten, dass in mehr als einer Hinsicht Westfälisches System und Garantie der Freiheit der gesellschaftlichen Eigenentwicklung gegen Dritte durch Interventions- und Gewaltverbot analytisch notwendige Korrelate jenes Gleichgewichts des Schreckens waren, das sich in den Jahrzehnten des Kalten Krieges zwischen den beiden grossen Machtblöcken ausgebildet hatte. Ein Gleichgewicht, dessen Funktionieren zumindest im euro-atlantischen Raum der gegenseitigen Anerkennung der Besitzstände ebenso bedurfte wie des seit der Kuba-Krise mehr und mehr einvernehmlichen Einfrierens, Abschleifens oder Einebnens von Konfliktanlässen und Interessendifferenzen im Prozess der kooperativen Rüstungssteuerung, der KSZE und der MBFR. Jene Entwicklungen mögen ursächlich dazu beigetragen haben, aus dem naturzuständlich – anarchischen, vom Sicherheitsdilemma beherrschten Staatensystem der vierziger und frühen fünfziger Jahre eine (völker-) rechtlich verfasste internationale Staatengesellschaft zu formen, deren Triebkraft nicht mehr das nullsummenspielartige Konkurrenzverhalten ihrer Akteure war, sondern die Bündelung von je einzelstaatlich immer schwieriger umzusetzenden Interessen zur gemeinsamen Hand: Entwicklung kooperativer Lösungen für Gemeinschaftsprobleme in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft55. Man kann diese Entwicklung eher funktionalistisch (als Ergebnis von Sachzwängen moderner Industriegesellschaften und der Entwicklung der Produktivkräfte) oder eher intergouvernementalistisch deuten (als bewußte, die je nationalen Interessen durchaus im Blickfeld haltende Willensentscheidung der Staaten). Ihr Kennzeichen ist in beiden Fällen die Entwicklung eines Korpus von Verhaltensregeln für die internationale Staatengesellschaft, die abstellen auf Vertrauensbildung und Verlässlichkeit des künftigen internationalen Akteurshandelns als Entscheidungsparameter für das Akteurshandeln in der Gegenwart. In diesem Kontext kommen den bekannten Prinzipien des Westfälischen – Systems Gleichrangigkeit der Akteure, Interventions- und Gewaltverbot - eindeutige Funktionen zu: nämlich jene Staatengesellschaft flankierend zu stützen, die sich zwar nicht immer, aber doch immer öfter der rationalen und kooperativen Lösung ihrer Probleme im Sinne der gegenseitigen Anerkennung wie des konstruktiven Ausgleichs ihrer Interessendifferenzen zuwendet. 53 Ebd. Umberto Ecco: Der Name der Rose. München: Hanser 1982, Erster Tag: Nach Nona. 55 Übersicht: mein Beitrag zum Thema Theorien internationaler Verflechtung und Integration, in: Wichard Woyke (Hrsg.): Handwörterbuch Internationale Politik. 12. Aufl. Opladen: Budrich 2011, S. 520 – 537. 54 12 Unsere Argumentation hat bislang eine top-down – Perspektive vorausgesetzt, die das Westfälische System von 1648 nicht grundsätzlich in Frage stellt. Problematisch wird es für seine Rolle als analytische Leitinstanz der Internationalen Beziehungen allerdings dann, wenn man die Gesamtheit neuerer weltgesellschaftlicher Transformationsphänomene ins Auge fasst, die sich knapp mit dem Stichwort von der „Entgrenzung der Politik“56 belegen lassen – in aller Kürze: 1) Entstehung, Ausbreitung und Ausdifferenzierung der verschiedenen Erscheinungsformen der Globalisierung – verstanden als Sieg der Zeit über den Raum, verstanden aber auch als erfolgreiche Durchlöcherung und Infragestellung klassischer Grenzziehungen durch moderne Transport- und Kommunikationsmittel sowie die von diesen verbreiteten einheitlichen Lebenserwartungen und Konsumstile: Macdonaldisierung ebenso wie die Madonnisierung der Weltgesellschaft57; 2) Veränderungen der Kriegführung durch den Wandel klassischer zwischenstaatlicher zu asymmetrischen Neuen Kriegen [typischerweise ausgefochten zwischen staatlichen Kombattanten einerseits und Freischärlern, Guerillas oder Warlords andererseits], verstanden als Privatisierung und Kommerzialisierung des staatlichen Gewaltmonopols, Entwicklung dauerhafter Kriegsökonomien und Vernetzung dieser mit organisierter Kriminalität und globalisierter Schattenwirtschaft 58; 3) Veränderungen der Perzeption und der Begrifflichkeit von Sicherheit, verstanden als Entterritorialisierung, Funktionalisierung und Individualisierung eines erstrebenswerten gesellschaftlichen Zustandes, zum ersten Mal deutlicher greifbar im Human Development Report der Vereinten Nationen von 199459. 56 Mathias Albert u.a.(Hrsg.): Die Entgrenzung der Politik. Internationale Beziehungen und Friedensforschung. Frankfurt: Campus 2004. 57 Übersicht Stefan A. Schirm (Hrsg.): Globalisierung. Forschungsstand und Perspektiven. Baden-Badenn: Nomos 2006; immer noch nützlich Malcolm Waters: Globalization. 2.Aufl. London: Routledge 2001. 58 Übersicht in meinem Beitrag: Krieg und Frieden (wie Anm. 13). 59 Übersicht bei Pauline Kerr: Human Security, in: Alan Collins (Hrsg.): Contemporary Security Studies Oxford: Oxford UP 2007, S. 91 – 108; grundlegend Mary Kaldor: Human Security. Reflections on Globalization and Intervention. Cambridge: Polity Press 2007. Mit dieser Entwicklung weitet sich der Sicherheitsbegriff, wird mehrdimensional, erstreckt sich auf Aussen-, Wirtschafts-, Finanz-, Umwelt-, Entwicklungs- und Sozialpolitik neben dem Bereich des genuin Militärischen (läuft damit allerdings auch Gefahr, überfrachtet und überlastet zu werden). In der Summe dieser Entwicklungen nimmt die Bedrohung der Staaten durch staatliche Akteure ab, durch gesellschaftliche hingegen zu – und damit eröffnet sich ein Reaktionsdefizit, weil sich zeigt (im Irak, in Afghanistan, im Sudan, in Subsahara-Afrika), dass militärische Maßnahmen komplexe gesellschaftspolitische Probleme nicht lösen können. Der 11. September 2001 demonstriert diese Lücke besonders deutlich – entstaatlichte, privatisierte, ubiquitäre terroristische Gewalt wirkt nicht zuletzt deshalb so bedrohlich, weil die Staaten sie im Großmaßstab nur durch neue Stellvertreterkriege – oder präziser: Kriege gegen die Stellvertreter, Unterstützer, Sympathisanten, aber kaum gegen die eigentlichen Urheber 13 Die Essenz all dieser Entwicklungen läuft schon lange auf eine Überwindung des Nationalstaats als des alleinigen oder hauptsächlich bedeutsamen Akteurs der internationalen Politik hinaus – er erhält mächtige Konkurrenz, die es sich leisten kann, ihn zu unterlaufen, ihre Geschäfte an ihm vorbei zu betreiben oder ihn schlichtweg zu ignorieren60. Diese neuen Akteure der internationalen Beziehungen – die in aller Regel keinen staatlichen Status beanspruchen können, gleichwohl aber in vielen Fällen mächtiger sind als Klein- und selber gar Mittelstaaten lassen sich mit den Kategorien des überkommenen Westfälischen Modells nicht mehr fassen. Aus unserer Perspektive vielleicht noch wichtiger: die Zerfransung, wenn nicht gar Auflösung des klassischen staatlichen Gewaltmonopols. Seit dem Ende der Kolonialreiche in den fünfziger und sechziger Jahren des 20.Jahrhunderts tritt mehr und mehr an die Stelle des klassischen zwischenstaatlichen Krieges als zeitlich begrenzter Eruption organisierter Gewalt, nach Clausewitz gipfelnd in der Entscheidungsschlacht zur Niederringung des Gegners, der langdauernde Bürgerkrieg in der Form des low intensity conflict oder low intensity warfare. Aus einem Instrument der Durchsetzung staatlichen politischen Willens, der Realisierung staatlicher politischer, territorialer, ökonomischer, weltanschaulicher Interessen wird der Krieg zu einer Form privatwirtschaftlicher Einkommensaneignung und Vermögensakkumulation, zu einem Mittel klientelistischer Herrschaftssicherung und semi-privater Besetzung und Behauptung von nur unter den besonderen Bedingungen einer spezifischen Kriegsökonomie überlebensfähigen Territorien, Enklaven, Korridoren, Kontrollpunkten. In einer Gemengelage von privaten Bereicherungs- und persönlichen Machtbestrebungen, Interventionen Dritter zur Verteidigung bestimmter Werte, aber auch zur Durchsetzung je eigener Herrschafts- und Ausbeutungsinteressen, der gegenseitigen Durchdringung und Vermischung kriegerischer Gewalt und organisiertem Verbrechen verliert der klassische Staatenkrieg seine überkommenen Konturen. Partisanen- und Guerillaaktionen, Selbstmordattentate, terroristische Gewaltexzesse unterlaufen die Trennung von Schlachtfeld und Hinterland, von zivilen und militärischen Zielen. Die Ausbildung eines „Lumpenmilitariats“ („tagsüber Soldaten, in der Nacht Gangster“) durchdringt die Trennlinie zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten. Das Miteinander terroristischer Gewalt – bekämpfen können. Ob sie dabei immer die Richtigen treffen, wollen wir hier und jetzt nicht entscheiden: Afghanistan zumal gibt zu erheblichen Zweifeln Anlass. 60 Die Vereinten Nationen zählen derzeit 192 Staaten als Mitglieder. Demgegenüber stehen ca. 82.100 internationale Konzerne mit knapp 810.000 nationalen Filialen – manche von ihnen mit einem grösseren Jahresumsatz als dem BSP des Ölstaats Norwegen (und natürlich auch mit einer Beschäftigtenanzahl, die die der Mitarbeiter des norwegischen öffentlichen Dienstes bei weitem übertrifft). Wir zählen derzeit 240 IGOs – regierungsamtliche Internationale Organisationen von der UNO bis zur Internationalen Kaffeeorganisation: denen gegenüber stehen ca. 7.600 INGOs – nichtregierungsamtliche Internationale Organisationen von Amnesty International bis zur World Alliance of Baptists und etwa 10.000 NGOs mit Sitz und vorwiegendem Betätigungsfeld im Sitzland. Zahlen nach Baylis/Smith/Owens (wie Anm. 52), S.328. 14 bewaffneter Kämpfe, fragiler Kompromisse und Waffenstillstände, und erneuter bewaffneter Auseinandersetzungen hebt die zeitliche Unterscheidung von Krieg und Nicht-Krieg auf. Das genuin Neue an dieser Welt reprivatisierter Gewaltanwendung ist allerdings nicht so sehr das Aufeinandertreffen staatlicher und nichtstaatlicher, gesellschaftlicher Gewaltakteure im selben Raum- und Zeithorizont. Sondern die Fähigkeit lokal agierender Rebellen, Condottiere, Warlords, Kriegsunternehmer, ihr Handeln durch effiziente Nutzung globalisierter Relationen und Prozesse zu optimieren und entweder Formhülsen der Staatsgewalt wie moderne Freibeuter zu kapern oder staatsfreie Räume einzurichten und zu behaupten, die einer informellen Ökonomie und der organisierten Kriminalität den zur Finanzierung des Krieges notwendigen Freiraum verschaffen61. In Abwandlung jenes berühmten Zitats des Generals von Clausewitz: der Krieg ist nicht länger mehr die Fortsetzung des politischen Verkehrs, sondern die Fortsetzung des Beutemachens unter Einmischung anderer Mittel! An der Fortdauer eines solchen (Bürger-)Kriegszustandes haben viele Akteure ein eigensüchtiges materielles Interesse – die Konfliktforschung fasst sie seit einigen Jahren unter dem Begriff „spoiler“ – Spielverderber. Sie machen nicht nur den humanitären NGOs das Leben schwer und tragen das Ihre zur Entwicklung fragiler Staatlichkeit wie zum Staatszerfall bei62 . Sie sind auch der Schlusspunkt in einer Debatte, die seit Ende des Ost-West-Konflikts eine Wandlung des Sicherheitsbegriffs konstatiert – und dies gleich in mehrfacher Hinsicht: Durch Setzung einer Schutzverantwortung für einzelne Personen – responsibilty to protect: R2P – die als Verwirklichungsbedingung menschlicher Sicherheit neben die überkommene Vorstellung von der Sicherheit des Staates63 tritt. Und durch die Entterritorialisierung des Gegenstandes der Bedrohungswahrnehmung: mit Blick auf die weltumspannenden Aktivitäten und Wirkungen des internationalen Terrorismus ist der Ort, von dem eine (immer noch vorwiegend militärisch verstandene) Bedrohung eines Staates ausgeht, nicht länger im Voraus zu lokalisieren64. IV) Internationale Beziehungen zwischen Prä- und Post-Westfalia ? Welche Konsequenz ziehen wir nun aus all dem für unsere Fragestellung ? Das staatenzentrische Westfälische System scheint angeschlagen, aber noch nicht ausgezählt: die 61 Belege in meinem Krieg und Frieden (wie Anm.13). Ulrich Schneckener (Hrsg.) Fragile Staatlichkeit : "states at risk" zwischen Stabilität und Scheitern: Baden-Baden: Nomos 2006. 63 greifbar in der Unversehrtheit seines Territoriums und in der Garantie seiner ungestörten gesellschaftlichen Eigenentwicklung. 64 Johannes Varwick: Humanitäre Intervention und die Schutzverantwortung (‚Responsibility to Protect’). Kämpfen für die Menschenrechte ? Kieler Analysen zur Sicherheitspolitik Nr.25, Januar 2009, unter: www.isuk.org/1/?p=230 62 15 ehedem in der Verkettung von Staat und Krieg, bewaffneter Selbsthilfe zur Durchsetzung eigener Partikularinteressen und rüstungswettlaufgenerierendem Sicherheitsdilemma sich manifestierende historische Logik politischer Unvernunft65 nicht immer, aber immer öfter von den sich ausbildenden Institutionen einer rechtlich verfaßten Staatengesellschaft in die Schranken gewiesen. Die Suche nach einem für alle Beteiligten akzeptablen Kompromiß durch Friedensdiplomatie, Verhandlung und Kongreßwesen, der Rekurs auf das (Völker-) Recht als Instrument zur Regulierung und Lösung inner- wie zwischenstaatlicher Konflikte, die Kontrolle des Machtstrebens und der Machtausübung der Akteure durch die Anerkennung gemeinschaftlicher Interessen, selbstbindender Verhaltensregeln und Normen, die schon im aufgeklärten Eigeninteresse die Erwartungsverläßlichkeit des Akteurshandelns in der internationalen (Rechts-) Ordnung garantieren: all diese Entwicklungen lassen - nicht zuletzt seit 1992 gestützt von der Agenda für den Frieden der Vereinten Nationen - das überstaatliche Konzept einer auf Recht und Vereinbarungen beruhenden internationalen Ordnung je länger desto intensiver hervortreten. Freilich verläuft dieser Prozeß – der auch als Zivilisierung der internationalen Beziehungen durch Verrechtlichung des Konfliktaustrags66 begriffen werden kann – nicht ohne Brüche und Rückschläge. Kooperative Konfliktbearbeitung schlägt immer wieder einmal um in Konkurrenz und Feindschaft, gesellschaftlichen Antagonismus und militärische Gewaltanwendung. Als Bauprinzipien oder Gestaltungselemente einer internationalen Ordnung konkurrieren miteinander Konflikt und Kooperation; bewaffnete Selbsthilfe der Staaten und auf dem Prinzip kollektiver Sicherheit fußendes Kriegsverbot; hierarchisch-vertikale Koordination der Akteure durch einen Hegemon im Geflecht einseitiger Abhängigkeiten und horizontale Selbstkoordination der Akteure im Netzwerk gegenseitiger Regulierungs-Interdependenzen. Der gesellschaftliche Systemkonflikt des Kalten Krieges vermittelte sich auf der zwischenstaatlichen Ebene durch eine duopolistisch Zweitschlagsbefähigung strukturierte, der auf Hauptakteure nukleare und Abschreckung, gesicherte systemstrukturstabilisierendes 65 Ekkehart Krippendorff: Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Unvernunft. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998. 66 Volker Rittberger/Bernhard Zangl/Matthias Staisch: Internationale Organisationen. Politik und Geschichte. 3. Aufl. Wiesbaden: VS-Verlag 2003. 16 Konfliktmanagement der Blockvormächte gestützte organisierte Friedlosigkeit 67 Die internationale Gesellschaft der Nach-Kalten-Kriegs-Ära ist bislang hauptsächlich charakterisiert durch eine Mischverfassung, die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeiten: durch den Wettbewerb eines polyzentrischen, auf Einvernehmen der Beteiligten, gestützten, kollektive sich Entscheidungsprozesse allmählich vor allem in der und geteilte Souveränitäten internationalen Zivilgesellschaft ausdifferenzierenden Systems der Global Governance68 und der Weltordnungspolitik einerseits, eines auf die kompetitive Kooperation der Großmächte und Regionalverbände gestützten, im Prozeß von Macht- und Gegenmachtbildung, von Hegemoniestreben und Machtbalance bestenfalls ein „ ... kooperatives Gleichgewicht (unter Beimischung konfrontativer Mittel) ...“,69 verwirklichenden Systems der interregionalen Ordnung andererseits. Inwieweit diese sehr langfristigen Tendenzen durch nicht-westfälische Mavericks von Al Khaida bis Lehman Bros. In andere Richtungen gelenkt werden, bliebe abzuwarten. Dabei bildet die Dringlichkeit der Suche nach Modellen einer gelingenden internationalen Ordnung seit 2001 den paradigmatischen Vorbildcharakter des Westfälischen Friedens vor dem Hintergrund des Auseinanderfallens der Machtblöcke, der visionären Beschwörung eines Kampfs der Kulturen (Huntington), und den Bemühungen um die Einhegung sehr realer ethnonationalistischer und fundamentalistischer Konflikte umso plastischer ab. Mit seinen Grundzügen der Säkularisierung des Politischen, der Bindung staatlicher Herrschaft und Kompetenz an ein je beschreibbares, exclusives Territorium, der Verknüpfung und Verdichtung von Herrschaftsrecht, Gewaltmonopol, Kompetenzkompetenz, Souveränitätsprinzip und Nichteinmischungsgebot zum staatsrechtlichen Wesenskern des gegenüber Gleichen Handlungsautonomie beanspruchenden neuzeitlichen internationalen Akteurs, schließlich mit seinem Verweis auf die aus gegenseitiger Selbstbindungsbereitschaft der 67 Dieter Senghaas: Abschreckung und Frieden. Studien zur Kritik der organisierten Friedlosigkeit. Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt 1969. 68 James N. Rosenau:Along the Domestic-Foreign Frontier. Exploring Governance in a Turbulent World. Cambridge: Cambridge UP 1997; locus classicus dieser Debatte James N. Rosenau/Ernst-Otto Czempiel (Hrsg.): Governance without Government. Order and Change in World Politics. Cambridge: Cambridge UP 1992. 69 Werner Link: Die Neuordnung der Weltpolitik. Grundprobleme globaler Politik an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. München: 1998. 17 Staaten abgeleitete, eben dort aber auch ihre Grenzen findende Rechtsförmlichkeit des internationalen Verkehrs stellt das System von Münster und Osnabrück den Ausgangspunkt für die Formulierung von Antworten auf die Frage, wie es unabhängigen Staaten gelingen kann, als Mitglieder eines Systems, an dessen Erhaltung alle ein Interesse haben müßten, ihre Interessen so zu verfolgen und so durchzusetzen, dass weder das System selbst noch seine Einzelakteure dabei grundlegend beschädigt werden. Freilich – schon eine kursorische Übersicht der Geschichte der Internationalen Beziehungen seit 1648 zeigt, daß ihr Bewegungsmoment unter dem Dach der sich ausbildenden staatenüberwölbenden Rechtsordnung doch die Dialektik von Konflikt und Kooperation blieb70. Solange die Staaten als Hauptakteure dieses Prozesses auftraten, war die Fortgeltung der Grundprinzipien des Westfälischen Systems nicht zu bestreiten. In dem Maße allerdings, in dem die traditionelle staatenzentrische Ordnung in Frage gestellt wird - zum einen durch grenzüberschreitende, wenn nicht kontinentübergreifende Prozesse der Modernisierung, Industrialisierung, Demokratisierung und des damit verbundenen sozialen Wandels, m.a.W. durch wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse, die einen „…Ausbruch des Politischen aus dem kategorialen Rahmen des Nationalstaats…“71 vermitteln - zum anderen durch die Entgrenzung der Staatengesellschaft in der Folge von Prozessen der Verregelung und Institutionalisierung internationaler Beziehungen, der Ausbildung transnationaler Interessenkoalitionen in der Situation des Regierens ohne Staat, der Entwicklung inter- und transgouvernementaler Politikverflechtungen und von Mehrebenen-Systemen des Regierens in staatenüberwölbenden Zusammenhängen72 70 Hierzu immer noch klassisch F.H.Hinsley: Power and the Pursuit of Peace. Theory and Practice in the History of Relations between States. 2.Auflage Cambridge: Cambridge UP 1967. 71 Ulrich Beck: Was ist Globalisierung ?Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S.13. 72 Ohne Zweifel ein analytisches Modell, das das Westfälische System als neue Orthodoxie internationaler Analysen ablösen könnte. Hierzu kursorisch Michael Zürn: Regieren jenseits des Nationalstaats. Globalisierung und Denationalisierung als Chance. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998. Grundsätzlicher Arthur Benz: Politik in Mehrebenensystemen. Wiesbaden: VS-Verlag 2009; ders. (Hrsg.): Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen. Eine Einführung. Wiesbaden: VS-Verlag 2004; schliesslich Arthur Benz/Susanne Lütz/Uwe Schimank/Georg Simonis (Hrsg.): Handbuch Governance. Theoretische Grundlagen und empirische Anwendungsfelder. Wiesbaden: VS-Verlag 2007. Weiter gespannt zu den unterschiedlichen europäischen 18 - in dem Maße wäre zu prüfen, ob die Frage nach den Grundbedingungen einer internationalen Ordnung so, wie sie im Anschluß an den Westfälischen Frieden immer wieder gestellt wurde, heute noch gestellt werden kann. Unsere These heißt, daß der Dialektik von Konflikt und Kooperation eine Dialektik von Verflechtung und Entgrenzung zur Seite, wenn nicht gar entgegen tritt. Denn die sowohl mit dem Phänomen der Verflechtung als auch mit dem Phänomen der Entgrenzung verknüpfte Beschädigung der harten Schale, der inneren und äußeren Handlungsfreiheit des Nationalstaats klassischer westfälischer Prägung torpediert nicht nur seinen Anspruch auf die Hauptrolle im Spiel der internationalen Politik, sondern läßt ihn als Baustein einer gelingenden internationalen Ordnung allenfalls noch in arbeitsteiliger Kooperation mit anderen taugen. Angeschlagen, aber noch nicht ausgezählt…. Perspektiven Beate Kohler-Koch/Fabrice Larat (Hrsg.): European Multi-Level Governance. Contrasting Images in National Research. Cheltenham: Edward Elgar 2009, und Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.): Governance-Forschung. Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien. Baden-Baden: Nomos 2005; schliesslich Sebastian Botzem u.a. (Hrsg.): Governance als Prozeß. Koordinationsformen im Wandel. Baden-Baden: Nomos 2009. 19