Aus der Werkstatt – Das narrative Handwerkszeug

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Das Neue Funkkolleg
Literatur
DIE W ELT DER GESCHICHTEN –
KUNST UND TECHNIK DER NARRATION
Sendung 4
Aus der Werkstatt – Das narrative Handwerkszeug
von
Christa Hein
Sprecher 1: weiblich
Sprecher 2: männlich
Sprecher 3 (Zitate): weiblich
Sprecher 4 (Zitate): männlich
Spr. 1: In dieser Sendung findet ein Schreibworkshop im Miniaturformat statt. Real
haben die sechs Teilnehmer, die Sie hier hören können, zwei Tage mit mir
gearbeitet. Im folgenden werden Sie Schreibaufgaben bekommen, die Sie
selbst
nacharbeiten
können,
Sie
erhalten
Hinweise
zu
den
Lösungsmöglichkeiten und Kommentare der Teilnehmer. Diese haben zum
Abschluss ihres Workshops spontan eine CD aufgenommen, von der zwei
Beispiele zu hören sind.
Spr. 2: Der Kurs beginnt mit Übungen, die sich auf einzelne Aspekte von Sprache
und Texten konzentrieren und entsprechend kleinere Lösungen erfordern. Es
folgen Aufgaben, die zu komplexeren Texten führen. Bei all diesen Übungen
sollen Sie vor Ort schreiben, zwischen zehn und dreißig Minuten lang,
anschließend werden die Texte vorgelesen. Es bleibt kaum Zeit, diese
spontan entstandenen Texte zu überarbeiten, so kann also niemand ein
perfektes Produkt erwarten.
Spr. 1: Das ist Absicht, denn auf diese Weise lassen sich die häufigsten Fehler und
Problemstellungen an konkreten Beispielen besprechen. Bei der Diskussion
geht es vor allem um diese Fragen: Welche Wirkung erzeugt der Text? Ist sie
so gewollt? Was ist gelungen? Woran liegt das, bzw. mit welchen Mitteln wird
gearbeitet? Was ist missglückt? Was ist die Ursache? Durch welche
Maßnahmen lässt sich der Text verbessern?
Musik (Immer wieder Ausschnitte aus dem Walzer der Jazz-Suite siehe CD)
Spr. 2: Jeder soll jede Übung mitschreiben – was oft bedeutet, dass man an irgend
einem Punkt scheitert. Aber auch das ist ein Ergebnis. Ein großer Reiz besteht
ja darin, herauszufinden, was einem liegt – und was nicht. Man lernt bei jeder
Übung auch etwas über sich selbst: Wozu neige ich? Gibt es Muster, derer ich
mich automatisch bediene? Was vermeide ich? Aus welchen Gründen? Bin
ich in der Lage, mich von anderen Lösungen anregen zu lassen?
Spr. 1: Eine Voraussetzung, besser schreiben zu können und den eigenen Text
einschätzen zu lernen besteht darin, möglichst vielfältige Schreiberfahrungen
zu sammeln. Mit jeder Übung, die man praktisch durchgeführt hat, erwirbt
man sich einen Erfahrungsschatz im Kleinen, der sich ausbauen und auf den
sich zurückgreifen lässt. Hierin gleicht das Schreiben jedem anderen
Lernprozess.
Musik
Spr. 2: Fangen wir also an: Und gleich stellt sich die Frage – ja, wie denn? Wie
überwindet man die Hürde, das weiße Blatt zu beschriften? Ich gehe davon
aus, dass nicht Ideen das Problem sind.
Ideen hat jeder, der schreiben
möchte, genug. Die Schwierigkeit ist vielmehr: Wie bringe ich meine Ideen zu
Papier? Hier hat ein Dichter aus Amsterdam eine wunderbare Erfindung
gemacht, die den Anfang erleichtert: das Elfchen - etwas Fragiles, womöglich
Poetisches, womöglich Gehaltvolles oder einfach Lustiges aus elf Wörtern,
das sich schnell aufs Papier werfen lässt – gleich, ob man acht oder achtzig
Jahre alt ist.
Spr. 1: Haben Sie einen Stift? Folgende Struktur hat ein Elfchen: erste Zeile ein Wort,
und zwar eine Farbe - Z.B. „Rot“. Zweite Zeile, zwei Wörter. Sie gelten dem
Gegenstand, den die Farbe trägt. Vielleicht „Opas Nase“ oder „Glut, Feuer“.
Jetzt die 3. Zeile, drei Wörter. Hier geht es um den Ort. Also Rot/Opas Nase/
und jetzt: „verschwindet im Taschentuch“. Oder Rot/ Glut Feuer //Himmel,
Sonne, Meer. Als nächstes die 4. Zeile mit vier Wörtern. Sie sind eine Art
kommentierende Ergänzung, z.B. „gleich niest er noch“ oder „Weltenbrand,
Krieg, Wüste, Gräber“. Dann die 5. und letzte Zeile: ein elftes Wort als Pointe,
Knalleffekt oder einfach Schluss.
Spr. 2: Erstes Elfchen: Rot/Opas Nase/ verschwindet im Taschentuch/ gleich niest er
noch / einmal. Zweites Elfchen: Rot/ Glut, Feuer/ Himmel, Sonne, Meer/
Weltenbrand, Krieg, Wüste, Gräber/ Nacht.
Spr. 1: Und nun die Interpretation: Im 1. Fall geht es um die Konzentration auf einen
Bildeindruck hin, eine Handlung, mit Verben, Substantiven, Präpositionen und
einem Zeilensprung zwischen 4. und 5. Zeile, was den Text flüssiger macht
und schneller. Im 2. Fall geht es um eine Sammlung von Substantiven, - eine
sehr typische Lösung, die leicht monoton und viel schwerer wirkt. Sie umreißt
assoziativ
einen
Themenkomplex,
das
letzte
Wort
ist
wie
eine
Zusammenfassung.
Spr. 2: Dies könnte eine gute Vorübung für einen längeren Text sein, eine Art
Einstieg in ein Thema, das Ihnen durch den Kopf geht. Elfchen zwingen dazu,
Wörter bewusst auszuwählen. Jedes Wort hat sein Gewicht, Wörter sind
kostbar, und man sollte mit ihnen geizen.
Musik
Spr. 1: Nächste Übung: Walter Benjamin beschreibt ein Spiel aus dem Biedermeier,
bei dem eine Reihe vorgegebener Wörter in dieser Reihenfolge verwendet
werden sollen. Sie lauten: Brezel, Feder, Pause, Klage, Firlefanz. Benjamin
schreibt:
Spr. 4: „Zumal bei Kindern fördert dieses Spiel die schönsten Funde. Ihnen nämlich
sind Wörter noch wie Höhlen, zwischen denen sie seltsame Verbindungswege
kennen. Aber auch der Gebildete liegt lesend auf der Lauer nach Wendungen
und Worten, und der Sinn ist nur der Hintergrund, auf dem der Schatten ruht,
den sie wie Relieffiguren werfen. Ein Zwölfjähriger hat folgendes mit jenen
Worten geschrieben: Die Zeit schwingt sich/ wie eine Brezel/ durch die Natur./
Die Feder malt die Landschaft/ und entsteht eine Pause/ so wird sie mit Regen
ausgefüllt./ Man hört keine Klage,/ denn es gibt keinen Firlefanz.
Spr. 2: Auch Sie sollen versuchen, diese seltsamen Verbindungswege zwischen
den Wörtern wieder gehen zu lernen. Und Sie werden erleben: es gibt ein
nicht-rationales Verhältnis zu Wörtern, ob es einem bewusst ist oder nicht, die
konnotative Dimension der Sprache. Notieren Sie also die 10 Wörter: Stern,
Reis, Asphalt, Pergament, fließen, flüstern, lila, Bahnhof, Milch, Wasserkäfer.
Mit diesen Wörtern schreiben Sie einen Text, die Reihenfolge ist gleichgültig.
Drei Wörter dürfen Sie auslassen, aber sieben aus der Liste müssen
untergebracht werden. Sie können sie verändern, Plural, Konjugationen etc.,
und natürlich weitere Wörter hinzunehmen. Hören Sie dazu ein paar
Schreiberfahrungen:
O-Töne 1 17:41- 18:06 (Stimme 1: „ich hab alle Wörter...- Stimme 2: aus dem
Versenkten“)
Spr. 1: Festzuhalten ist: Die ausgewählten Wörter sind eindeutig, allesamt von einer
sinnlichen Qualität – man sieht sie, man fühlt sie,
man hört sie;
auch
Synästhesien können entstehen – nämlich die Verbindung verschiedenen
Wahrnehmungsempfindungen ( wie z.B. ein flüsternder Stern). Die Verben
sind stark – lautmalend, wie z.B.„flüstern“, „fließen“ schließt eine Bewegung
ein. Ein Text mit Wörtern solcher Qualität wirkt direkter, findet Eingang über
die Sinne. Anders herum ausgedrückt: schreibt man z.B. „leise sprechen“
statt flüstern, „Lebensmittel“ statt Milch oder Reis, geht viel Nebeninformation
– Klang, Bilderreichtum, sinnliche Qualität verloren.
Musik
Spr. 2: Damit sind wir schon bei der nächsten Übung sind: Konzentration auf die
Dimension Klang. Lesen Sie laut das Gedicht Schtzngrmm von Ernst Jandl–
ein ziemlich geniales Lautgedicht über den Krieg in den Schützengräben. Nun
probieren Sie ein paar Laute aus – bl, ztsch, fl, fl, grt, uaah- was Ihnen so
einfällt. Wählen Sie sich einen Laut aus und
versuchen Sie, ihn zum
beherrschenden Moment eines Textes zu machen. Lassen Sie sich dabei
komplett ein auf die Wirkung des Klangs. Was kommt dabei heraus?
O-Töne 2 3:31-3:47 („für mich war’s insofern schwierig...insofern war das komplett
neu“ )
Spr. 1: Dabei haben wir als Kinder alle Klanggebilde wie „eiapopeia“ und „Dra
Chanasan mat dam Kantrabass“ geliebt. Wichtig ist: Klang ist in jedem Text
vorhanden, ob bewusst eingesetzt oder unfreiwillig, gleichgültig ob der Text
laut oder still gelesen wird. Melodie, Rhythmus und Klang teilen sich immer mit
und erzielen eine bestimmte Wirkung: der Text wirkt
schneller oder
langsamer, monoton, staccatohaft, hastig, fließend oder sogar unfreiwillig
komisch, wie bei ungewolltem Binnenreim. Deshalb muss man ein Gespür für
die akustische Ebene eines Textes entwickeln.
Spr. 2: Grundsätzlich gilt: Je mehr Sinne ein Text anzusprechen vermag, desto
lebendiger wirkt er, desto mehr atmet er, und desto mehr löst er im Leser bzw.
Hörer aus. Sensibilisieren Sie sich also und trainieren Sie bewusst alle Sinne.
Das bedeutet zuerst: Bewusst Wahrnehmen. Der Augensinn ist der weitaus
dominante. Gerade deshalb widmen Sie sich einmal explizit den anderen
Sinnen.
Spr. 1: Folgende Übung: Sie suchen sich einen Standort, z.B. ein Cafe, einen
Marktplatz, einen Hof, einen Park. Setzen Sie sich. Schließen Sie für zehn
Minuten konsequent die Augen und nehmen Sie wahr. Was hören Sie? oder:
Was riechen Sie? Konzentrieren Sie sich auf einen Sinn. Dann protokollieren
Sie Ihre Eindrücke so genau wie möglich. Bedienen Sie sich lautmalender
Verben, nehmen Sie Details wahr, versuchen Sie Zusammenfassungen zu
vermeiden. Aus diesen Eindrücken schreiben Sie ein Hörprotokoll.
O Töne 3 „Ich wünschte, du... 0:53.
Spr. 2: Kein Text kommt ohne Bilder aus, in Form von Beschreibungen, Vergleichen,
Metaphern. Vor allem die Metapher hat ein großes Potential. Ihre Verwendung
bedeutet aber auch eine Gratwanderung, weil man die Grenze ausloten muss
zwischen Stilblüte, Klischee und womöglich allgemeiner Unverständlichkeit. Im
gelungenen Fall machen Metaphern einen Text bildhaft, lebendig und
poetisch. Es lassen sich Dinge ausdrücken, für die eine rein auf Bedeutung
zielende Sprache zu plump ist.
Spr. 1: Hier eine Übung dazu, die man ruhig öfter wiederholen kann. Machen Sie sich
klar, dass es bei einer Metapher zwei Anteile gibt; der eine Teil liefert ein Bild,
das ist der Bildspender, der andere Teil bringt einen Sachverhalt zum
Ausdruck, das ist der Bildempfänger. Das Bild wird übertragen, die wörtliche
Übersetzung des griechischen Begriffs.
Spr. 2: Um diesen Übertragungsweg geht es: nimmt man z.B. den Begriff „Ursache“
und ersetzt ihn durch das Wort „Quelle“ liegt eine metaphorische Übertragung
vor, die allerdings kaum noch
ins Auge springt, so vertraut ist sie einem
inzwischen. Das andere Ende der Skala reicht zu Metaphern in der Lyrik, in
denen sich kein Übertragungsweg mehr herleiten lässt, wie z.B. in der
Gedichtzeile aus „Todesfuge“ von Paul Celan: „Schwarze Milch der Frühe“.
Spr. 1: Zwischen diesen Extremen gibt es viele einzelne Abstufungen. Um dies zu
erproben, schreiben Sie zwei Spalten Wörter nebeneinander. Links stehen die
Bildspender,
rechts
die
Bildempfänger.
Z.B.
steht
links:
gefroren,
vollautomatisch, schwarz. Rechts: Liebe, Frau, Sonne. Jetzt ziehen Sie
Querverbindungen
zwischen
Vollautomatische Frau.
beiden
Spalten:
Z.B.
gefrorene
Liebe.
Schwarze Sonne. Oder: vollautomatische Liebe.
Gefrorene Sonne. Etc. Ergänzen Sie die Spalten um eigene Wörter und bilden
Sie weitere Metaphern.
Spr. 2: Die nächste Übung zwingt zum sehr bewussten Umgang mit Sprache: Wer
etwas beschreiben will bedient sich meistens der Adjektive – schmückende
Beiwörter, wie es treffend heißt. Man verlässt sich darauf, dass sie das Bild
dem Leser vor Augen führen. Reicht eins nicht aus, kommt noch eines dazu
und womöglich noch eines. Das ist die einfachste Lösung –zu der man
automatisch neigt. Aber nicht die beste, denn sie führt häufig zum Schwulst.
Diese automatische Lösung muss man sich regelrecht abtrainieren, und das
geht nur durch Übung. Also: Beschreiben Sie in etwa zehn Zeilen eine Szene,
einen Ort oder einen Vorgang.
Verwenden Sie dabei nur ein einziges
Adjektiv. Was sagen die Teilnehmer dazu?
O-Töne 4 6:17 – 6:36 (“es ist jedes mal eine Herausforderung... bequemes Adjektiv
zu verwenden“).
Spr. 1: Sie werden erleben, dass den Verben eine wichtige Funktion zukommt. Oft ist
die Substantivierung von Verben, wie auch im Hörportrait, ein gutes Stilmittel,
Klang, Farbe und Sinnen-Vielfalt in einen Text zu bekommen. Auch in dieser
Übung merken Sie, wie wichtig eigene Wahrnehmungserfahrung ist – eine
Voraussetzung für jede Beschreibung.
Musik
Spr. 2: Überhaupt, die eigene Erfahrung. Machen Sie sich diesen riesigen Fundus
zunutze. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wie Ihr eigener,
höchst persönlicher Zugang zur Sprache eigentlich aussieht? Wie er
entstanden ist? Welche Schritte auf diesem Weg eine Rolle gespielt haben?
Mit Sicherheit sind Ihre Vorlieben und Abneigungen, was Sprache und Texte
betrifft, durch eine lange Spracherfahrung geprägt.
Spr. 2: Im folgenden hören Sie die Pulitzerpreisträgerin Euroda Welty über ihren
Werdegang als Schriftstellerin:
Spr. 3: „Zu meiner Sinneserziehung zähle ich auch mein physisches Empfinden fürs
Wort. Im Alter von sechs Jahren stand ich allein im Hof vor unserem Haus und
wartete aufs Abendessen; es war genau zu der Stunde an einem
Spätsommertag, in der die Sonne bereits hinter dem Horizont steht und der
aufgegangene Vollmond am Himmel nicht mehr kreidefarben ist, sondern Licht
annimmt. Dann kommt der Augenblick – und ich sah ihn damals -, in dem der
Mond nicht mehr flach ist, sondern rund wird. Zum ersten Mal traf er meine
Augen als Kugel. Das Wort Mond kam mir auf die Lippen, als wäre es mir mit
einem silbernen Löffel eingeflößt worden. In meinem Mund festgehalten,
wurde der Mond zu einem Wort. Es besaß die Rundheit einer Traube, die
Großvater in Ohio mir von seinem Weinstock pflückte und die ich ganz
verschluckte.“
Spr. 1: Selbst in der Übersetzung ist dieser Text noch ein schönes Beispiel dafür, wie
sinnliche Erfahrungen unseren Spracherwerb begleiten. Und viele finden
tatsächlich sehr früh in der Kindheit statt. Darum folgende Übung: Kommen
Sie Ihren eigenen frühesten Erfahrungen mit Worten auf die Spur. Besinnen
Sie sich so weit wie möglich zurück auf ein Erlebnis, auf eine Begebenheit, in
der Sprache eine wichtige Rolle gespielt hat. War da ein Wort, das etwas
besonderes ausgelöst hat, vielleicht weil Sie es nicht oder anders oder falsch
verstanden haben? Sie können das Wort gehört, oder gelesen haben. Jemand
hat Ihnen etwas vorgelesen, vorgesungen? Nehmen Sie mehrere Anläufe,
denn meist dauert es, bis man an diese Erfahrungen herankommt. Den
Teilnehmern erging es so:
O Töne 5 23:33 – 24:02 „Also ich hab total schnell Zugang... toll - ging sehr leicht“)
Spr. 1: Dieser erste Blick in die Vergangenheit stößt vielleicht bei Ihnen einen ganzen
Prozeß des Schreibens an. Wiederholen Sie diese Übung für sich, machen
Sie sich allmählich Ihren eigenen Sprachzugang bewusst. Wie lohnend das
Ergebnis aber auch für andere sein kann zeigt dies Beispiel aus dem Kurs:
O Töne 6 CD „Mein erstes Buch“ 1:19
Musik
Spr. 2: Nächster Punkt: Die Perspektive. Im wesentlichen entsprechen die
Möglichkeiten der Erzähl-Perspektiven den Situationen, in denen Menschen
sich begegnen können: Ich. Er. Sie. Wir. Ich als ordnende Erzähler-Gestalt
über allem. Es gibt auch die Möglichkeit einer nicht personalen Perspektive.
Die Dinge stehen wie im nouveau roman im Zentrum. Schon mit dem ersten
niedergeschriebenen Wort eines Textes steht die Perspektive, aus der erzählt
wird, fest.
Spr. 1: Man geht gewissermaßen einen Vertrag mit dem Leser/Hörer ein: Der
Rahmen des Erzählten wird mit der Wahl der Perspektive abgesteckt. Ein
Durchbrechen der Perspektive ist im Prinzip nicht gestattet. Ausnahmen
bestätigen natürlich die Regel, in jedem Falle muss die Durchbrechung dann
aber eine Funktion haben. Sie darf dem Autor nicht einfach nur aus Versehen
oder Nachlässigkeit unterlaufen. Das geschieht allerdings trotzdem immer
wieder, ist aber eine Sache der Erfahrung.
Spr. 2: Bei der letzten Übung, der Kindheitserinnerung, haben Sie für die eigene
Erfahrung
natürlich
authentischen,
die
Ich-Erzählperspektive
dokumentarischen
Texte
sind
in
gewählt.
dieser
Fast
alle
Perspektive
geschrieben. Anders herum ausgedrückt: Will man einen Text möglichst
authentisch gestalten, eignet sich die Ich-Perspektive oft am besten. Andere
Texte aber verlangen eine andere Erzählposition. Sie bedürfen eher der
Er/Sie-Perspektive. Das liegt daran, dass jeder Perspektive bestimmte
Eigenschaften zukommen auf der Skala Nähe oder Distanz, Übersicht oder
Involviertsein.
Um hier Erfahrungen zu sammeln, vergleichen Sie einmal
verschiedene
Romananfänge
mit
dem
Augenmerk
speziell
auf
der
Erzählperspektive.
Spr. 1: Die Entscheidung, welche Perspektive eignet sich für welchen Text, kann
automatisch fallen, wie im Beispiel eben, oder aus grundsätzlichen
Überlegungen heraus. Sie kann sich während des Schreibens als richtig
erweisen oder auch als falsch. Manchmal hilft es einem Text, ihn in eine
andere Perspektive zu transponieren.
Spr. 2: Dazu möchte ich Sie jetzt auffordern. Probieren Sie es selbst aus. Nehmen
Sie Ihren letzten Text, die Spracherfahrung, und setzen Sie ihn um in eine
andere Perspektive. Was geschieht? Wie verändert sich der Text? Welche
weiteren sprachlichen Eingriffe werden nötig mit dieser Veränderung? Hören
Sie hierzu die – klassischen - Schreiberfahrungen der Teilnehmer:
O Töne 7 45:09 – 45:23 („also ich hatte das Gefühl... also der Text ist einfach länger
geworden) und 25:15 – 25:49 („bei mir ist es so ähnlich... gar nicht unwichtig
gewesen“)
Spr. 1: Und nun noch ein sehr weit gefasstes Thema: das des Stoffes. Wovon soll
mein Text eigentlich handeln? Was soll erzählt werden? Wie komme ich zu
meinem Stoff? Nicht alle Stoffe findet man in der eigenen Vergangenheit oder
Umgebung. Manche muss man recherchieren. Eine gute Übung, die ich Ihnen
hierzu vorstellen möchte, ist, sich bestimmter Gegenstände als Erzählkeim zu
bedienen. Für Proust hat die Essenz der Dinge zentralen Charakter: Lesen
Sie, was er über den Lindenblütentee und seinen Duft schreibt, Sie kennen
vielleicht das berühmte Beispiel der in Tee getauchten Madeleines.
Spr. 2: Und noch ein Beispiel: In der Kinderakademie in Fulda gibt es ein
Hosentaschenmuseum – Dinge, die sich in den Taschen der Besucher
angefunden haben, sind ausgestellt. Jedes für sich, alle zusammen in dieser
Kombination können eine Geschichte erzählen. Ein Vorschlag: finden Sie sich
mit anderen zusammen und bitten Sie jeden einzelnen, zu diesem Treffen
einen Gegenstand mitzubringen, der ihm nicht gleichgültig ist. Nacheinander
soll jeder erzählen, was es damit auf sich hat, woher er kommt, was für eine
Rolle er spielt, wo er meistens liegt usw. Schön, wenn man ihn anfassen kann,
vielleicht etwas dazu nachfragen.
Spr. 1: Die Hörenden machen sich Notizen: eine Redewendung, Details etc. Wenn
jeder seinen Gegenstand für ein paar Minuten vorgestellt hat, ist meist ein
Fundus an Material, an Details, zusammengekommen, in denen menschliche
Begebenheiten, Verwicklungen, Einblicke in emotionale Zustände etc. zur
Sprache gekommen sind. Jetzt soll aus diesen Gegenständen selbst, sowie
aus der Art, wie von ihnen gesprochen wurde ein Text entstehen. Bedingung:
keiner schreibt über seine eigenen Gegenstände. Die der anderen sollen zu
einem Text anregen. Man kann z.B. nacherzählen, was jemand über seine
mitgebrachten Sachen erzählt hat. Oder den Gegenstand selbst als Anlass für
eine Erzählung nehmen. Dabei können sich zwei Gegenstände zu etwas
Neuem verbinden. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Musik
Spr. 2:
So. Die Zeit drängt. Jeder hat acht Texte – einfache und komplexere–
geschrieben. Sie sind spontan entstanden, geschrieben aus dem Augenblick
heraus. Das ist wichtig, damit erst einmal Material da ist. Jetzt aber kommt es
darauf an, an den Texten zu arbeiten. Mit anderen Worten: das Lektorat, das
jedem Text gut tut, bevor man ihn aus der Hand gibt. Der Zweite Blick, wie ich
es nenne, dem durchaus gern auch noch der dritte, vierte, usw. folgen kann,
da jedes Mal ein neuer Distanzierungsschritt dem eigenen Text gegenüber
einsetzt.
Spr. 1: Erster Schritt: Lesen Sie sich den Text laut vor. Schon sind Sie nicht mehr in
der Rolle des Autors, sondern in der des Sprechers und damit auch
gleichzeitig Hörers. Sie spüren, wo ein Satz zu lang wird, wo er monoton
klingt, wo sich Wiederholungen verbergen, wo eine Stelle zu wortreich ist. All
diese Punkte können Sie selbst abarbeiten.
Spr. 2: Und es gibt noch mehr für die Checkliste: Haben Sie Sinneseindrücke in den
Text eingebaut? Haben Sie Bilder, Vergleiche, Metaphern verwendet?
Stimmig oder Klischee? Sehen Sie sich die Verben an, haben Sie solche mit
sinnlicher Qualität benutzt, oder eher abgegriffene? Welche bzw. wie viele
Adjektive und Adverbien? Lässt sich da nicht das eine oder andere Wort
sparen? Kann man straffen, verdichten? Immer gilt: Jedes Wort hat sein
Gewicht.
Spr. 1: Verzweifeln Sie nicht, wenn etwas misslingt. Wenn es so einfach wäre, etwas
Gutes zu schreiben, könnte es ja jeder. Die wichtigste, ganz unverzichtbare
Empfehlung zum Schluss: Lesen Sie. Lesen, Lesen, Lesen. Der aufmerksame
Blick des Lehrlings auf das Werk des Meisters schult am allerbesten!
Musik (Schluß)
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