Exil als Lebenswelt: Prägungen einer Generation von Revolutionären

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Anina Gidkov
Exil als Lebenswelt: Praegungen einer Generation von Revolutionaeren 
„Die Emigration ist das erste Indiz einer nahenden Revolution. [...] Die Abkehr, die
freiwillige Verbannung, verleihen […den] Worten [der Emigranten] eine staerkere Kraft und
Autoritaet; sie dienen als Beweis, dass ihre Ueberzeugungen ernst sind. […] die Emigration
ist der bedeutungsvollste Widerstandsakt, den der Russe machen kann.“ 1 Diese Definition
der revolutionaeren Emigration stammte von Alexander Herzen (Aleksandr I. Gercen, 18121870), der 1847 als einer der ersten Revolutionaere Russland verliess und von Westeuropa
aus Kritik an den herrschenden Zustaenden in Russland uebte.
Herzen wurde 1812 als Sohn eines reichen russischen Adligen und einer buergerlichen
Deutschen geboren. Da sein Vater die in Deutschland geschlossene Ehe in Russland nicht
legalisieren liess, galt er als unehelich und durfte dessen Familiennamen nicht tragen. Bereits
in seiner Jugendzeit hatte er sich fuer die revolutionaeren Stroemungen im Westen
interessiert, von denen er sich Anregungen fuer den sozialen und politischen Wandel in
Russland erhoffte. Waehrend seiner Studentenzeit an der mathematischnaturwissenschaftlichen Fakultaet der Universitaet Moskau betaetigte er sich regimekritisch,
wurde daraufhin verhaftet und in die Verbannung nach Sibirien geschickt. Nach seiner
Rueckkehr nach Moskau entwickelte er sich zum Wortfuehrer von Anschauungen, die die
Verhaeltnisse im Westen zum Vorbild fuer die Zukunft Russlands nahmen. Er entschloss sich,
mit seiner Frau nach Westeuropa auszureisen. 1848 erlebte er in Paris die Revolution. Nach
deren Niederschlagung bereiste er Europa, wo er Emigranten aus verschiedenen Laendern
kennen lernte. Angeregt durch diese Bekanntschaften begann Herzen ueber das Exil als
Lebensform nachzudenken. Mit der Emigration, so Herzen, seien auch gewisse Gefahren
verbunden: Man koenne in Ideen und Phantasien versinken und dabei den Bezug zur
Wirklichkeit in der Heimat verlieren. Er selbst aenderte seine Auffassungen, erkannte die
Schwaechen in den kapitalistischen Laendern Westeuropas und sah nun in Russland
Strukturen, die einen Uebergang von der zarischen Autokratie zu einer sozialistischen
Gesellschaftsordnung ermoeglichten. 1852 liess sich Herzen in London nieder und gab die
Zeitschrift „Kolokol“ („Die Glocke“) heraus, die, nach Russland eingeschmuggelt, die dortige
oeffentliche Meinung stark beeinflusste.
1
Herzen folgten seit den 1860er Jahren weitere Revolutionaere in die Emigration, um den
zunehmenden Unterdrueckungsmassnahmen im Zarenreich zu entgehen und um ihre
politische Opposition vom Ausland aus fortzusetzen. Im Gegensatz zur „aelteren“ Generation
um Herzen stammten die Personen der „Jungen Emigration“ nicht aus dem wohlhabenden
Adel, sondern aus der meist nichtadligen intelligencija. Sie waren an gemeinschaftliches
Handeln gewoehnt und bereit, in organisierten Strukturen zu handeln. Ihr Verhalten
unterschied sich somit vom politischen Individualismus der „aelteren“ Generation. Auch
wenn die „Jungen“ und „Alten“ zeitweise zusammenarbeiteten, so kam es doch immer wieder
zwischen den Generationen zu Streitigkeiten. So beklagte sich Herzen in einem Brief an
seinen Freund, den Lyriker und Publizisten Nikolaj P. Ogarev (1813-1877), bitter ueber die
„Jungen“, deren Verhalten zur Zerstrittenheit der Revolutionaere fuehre. 2 Ausserdem geht
aus dem Brief Herzens hervor, dass sich damals ein Grossteil der politischen Opposition
Russlands in Genf aufhielt. Herzen selbst lebte seit 1864 bis zu seinem Tod 1870
abwechselnd in Genf und Bruessel. Auch seine Zeitung „Kolokol“ erschien ab 1865 in Genf.
Die Schweiz soll im Folgenden exemplarisch fuer das Exil als Lebenswelt betrachtet werden.
Dass dieses Land neben Frankreich und Grossbritannien den bedeutendsten Zufluchtsort fuer
Revolutionaere aus Russland bildete, lag an seiner politischen Stabilitaet und Neutralitaet
sowie an der in der Bundesverfassung von 1848 und 1874 garantierten Presse-, Vereins- und
Versammlungsfreiheit. Ueberdies interessierte sich die schweizerische Regierung kaum fuer
die Aktivitaeten der Emigranten, da es sich bei ihren Druckerzeugnissen hauptsaechlich um
sozialistisches Material handelte, das Russland und nicht die Schweiz betraf. Zudem
unterschied sich die Ueberwachung von Kanton zu Kanton, und etwaige polizeiliche
Handlungen richteten sich eher gegen Anarchisten als gegen Sozialisten. 1873 unterzeichnete
die Schweiz zwar einen Auslieferungsvertrag mit Russland, doch politische Emigranten
waren ausdruecklich davon ausgeschlossen. Eine Ausnahme bildete ein Jahr zuvor die
Ueberstellung Sergej G. Nečaevs (1847-1882) an Russland. Dieser hatte, an den
anarchistischen Theorien Michail A. Bakunins (1814-1876) anknuepfend, Methoden fuer eine
terroristische Verschwoerung zum Umsturz des Staates entwickelt. Allerdings galt er als
gemeiner Verbrecher, weil er einen Genossen, der sich seinem Fuehrungsanspruch nicht
unterwerfen wollte, hatte umbringen lassen. Fedor M. Dostoevskij (1821-1881) nahm diesen
Fall zum Vorbild fuer seinen Roman „Boese Geister“ von 1872. Spaeter wurden mehrere
Russen zwar nicht ausgeliefert, aber doch wegen politischer Betaetigung aus der Schweiz
ausgewiesen. Ein Beispiel ist Fuerst Petr A. Kropotkin (1842-1921). Urspruenglich Offizier
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der russischen Armee, wandelte er sich 1872 in der Schweiz zum Anarchisten. Seine Ideen
kreisten um eine staatsfreie, auf gegenseitiger Hilfe und Guetergemeinschaft beruhender
Gesellschaftsordnung. Zwei Jahre spaeter wurde er in Russland verhaftet. 1876 konnte er aus
der Peter-und-Pauls-Festung in St. Petersburg fliehen und sich ins Ausland absetzen. Seit
1877 lebte er in der Schweiz, wurde aber nach dem Attentat auf Zar Alexander II. (18181881), an dem er selber nicht beteiligt war, 1881 aus der Schweiz ausgewiesen. Er lebte dann
in verschiedenen europaeischen Staaten, bis er 1917 nach Russland zurueckkehrte.
Ein weiterer Vorteil der Schweiz als Zufluchtsort war die zentrale geografische Lage.
Massgebenden Einfluss duerften ferner die russischen Studenten und Studentinnen gehabt
haben, die seit den 1870er Jahren an verschiedenen Schweizer Hochschulen studierten. Diese
jungen Leute kamen urspruenglich in erster Linie fuer ihre Ausbildung in die Schweiz.
Gerade Frauen nutzten hier die Moeglichkeit zum Universitaetsstudium, von dem sie in
Russland – nach ersten Zulassungen zwischen 1859 und 1863 – weitgehend wieder
ausgeschlossen worden waren. Bei den russischen Studentinnen erfreuten sich die
Hochschulen von Zuerich und Genf grosser Beliebtheit, aber auch an den anderen Schweizer
Universitaeten waren Russinnen eingeschrieben. Viele der Studierenden wurden dann in
revolutionaeren Zirkeln taetig und halfen unter anderem beim Transport des
Propagandamaterials nach Russland.
Auch Vera N. Figner (1852-1942), 1852 als Tochter eines adligen Forstbeamten in Kazan’
geboren, kam in Zuerich waehrend ihrer Studienzeit in Kontakt mit revolutionaeren Ideen:
„Nach meiner Ankunft in Zuerich beherrschte mich ausschliesslich der Wunsch, mich
vollstaendig dem Studium der Medizin zu widmen. […] Anfangs hatten wir keine Bekannten.
Aber bald wurde meine Schwester Lydia durch eine Kollegin in den Kreis der Studentinnen
eingefuehrt, die vor uns gekommen waren. […] Auch hingen an den Waenden Anzeigen von
Arbeiterversammlungen, von Vortraegen fuer Arbeiter usw. […] Wir begannen uns in
starkem Masse fuer Theorie und Praxis des Sozialismus zu interessieren, zu dessen Studium
besondere Zirkel ins Leben gerufen wurden. […] In meiner Weltanschauung ging im Laufe
dieses Zuericher Jahres, ebenso wie bei den anderen, eine grosse Umwaelzung vor sich.“ Vera
Figner wurde Mitglied eines Studentinnen-Zirkels, in dem folgende Themen durchgearbeitet
wurden: „Theorie und Praxis des Sozialismus […] Die sozialistischen Lehren […] vor allem
Fourier, St. Simon, Cabet, Louis Blanc, Proudhon, Lassalle; die politische Oekonomie;
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Volksbewegungen und Revolutionen; die zeitgenoessische Arbeiterfrage und –bewegung im
Westen […] Wir befassten uns sehr ernst und eingehend mit diesem Studium und widmeten
ihm zwei Jahre.“ 3
Die zaristische Regierung, durch Mittelsmaenner informiert, begegnete dieser politischen
Taetigkeit der Studentinnen mit wachsendem Misstrauen. 1873 liess sie schliesslich in
mehreren europaeischen Zeitungen eine Verordnung veroeffentlichen, die den russischen
Frauen das Studium an der Universitaet und am Polytechnikum Zuerich verbot. Die Mehrzahl
der Studentinnen kehrte daraufhin nach Russland zurueck, da sie sonst in Russland weder zu
einem Examen noch zu einer oeffentlichen Arbeit zugelassen worden waeren. Nur eine kleine
Anzahl der Russinnen blieb in Zuerich oder setzte ihr Studium in Bern oder Genf fort. Vera
Figner ging zuerst nach Bern, wo sie im Herbst 1875 mit der Arbeit an ihrer Dissertation
begann. Kurze Zeit spaeter brach sie jedoch ihr Studium ab und kehrte nach Russland
zurueck, um sich der revolutionaeren Bewegung anzuschliessen. Sie wurde ein fuehrendes
Mitglied der „Narodnaja Volja“ („Volkswille“ oder „Volksfreiheit“) und 1883 verhaftet.
Anfaenglich zum Tode, spaeter zu lebenslanger Haft verurteilt, wurde sie schliesslich 1904
begnadigt. Zwei Jahre spaeter verliess sie Russland und kehrte erst 1915 in ihre Heimat
zurueck, wo sie bis zu ihrem Tode im Jahre 1942 lebte.
Die Russische Kolonie in Zuerich, der auch Vera Figner angehoert hatte, befand sich in einem
wohlhabenden Stadtviertel und wies eine gut ausgebaute Infrastruktur auf. So standen den
Studierenden eine eigene Bibliothek, eine eigene Speisehalle und eine Unterstuetzungskasse
zur Verfuegung. Trotzdem lebten die meisten, abgesondert von der Zuercher Bevoelkerung,
in grosser Armut. Kropotkin, der sich 1872 in Zuerich aufhielt, beschrieb das Leben in der
Kolonie folgendermassen: „Damals war Zuerich voll von russischen Studenten und
Studentinnen. Die bekannte Vorstadt Oberstrass [heute ein Teil der Innenstadt] war ein
Stueckchen Russland, wo die russische Sprache alles andere ueberwog. Wie russische
Studenten zumeist fuehrten sie auch dort, insbesondere die Studentinnen, ein sehr
eingeschraenktes Leben. Tee und Brot, etwas Milch und eine duenne, auf einer Spirituslampe
gebratene Schnitte Fleisch und dabei eine belebte Unterhaltung ueber das Neueste in der
sozialistischen Welt oder ueber das zuletzt gelesene Buch, das machte regelmaessig ihr Mahl
aus.“ 4
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Auch waren die Revolutionaere oft gezwungen, sich in ungewohnten Berufszweigen zu
versuchen. So betrieb zum Beispiel Pavel B. Aksel’rod (1850-1928), der der Bewegung der
Narodniki angehoert hatte, sich spaeter den Sozialdemokraten anschloss und nach 1903 eine
fuehrende Position bei den Menschewiki einnahm, waehrend seiner Exiljahre einen
Getreidehandel in Genf. Grigorij L. Šklovskij (1875-1937), ebenfalls Mitglied der Russischen
Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSDRP), leitete nach seiner Flucht aus Russland in
Bern ein Chemielabor.
Der Verein „Eintracht“ in Zuerich, urspruenglich in der Mitte des 19. Jahrhunderts als
Einrichtung fuer die Bildung der Arbeiter gegruendet, war nach der Jahrhundertwende eng
mit der Sozialdemokratischen Partei Zuerichs verbunden. Er bot seinen Mitgliedern neben der
Bildungsarbeit eine Krankenkasse, eine Speisegenossenschaft, verschiedene
Verguenstigungen bei befreundeten Geschaeften sowie die Moeglichkeit, in einer Saengerund Turnersektion, in einem Dramatischen Klub oder einem Tanzklub mitzuwirken. Fuer die
im Exil lebenden russischen Revolutionaere war er insofern von Bedeutung, als er es ihnen
ermoeglichte, ihre Isolation zu durchbrechen. Sie konnten hier auch Vortraege und sonstige
Veranstaltungen durchfuehren. Die meisten der sozialistischen Fuehrer, darunter auch
Vladimir I. Lenin (1870-1924), gehoerten einmal diesem Verein an und wurden dadurch
automatisch Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz. Dies war vor allem fuer
die Beschaffung von ordentlichen Papieren nuetzlich, die die Mehrheit der Revolutionaere
nicht besass.
Neben Zuerich bildete Genf das zweite Zentrum der russischen politischen Emigration in der
Schweiz. Die Rhônestadt war vor allem wegen ihrer Druckereien und Bibliotheken beliebt.
Wichtige Treffpunkte bildeten die im Sommer 1874 vom Verleger Michail K. Elpidin (18351908) gegruendete und geleitete russische Bibliothek sowie das Café Gresso, in dem auf
Kredit bestellt werden konnte. Im Vergleich zu Zuerich pulsierte das Emigrantenleben in
Genf staerker. Nikolaj A. Morozov (1854-1946), ein fuehrender Theoretiker der „Narodnaja
Volja“, empfahl deshalb einem Freund: „Komm, aber auf keinen Fall nach Zuerich, sondern
nach Genf – hier hat sich das ganze Publikum versammelt. In Zuerich hingegen wirst Du vor
Langeweile und Geldnot sterben.“ 5
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Um die Jahrhundertwende waren in Genf die Sozialrevolutionaere wie die Sozialdemokraten
um Georgij V. Plechanov (1856-1918) mit jeweils ungefaehr 30 fuehrenden Mitgliedern
vertreten. 1883 hatte hier Plechanov mit Aksel’rod und anderen die Gruppe „Befreiung der
Arbeit“ gegruendet, die wichtigste Vorlaeuferin der RSDRP. Als die Sozialrevolutionaere
jedoch 1908 ihren Sitz nach Paris verlegt hatten, nahm deren Taetigkeit in der Schweiz ab.
Fuer die russischen Sozialdemokraten bildete Genf hingegen weiterhin ein wichtiges
Zentrum. Auch Lenin hielt sich als Anfuehrer der bolschewistischen Fraktion der RSDRP vor
dem Ersten Weltkrieg zeitweise in Genf auf.
Die revolutionaeren Emigranten aus Russland versuchten, im Ausland die gleichen
Organisationsformen wiederherzustellen, die sie in ihrer Heimat im Untergrund aufgebaut
hatten. Zugleich beanspruchten sie die Fuehrung gegenueber den dortigen Zirkeln. Fuer ihre
Taetigkeit brauchten sie Fachleute und eine Infrastruktur, um politische Schriften in
russischer Sprache herzustellen und nach Russland zu schmuggeln. Die in diesen
Gruppierungen aktivierte Personen mussten sich tarnen und haeufig den Ort wechseln. Zur
Tarnung liehen ihnen hierzu oft Schweizer oder eingebuergerte ehemalige Russen ihre
Namen.
Vladimir I. Ul’janov, der spaeter den Namen Lenin annahm, wurde 1870 in Simbirsk als Sohn
eines in den Adel aufgestiegenen Schulinspektors und einer Gutsbesitzertochter geboren.
Durch seinen von ihm als Vorbild verehrten aelteren Bruder Aleksandr (1864-1887), der 1887
wegen der Teilnahme an einem Attentat auf den Zaren Alexander III. (1845-1894)
hingerichtet wurde, kam er bereits waehrend der Schulzeit mit revolutionaeren Stroemungen
in Beruehrung. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften und der Zulassung zur
Advokatur in St. Petersburg begann sich Lenin intensiv in der revolutionaeren Bewegung zu
betaetigen und nahm Kontakt zu fuehrenden Sozialdemokraten auf. 1895 traf er in der
Schweiz mit Plechanov und anderen emigrierten russischen Marxisten zusammen. Im selben
Jahr gruendete er in Russland zusammen mit Julij O. Martov (1873-1923) den „Kampfbund
zur Befreiung der Arbeiterklasse“, einen weiteren Vorlaeufer der RSDRP. Kurz darauf wurde
Lenin wegen politischer Agitation verhaftet. Zunaechst musste er zwei Jahre im Gefaengnis
verbringen, anschliessend drei Jahre in der Verbannung in Sibirien. Dort lernte er seine
spaetere Frau und Mitarbeiterin, Nadežda K. Krupskaja (1869-1939) kennen. 1900 verliess
Lenin Russland. Nach Aufenthalten in Deutschland und England kam er 1903 nach Genf.
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Bereits bei seinem ersten Besuch hatte ihm die Landschaft der Schweiz sehr gefallen, vor
allem die Berge faszinierten ihn. Er hatte hier zuvor schon mehrfach Genossen getroffen und
Vortraege gehalten. Dabei zeigten sich erste Anzeichen des Bruchs zwischen der „jungen“
Generation um Lenin und der „alten“ um Plechanov.
Im Genfer Exil erhielten er und seine Frau 1905 die Nachricht vom „Blutsonntag“ in
Petersburg und vom Ausbruch der Revolution in Russland: „Wir gingen in die
Speisewirtschaft der Emigranten bei Lepeschinskis, wohin alle Bolschewiki, die die
Mitteilung von den Petersburger Ereignissen erhalten hatten, eilten. […] Niemand sprach ein
Wort. Jeder kaempfte mit seiner Erregung. Man stimmte spontan den Trauermarsch an: ‚Als
Opfer seid ihr gefallen…’ Die Gesichter trugen den Ausdruck der Sammlung. Alle bewegte
das Bewusstsein: die Revolution hat bereits begonnen […].“ Man habe nach dieser Nachricht,
so erinnerte sich Nadežda Krupskaja weiter, das eigenartige Leben gefuehrt, von einer
Ausgabe der „Tribune de Genève“ zur naechsten zu warten: „Fast jeden Abend kamen die
Bolschewiki im Café Landold zusammen und sassen dort bis in die Nacht bei einem
Schoppen Bier. Man besprach die Ereignisse in Russland und machte Plaene. Viele reisten ab,
viele bereiteten sich zur Abreise vor.“ 6
Lenin beeilte sich vorerst nicht mit der Rueckkehr nach Russland, sondern zog es vor, die
dortige Entwicklung abzuwarten. Von Genf aus schickte er den bolschewistischen
Gruppierungen genaue Anweisungen fuer die Vorbereitung und Durchfuehrung
revolutionaerer Operationen. Als jedoch die Ereignisse nicht die von ihm ersehnte und
angestrebte Entwicklung nahmen, befuerchtete Lenin, sich in der Schweiz zu isolieren und
den massgeblichen Einfluss auf seine Organisation und damit auf die Revolution zu verlieren.
Anfang November 1905 verliess er deshalb Genf und reiste ueber Schweden und Finnland
nach St. Petersburg. Das Scheitern der Revolution konnte er jedoch nicht verhindern. 1907
ging Lenin erneut ins Exil nach Westeuropa. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges kam er
wieder in die Schweiz. Dort traf er zahlreiche andere fuehrende Personen der russischen
politischen Emigration, etwa Julij O. Martov, Lev D. Trockij (1879-1940), Nikolaj I.
Bucharin (1888-1938) oder Grigorij E. Zinov’ev (1883-1936). Zunaechst nahm Lenin mit
seiner Frau eine Wohnung in Bern, spaeter dann in Zuerich.
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Fuer die Russen, die sich waehrend des Krieges in der Schweiz aufhielten, war es keine
leichte Zeit. Devisen konnten jetzt nicht gewechselt werden; Verdienstmoeglichkeiten gab es
kaum. Vjačeslav A. Karpinskij (1880-1965), ein Parteigenosse und enger Vertrauter Lenins,
berichtete darueber: „In der Emigration war die materielle Lage Wladimir Iljitschs [Lenins]
nicht besonders gut. Das Honorar fuer legal herausgegebene Arbeiten war unregelmaessig
und nicht immer ausreichend. Es kam vor, dass er ‚knapp bei Kasse’ war. Dann hielt er
Vortraege, um etwas zu verdienen.“ Seine Frau erteilte gelegentlich Privatstunden oder
„beschriftete Kuverts zum Versand von Reklamen Schweizer Firmen nach Russland.
Natuerlich gab es nur geringen Verdienst.“ 7 Nach wie vor kamen allerdings auch
Wanderungen in den Alpen nicht zu kurz.
Um den Mittellosen zu helfen, organisierten Russen wie Schweizer
Wohltaetigkeitsveranstaltungen. Die schweizerischen Sozialdemokraten gruendeten 1914 die
„Liga schweizerischer Hilfsvereine fuer politische Gefangene und Verbannte Russlands“,
deren Hauptsitz sich in den Lokalitaeten des Vereins „Eintracht“ in Zuerich befand. Die Liga
versuchte, Faelle von politischen Verfolgten aufzuklaeren, bot materielle Hilfe und
kuemmerte sich um die Organisation von Konferenzen sowie um den Verkauf von Werken
russischer Revolutionaere.
Sogar seitens der russischen Botschaft kam Unterstuetzung. Sie erleichterte
Geldueberweisungen aus Russland in die Schweiz, veroeffentlichte Namenslisten von
Personen, die von ihren Angehoerigen gesucht wurden, oder half ihren Buergern, in die
Heimat zurueckzukehren. Die Zusammenarbeit zwischen den Vertretern des Zarenreiches und
den russischen Revolutionaeren fand jedoch ein jaehes Ende, als die russische Botschaft im
Februar 1915 verkuendete, dass alle Kriegstauglichen innerhalb von zwei Wochen nach
Russland zurueckzukehren haetten; bei Kriegsausbruch im August 1914 waren zunaechst nur
die Offiziere mobilisiert worden. Die russische Geheimpolizei musste berichten, dass sich die
emigrierten Revolutionaere weigerten vorzusprechen – sie haetten keine Heimat zu
verteidigen.
Im Juni 1915 lehnten es die Zuercher Behoerden ab, eine Aufforderung der russischen
Botschaft an zwei in der Stadt wohnhafte russische Buerger, sich fuer die Mobilisierung
medizinisch untersuchen zu lassen, weiter zu leiten. Daraufhin bestaetigte der Bundesrat, dass
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die Schweizer Behoerden „nicht in der Lage [sind], den in der Schweiz ansaessigen
Auslaendern auf Wunsch der fremden Gesandtschaften Mitteilungen zuzustellen, deren Inhalt
sich auf militaerdienstliche Angelegenheiten bezieht.“ 8 Diese bestimmte Haltung der
Schweiz und die Anwesenheit zahlreicher russischer Revolutionaere in der Schweiz bewogen
die zaristische Geheimpolizei daraufhin, zusaetzlich fuenf staendige Agenten in der Schweiz
zu stationieren. Sie sollten die Revolutionaere und ihre Aktivitaeten im Auge behalten.
Im Schweizer Exil erhielt Lenin am Morgen des 15. Maerzes 1917 – am 2. Maerz nach
russischer Zeitrechnung – die Nachricht, dass in Russland die Revolution ausgebrochen sei.
Noch am selben Abend schrieb er an seine Vertraute Inessa Armand (1874-1920): „Wir sind
heute in Zuerich ganz aus dem Haeuschen: Die ‚Zuercher Post’ und die ‚Neue Zuercher
Zeitung’ bringen ein Telegramm vom 15. Maerz, wonach in Russland am 14. Maerz nach
dreitaegigem Kampf die Revolution in Petrograd gesiegt hat und zwoelf Dumamitglieder an
der Macht sind.“ 9 Fuer die Beurteilung der Lage hatte Lenin jedoch ausser den in den
Zeitungen erscheinenden Meldungen kaum zusaetzliche Nachrichten zur Verfuegung. „In der
ersten Zeit nach der Februarrevolution 1917“, so die Erinnerungen Karpinskijs, „besass
Wladimir Iljitsch [Lenin] lediglich lueckenhafte, widerspruechliche, oft falsche
Informationen, die aus Russland in die buergerliche Presse gedrungen waren.“ 10
Im Unterschied zu 1905 draengte es Lenin nun zur Heimkehr nach Russland. Er hatte Angst,
dass er zu spaet kommen koenne, und beklagte sich: „Wir fuerchten, dass es uns nicht so
schnell gelingen wird, aus der verfluchten Schweiz herauszukommen. […] Wir traeumen
staendig von der Abreise.“ 11 Die letzten Verhandlungen mit den deutschen Behoerden
wegen der Durchreise fuehrte Fritz Platten(1882-1942), der damals Sekretaer der
schweizerischen Sozialdemokratischen Partei war und den ein enges Vertrauensverhaeltnis
mit Lenin verband. Er begleitete dann auch die Russen auf ihrer Fahrt. 1919 sollte er zu den
Gruendungsmitgliedern der Kommunistischen Internationalen gehoeren. Seit 1923 lebte er
dann staendig in der Sowjetunion, bis er in die Muehlen des stalinistischen Terrors geriet,
1938 verhaftet, zur Lagerhaft verurteilt und 1942 ermordet wurde. Am 9. April 1917 verliess
Lenin zusammen mit 30 weiteren Revolutionaeren, unter denen sich seine Frau und Inessa
Armand, die bolschewistischen Fuehrungsmitglieder Grigorij E. Zinov’ev – mit Familie – und
Karl Radek (1885-1939?), aber auch eine Anzahl nichtbolschewistischer Revolutionaere
befanden, die Schweiz und erreichte ueber Deutschland und Schweden am 16. (3.) April 1917
St. Petersburg.
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Kurz zuvor hatte Lenin einen „Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter“ verfasst, der
allerdings kaum verbreitet werden konnte. Darin sprach er den schweizerischen Genossen den
„tiefempfundenen kameradschaftlichen Dank“ aus und betonte, „[…] dass wir bei den
revolutionaeren sozialistischen Arbeitern der Schweiz, die auf dem internationalistischen
Standpunkt stehen, die waermsten Sympathien gefunden und aus dem kameradschaftlichen
Verkehr mit ihnen viel Nutzen fuer uns gezogen haben.“ Im Weiteren legte er noch einmal
seine politischen Ansichten dar und erklaerte, besondere geschichtliche Bedingungen haetten
das russische Proletariat „fuer eine gewisse, vielleicht nur sehr kurze Zeit zum Vorkaempfer
des revolutionaeren Proletariats der ganzen Welt gemacht“. Er hoffe, dass die Ereignisse in
Russland zum „Vorspiel der sozialistischen Weltrevolution“ wuerden. 12
Die revolutionaere Ungeduld, mit der Lenin diesmal seine Abreise vorantrieb und die auch
aus seinem Abschiedsbrief spricht, war typisch fuer die Revolutionaere im Exil. Nach ihrer
Ueberzeugung war das Zarenreich schon lange reif fuer den Zusammenbruch, jeden
Augenblick konnte die Nachricht von einem Aufstand eintreffen. Die meisten Emigranten
fieberten der Rueckkehr nach Russland entgegen, das Exil galt ihnen als kurzfristiger
Zufluchtsort, in dem sie sich nur provisorisch einrichteten. Sie konnten es kaum erwarten,
endlich zur revolutionaeren Tat zu schreiten.
Umso gereizter und unduldsamer gingen sie mit Genossen um, deren Analyse der
Verhaeltnisse in Russland von der eigenen abwich oder die ihren politischen UEberzeugungen
eine andere Vorstellung der zukuenftigen Entwicklung zugrunde legten. Charakteristisch fuer
die Lebenswelt Exil ist die oft erbarmungslose Auseinandersetzung um den „richtigen Weg“,
bei der es meist nur um kleine Unterschiede ging. Geradezu rachsuechtige Streitigkeiten,
manchmal aus nichtigen Anlaessen, bestimmten das Leben besonders der fuehrenden
revolutionaeren Politiker. Intrigen blieben nicht aus, Freundschaften zerbrachen darueber.
Sachliches und Persoenliches vermischten sich. Eifersuechteleien und Liebesdramen wirkten
sich haeufig auch auf politische Buendnisse und Gegnerschaften aus.
In kleinen Zirkeln, abgesondert von der Bevoelkerung des Exillandes, aber auch von
unmittelbaren Nachrichten aus Russland, diskutierten die Emigrantinnen und Emigranten
endlos ueber die Aussichten der Revolution. Viele von ihnen gewoehnten sich schliesslich an
einen Blick „von aussen“, der nicht mehr unbedingt die Perspektive der Menschen einnahm,
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die sich befreien wollten, sondern von einem festgefuegten Konzept ausging, das sich
waehrend der Debatten im Kopf geformt hatte. Dazu gehoerte, dass manche aus ihren
Erlebnissen in der Emigration folgerten, letztlich muessten im kleinen Kreis der Vertrauten
Entscheidungen gefaellt und diese dann von oben nach unten durchgesetzt werden. Es fehlten
die Moeglichkeiten – und auch das Empfinden, genuegend Zeit zu haben – fuer einen
demokratischen Entscheidungsprozess von unten nach oben. Die Gefaehrdungen, die Herzen
gesehen hatte, trafen durchaus zu.
So kehrte ein Grossteil der Revolutionaere aus dem Exil mit deutlichen Praegungen und
reichhaltigen Erkenntnissen nach Russland zurueck: mit organisatorischen Erfahrungen,
einem dichten Beziehungs- und Kommunikationsnetz, Verbitterung gegenueber dem
politischen Gegner, rechthaberischem Beharren auf dem eigenen Standpunkt, einem Blick
„von aussen“ auf Menschen und Verhaeltnisse, Ungeduld, aber auch mit Einsichten in
internationale Zusammenhaenge und in die sozialistischen Bewegungen zahlreicher Laender,
Wissen aus vielfaeltiger Lektuere, Gefuehlen der Dankbarkeit gegenueber Menschen, die
ihnen im Exil geholfen hatten, oder der Zuneigung gegenueber Menschen, denen sie nahe
gekommen waren. Die Erfahrungen im Exil waren Teil ihrer Lebenswelt geworden und
trugen somit dazu bei, ihr zukuenftiges Handeln zu steuern.
Anmerkungen
 Der vorliegende Text ist 2007 erschienen: Gidkov, Anina: Das Exil als Lebenswelt:
Praegungen einer Generation von Revolutionaeren, in: Haumann, Heiko: Die Russische
Revolution 1917, Koeln; Weimar; Wien 2007, S. 47-58.
1. Alexander I. Herzen: Du développement des idées révolutionnaires en Russie. Paris 1851,
166 f. Übers.: AG.
2. Alexander I. Herzen an Nikolai P. Ogarev (1833-1877), zitiert in Martin A. Miller: The
Russian Revolutionary Emigres 1825-1870. Baltimore, London 1986, 119. Übers.: AG.
3. Wera N. Finger: Nacht über Russland, Lebenserinnerungen. Berlin 1926, 49-53.
4. Petr A. Kropotkin: Memoiren eines Revolutionärs. Übersetzt von Max Pannwitz. Frankfurt
a. M. 1969, 315.
5. Zitiert in A. Kiperman: Glavnye centry russkoj revoljucionnoj ėmigracii 70-80-ch godov
XIX v. In: Istoričeskie zapiski 88 (1971), 257-295, hier 264. Übers.: AG.
6. N. K. Krupskaja: Erinnerungen an Lenin. Übersetzt von Sinaida Jachnin. Berlin, Wien
1929, 134 f., 135, 148.
7. Zitiert in Willi Gautschi: Lenin als Emigrant in der Schweiz. Köln, Zürich 1973, 100.
8. Zitiert in Alfred E. Senn: Les révolutionnaires russes et l’asile politique en Suisse avant
1917. In: Cahiers du monde russe et soviétique 9 (1968), 324-355, hier 335.
9. Lenin an I. F. Armand, Zürich, 15. März 1917. In: Wladimir I. Lenin: Briefe. Bd. 4. Berlin
1967, 397.
10. Zitiert in Gautschi: Lenin, 240.
11. Lenin an A. M. Kollontai, Zürich, 15. März 1917. In: Lenin: Briefe 4, 401.
12. W. I. Lenin: Werke. Bd. 23. Berlin1957, 380-387, Zitat 380.
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