Anina Gidkov Exil als Lebenswelt: Praegungen einer Generation von Revolutionaeren „Die Emigration ist das erste Indiz einer nahenden Revolution. [...] Die Abkehr, die freiwillige Verbannung, verleihen […den] Worten [der Emigranten] eine staerkere Kraft und Autoritaet; sie dienen als Beweis, dass ihre Ueberzeugungen ernst sind. […] die Emigration ist der bedeutungsvollste Widerstandsakt, den der Russe machen kann.“ 1 Diese Definition der revolutionaeren Emigration stammte von Alexander Herzen (Aleksandr I. Gercen, 18121870), der 1847 als einer der ersten Revolutionaere Russland verliess und von Westeuropa aus Kritik an den herrschenden Zustaenden in Russland uebte. Herzen wurde 1812 als Sohn eines reichen russischen Adligen und einer buergerlichen Deutschen geboren. Da sein Vater die in Deutschland geschlossene Ehe in Russland nicht legalisieren liess, galt er als unehelich und durfte dessen Familiennamen nicht tragen. Bereits in seiner Jugendzeit hatte er sich fuer die revolutionaeren Stroemungen im Westen interessiert, von denen er sich Anregungen fuer den sozialen und politischen Wandel in Russland erhoffte. Waehrend seiner Studentenzeit an der mathematischnaturwissenschaftlichen Fakultaet der Universitaet Moskau betaetigte er sich regimekritisch, wurde daraufhin verhaftet und in die Verbannung nach Sibirien geschickt. Nach seiner Rueckkehr nach Moskau entwickelte er sich zum Wortfuehrer von Anschauungen, die die Verhaeltnisse im Westen zum Vorbild fuer die Zukunft Russlands nahmen. Er entschloss sich, mit seiner Frau nach Westeuropa auszureisen. 1848 erlebte er in Paris die Revolution. Nach deren Niederschlagung bereiste er Europa, wo er Emigranten aus verschiedenen Laendern kennen lernte. Angeregt durch diese Bekanntschaften begann Herzen ueber das Exil als Lebensform nachzudenken. Mit der Emigration, so Herzen, seien auch gewisse Gefahren verbunden: Man koenne in Ideen und Phantasien versinken und dabei den Bezug zur Wirklichkeit in der Heimat verlieren. Er selbst aenderte seine Auffassungen, erkannte die Schwaechen in den kapitalistischen Laendern Westeuropas und sah nun in Russland Strukturen, die einen Uebergang von der zarischen Autokratie zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung ermoeglichten. 1852 liess sich Herzen in London nieder und gab die Zeitschrift „Kolokol“ („Die Glocke“) heraus, die, nach Russland eingeschmuggelt, die dortige oeffentliche Meinung stark beeinflusste. 1 Herzen folgten seit den 1860er Jahren weitere Revolutionaere in die Emigration, um den zunehmenden Unterdrueckungsmassnahmen im Zarenreich zu entgehen und um ihre politische Opposition vom Ausland aus fortzusetzen. Im Gegensatz zur „aelteren“ Generation um Herzen stammten die Personen der „Jungen Emigration“ nicht aus dem wohlhabenden Adel, sondern aus der meist nichtadligen intelligencija. Sie waren an gemeinschaftliches Handeln gewoehnt und bereit, in organisierten Strukturen zu handeln. Ihr Verhalten unterschied sich somit vom politischen Individualismus der „aelteren“ Generation. Auch wenn die „Jungen“ und „Alten“ zeitweise zusammenarbeiteten, so kam es doch immer wieder zwischen den Generationen zu Streitigkeiten. So beklagte sich Herzen in einem Brief an seinen Freund, den Lyriker und Publizisten Nikolaj P. Ogarev (1813-1877), bitter ueber die „Jungen“, deren Verhalten zur Zerstrittenheit der Revolutionaere fuehre. 2 Ausserdem geht aus dem Brief Herzens hervor, dass sich damals ein Grossteil der politischen Opposition Russlands in Genf aufhielt. Herzen selbst lebte seit 1864 bis zu seinem Tod 1870 abwechselnd in Genf und Bruessel. Auch seine Zeitung „Kolokol“ erschien ab 1865 in Genf. Die Schweiz soll im Folgenden exemplarisch fuer das Exil als Lebenswelt betrachtet werden. Dass dieses Land neben Frankreich und Grossbritannien den bedeutendsten Zufluchtsort fuer Revolutionaere aus Russland bildete, lag an seiner politischen Stabilitaet und Neutralitaet sowie an der in der Bundesverfassung von 1848 und 1874 garantierten Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit. Ueberdies interessierte sich die schweizerische Regierung kaum fuer die Aktivitaeten der Emigranten, da es sich bei ihren Druckerzeugnissen hauptsaechlich um sozialistisches Material handelte, das Russland und nicht die Schweiz betraf. Zudem unterschied sich die Ueberwachung von Kanton zu Kanton, und etwaige polizeiliche Handlungen richteten sich eher gegen Anarchisten als gegen Sozialisten. 1873 unterzeichnete die Schweiz zwar einen Auslieferungsvertrag mit Russland, doch politische Emigranten waren ausdruecklich davon ausgeschlossen. Eine Ausnahme bildete ein Jahr zuvor die Ueberstellung Sergej G. Nečaevs (1847-1882) an Russland. Dieser hatte, an den anarchistischen Theorien Michail A. Bakunins (1814-1876) anknuepfend, Methoden fuer eine terroristische Verschwoerung zum Umsturz des Staates entwickelt. Allerdings galt er als gemeiner Verbrecher, weil er einen Genossen, der sich seinem Fuehrungsanspruch nicht unterwerfen wollte, hatte umbringen lassen. Fedor M. Dostoevskij (1821-1881) nahm diesen Fall zum Vorbild fuer seinen Roman „Boese Geister“ von 1872. Spaeter wurden mehrere Russen zwar nicht ausgeliefert, aber doch wegen politischer Betaetigung aus der Schweiz ausgewiesen. Ein Beispiel ist Fuerst Petr A. Kropotkin (1842-1921). Urspruenglich Offizier 2 der russischen Armee, wandelte er sich 1872 in der Schweiz zum Anarchisten. Seine Ideen kreisten um eine staatsfreie, auf gegenseitiger Hilfe und Guetergemeinschaft beruhender Gesellschaftsordnung. Zwei Jahre spaeter wurde er in Russland verhaftet. 1876 konnte er aus der Peter-und-Pauls-Festung in St. Petersburg fliehen und sich ins Ausland absetzen. Seit 1877 lebte er in der Schweiz, wurde aber nach dem Attentat auf Zar Alexander II. (18181881), an dem er selber nicht beteiligt war, 1881 aus der Schweiz ausgewiesen. Er lebte dann in verschiedenen europaeischen Staaten, bis er 1917 nach Russland zurueckkehrte. Ein weiterer Vorteil der Schweiz als Zufluchtsort war die zentrale geografische Lage. Massgebenden Einfluss duerften ferner die russischen Studenten und Studentinnen gehabt haben, die seit den 1870er Jahren an verschiedenen Schweizer Hochschulen studierten. Diese jungen Leute kamen urspruenglich in erster Linie fuer ihre Ausbildung in die Schweiz. Gerade Frauen nutzten hier die Moeglichkeit zum Universitaetsstudium, von dem sie in Russland – nach ersten Zulassungen zwischen 1859 und 1863 – weitgehend wieder ausgeschlossen worden waren. Bei den russischen Studentinnen erfreuten sich die Hochschulen von Zuerich und Genf grosser Beliebtheit, aber auch an den anderen Schweizer Universitaeten waren Russinnen eingeschrieben. Viele der Studierenden wurden dann in revolutionaeren Zirkeln taetig und halfen unter anderem beim Transport des Propagandamaterials nach Russland. Auch Vera N. Figner (1852-1942), 1852 als Tochter eines adligen Forstbeamten in Kazan’ geboren, kam in Zuerich waehrend ihrer Studienzeit in Kontakt mit revolutionaeren Ideen: „Nach meiner Ankunft in Zuerich beherrschte mich ausschliesslich der Wunsch, mich vollstaendig dem Studium der Medizin zu widmen. […] Anfangs hatten wir keine Bekannten. Aber bald wurde meine Schwester Lydia durch eine Kollegin in den Kreis der Studentinnen eingefuehrt, die vor uns gekommen waren. […] Auch hingen an den Waenden Anzeigen von Arbeiterversammlungen, von Vortraegen fuer Arbeiter usw. […] Wir begannen uns in starkem Masse fuer Theorie und Praxis des Sozialismus zu interessieren, zu dessen Studium besondere Zirkel ins Leben gerufen wurden. […] In meiner Weltanschauung ging im Laufe dieses Zuericher Jahres, ebenso wie bei den anderen, eine grosse Umwaelzung vor sich.“ Vera Figner wurde Mitglied eines Studentinnen-Zirkels, in dem folgende Themen durchgearbeitet wurden: „Theorie und Praxis des Sozialismus […] Die sozialistischen Lehren […] vor allem Fourier, St. Simon, Cabet, Louis Blanc, Proudhon, Lassalle; die politische Oekonomie; 3 Volksbewegungen und Revolutionen; die zeitgenoessische Arbeiterfrage und –bewegung im Westen […] Wir befassten uns sehr ernst und eingehend mit diesem Studium und widmeten ihm zwei Jahre.“ 3 Die zaristische Regierung, durch Mittelsmaenner informiert, begegnete dieser politischen Taetigkeit der Studentinnen mit wachsendem Misstrauen. 1873 liess sie schliesslich in mehreren europaeischen Zeitungen eine Verordnung veroeffentlichen, die den russischen Frauen das Studium an der Universitaet und am Polytechnikum Zuerich verbot. Die Mehrzahl der Studentinnen kehrte daraufhin nach Russland zurueck, da sie sonst in Russland weder zu einem Examen noch zu einer oeffentlichen Arbeit zugelassen worden waeren. Nur eine kleine Anzahl der Russinnen blieb in Zuerich oder setzte ihr Studium in Bern oder Genf fort. Vera Figner ging zuerst nach Bern, wo sie im Herbst 1875 mit der Arbeit an ihrer Dissertation begann. Kurze Zeit spaeter brach sie jedoch ihr Studium ab und kehrte nach Russland zurueck, um sich der revolutionaeren Bewegung anzuschliessen. Sie wurde ein fuehrendes Mitglied der „Narodnaja Volja“ („Volkswille“ oder „Volksfreiheit“) und 1883 verhaftet. Anfaenglich zum Tode, spaeter zu lebenslanger Haft verurteilt, wurde sie schliesslich 1904 begnadigt. Zwei Jahre spaeter verliess sie Russland und kehrte erst 1915 in ihre Heimat zurueck, wo sie bis zu ihrem Tode im Jahre 1942 lebte. Die Russische Kolonie in Zuerich, der auch Vera Figner angehoert hatte, befand sich in einem wohlhabenden Stadtviertel und wies eine gut ausgebaute Infrastruktur auf. So standen den Studierenden eine eigene Bibliothek, eine eigene Speisehalle und eine Unterstuetzungskasse zur Verfuegung. Trotzdem lebten die meisten, abgesondert von der Zuercher Bevoelkerung, in grosser Armut. Kropotkin, der sich 1872 in Zuerich aufhielt, beschrieb das Leben in der Kolonie folgendermassen: „Damals war Zuerich voll von russischen Studenten und Studentinnen. Die bekannte Vorstadt Oberstrass [heute ein Teil der Innenstadt] war ein Stueckchen Russland, wo die russische Sprache alles andere ueberwog. Wie russische Studenten zumeist fuehrten sie auch dort, insbesondere die Studentinnen, ein sehr eingeschraenktes Leben. Tee und Brot, etwas Milch und eine duenne, auf einer Spirituslampe gebratene Schnitte Fleisch und dabei eine belebte Unterhaltung ueber das Neueste in der sozialistischen Welt oder ueber das zuletzt gelesene Buch, das machte regelmaessig ihr Mahl aus.“ 4 4 Auch waren die Revolutionaere oft gezwungen, sich in ungewohnten Berufszweigen zu versuchen. So betrieb zum Beispiel Pavel B. Aksel’rod (1850-1928), der der Bewegung der Narodniki angehoert hatte, sich spaeter den Sozialdemokraten anschloss und nach 1903 eine fuehrende Position bei den Menschewiki einnahm, waehrend seiner Exiljahre einen Getreidehandel in Genf. Grigorij L. Šklovskij (1875-1937), ebenfalls Mitglied der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSDRP), leitete nach seiner Flucht aus Russland in Bern ein Chemielabor. Der Verein „Eintracht“ in Zuerich, urspruenglich in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Einrichtung fuer die Bildung der Arbeiter gegruendet, war nach der Jahrhundertwende eng mit der Sozialdemokratischen Partei Zuerichs verbunden. Er bot seinen Mitgliedern neben der Bildungsarbeit eine Krankenkasse, eine Speisegenossenschaft, verschiedene Verguenstigungen bei befreundeten Geschaeften sowie die Moeglichkeit, in einer Saengerund Turnersektion, in einem Dramatischen Klub oder einem Tanzklub mitzuwirken. Fuer die im Exil lebenden russischen Revolutionaere war er insofern von Bedeutung, als er es ihnen ermoeglichte, ihre Isolation zu durchbrechen. Sie konnten hier auch Vortraege und sonstige Veranstaltungen durchfuehren. Die meisten der sozialistischen Fuehrer, darunter auch Vladimir I. Lenin (1870-1924), gehoerten einmal diesem Verein an und wurden dadurch automatisch Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz. Dies war vor allem fuer die Beschaffung von ordentlichen Papieren nuetzlich, die die Mehrheit der Revolutionaere nicht besass. Neben Zuerich bildete Genf das zweite Zentrum der russischen politischen Emigration in der Schweiz. Die Rhônestadt war vor allem wegen ihrer Druckereien und Bibliotheken beliebt. Wichtige Treffpunkte bildeten die im Sommer 1874 vom Verleger Michail K. Elpidin (18351908) gegruendete und geleitete russische Bibliothek sowie das Café Gresso, in dem auf Kredit bestellt werden konnte. Im Vergleich zu Zuerich pulsierte das Emigrantenleben in Genf staerker. Nikolaj A. Morozov (1854-1946), ein fuehrender Theoretiker der „Narodnaja Volja“, empfahl deshalb einem Freund: „Komm, aber auf keinen Fall nach Zuerich, sondern nach Genf – hier hat sich das ganze Publikum versammelt. In Zuerich hingegen wirst Du vor Langeweile und Geldnot sterben.“ 5 5 Um die Jahrhundertwende waren in Genf die Sozialrevolutionaere wie die Sozialdemokraten um Georgij V. Plechanov (1856-1918) mit jeweils ungefaehr 30 fuehrenden Mitgliedern vertreten. 1883 hatte hier Plechanov mit Aksel’rod und anderen die Gruppe „Befreiung der Arbeit“ gegruendet, die wichtigste Vorlaeuferin der RSDRP. Als die Sozialrevolutionaere jedoch 1908 ihren Sitz nach Paris verlegt hatten, nahm deren Taetigkeit in der Schweiz ab. Fuer die russischen Sozialdemokraten bildete Genf hingegen weiterhin ein wichtiges Zentrum. Auch Lenin hielt sich als Anfuehrer der bolschewistischen Fraktion der RSDRP vor dem Ersten Weltkrieg zeitweise in Genf auf. Die revolutionaeren Emigranten aus Russland versuchten, im Ausland die gleichen Organisationsformen wiederherzustellen, die sie in ihrer Heimat im Untergrund aufgebaut hatten. Zugleich beanspruchten sie die Fuehrung gegenueber den dortigen Zirkeln. Fuer ihre Taetigkeit brauchten sie Fachleute und eine Infrastruktur, um politische Schriften in russischer Sprache herzustellen und nach Russland zu schmuggeln. Die in diesen Gruppierungen aktivierte Personen mussten sich tarnen und haeufig den Ort wechseln. Zur Tarnung liehen ihnen hierzu oft Schweizer oder eingebuergerte ehemalige Russen ihre Namen. Vladimir I. Ul’janov, der spaeter den Namen Lenin annahm, wurde 1870 in Simbirsk als Sohn eines in den Adel aufgestiegenen Schulinspektors und einer Gutsbesitzertochter geboren. Durch seinen von ihm als Vorbild verehrten aelteren Bruder Aleksandr (1864-1887), der 1887 wegen der Teilnahme an einem Attentat auf den Zaren Alexander III. (1845-1894) hingerichtet wurde, kam er bereits waehrend der Schulzeit mit revolutionaeren Stroemungen in Beruehrung. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften und der Zulassung zur Advokatur in St. Petersburg begann sich Lenin intensiv in der revolutionaeren Bewegung zu betaetigen und nahm Kontakt zu fuehrenden Sozialdemokraten auf. 1895 traf er in der Schweiz mit Plechanov und anderen emigrierten russischen Marxisten zusammen. Im selben Jahr gruendete er in Russland zusammen mit Julij O. Martov (1873-1923) den „Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse“, einen weiteren Vorlaeufer der RSDRP. Kurz darauf wurde Lenin wegen politischer Agitation verhaftet. Zunaechst musste er zwei Jahre im Gefaengnis verbringen, anschliessend drei Jahre in der Verbannung in Sibirien. Dort lernte er seine spaetere Frau und Mitarbeiterin, Nadežda K. Krupskaja (1869-1939) kennen. 1900 verliess Lenin Russland. Nach Aufenthalten in Deutschland und England kam er 1903 nach Genf. 6 Bereits bei seinem ersten Besuch hatte ihm die Landschaft der Schweiz sehr gefallen, vor allem die Berge faszinierten ihn. Er hatte hier zuvor schon mehrfach Genossen getroffen und Vortraege gehalten. Dabei zeigten sich erste Anzeichen des Bruchs zwischen der „jungen“ Generation um Lenin und der „alten“ um Plechanov. Im Genfer Exil erhielten er und seine Frau 1905 die Nachricht vom „Blutsonntag“ in Petersburg und vom Ausbruch der Revolution in Russland: „Wir gingen in die Speisewirtschaft der Emigranten bei Lepeschinskis, wohin alle Bolschewiki, die die Mitteilung von den Petersburger Ereignissen erhalten hatten, eilten. […] Niemand sprach ein Wort. Jeder kaempfte mit seiner Erregung. Man stimmte spontan den Trauermarsch an: ‚Als Opfer seid ihr gefallen…’ Die Gesichter trugen den Ausdruck der Sammlung. Alle bewegte das Bewusstsein: die Revolution hat bereits begonnen […].“ Man habe nach dieser Nachricht, so erinnerte sich Nadežda Krupskaja weiter, das eigenartige Leben gefuehrt, von einer Ausgabe der „Tribune de Genève“ zur naechsten zu warten: „Fast jeden Abend kamen die Bolschewiki im Café Landold zusammen und sassen dort bis in die Nacht bei einem Schoppen Bier. Man besprach die Ereignisse in Russland und machte Plaene. Viele reisten ab, viele bereiteten sich zur Abreise vor.“ 6 Lenin beeilte sich vorerst nicht mit der Rueckkehr nach Russland, sondern zog es vor, die dortige Entwicklung abzuwarten. Von Genf aus schickte er den bolschewistischen Gruppierungen genaue Anweisungen fuer die Vorbereitung und Durchfuehrung revolutionaerer Operationen. Als jedoch die Ereignisse nicht die von ihm ersehnte und angestrebte Entwicklung nahmen, befuerchtete Lenin, sich in der Schweiz zu isolieren und den massgeblichen Einfluss auf seine Organisation und damit auf die Revolution zu verlieren. Anfang November 1905 verliess er deshalb Genf und reiste ueber Schweden und Finnland nach St. Petersburg. Das Scheitern der Revolution konnte er jedoch nicht verhindern. 1907 ging Lenin erneut ins Exil nach Westeuropa. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges kam er wieder in die Schweiz. Dort traf er zahlreiche andere fuehrende Personen der russischen politischen Emigration, etwa Julij O. Martov, Lev D. Trockij (1879-1940), Nikolaj I. Bucharin (1888-1938) oder Grigorij E. Zinov’ev (1883-1936). Zunaechst nahm Lenin mit seiner Frau eine Wohnung in Bern, spaeter dann in Zuerich. 7 Fuer die Russen, die sich waehrend des Krieges in der Schweiz aufhielten, war es keine leichte Zeit. Devisen konnten jetzt nicht gewechselt werden; Verdienstmoeglichkeiten gab es kaum. Vjačeslav A. Karpinskij (1880-1965), ein Parteigenosse und enger Vertrauter Lenins, berichtete darueber: „In der Emigration war die materielle Lage Wladimir Iljitschs [Lenins] nicht besonders gut. Das Honorar fuer legal herausgegebene Arbeiten war unregelmaessig und nicht immer ausreichend. Es kam vor, dass er ‚knapp bei Kasse’ war. Dann hielt er Vortraege, um etwas zu verdienen.“ Seine Frau erteilte gelegentlich Privatstunden oder „beschriftete Kuverts zum Versand von Reklamen Schweizer Firmen nach Russland. Natuerlich gab es nur geringen Verdienst.“ 7 Nach wie vor kamen allerdings auch Wanderungen in den Alpen nicht zu kurz. Um den Mittellosen zu helfen, organisierten Russen wie Schweizer Wohltaetigkeitsveranstaltungen. Die schweizerischen Sozialdemokraten gruendeten 1914 die „Liga schweizerischer Hilfsvereine fuer politische Gefangene und Verbannte Russlands“, deren Hauptsitz sich in den Lokalitaeten des Vereins „Eintracht“ in Zuerich befand. Die Liga versuchte, Faelle von politischen Verfolgten aufzuklaeren, bot materielle Hilfe und kuemmerte sich um die Organisation von Konferenzen sowie um den Verkauf von Werken russischer Revolutionaere. Sogar seitens der russischen Botschaft kam Unterstuetzung. Sie erleichterte Geldueberweisungen aus Russland in die Schweiz, veroeffentlichte Namenslisten von Personen, die von ihren Angehoerigen gesucht wurden, oder half ihren Buergern, in die Heimat zurueckzukehren. Die Zusammenarbeit zwischen den Vertretern des Zarenreiches und den russischen Revolutionaeren fand jedoch ein jaehes Ende, als die russische Botschaft im Februar 1915 verkuendete, dass alle Kriegstauglichen innerhalb von zwei Wochen nach Russland zurueckzukehren haetten; bei Kriegsausbruch im August 1914 waren zunaechst nur die Offiziere mobilisiert worden. Die russische Geheimpolizei musste berichten, dass sich die emigrierten Revolutionaere weigerten vorzusprechen – sie haetten keine Heimat zu verteidigen. Im Juni 1915 lehnten es die Zuercher Behoerden ab, eine Aufforderung der russischen Botschaft an zwei in der Stadt wohnhafte russische Buerger, sich fuer die Mobilisierung medizinisch untersuchen zu lassen, weiter zu leiten. Daraufhin bestaetigte der Bundesrat, dass 8 die Schweizer Behoerden „nicht in der Lage [sind], den in der Schweiz ansaessigen Auslaendern auf Wunsch der fremden Gesandtschaften Mitteilungen zuzustellen, deren Inhalt sich auf militaerdienstliche Angelegenheiten bezieht.“ 8 Diese bestimmte Haltung der Schweiz und die Anwesenheit zahlreicher russischer Revolutionaere in der Schweiz bewogen die zaristische Geheimpolizei daraufhin, zusaetzlich fuenf staendige Agenten in der Schweiz zu stationieren. Sie sollten die Revolutionaere und ihre Aktivitaeten im Auge behalten. Im Schweizer Exil erhielt Lenin am Morgen des 15. Maerzes 1917 – am 2. Maerz nach russischer Zeitrechnung – die Nachricht, dass in Russland die Revolution ausgebrochen sei. Noch am selben Abend schrieb er an seine Vertraute Inessa Armand (1874-1920): „Wir sind heute in Zuerich ganz aus dem Haeuschen: Die ‚Zuercher Post’ und die ‚Neue Zuercher Zeitung’ bringen ein Telegramm vom 15. Maerz, wonach in Russland am 14. Maerz nach dreitaegigem Kampf die Revolution in Petrograd gesiegt hat und zwoelf Dumamitglieder an der Macht sind.“ 9 Fuer die Beurteilung der Lage hatte Lenin jedoch ausser den in den Zeitungen erscheinenden Meldungen kaum zusaetzliche Nachrichten zur Verfuegung. „In der ersten Zeit nach der Februarrevolution 1917“, so die Erinnerungen Karpinskijs, „besass Wladimir Iljitsch [Lenin] lediglich lueckenhafte, widerspruechliche, oft falsche Informationen, die aus Russland in die buergerliche Presse gedrungen waren.“ 10 Im Unterschied zu 1905 draengte es Lenin nun zur Heimkehr nach Russland. Er hatte Angst, dass er zu spaet kommen koenne, und beklagte sich: „Wir fuerchten, dass es uns nicht so schnell gelingen wird, aus der verfluchten Schweiz herauszukommen. […] Wir traeumen staendig von der Abreise.“ 11 Die letzten Verhandlungen mit den deutschen Behoerden wegen der Durchreise fuehrte Fritz Platten(1882-1942), der damals Sekretaer der schweizerischen Sozialdemokratischen Partei war und den ein enges Vertrauensverhaeltnis mit Lenin verband. Er begleitete dann auch die Russen auf ihrer Fahrt. 1919 sollte er zu den Gruendungsmitgliedern der Kommunistischen Internationalen gehoeren. Seit 1923 lebte er dann staendig in der Sowjetunion, bis er in die Muehlen des stalinistischen Terrors geriet, 1938 verhaftet, zur Lagerhaft verurteilt und 1942 ermordet wurde. Am 9. April 1917 verliess Lenin zusammen mit 30 weiteren Revolutionaeren, unter denen sich seine Frau und Inessa Armand, die bolschewistischen Fuehrungsmitglieder Grigorij E. Zinov’ev – mit Familie – und Karl Radek (1885-1939?), aber auch eine Anzahl nichtbolschewistischer Revolutionaere befanden, die Schweiz und erreichte ueber Deutschland und Schweden am 16. (3.) April 1917 St. Petersburg. 9 Kurz zuvor hatte Lenin einen „Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter“ verfasst, der allerdings kaum verbreitet werden konnte. Darin sprach er den schweizerischen Genossen den „tiefempfundenen kameradschaftlichen Dank“ aus und betonte, „[…] dass wir bei den revolutionaeren sozialistischen Arbeitern der Schweiz, die auf dem internationalistischen Standpunkt stehen, die waermsten Sympathien gefunden und aus dem kameradschaftlichen Verkehr mit ihnen viel Nutzen fuer uns gezogen haben.“ Im Weiteren legte er noch einmal seine politischen Ansichten dar und erklaerte, besondere geschichtliche Bedingungen haetten das russische Proletariat „fuer eine gewisse, vielleicht nur sehr kurze Zeit zum Vorkaempfer des revolutionaeren Proletariats der ganzen Welt gemacht“. Er hoffe, dass die Ereignisse in Russland zum „Vorspiel der sozialistischen Weltrevolution“ wuerden. 12 Die revolutionaere Ungeduld, mit der Lenin diesmal seine Abreise vorantrieb und die auch aus seinem Abschiedsbrief spricht, war typisch fuer die Revolutionaere im Exil. Nach ihrer Ueberzeugung war das Zarenreich schon lange reif fuer den Zusammenbruch, jeden Augenblick konnte die Nachricht von einem Aufstand eintreffen. Die meisten Emigranten fieberten der Rueckkehr nach Russland entgegen, das Exil galt ihnen als kurzfristiger Zufluchtsort, in dem sie sich nur provisorisch einrichteten. Sie konnten es kaum erwarten, endlich zur revolutionaeren Tat zu schreiten. Umso gereizter und unduldsamer gingen sie mit Genossen um, deren Analyse der Verhaeltnisse in Russland von der eigenen abwich oder die ihren politischen UEberzeugungen eine andere Vorstellung der zukuenftigen Entwicklung zugrunde legten. Charakteristisch fuer die Lebenswelt Exil ist die oft erbarmungslose Auseinandersetzung um den „richtigen Weg“, bei der es meist nur um kleine Unterschiede ging. Geradezu rachsuechtige Streitigkeiten, manchmal aus nichtigen Anlaessen, bestimmten das Leben besonders der fuehrenden revolutionaeren Politiker. Intrigen blieben nicht aus, Freundschaften zerbrachen darueber. Sachliches und Persoenliches vermischten sich. Eifersuechteleien und Liebesdramen wirkten sich haeufig auch auf politische Buendnisse und Gegnerschaften aus. In kleinen Zirkeln, abgesondert von der Bevoelkerung des Exillandes, aber auch von unmittelbaren Nachrichten aus Russland, diskutierten die Emigrantinnen und Emigranten endlos ueber die Aussichten der Revolution. Viele von ihnen gewoehnten sich schliesslich an einen Blick „von aussen“, der nicht mehr unbedingt die Perspektive der Menschen einnahm, 10 die sich befreien wollten, sondern von einem festgefuegten Konzept ausging, das sich waehrend der Debatten im Kopf geformt hatte. Dazu gehoerte, dass manche aus ihren Erlebnissen in der Emigration folgerten, letztlich muessten im kleinen Kreis der Vertrauten Entscheidungen gefaellt und diese dann von oben nach unten durchgesetzt werden. Es fehlten die Moeglichkeiten – und auch das Empfinden, genuegend Zeit zu haben – fuer einen demokratischen Entscheidungsprozess von unten nach oben. Die Gefaehrdungen, die Herzen gesehen hatte, trafen durchaus zu. So kehrte ein Grossteil der Revolutionaere aus dem Exil mit deutlichen Praegungen und reichhaltigen Erkenntnissen nach Russland zurueck: mit organisatorischen Erfahrungen, einem dichten Beziehungs- und Kommunikationsnetz, Verbitterung gegenueber dem politischen Gegner, rechthaberischem Beharren auf dem eigenen Standpunkt, einem Blick „von aussen“ auf Menschen und Verhaeltnisse, Ungeduld, aber auch mit Einsichten in internationale Zusammenhaenge und in die sozialistischen Bewegungen zahlreicher Laender, Wissen aus vielfaeltiger Lektuere, Gefuehlen der Dankbarkeit gegenueber Menschen, die ihnen im Exil geholfen hatten, oder der Zuneigung gegenueber Menschen, denen sie nahe gekommen waren. Die Erfahrungen im Exil waren Teil ihrer Lebenswelt geworden und trugen somit dazu bei, ihr zukuenftiges Handeln zu steuern. Anmerkungen Der vorliegende Text ist 2007 erschienen: Gidkov, Anina: Das Exil als Lebenswelt: Praegungen einer Generation von Revolutionaeren, in: Haumann, Heiko: Die Russische Revolution 1917, Koeln; Weimar; Wien 2007, S. 47-58. 1. Alexander I. Herzen: Du développement des idées révolutionnaires en Russie. Paris 1851, 166 f. Übers.: AG. 2. Alexander I. Herzen an Nikolai P. Ogarev (1833-1877), zitiert in Martin A. Miller: The Russian Revolutionary Emigres 1825-1870. Baltimore, London 1986, 119. Übers.: AG. 3. Wera N. Finger: Nacht über Russland, Lebenserinnerungen. Berlin 1926, 49-53. 4. Petr A. Kropotkin: Memoiren eines Revolutionärs. Übersetzt von Max Pannwitz. Frankfurt a. M. 1969, 315. 5. Zitiert in A. Kiperman: Glavnye centry russkoj revoljucionnoj ėmigracii 70-80-ch godov XIX v. In: Istoričeskie zapiski 88 (1971), 257-295, hier 264. Übers.: AG. 6. N. K. Krupskaja: Erinnerungen an Lenin. Übersetzt von Sinaida Jachnin. Berlin, Wien 1929, 134 f., 135, 148. 7. Zitiert in Willi Gautschi: Lenin als Emigrant in der Schweiz. Köln, Zürich 1973, 100. 8. Zitiert in Alfred E. Senn: Les révolutionnaires russes et l’asile politique en Suisse avant 1917. In: Cahiers du monde russe et soviétique 9 (1968), 324-355, hier 335. 9. Lenin an I. F. Armand, Zürich, 15. März 1917. In: Wladimir I. Lenin: Briefe. Bd. 4. Berlin 1967, 397. 10. Zitiert in Gautschi: Lenin, 240. 11. Lenin an A. M. Kollontai, Zürich, 15. März 1917. In: Lenin: Briefe 4, 401. 12. W. I. Lenin: Werke. Bd. 23. Berlin1957, 380-387, Zitat 380. 11 12