EuGH_C_405_01 - beim Deutschen Notarinstitut!

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Deu t s ch es No t ar i n s t i t u t
Dok u me n tn u m me r :
l e t zt e Ak tu a l i si e ru n g:
E u G H _ C_4 05 _0 1
13. 10 .20 03
< Ge ri ch t> E u GH
<Ak t en z ei ch en > C - 405/ 01
<Datum> 30.09.2003
<Normen> EG Art. 39 Absatz 4
<Titel> Staatsangehörigkeitsvorbehalt bei hoheitlichen Befugnissen I
<Leitsatz> 1. Artikel 39 Absatz 4 EG ist dahin auszulegen, dass er einen Mitgliedstaat nur
dann berechtigt, seinen Staatsangehörigen die Stellen des Kapitäns und des Ersten
Offiziers der Handelsschiffe unter seiner Flagge vorzubehalten, wenn die den Kapitänen
und Ersten Offizieren dieser Schiffe zugewiesenen hoheitlichen Befugnisse tatsächlich
regelmäßig ausgeübt werden und nicht nur einen sehr geringen Teil ihrer Tätigkeit
ausmachen. 2. Artikel 39 EG ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat
verwehrt, den Zugang der Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten zu den Stellen
des Kapitäns und des Ersten Offiziers von Handelsschiffen unter seiner Flagge wie denen,
auf die sich Artikel 8 Absatz 3 des Real Decreto 2062/1999, por el que se regula el nivel
mínimo de formación en profesiones marítimas, vom 30. Dezember 1999 bezieht, einem
Gegenseitigkeitsvorbehalt zu unterstellen .
URTEIL DES GERICHTSHOFES
30. September 2003(1)
Freizügigkeit der Arbeitnehmer - Artikel 39 Absatz 4 EG - Beschäftigung in der öffentlichen
Verwaltung - Kapitäne und Erste Offiziere von Schiffen der Handelsmarine - Verleihung
hoheitlicher Befugnisse an Bord - Den Staatsangehörigen des Flaggenstaats vorbehaltene Stellen
- Stellen, die den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten unter dem Vorbehalt der
Gegenseitigkeit offenstehen
In der Rechtssache C-405/01
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom Tribunal Supremo (Spanien) in dem
bei diesem anhängigen Rechtsstreit
Colegio de Oficiales de la Marina Mercante Española
Gegen
Administración del Estado,
Beteiligte:
Asociación de Navieros Españoles (ANAVE),
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 39 EG sowie der
Artikel 1 und 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die
Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2)
erlässt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der Kammerpräsidenten J.-P.
Puissochet, M. Wathelet (Berichterstatter), R. Schintgen und C. W. A. Timmermans, der Richter
C. Gulmann, D. A. O. Edward, A. La Pergola, P. Jann und V. Skouris, der Richterinnen F.
Macken und N. Colneric sowie der Richter S. von Bahr, J. N. Cunha Rodrigues und A. Rosas,
Generalanwältin: C. Stix-Hackl,
Kanzler: M.-F. Contet, Hauptverwaltungsrätin,
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
- der spanischen Regierung, vertreten durch N. Díaz Abad als Bevollmächtigte,
- der dänischen Regierung, vertreten durch J. Molde und J. Bering Liisberg als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch W.-D. Plessing und R. Stüwe als Bevollmächtigte,
- der griechischen Regierung, vertreten durch E.-M. Mamouna und S. Chala als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, A. Colomb und C. Bergeot-Nunes
als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch U. Leanza als Bevollmächtigten im Beistand von
G. Fiengo, avvocato dello Stato,
- der norwegischen Regierung, vertreten durch H. Seland als Bevollmächtigten,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch I. Martínez del Peral und
D. Martin als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Beklagten des Ausgangsverfahrens und der
spanischen Regierung, vertreten durch N. Díaz Abad, der deutschen Regierung, vertreten durch
M. Lumma als Bevollmächtigten, der griechischen Regierung, vertreten durch E.-M. Mamouna,
der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und C. Bergeot-Nunes, und der
Kommission, vertreten durch I. Martínez del Peral und durch H. Kreppel als Bevollmächtigten,
in der Sitzung vom 21. Januar 2003,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 12. Juni 2003
folgendes
Urteil
1.
Das Tribunal Supremo hat mit Beschluss vom 4. Oktober 2001, beim Gerichtshof
eingegangen am 15. Oktober 2001, nach Artikel 234 EG zwei Fragen nach der Auslegung
von Artikel 39 EG sowie der Artikel 1 und 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates
vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft
(ABl. L 257, S. 2) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Fragen stellen sich im Rahmen einer Nichtigkeitsklage, die das Colegio de Oficiales de
la Marina Mercante Española (Offizierskollegium der spanischen Handelsmarine) gegen das
Real Decreto 2062/1999, por el que se regula el nivel mínimo de formación en profesiones
marítimas (Königliches Dekret Nr. 2062/1999 über die Mindestanforderungen an die
Ausbildung der Seeleute), vom 30. Dezember 1999 (BOE vom 21. Januar 2000, im
Folgenden: Königliches Dekret Nr. 2062/1999) erhoben hat.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
3.
Artikel 39 EG lautet:
(1) Innerhalb der Gemeinschaft ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet.
(2) Sie umfasst die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden
unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf
Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen.
(3) Sie gibt - vorbehaltlich der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und
Gesundheit gerechtfertigten Beschränkungen - den Arbeitnehmern das Recht,
a) sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben;
b) sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen;
c) sich in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, um dort nach den für die Arbeitnehmer dieses
Staates geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften eine Beschäftigung auszuüben;
d) nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter
Bedingungen zu verbleiben, welche die Kommission in Durchführungsverordnungen festlegt.
(4) Dieser Artikel findet keine Anwendung auf die Beschäftigung in der öffentlichen
Verwaltung.
4.
Weiter bestimmt Artikel 1 der Verordnung Nr. 1612/68:
(1) Jeder Staatsangehörige eines Mitgliedstaats ist ungeachtet seines Wohnorts berechtigt,
eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis im Hoheitsgebiet eines anderen
Mitgliedstaats nach den für die Arbeitnehmer dieses Staates geltenden Rechts- und
Verwaltungsvorschriften aufzunehmen und auszuüben.
(2) Er hat insbesondere im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats mit dem gleichen
Vorrang Anspruch auf Zugang zu den verfügbaren Stellen wie die Staatsangehörigen dieses
Staates.
5.
Artikel 4 der Verordnung Nr. 1612/68 sieht vor:
(1) Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, durch welche die
Beschäftigung von ausländischen Arbeitnehmern zahlen- oder anteilmäßig nach
Unternehmen, Wirtschaftszweigen, Gebieten oder im gesamten Hoheitsgebiet beschränkt
wird, finden auf Staatsangehörige der übrigen Mitgliedstaaten keine Anwendung.
(2) Wenn in einem Mitgliedstaat für Unternehmen vorgesehene Vergünstigungen von der
Beschäftigung eines bestimmten Hundertsatzes von inländischen Arbeitnehmern abhängig
gemacht werden, werden Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten vorbehaltlich der
Bestimmungen der Richtlinie des Rates vom 15. Oktober 1963 ... als inländische
Arbeitnehmer gezählt.
Internationales Recht
6.
Das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, unterzeichnet in Montego Bay am 10.
Dezember 1982, enthält in seinem Teil VII mit dem Titel Hohe See in dem mit Allgemeine
Bestimmungen überschriebenen Abschnitt 1, der die Artikel 86 bis 115 umfasst, allgemeine
Bestimmungen über die Schifffahrt auf hoher See.
7.
Die Artikel 91 Absatz 1, 92 Absatz 1, 94 Absätze 1 bis 3 und 97 Absätze 1 und 2 dieses
Übereinkommens bestimmen u. a.:
Artikel 91
Staatszugehörigkeit der Schiffe
(1) Jeder Staat legt die Bedingungen fest, zu denen er Schiffen seine Staatszugehörigkeit
gewährt, sie in seinem Hoheitsgebiet in das Schiffsregister einträgt und ihnen das Recht
einräumt, seine Flagge zu führen. Schiffe besitzen die Staatszugehörigkeit des Staates, dessen
Flagge zu führen sie berechtigt sind. Zwischen dem Staat und dem Schiff muss eine echte
Verbindung bestehen.
...
Artikel 92
Rechtsstellung der Schiffe
(1) Schiffe fahren unter der Flagge eines einzigen Staates und unterstehen auf Hoher See
seiner ausschließlichen Hoheitsgewalt, mit Ausnahme der besonderen Fälle, die ausdrücklich
in internationalen Verträgen oder in diesem Übereinkommen vorgesehen sind. ...
...
Artikel 94
Pflichten des Flaggenstaats
(1) Jeder Staat übt seine Hoheitsgewalt und Kontrolle in verwaltungsmäßigen, technischen
und sozialen Angelegenheiten über die seine Flagge führenden Schiffe wirksam aus.
(2) Insbesondere hat jeder Staat
...
b) die Hoheitsgewalt nach seinem innerstaatlichen Recht über jedes seine Flagge führende
Schiff sowie dessen Kapitän, Offiziere und Besatzung in Bezug auf die das Schiff
betreffenden verwaltungsmäßigen, technischen und sozialen Angelegenheiten auszuüben.
(3) Jeder Staat ergreift für die seine Flagge führenden Schiffe die Maßnahmen, die zur
Gewährleistung der Sicherheit auf See erforderlich sind, ...
...
Artikel 97
Strafgerichtsbarkeit in Bezug auf Zusammenstöße oder andere mit der Führung eines
Schiffes zusammenhängende Ereignisse
(1) Im Fall eines Zusammenstoßes oder eines anderen mit der Führung eines Schiffes
zusammenhängenden Ereignisses auf Hoher See, welche die strafrechtliche oder
disziplinarische Verantwortlichkeit des Kapitäns oder einer sonstigen im Dienst des Schiffes
stehenden Person nach sich ziehen könnten, darf ein Straf- oder Disziplinarverfahren gegen
diese Personen nur von den Justiz- oder Verwaltungsbehörden des Flaggenstaats oder des
Staates eingeleitet werden, dessen Staatsangehörigkeit die betreffende Person besitzt.
(2) In Disziplinarangelegenheiten ist nur der Staat, der ein Kapitänspatent, ein
Befähigungszeugnis oder eine andere Erlaubnis erteilt hat, zuständig, die Entziehung dieser
Urkunden ... zu erklären, auch wenn der Inhaber nicht die Staatsangehörigkeit des
ausstellenden Staates besitzt.
Nationales Recht
8.
Die Ley 27/1992 de Puertos del Estado y de la Marina Mercante (Gesetz Nr. 27/1992 über
staatliche Häfen und die Handelsmarine) vom 24. November 1992 (BOE vom 25. November
1992, im Folgenden: Gesetz Nr. 27/1992) sieht in ihrem Artikel 77 mit dem Titel
Besatzungen der Schiffe vor:
(1) Die Anzahl der Mitglieder der Besatzung der Schiffe und ihre berufliche Befähigung
müssen angemessen sein, um jederzeit die Sicherheit der Seefahrt und des Schiffes unter
Berücksichtigung seiner technischen Merkmale und seiner Nutzung gemäß den
Bedingungen, die im Verordnungswege festzulegen sind, zu gewährleisten.
(2) Ebenso sind die Voraussetzungen der Staatsangehörigkeit der Besatzungen der Schiffe im
Verordnungswege festzulegen, auch wenn die Bürger der Mitgliedstaaten der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes Zugang zu den
Stellen der Besatzungen der Schiffe erhalten, die nicht die, und sei es auch nur gelegentliche,
Ausübung staatlicher Funktionen mit sich bringen, die spanischen Staatsangehörigen
vorbehalten bleibt.
9.
Aus der mit Besonderes Register der Schiffe und Reedereien überschriebenen Fünfzehnten
Zusatzbestimmung zum Gesetz Nr. 27/1992 ergibt sich, dass der Kapitän und der Erste
Offizier der Schiffe, die in dem besonderen durch diese Bestimmung errichteten Register
eingetragen sind, die spanische Staatsangehörigkeit haben müssen. Dieses Register betrifft
nur die Schiffe von Reedereien, deren tatsächliche Kontrollzentrale für den Betrieb der
Schiffe auf den Kanarischen Inseln liegt oder die, wenn sie sich im übrigen Gebiet Spaniens
oder im Ausland befindet, auf den Kanarischen Inseln eine Niederlassung oder eine ständige
Vertretung besitzen, durch die sie die Rechte ausüben und die Verpflichtungen erfüllen
können, die in den geltenden Rechtsvorschriften vorgesehen sind. In dieses Register können
nur zu Handelszwecken genutzte zivile Schiffe mit einer Mindestgröße von 100 BRT unter
Ausschluss für den Fischfang bestimmter Schiffe eingetragen werden.
10.
Der mit Besondere Vorschriften über die Anerkennung von Befähigungsnachweisen von
Bürgern der Europäischen Union mit von einem dieser Staaten erteilten Nachweisen
überschriebene Artikel 8 des Königlichen Dekrets Nr. 2062/1999 bestimmt:
(1) Die Generaldirektion der Handelsmarine kann bei Bürgern der Europäischen Union
unmittelbar die Befähigungsnachweise oder Spezialisierungszeugnisse anerkennen, die einer
dieser Staaten gemäß den anwendbaren nationalen Bestimmungen erteilt hat.
(2) Der Anerkennung eines Befähigungsnachweises, die durch die Erteilung eines
Berufsausweises der Handelsmarine förmlich vollzogen wird, bedarf es für den
unmittelbaren Zugang zu den Stellen der Besatzungen der spanischen Handelsschiffe mit
Ausnahme der Besetzung der kraft Gesetzes Spaniern zugewiesenen Stellen wie denen des
Kapitäns, des Schiffsführers oder des Ersten Brückenoffiziers, die die Ausübung staatlicher
Funktionen mit sich bringen oder mit sich bringen können; diese bleiben spanischen
Staatsangehörigen vorbehalten.
(3) Unbeschadet der Bestimmungen des vorangehenden Absatzes können die Bürger der
Europäischen Union, die einen von einem Mitgliedstaat erteilten Nachweis besitzen, den
Befehl über Handelsschiffe mit einer Bruttoregistertonnage unter 100 BRT führen, wenn
diese Schiffe Fracht oder weniger als 100 Passagiere befördern, wenn sie ausschließlich
zwischen Häfen oder Punkten in Gebieten verkehren, über die Spanien Souveränität,
souveräne Rechte oder Jurisdiktion ausübt, und wenn der Betroffene das Vorliegen der
Gegenseitigkeit in seinem Staat hinsichtlich spanischer Staatsangehöriger nachweist.
11.
Mehrere Vorschriften des spanischen Rechts verleihen den Kapitänen von Schiffen der
spanischen Handelsmarine staatliche Funktionen wie Sicherheits- und Polizeiaufgaben,
notarielle oder personenstandsrechtliche Aufgaben.
12.
Was Sicherheits- und Polizeiaufgaben anbelangt, so ermächtigen die Artikel 110, 116 Absatz
3 Buchstabe f und 127 des Gesetzes Nr. 27/1992 die Kapitäne, in Gefahrensituationen an
Bord ausnahmsweise alle polizeilichen Maßnahmen zu ergreifen, die sie für die sichere Fahrt
des Schiffes für erforderlich erachten. Die Missachtung dieser Maßnahmen und
Anordnungen stellt eine schwere Zuwiderhandlung dar. Der Kapitän hat die
Zuwiderhandlungen gegen dieses Gesetz im Logbuch aufzuzeichnen.
13.
Nach Artikel 610 des Código de Comercio (Handelsgesetzbuch) ist mit der Stellung des
Kapitäns die Befugnis verbunden, an Bord gegen jene Personen Strafen zu verhängen, die
seinen Anordnungen nicht nachkommen oder die es an Disziplin fehlen lassen. Die Vergehen
und die ergriffenen Maßnahmen müssen aufgezeichnet werden, und das Dossier muss im
nächsten Hafen, der angelaufen wird, den zuständigen Behörden übergeben werden.
14.
Nach Artikel 700 des Handelsgesetzbuchs haben sich die Passagiere hinsichtlich der
Aufrechterhaltung der Ordnung an Bord ausnahmslos den Anordnungen des Kapitäns zu
unterwerfen.
15.
Ferner ergibt sich in Bezug auf die öffentliche Beurkundung oder die Errichtung
personenstandsrechtlicher Urkunden aus Artikel 52 des Código Civil (Zivilgesetzbuch), dass
der Kapitän unter bestimmten Voraussetzungen Eheschließungen vornehmen kann; aus den
Artikeln 722 und 729 des Zivilgesetzbuchs ergibt sich, dass er Testamente entgegennehmen
kann und im Falle des Todes des Testators an Bord verpflichtet ist, die Verwahrung der
Testamente sicherzustellen und sie den zuständigen Behörden zu übergeben.
16.
Nach Artikel 19 der Ley del Registro Civil (Gesetz über das Personenstandsregister) können
die durch Verordnung bestimmten Behörden oder Beamten die Registrierung einer Geburt,
einer Eheschließung oder eines Todesfalls u. a. dann vornehmen, wenn diese während einer
Seereise eintreten. Die in solchen Geburtsurkunden getroffenen Feststellungen haben
denselben Beweiswert wie die anlässlich der Eintragung in das Personenstandsregister
vorgenommenen Feststellungen.
17.
Nach Artikel 71 des Reglamento del Registro Civil (Verordnung über das
Personenstandsregister) kann die Beurkundung der Geburt, der Eheschließung oder des
Todes durch den Kapitän des Schiffes erfolgen, wenn diese Ereignisse während einer
Seereise eintreten. Artikel 72 der Verordnung sieht vor, dass der Kapitän in Bezug auf die
Feststellung der Geburt, des Todes, der Fehlgeburt oder der Verwandtschaft sowie die
Erteilung der Bestattungserlaubnis die gleichen Rechte und Pflichten hat wie ein
Standesbeamter.
18.
Nach Artikel 705 des Handelsgesetzbuchs muss der Kapitän im Falle des Versterbens einer
Person an Bord die Sterbeurkunde errichten und ist ermächtigt, nach Ablauf einer Frist von
24 Stunden die Maßnahmen zu ergreifen, die im Hinblick auf den Leichnam erforderlich
sind.
19.
Nach Artikel 627 des Handelsgesetzbuchs nimmt der Erste Offizier die Rechte, Pflichten und
Verantwortlichkeiten des Kapitäns wahr, wenn dieser verhindert ist.
Das Ausgangsverfahren
20.
Das Colegio de Oficiales erhob beim Tribunal Supremo Nichtigkeitsklage gegen einige
Bestimmungen des Königlichen Dekrets Nr. 2062/1999.
21.
Das Colegio de Oficiales ist der Auffassung, dass dieses Dekret und insbesondere sein
Artikel 8 Absatz 3 insofern die Kollektivinteressen der Offiziere der spanischen
Handelsmarine verletze und gegen Artikel 77 des Gesetzes Nr. 27/1992 sowie die Fünfzehnte
Zusatzbestimmung zu diesem Gesetz verstoße, als den Staatsangehörigen der übrigen
Mitgliedstaaten gestattet werde, das Kommando über bestimmte spanische Schiffe zu führen.
22.
Das Tribunal Supremo stellt fest, dass die Kapitäne und Ersten Offiziere der Handelsschiffe
im Allgemeinen gelegentlich Aufgaben ausübten, die mit polizeilichen Befugnissen
verbunden seien oder die in Spanien üblicherweise Beamten übertragen seien; es fragt sich,
ob die Tatsache, dass ein Mitgliedstaat solche Stellen seinen eigenen Staatsangehörigen
vorbehalte, mit Artikel 39 EG und der Rechtsprechung des Gerichtshofes vereinbar sei.
23.
Es vertritt die Ansicht, wenn eine solche Maßnahme als gemeinschaftsrechtskonform
anzusehen sein sollte, wären Artikel 77 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 27/1992, die Fünfzehnte
Zusatzbestimmung zu diesem Gesetz sowie Artikel 8 Absatz 2 des Königlichen Dekrets Nr.
2062/1999, die den spanischen Staatsangehörigen die Stellen des Kapitäns und des Ersten
Offiziers auf Handelsschiffen unter spanischer Flagge vorbehielten, als zulässig zu
betrachten. Dies würde dann erst recht für Artikel 8 Absatz 3 des Königlichen Dekrets Nr.
2062/1999 gelten, der den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten unter bestimmten
Voraussetzungen und für bestimmte Schiffe der spanischen Handelsmarine den Zugang zu
den Stellen des Kapitäns und des Ersten Offiziers eröffne.
24.
Das Tribunal Supremo führt dazu aus, dass eine Ausnahme von der Maßnahme, die Stellen
des Kapitäns und des Ersten Offiziers den Staatsangehörigen des Flaggenstaats
vorzubehalten, wie die Regelung in Artikel 8 Absatz 3 des Königlichen Dekrets Nr.
2062/1999 damit gerechtfertigt werden könne, dass die Kapitäne oder Ersten Offiziere, die
auf kleinen, stets in Küstennähe verkehrenden Schiffen eingesetzt seien, nur selten
Gelegenheit hätten, die ihnen verliehenen staatlichen Funktionen tatsächlich auszuüben.
25.
Für den Fall, dass die Mitgliedstaaten eine Maßnahme nicht aufrechterhalten dürften, mit der
die Stellen des Kapitäns und des Ersten Offiziers auf Schiffen unter ihrer Flagge ihren
Staatsangehörigen vorbehalten würden, und dass sie verpflichtet seien, den
Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu bieten, unter bestimmten
Voraussetzungen Zugang zu diesen Stellen zu erlangen, stelle sich die Frage, ob es
gemeinschaftsrechtskonform sei, diese Möglichkeit von einem Gegenseitigkeitsvorbehalt,
wie er in Artikel 8 Absatz 3 des Königlichen Dekrets Nr. 2062/1999 vorgesehen sei,
abhängig zu machen.
26.
Unter diesen Umständen hat das Tribunal Supremo beschlossen, das Verfahren auszusetzen
und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Räumen Artikel 39 EG und die Artikel 1 und 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des
Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der
Gemeinschaft einem Mitgliedstaat die Möglichkeit ein, die Stellen des Kapitäns und des
Ersten Offiziers seiner Handelsschiffe den eigenen Staatsangehörigen vorzubehalten? Wenn
dies bejaht wird: Kann ein solcher Vorbehalt uneingeschränkt formuliert werden (für jede Art
von Handelsschiffen), oder ist er nur in solchen Fällen zulässig, in denen vorhersehbarer- und
vernünftigerweise die tatsächliche Ausübung bestimmter staatlicher Funktionen durch die
Kapitäne oder die Ersten Offiziere an Bord erforderlich sein kann?
2. Wenn die innerstaatlichen Vorschriften eines Mitgliedstaats von der Regelung, diese
Stellen seinen eigenen Staatsangehörigen vorzubehalten, bestimmte Fälle der
Handelsschifffahrt (anhand von Faktoren wie der Bruttotonnage des Schiffes, der Ladung
oder der Anzahl der Passagiere und der Merkmale der Fahrten) ausnehmen und in solchen
Fällen den Zugang von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union
zu diesen Stellen zulassen, darf dann dieser Zugang dem Gegenseitigkeitsvorbehalt
unterstellt werden?
27.
Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Artikel 1 und 4 der Verordnung Nr. 1612/68 nur die
bereits aus Artikel 39 EG folgenden Rechte verdeutlichen und durchführen. Daher enthält
allein dieser Artikel die in der vorliegenden Rechtssache einschlägigen Bestimmungen (in
diesem Sinne auch Urteil vom 23. Februar 1994 in der Rechtssache C-419/92, Scholz, Slg.
1994, I-505, Randnr. 6).
Zur ersten Frage
28.
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Artikel
39 Absatz 4 EG in dem Sinne auszulegen ist, dass er einen Mitgliedstaat berechtigt, seinen
Staatsangehörigen die Stellen des Kapitäns und des Ersten Offiziers der Handelsschiffe unter
seiner Flagge vorzubehalten, und ob insoweit der Umstand zu berücksichtigen ist, dass die
Wahrnehmung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung im Sinne von Artikel 39 Absatz 4
EG durch den Kapitän oder den Ersten Offizier bei bestimmten Formen der Schifffahrt nur
begrenzt und gelegentlich erfolgt.
Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen
29.
Die spanische, die dänische, die deutsche, die griechische, die französische und die
italienische Regierung sowie die Kommission stimmen darin überein, dass die Stellen des
Kapitäns und des Ersten Offiziers der Handelsschiffe unter der Flagge eines Mitgliedstaats
gemäß Artikel 39 Absatz 4 EG den Staatsangehörigen dieses Staates vorbehalten werden
dürften, soweit die Stelleninhaber nach den nationalen Rechtsvorschriften dieses Staates und
nach verschiedenen internationalen Abkommen wie dem Seerechtsübereinkommen der
Vereinten Nationen Aufgaben ausüben könnten, die unter die öffentliche Verwaltung im
Sinne dieser Bestimmung in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof fielen und die sich auf
die Aufrechterhaltung der Sicherheit und die Ausübung polizeilicher Befugnisse sowie auf
die öffentliche Beurkundung und die Errichtung von Personenstandsurkunden bezögen.
30.
Diese Regierungen begründen ihren Standpunkt unter Hinweis auf die potenziell größeren
Gefahren auf Hoher See und die Tatsache, dass sich das Schiff dort außerhalb der Reichweite
der staatlichen Behörden befinde, was es erforderlich mache, dass in Gestalt des Kapitäns ein
Vertreter der öffentlichen Gewalt mit Entscheidungsbefugnis an Bord anwesend sei.
31.
Die Urteile vom 29. Oktober 1998 in der Rechtssache C-114/97 (Kommission/Spanien, Slg.
1998, I-6717, Randnr. 33) und vom 31. Mai 2001 in der Rechtssache C-283/99
(Kommission/Italien, Slg. 2001, I-4363, Randnr. 25), aus denen sich ergebe, dass der Begriff
Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung keine Beschäftigung im Dienst einer
natürlichen oder juristischen Person des Privatrechts umfasse, seien nicht einschlägig,
ungeachtet dessen, dass der Kapitän eines Handelsschiffes von einer privaten Reederei
beschäftigt werde. Die dänische, die griechische und die französische Regierung sowie die
Kommission halten es nämlich für ausschlaggebend, dass dem Kapitän auch ohne
organschaftliche Verbindung mit der Verwaltung hoheitliche Befugnisse im Interesse der
allgemeinen Belange des Staates übertragen seien, was, wie auch die deutsche Regierung
vorträgt, dem funktionellen Verständnis der öffentlichen Verwaltung entspreche, das der
Rechtsprechung des Gerichtshofes zugrunde liege.
32.
Die spanische Regierung ist jedoch der Ansicht, dass es nur dann mit Artikel 39 Absatz 4 EG
in Einklang stehe, die Stellen des Kapitäns und des Ersten Offiziers der Handelsschiffe unter
der Flagge eines Mitgliedstaats den Staatsangehörigen dieses Staates vorzubehalten, wenn
die tatsächliche Ausübung staatlicher Funktionen vorhersehbar und sinnvoll sei. So erkläre
sich Artikel 8 Absatz 3 des Königlichen Dekrets Nr. 2062/1999, mit dem den
Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten gestattet werde, das Kommando auf kleinen und
mittelgroßen spanischen Schiffen zu führen, deren Aktionsradius gering sei und die innerhalb
der spanischen Hoheitsgewässer verkehrten, so dass die Vornahme von hoheitsrechtlichen
Handlungen leicht aufgeschoben werden könne. Es handele sich um Schiffe, die
hauptsächlich für den Freizeitbereich und den Tourismus eingesetzt würden.
33.
Dagegen tragen die dänische, die griechische, die französische und die italienische Regierung
sowie die Kommission vor, wenn dem Kapitän von einem Mitgliedstaat hoheitliche
Befugnisse verliehen worden seien, könne der in Artikel 39 Absatz 4 EG enthaltene
Vorbehalt unabhängig von der Größe des Schiffes, der Zahl der Passagiere, der Fahrtroute,
der Nähe zum Hoheitsgebiet oder der Wahrscheinlichkeit geltend gemacht werden, dass der
Kapitän die in Rede stehenden staatlichen Funktionen, die auf jedem Schiffstyp und
jederzeit, wenn die Situation an Bord es verlange, ausgeübt werden könnten, tatsächlich
ausüben müsse.
34.
Die norwegische Regierung stellt zunächst fest, dass nach der Rechtsprechung des
Gerichtshofes Artikel 39 Absatz 4 EG, der eine Ausnahme vom Grundsatz der Freizügigkeit
der Arbeitnehmer darstelle, eng auszulegen sei (vgl. u. a. Urteil vom 12. Februar 1974 in der
Rechtssache 152/73, Sotgiu, Slg. 1974, 153), und wirft dann die Frage auf, ob die den
Schiffskapitänen traditionell übertragenen staatlichen Funktionen ausreichten, um zu
belegen, dass ein Kapitän heutzutage unmittelbar oder mittelbar an der Ausübung
hoheitlicher Gewalt teilnehme. Sie führt aus, die Notwendigkeit, von solchen Befugnissen
Gebrauch zu machen, sei aufgrund der heutigen technischen Möglichkeiten geringer als
früher, als die Schiffe meist viel länger auf See geblieben und Anweisungen nationaler
Behörden viel schwieriger zu erhalten gewesen seien. Außerdem führe heute mehr als die
Hälfte der Welthandelsflotte Billigflaggen, und die Tatsache, dass weder die Besatzung noch
der Kapitän dieser Schiffe die Staatsangehörigkeit des Flaggenstaats besäßen, stelle im
Allgemeinen kein besonderes Problem dar.
35.
Hilfsweise tragen die spanische, die griechische, die französische und die italienische
Regierung vor, ein Mitgliedstaat sei auf der Grundlage von Artikel 39 Absatz 3 EG
berechtigt, die Stellen des Kapitäns und des Ersten Offiziers seinen eigenen
Staatsangehörigen vorzubehalten.
36.
Dagegen wendet die Kommission ein, dass Artikel 39 Absatz 3 EG nur für Einzelne gelte,
deren persönliches Verhalten die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährde. Er könne
daher nicht herangezogen werden, um einen Beruf mit der Begründung vollständig von der
Anwendung des Grundsatzes der Freizügigkeit auszuschließen, dass die Angehörigen dieses
Berufes die Aufgabe hätten, die öffentliche Ordnung oder Sicherheit an Bord zu
gewährleisten (in diesem Sinne auch Urteil Kommission/Spanien, Randnr. 42). Artikel 3
Absatz 1 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der
Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus
Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (ABl.
1964, Nr. 56, S. 850), stütze diese Einschätzung.
Antwort des Gerichtshofes
37.
Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Artikel 39 Absätze 1 bis 3 EG den Grundsatz der
Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit
beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten verankert.
Nach Artikel 39 Absatz 4 EG findet dieser Artikel jedoch keine Anwendung auf die
Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung.
38.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes ist der Begriff der öffentlichen Verwaltung im
Sinne von Artikel 39 Absatz 4 EG in der gesamten Gemeinschaft einheitlich auszulegen und
anzuwenden; seine Bestimmung kann daher nicht völlig in das Ermessen der Mitgliedstaaten
gestellt werden (vgl. insbesondere Urteil Sotgiu, Randnr. 5, und Urteil vom 17. Dezember
1980 in der Rechtssache 149/79, Kommission/Belgien, Slg. 1980, 3881, Randnrn. 12 und
18).
39.
Er betrifft diejenigen Stellen, die eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der
Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung von Aufgaben mit sich bringen,
die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher
Körperschaften gerichtet sind, so dass sie ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des
jeweiligen Stelleninhabers zum Staat sowie die Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten
voraussetzen, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen (Urteil
Kommission/Belgien, Randnr. 10, und Urteil vom 2. Juli 1996 in der Rechtssache C-290/94,
Kommission/Griechenland, Slg. 1996, I-3285, Randnr. 2).
40.
Hingegen gilt die Ausnahme in Artikel 39 Absatz 4 EG nicht für Stellen, die zwar dem Staat
oder anderen öffentlich-rechtlichen Einrichtungen zuzuordnen sind, jedoch keine Mitwirkung
bei der Erfüllung von Aufgaben mit sich bringen, die zur öffentlichen Verwaltung im
eigentlichen Sinne gehören (Urteile Kommission/Belgien, Randnr. 11, und
Kommission/Griechenland, Randnr. 2), und erst recht nicht für Stellen im Dienst einer
natürlichen oder juristischen Person des Privatrechts, unabhängig von den Aufgaben, die der
Beschäftigte zu erfüllen hat (Urteile Kommission/Spanien, Randnr. 33, und
Kommission/Italien, Randnr. 25)
41.
Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergibt sich auch, dass Artikel 39 Absatz 4 EG als
Ausnahme vom Grundprinzip der Freizügigkeit und der Nichtdiskriminierung der
Arbeitnehmer in der Gemeinschaft so auszulegen ist, dass sich seine Tragweite auf das
beschränkt, was zur Wahrung der Interessen, die diese Bestimmung den Mitgliedstaaten zu
schützen erlaubt, unbedingt erforderlich ist (vgl. u. a. Urteil vom 16. Juni 1987 in der
Rechtssache 225/85, Kommission/Italien, Slg. 1987, 2625, Randnr. 7).
42.
Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass das spanische Recht den Kapitänen und Ersten
Offizieren der Handelsschiffe unter spanischer Flagge einerseits Rechte im Zusammenhang
mit der Aufrechterhaltung der Sicherheit und der Ausübung polizeilicher Befugnisse,
insbesondere bei Gefahren an Bord, verleiht, gegebenenfalls in Verbindung mit
Untersuchungs-, Zwangs- oder Sanktionsbefugnissen, die über den bloßen Beitrag zur
Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit, zu dem jedermann verpflichtet sein kann,
hinausgehen, und andererseits notarielle und personenstandsrechtliche Zuständigkeiten, die
sich nicht nur durch die Erfordernisse der Führung des Schiffes erklären lassen. Solche
Aufgaben stellen eine Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse zur Wahrung der
allgemeinen Belange des Flaggenstaats dar.
43.
Der Umstand, dass die Kapitäne von einer natürlichen oder juristischen Person des
Privatrechts beschäftigt werden, ist für sich genommen nicht geeignet, die Anwendbarkeit
des Artikels 39 Absatz 4 EG auszuschließen, da feststeht, dass die Kapitäne bei der Erfüllung
der ihnen übertragenen öffentlichen Aufgaben als Vertreter der öffentlichen Gewalt im
Dienst der allgemeinen Belange des Flaggenstaats tätig werden.
44.
Der Rückgriff auf die in Artikel 39 Absatz 4 EG vorgesehene Ausnahme von der
Freizügigkeit der Arbeitnehmer kann jedoch nicht allein damit gerechtfertigt werden, dass
nach dem nationalen Recht den Inhabern der fraglichen Stellen hoheitliche Befugnisse
zugewiesen sind. Hinzu kommen muss, dass diese Befugnisse von den Stelleninhabern
tatsächlich regelmäßig ausgeübt werden und nicht nur einen sehr geringen Teil ihrer
Tätigkeit ausmachen. Wie in Randnummer 41 des vorliegenden Urteils erwähnt, ist nämlich
die Tragweite dieser Ausnahme auf das zu beschränken, was zur Wahrung der allgemeinen
Belange des betreffenden Mitgliedstaats unbedingt erforderlich ist; diese würden nicht
gefährdet, wenn hoheitliche Befugnisse nur sporadisch oder ausnahmsweise von
Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten ausgeübt würden.
45.
Aus den Angaben des vorlegenden Gerichts und der spanischen Regierung geht hervor, dass
die Stellen des Kapitäns und des Ersten Offiziers der spanischen Handelsmarine Stellen sind,
bei denen die Aufgabe der Vertretung des Flaggenstaats in der Praxis gelegentlich
wahrgenommen wird.
46.
Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass das Seerechtsübereinkommen der Vereinten
Nationen nicht verlangt, dass der Kapitän eines Schiffes die Staatsangehörigkeit des
Flaggenstaats besitzt.
47.
Ferner ist zu prüfen, ob das Staatsangehörigkeitserfordernis, von dem der Zugang zu den
fraglichen Stellen abhängt, auf der Grundlage von Artikel 39 Absatz 3 EG gerechtfertigt
werden könnte.
48.
Insoweit genügt es, darauf hinzuweisen, dass das Recht der Mitgliedstaaten, die Freizügigkeit
aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit einzuschränken, nicht
bezweckt, Wirtschaftsbereiche wie den der Handelsmarine oder Berufe wie den des Kapitäns
oder des Ersten Offiziers von Handelsschiffen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung
von der Anwendung dieses Grundsatzes auszunehmen, sondern den Mitgliedstaaten die
Möglichkeit verschaffen soll, Personen die Einreise oder den Aufenthalt im Staatsgebiet zu
verwehren, deren Einreise oder Aufenthalt in diesem Staatsgebiet für sich genommen eine
Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit darstellen würde (vgl. in
Bezug auf die öffentliche Gesundheit Urteil vom 7. Mai 1986 in der Rechtssache 131/85,
Gül, Slg. 1986, 1573, Randnr. 17, und in Bezug auf die private Sicherheit Urteil
Kommission/Spanien, Randnr. 42).
49.
Folglich kann ein genereller Ausschluss vom Zugang zur Beschäftigung als Kapitän oder
Erster Offizier der Handelsmarine nicht mit den in Artikel 39 Absatz 3 EG angegebenen
Gründen gerechtfertigt werden.
50.
Unter Berücksichtigung des Vorstehenden ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass
Artikel 39 Absatz 4 EG dahin auszulegen ist, dass er einen Mitgliedstaat nur dann berechtigt,
seinen Staatsangehörigen die Stellen des Kapitäns und des Ersten Offiziers der
Handelsschiffe unter seiner Flagge vorzubehalten, wenn die den Kapitänen und Ersten
Offizieren dieser Schiffe zugewiesenen hoheitlichen Befugnisse tatsächlich regelmäßig
ausgeübt werden und nicht nur einen sehr geringen Teil ihrer Tätigkeit ausmachen.
Zur zweiten Frage
51.
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Artikel
39 EG dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat verwehrt, den Zugang der
Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten zu den Stellen des Kapitäns und des Ersten
Offiziers von Handelsschiffen unter seiner Flagge wie denen, auf die sich Artikel 8 Absatz 3
des Königlichen Dekrets Nr. 2062/1999 bezieht, einem Gegenseitigkeitsvorbehalt zu
unterstellen.
Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen
52.
Die spanische Regierung ist der Auffassung, dass sich die Befugnis der Mitgliedstaaten,
ihren Staatsangehörigen die Stellen des Kapitäns und des Ersten Offiziers der Schiffe ihrer
Handelsmarine vorzubehalten, aus einem ihnen durch Artikel 39 Absatz 4 EG eingeräumten
Recht ableite, das die Mitgliedstaaten gemäß den in ihren nationalen Rechtsordnungen
festgelegten Voraussetzungen ausüben oder einschränken könnten.
53.
Die französische Regierung weist darauf hin, dass Artikel 39 Absatz 4 EG, indem er die
Stellen, auf die er sich beziehe, aus dem Anwendungsbereich des Vertrages ausnehme, einen
Zuständigkeitsvorbehalt für die Mitgliedstaaten darstelle und sich insoweit von den u. a. in
den Artikeln 30 EG, 39 Absatz 3 EG und 46 EG vorgesehenen Ausnahmen von der
Warenverkehrsfreiheit, der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit unterscheide (in
diesem Sinne auch Urteil Kommission/Belgien, Randnr. 10). Die Mitgliedstaaten seien daher
nicht verpflichtet, die Maßnahmen, die sie in Bezug auf diese Stellen träfen, zu rechtfertigen,
abweichend von der Entscheidung des Gerichtshofes zum Rückgriff auf die in Artikel 30 EG
vorgesehenen Ausnahmen. Es stehe einem Mitgliedstaat frei, einige dieser Stellen für
Staatsangehörige bestimmter Mitgliedstaaten unter Voraussetzungen zu öffnen, die er für
zweckmäßig halte, z. B. unter dem Vorbehalt der Gegenseitigkeit.
54.
Der Gerichtshof habe zwar u. a. im Urteil Sotgiu festgestellt, dass Artikel 39 Absatz 4 EG
keine unterschiedliche Behandlung in Bezug auf Entlohnung oder sonstige
Arbeitsbedingungen rechtfertige, wenn ein Mitgliedstaat Arbeitnehmer aus anderen
Mitgliedstaaten einmal zu seiner öffentlichen Verwaltung zugelassen habe.
55.
Die vorliegende Rechtssache betreffe jedoch gerade die Modalitäten des Zugangs zur
Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung, so dass diese Rechtsprechung hier nicht
anwendbar sei. Indem die spanischen Behörden sich darauf beschränkt hätten, für die unter
Artikel 39 Absatz 4 EG fallenden Stellen eine Ausnahme vom
Staatsangehörigkeitserfordernis nur für die Staatsangehörigen bestimmter Mitgliedstaaten
vorzusehen, bei denen z. B. die Gegenseitigkeit verbürgt sei, hätten sie nicht den Grundsatz
aufgegeben, dass diese Stellen spanischen Staatsangehörigen vorbehalten seien, und daher
keine grundsätzliche Öffnung dieser Stellen vorgenommen.
56.
Die Kommission ist der Auffassung, dass die Mitgliedstaaten immer darauf verzichten
könnten, die Ausnahme in Artikel 39 Absatz 4 EG auf die unter diese Bestimmung fallenden
Stellen anzuwenden, und diese Stellen ganz oder teilweise den Staatsangehörigen anderer
Mitgliedstaaten zugänglich machen könnten. Im Fall des teilweisen Zugangs müsse dieser
jedoch objektiven und mit dem Gemeinschaftsrecht in Einklang stehenden Voraussetzungen
unterliegen.
57.
Das Gegenseitigkeitserfordernis sei mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung nicht
vereinbar (Urteile vom 22. Juni 1972 in der Rechtssache 1/72, Frilli, Slg. 1972, 457, Randnr.
19, und vom 2. Februar 1989 in der Rechtssache 186/87, Cowan, Slg. 1989, 195, Randnr.
20).
58.
Auch nach Ansicht der norwegischen Regierung ist, wenn ein Mitgliedstaat den
Arbeitnehmern anderer Mitgliedstaaten gestattet, unter Artikel 39 Absatz 4 EG fallende
Stellen auszufüllen, keine Diskriminierung dieser Arbeitnehmer zulässig. Allein die Tatsache
einer solchen Öffnung zeige, dass die Interessen, die die durch Artikel 39 Absatz 4 EG
erlaubte Ausnahme vom Grundsatz der Gleichbehandlung rechtfertigten, nicht einschlägig
seien (in diesem Sinne auch Urteil Sotgiu, Randnr. 4).
Antwort des Gerichtshofes
59.
Aus der Antwort auf die erste Frage ergibt sich, dass Stellen des Kapitäns und des Ersten
Offiziers der Handelsmarine wie die, auf die sich Artikel 8 Absatz 3 des Königlichen Dekrets
Nr. 2062/1999 bezieht, nicht unter die Ausnahme nach Artikel 39 Absatz 4 EG fallen
können.
60.
Folglich hat nach Artikel 39 Absatz 2 EG jeder Staatsangehörige eines Mitgliedstaats das
Recht, ohne jede auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung Zugang
zu diesen Stellen zu erhalten.
61.
Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Erfüllung der
Verpflichtungen, die der Vertrag oder das abgeleitete Recht den Mitgliedstaaten auferlegen,
nicht an eine Bedingung der Gegenseitigkeit geknüpft werden kann (vgl. u. a. Urteile vom
29. März 2001 in der Rechtssache C-163/99, Portugal/Kommission, Slg. 2001, I-2613,
Randnr. 22, und vom 16. Mai 2002 in der Rechtssache C-142/01, Kommission/Italien, Slg.
2002, I-4541, Randnr. 7).
62.
Daher ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Artikel 39 EG dahin auszulegen ist, dass er
es einem Mitgliedstaat verwehrt, den Zugang der Staatsangehörigen der anderen
Mitgliedstaaten zu den Stellen des Kapitäns und des Ersten Offiziers von Handelsschiffen
unter seiner Flagge wie denen, auf die sich Artikel 8 Absatz 3 des Königlichen Dekrets Nr.
2062/1999 bezieht, einem Gegenseitigkeitsvorbehalt zu unterstellen.
Kosten
63.
Die Auslagen der dänischen, der deutschen, der griechischen, der französischen, der
italienischen und der norwegischen Regierung sowie der Kommission, die vor dem
Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des
Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden
Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Tribunal Supremo mit Beschluss vom 4. Oktober 2001 vorgelegten Fragen
für Recht erkannt:
1. Artikel 39 Absatz 4 EG ist dahin auszulegen, dass er einen Mitgliedstaat nur dann
berechtigt, seinen Staatsangehörigen die Stellen des Kapitäns und des Ersten Offiziers
der Handelsschiffe unter seiner Flagge vorzubehalten, wenn die den Kapitänen und
Ersten Offizieren dieser Schiffe zugewiesenen hoheitlichen Befugnisse tatsächlich
regelmäßig ausgeübt werden und nicht nur einen sehr geringen Teil ihrer Tätigkeit
ausmachen.
2. Artikel 39 EG ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat verwehrt, den
Zugang der Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten zu den Stellen des Kapitäns
und des Ersten Offiziers von Handelsschiffen unter seiner Flagge wie denen, auf die
sich Artikel 8 Absatz 3 des Real Decreto 2062/1999, por el que se regula el nivel mínimo
de formación en profesiones marítimas, vom 30. Dezember 1999 bezieht, einem
Gegenseitigkeitsvorbehalt zu unterstellen.
Rodríguez Iglesias
Puissochet
Wathelet
Schintgen
Timmermans
Gulmann
Edward
La Pergola
Jann
Skouris
Macken
Colneric
von Bahr
Cunha Rodrigues
Rosas
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 30. September 2003.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias
1: Verfahrenssprache: Spanisch.
SCHLUSSANTRÄGE DER FRAU GENERALANWALT
CHRISTINE STIX-HACKL
vom 12. Juni 2003(1)
Rechtssache C-405/01
Colegio de Oficiales de la Marina Mercante Española
gegen
Administración del Estado
Beteiligte: Asociación de Navieros Españoles (ANAVE)
(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal Supremo [Spanien])
Auslegung des Artikels 39 EG - Kapitäne und Erste Offiziere in der Handelsmarine Staatsangehörigkeit - Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung - Gegenseitigkeitserfordernis
I - Einleitung
1.
In der vorliegenden Rechtssache möchte das Tribunal Supremo Spaniens (Dritte Kammer für
Verwaltungsstreitigkeiten) im Wesentlichen wissen, ob die Stellen des Kapitäns und des
Ersten Offiziers in der Handelsmarine unter die Ausnahme der Beschäftigung in der
öffentlichen Verwaltung gemäß Artikel 39 Absatz 4 EG fallen und ein Mitgliedstaat solche
Stellen daher den eigenen Staatsangehörigen vorbehalten darf.
2.
Insofern überschneiden sich die rechtlichen Fragestellungen im vorliegenden Fall mit jenen
in der Rechtssache C-47/02 (Albert Anker u. a. gegen Bundesrepublik Deutschland), welche
die Rechtmäßigkeit eines Staatsangehörigkeitsvorbehalts für Schiffsführer in der Kleinen
Seeschifffahrt betrifft und in der ich meine Schlussanträge ebenfalls heute vortrage.
3.
Darüber hinaus begehrt das Tribunal Supremo aber auch Auskunft darüber, ob der Zugang zu
den angeführten Stellen in der Handelsmarine, zumindest in bestimmten Fällen, für
Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten von einem Gegenseitigkeitserfordernis abhängig
gemacht werden darf.
II - Rechtlicher Rahmen
A - Gemeinschaftsrecht
4.
Artikel 39 EG, der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft
gewährleistet, findet gemäß seinem Absatz 4 keine Anwendung auf die Beschäftigung in der
öffentlichen Verwaltung.
5.
In Artikel 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68(2) wird das Recht auf den Zugang zur
Beschäftigung wie folgt näher ausgeführt:
(1) Jeder Staatsangehörige eines Mitgliedstaats ist ungeachtet seines Wohnorts berechtigt,
eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis im Hoheitsgebiet eines anderen
Mitgliedstaats nach den für die Arbeitnehmer dieses Staates geltenden Rechts- und
Verwaltungsvorschriften aufzunehmen und auszuüben.
(2) Er hat insbesondere im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats mit dem gleichen
Vorrang Anspruch auf Zugang zu den verfügbaren Stellen wie die Staatsangehörigen dieses
Staates.
6.
Nach Artikel 4 dieser Verordnung finden Rechts- und Verwaltungsvorschriften der
Mitgliedstaaten, durch welche die Beschäftigung von ausländischen Arbeitnehmern zahlenoder anteilsmäßig nach Unternehmen, Wirtschaftszweigen, Gebieten oder im ganzen
Hoheitsgebiet beschränkt wird, auf Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten keine
Anwendung.
B - Völkerrecht
7.
Das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1982 (im
Folgenden: Seerechtsübereinkommen) enthält u. a. auszugsweise folgende allgemeine
Bestimmungen bezüglich die Schifffahrt auf Hoher See:
Artikel 91
Staatszugehörigkeit der Schiffe
(1) Jeder Staat legt die Bedingungen fest, zu denen er Schiffen seine Staatszugehörigkeit
gewährt, sie in seinem Hoheitsgebiet in das Schiffsregister einträgt und ihnen das Recht
einräumt, seine Flagge zu führen. Schiffe besitzen die Staatszugehörigkeit des Staates, dessen
Flagge zu führen sie berechtigt sind. Zwischen dem Staat und dem Schiff muss eine echte
Verbindung bestehen.
...
Artikel 92
Rechtsstellung der Schiffe
(1) Schiffe fahren unter der Flagge eines einzigen Staates und unterstehen auf Hoher See
seiner ausschließlichen Hoheitsgewalt, mit Ausnahme der besonderen Fälle, die ausdrücklich
in internationalen Verträgen oder in diesem Übereinkommen vorgesehen sind. ...
Artikel 94
Pflichten des Flaggenstaats
(1) Jeder Staat übt seine Hoheitsgewalt und Kontrolle in verwaltungsmäßigen, technischen
und sozialen Angelegenheiten über die seine Flagge führenden Schiffe wirksam aus.
(2) Insbesondere hat jeder Staat
...
b) die Hoheitsgewalt nach seinem innerstaatlichen Recht über jedes seine Flagge führende
Schiff sowie dessen Kapitän, Offiziere und Besatzung in Bezug auf die das Schiff
betreffenden verwaltungsmäßigen, technischen und sozialen Angelegenheiten auszuüben.
(3) Jeder Staat ergreift für die seine Flagge führenden Schiffe die Maßnahmen, die zur
Gewährleistung der Sicherheit auf See erforderlich sind,
...
Gemäß Artikel 94 Absatz 5 ist ein Staat, wenn er solche Maßnahmen ergreift, verpflichtet,
die Beachtung der allgemein anerkannten internationalen Vorschriften, Verfahren und
Gebräuche sicherzustellen.
In Artikel 97 ist u. a. festgelegt, dass im Falle eines Zusammenstoßes oder eines anderen mit
der Führung eines Schiffes zusammenhängenden Ereignisses auf Hoher See ein allfälliges
Straf- oder Disziplinarverfahren gegen den Kapitän oder sonstige Besatzungsmitglieder nur
vor den Justiz- oder Verwaltungsbehörden des Flaggenstaates oder des Staates eingeleitet
werden [darf], dessen Staatsangehörigkeit die betreffende Person besitzt. In
Disziplinarangelegenheiten ist nur der Staat, der ein Kapitänspatent oder Ähnliches erteilt
hat, zuständig, die Entziehung einer solchen Urkunde zu erklären, auch wenn deren Inhaber
nicht die Staatsangehörigkeit des ausstellenden Staates besitzt.
C - Nationales Recht
1. Bestimmungen über die Anforderungen an die Schiffsbesatzungen
a) Das Gesetz 27/1992 vom 24. November 1992 über staatliche Häfen und die
Handelsmarine (im Folgenden: Gesetz 27/1992)
8.
Bezüglich der Besatzungen der Schiffe ist in Artikel 77 des Gesetzes 27/1992 Folgendes
vorgesehen:
1. Die Anzahl der Mitglieder der Besatzung der Schiffe und ihre berufliche Befähigung
müssen angemessen sein, um jederzeit die Sicherheit der Seefahrt und des Schiffes unter
Berücksichtigung seiner technischen Merkmale und seiner Nutzung gemäß den
Bedingungen, die im Verordnungswege festzulegen sind, zu gewährleisten.
2. Ebenso sind die Voraussetzungen der Staatsangehörigkeit der Besatzungen der Schiffe im
Verordnungswege festzulegen, auch wenn die Bürger der Mitgliedstaaten der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes Zugang zu den
Posten in den Besatzungen der Schiffe erhalten, die nicht die, wenn auch nur gelegentliche,
Ausübung staatlicher Funktionen impliziert, die spanischen Staatsangehörigen vorbehalten
bleibt.
9.
Die fünfzehnte Zusatzbestimmung zu diesem Gesetz lautet auszugsweise:
Die Besatzung der Schiffe, die im besonderen Register eingetragen sind, muss die folgenden
Merkmale aufweisen:
a) Staatsangehörigkeit: Der Kapitän und der Erste Offizier der Schiffe müssen auf jeden Fall
die spanische Staatsangehörigkeit besitzen.
Die übrige Besatzung muss zu wenigstens 50 v. H. aus spanischen Staatsangehörigen oder
Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Gemeinschaft bestehen.
...
b) Das Königliche Dekret 2062/1999 vom 30. Dezember 1999 (im Folgenden: Königliches
Dekret 2062/1999) über die Mindestanforderungen an die Ausbildung der Seeleute
10.
Artikel 8 des Dekrets lautet:
(1) Die Generaldirektion der Handelsmarine kann den Bürgern der Europäischen Union
unmittelbar die Befähigungsnachweise oder Spezialisierungszeugnisse anerkennen, die einer
dieser Staaten gemäß den anwendbaren nationalen Bestimmungen erteilt hat.
(2) Der Anerkennung eines Befähigungsnachweises, die durch die Erteilung eines
Berufsausweises der Handelsmarine förmlich vollzogen wird, bedarf es für den
unmittelbaren Zugang zu den Stellen der Besatzungen der spanischen Handelsschiffe, mit der
Ausnahme der Ausübung von Stellen, die die Ausübung staatlicher Funktionen implizieren
oder implizieren können, die kraft Gesetzes Spaniern zugewiesen sind, wie der Posten des
Kapitäns, des Schiffsführers oder des Ersten Brückenoffiziers, und die spanischen
Staatsangehörigen vorbehalten bleiben.
(3) Unbeschadet der Bestimmungen des vorangehenden Absatzes können die Bürger der
Europäischen Union, die einen von einem Mitgliedstaat erteilten Nachweis besitzen, den
Befehl über Handelsschiffe mit einer Bruttoregistertonnage unter 100 BRZ führen, wenn
diese Schiffe Fracht oder weniger als 100 Passagiere befördern, wenn sie ausschließlich
zwischen Häfen oder Punkten in Gebieten verkehren, über die Spanien Souveränität ausübt
oder souveräne Rechte oder Jurisdiktion ausübt, und wenn der Betroffene das Vorliegen der
Gegenseitigkeit in seinem Staat hinsichtlich spanischer Staatsangehöriger nachweist.
2. Vorschriften, mit denen den Kapitänen der Handelsmarine bestimmte Aufgaben und
Befugnisse zugewiesen werden
a) Vorschriften im Zusammenhang mit Sicherheits- und Polizeifunktionen
11.
Im Zusammenhang mit Sicherheits- und Polizeifunktionen ergeben sich zusammengefasst
folgende Regelungen:
Gemäß den Artikeln 110, 116.3.f und 127 des Gesetzes 27/1992 sind die Kapitäne dazu
ermächtigt, in Gefahrensituationen ausnahmsweise alle polizeilichen Maßnahmen zu
ergreifen, die sie als für die ordnungsgemäße Fahrt des Schiffes erforderlich erachten. Die
Missachtung solcher (und verschiedener anderer) Maßnahmen und Anordnungen stellt eine
sehr schwere Zuwiderhandlung dar. Der Kapitän hat die Zuwiderhandlungen gegen dieses
Gesetz im Bordjournal aufzuzeichnen.
Gemäß Artikel 610 des Handelsgesetzbuchs (Código de Comercio) ist mit der Stellung des
Kapitäns die Befugnis verbunden, an Bord gegen jene Personen Strafen zu verhängen, die
seinen Anordnungen nicht Folge leisten oder die es an Disziplin fehlen lassen. Die Vergehen
und Maßnahmen sind aufzuzeichnen, und das Dossier ist im nächsten Hafen, der angelaufen
wird, den zuständigen Behörden zu übergeben.
Nach Artikel 700 des Handelsgesetzbuchs haben sich die Passagiere, was die
Aufrechterhaltung der Ordnung an Bord betrifft, ausnahmslos den Anordnungen des
Kapitäns zu fügen.
b) Vorschriften über den öffentlichen Glauben und das Register der für den Personenstand
bestimmenden Tatsachen und bezüglich der im Todesfall an Bord zu treffenden Maßnahmen
Nach den Artikeln 52, 722 und 729 des Zivilgesetzbuchs (Código Civil) kann der Kapitän
oder Kommandant an Bord unter bestimmten Umständen Trauungen vornehmen sowie
Testamente beglaubigen und hat die Verwahrung von Testamenten und deren Übergabe an
die zuständigen Behörden sicherzustellen.
Gemäß Artikel 19 des Gesetzes über das Personenstandsregister (Ley de Registro Civil) kann
die Registrierung einer u. a. während einer Seereise vorkommenden Geburt, einer
Eheschließung oder eines Todesfalls durch die durch Verordnung bestimmten Behörden oder
Beamten vorgenommen werden. Die in solchen Geburtsurkunden getroffenen Feststellungen
genießen denselben öffentlichen Glauben, wie die anlässlich der Eintragung ins
Personenstandsregister vorgenommenen Tatsachenfeststellungen.
Gemäß Artikel 71 der Verordnung über das Personenstandsregister (Reglamento del Registro
Civil) kann der Akt, durch den die Geburt, die Eheschließung oder der Todesfall eingetragen
wird, für den Fall, dass diese Ereignisse während einer Seereise stattfinden, durch den
Kapitän oder den Kommandanten des Schiffes erfolgen. Artikel 72 der Verordnung sieht vor,
dass jene bezüglich der Feststellung der Geburt, der Verwandtschaft, des Ablebens oder der
Fehlgeburt sowie der Erteilung der Bestattungserlaubnis dieselben Rechte und Pflichten
haben wie ein Standesbeamter.
Gemäß Artikel 705 des Handelsgesetzbuchs muss der Kapitän im Falle des Ablebens einer
Person an Bord die Sterbeurkunde errichten und ist nach Ablauf von 24 Stunden danach dazu
ermächtigt, die notwendigen Maßnahmen bezüglich des Leichnams zu treffen.
Gemäß Artikel 627 des Handelsgesetzbuchs tritt der Erste Offizier in die Rechte, Pflichten
und Verantwortlichkeiten des Kapitäns ein, wenn dieser verhindert ist.
III - Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
12.
Nach spanischem Recht ist die Dritte Kammer des vorlegenden Gerichts, das Tribunal
Supremo, für Nichtigkeitsklagen zuständig, die von natürlichen oder juristischen Personen
unter bestimmten Voraussetzungen gegen allgemeine, vom Ministerrat erlassene
Rechtsvorschriften, zu denen Königliche Dekrete zählen, erhoben werden können. In einem
solchen Verfahren wird die fragliche Vorschrift allgemeiner Geltung im Hinblick auf
Formfehler oder materielle Fehler, die zu ihrer Rechtswidrigkeit führen können, überprüft
und gegebenenfalls für nichtig erklärt.
13.
Im Ausgangsverfahren wendet sich das Colegio de Oficiales de la Marina Mercante Española
(Offizierskollegium der Spanischen Handelsmarine, im Folgenden: Offizierskollegium) mit
einer Nichtigkeitsklage gegen bestimmte Vorschriften des Königlichen Dekrets 2062/1999,
insbesondere dessen Artikel 8 Absatz 3.
14.
In dieser Bestimmung, mit der Staatsbürgern anderer Mitgliedstaaten die Möglichkeit
eröffnet wird, den Befehl über bestimmte Handelsschiffe zu führen, sieht das
Offizierskollegium eine Verletzung der Kollegial- und Kollektivinteressen der Offiziere der
Spanischen Handelsmarine und einen Verstoß gegen Normen höheren Rechts, namentlich
gegen Artikel 77 des Gesetzes 27/1992.
15.
Laut den Ausführungen des vorlegenden Gerichts im Vorlagebeschluss stellt sich der
rechtliche Rahmen bezüglich des Zugangs zu den Stellen des Kapitäns und des Ersten
Offiziers auf spanischen Handelsschiffen so dar, dass in Artikel 77 Absatz 2 des Gesetzes
27/1992 - der sich auf die, wenn auch nur gelegentliche, Ausübung staatlicher Funktionen
beziehe - sowie in Artikel 8 Absatz 2 des Königlichen Dekrets 2062/1999 ein unbedingter
Vorbehalt dieser Stellen zugunsten spanischer Staatsangehöriger vorgesehen sei. Das
vorlegende Gericht geht dabei davon aus - und dies sei auch im Ausgangsverfahren unstreitig
- dass Kapitäne und Erste Offiziere der Handelsschiffe im Allgemeinen gelegentlich
staatliche Funktionen wahrnehmen, die entweder mit sicherheitspolizeilichen Befugnissen zu
tun haben oder in Spanien üblicherweise Beamten zugewiesen sind.
16.
Zum anderen werde gewissermaßen als Ausnahme zu diesem grundsätzlichen
Staatsangehörigkeitsvorbehalt mit Artikel 8 Absatz 3 des Königlichen Dekrets 2062/1999
den Angehörigen anderer Mitgliedstaaten der Zugang zu diesen Stellen unter bestimmten
Bedingungen bzw. in Bezug auf bestimmte Schiffe der Handelsmarine geöffnet.
17.
Das vorlegende Gericht führt dazu aus, dass dieser Regelung offenbar eine relativierte
Konzeption der Ausübung staatlicher Funktionen durch die Kapitäne derartiger
Handelsschiffe zugrunde liege. Die Begrenzung des Vorbehalts sei hier gerechtfertigt, weil
angenommen werden könne, dass die Befugnisse eines Kapitäns unter solchen Umständen
relativiert seien und die Gelegenheiten, jene staatlichen Funktionen auszuüben, die ihm im
Allgemeinen zugewiesen sind, sehr selten bzw. beinahe hypothetisch sein würden. Das
vorlegende Gericht weist auch darauf hin, dass im Verfahren der Erarbeitung dieser
Regelung ursprünglich eine Bestimmung vorgesehen gewesen sei, wonach der Befehl über
solche Handelsschiffe nicht als Ausübung staatlicher Funktionen angesehen wird. Diese
Passage sei jedoch auf Einwand des Offizierskollegiums in den endgültigen Text nicht
aufgenommen worden.
18.
Das vorlegende Gericht fragt sich vor diesem Hintergrund mit Blick auf Artikel 39 EG und
die diesbezügliche Rechtsprechung des Gerichtshofes, ob es überhaupt mit dem
Gemeinschaftsrecht vereinbar sein könne, die Stellen des Kapitäns und des Ersten Offiziers
eines Handelsschiffes den eigenen Staatsangehörigen vorzubehalten und wenn ja, ob dies für
jede Art oder nur für bestimmte Arten von Handelsschiffen zulässig sei, wenn bei dieser
Fragestellung davon ausgegangen werde, dass die Inhaber dieser Stellen an Bord gelegentlich
Funktionen wahrnehmen könnten, die entweder mit sicherheitspolizeilichen Befugnissen zu
tun hätten oder in Spanien üblicherweise Beamten zugewiesen seien.
19.
Hinsichtlich der Bedeutung dieser Fragestellung für die Entscheidung im
Ausgangsrechtsstreit führt das vorlegende Gericht aus, dass im Falle der Zulässigkeit eines
uneingeschränkten Staatsangehörigkeitsvorbehalts Artikel 8 Absatz 2 des Königlichen
Dekrets 2062/1999 sowie Artikel 77 Absatz 2 des Gesetzes 27/1992 (und die fünfzehnte
Zusatzbestimmung zu diesem Gesetz), wo jeweils ein Vorbehalt zugunsten der spanischen
Staatsangehörigen vorgesehen ist, als mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar zu betrachten
wären und sich in diesem Fall erst recht der in Artikel 8 Absatz 3 dieses Dekrets enthaltene,
bloß begrenzte Staatsangehörigkeitsvorbehalt im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht
befände.
20.
Das vorlegende Gericht gibt weiters an, dass ein eventueller Widerspruch zu Artikel 77
Absatz 2 des Gesetzes 27/1992 nicht allein entscheidend für die Ungültigkeit des Artikels 8
Absatz 3 des Königlichen Dekrets 2062/1999 wäre, wenn die tatsächliche rechtliche
Deckung der letztgenannten Bestimmung in einem Erfordernis des Gemeinschaftsrechts läge.
21.
Was sodann das Gegenseitigkeitserfordernis in Artikel 8 Absatz 3 des Königlichen Dekrets
2062/1999 betrifft, so führt das vorlegende Gericht aus, dass es ihm nicht möglich erscheine,
den Zugang zu den Stellen des Kapitäns und des Ersten Offiziers von bestimmten
Handelsschiffen durch ein Gegenseitigkeitserfordernis einzuschränken, wenn die
Mitgliedstaaten den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten diesen Zugang zu gewähren
haben.
22.
Unter diesen Umständen hat das Tribunal Supremo (Dritte Kammer) das Verfahren
ausgesetzt und dem Gerichtshof mit Beschluss vom 4. Oktober 2001 die folgenden Fragen
zur Vorabentscheidung gemäß Artikel 234 EG vorgelegt:
1. Räumen Artikel 39 EG (früher Artikel 48 EG-Vetrag) und die Artikel 1 und 4 der
Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der
Arbeitnehmer in der Gemeinschaft einem Mitgliedstaat die Möglichkeit ein, die Stellen des
Kapitäns und des Ersten Offiziers seiner Handelsschiffe den eigenen Staatsangehörigen
vorzubehalten? Wenn dies bejaht wird: Kann ein solcher Vorbehalt uneingeschränkt
formuliert werden (für jede Art von Handelsschiffen), oder ist er nur in solchen Fällen
rechtmäßig, in denen vorhersehbarer- und vernünftigerweise die tatsächliche Ausübung
bestimmter staatlicher Funktionen durch die Kapitäne oder die Ersten Offiziere an Bord
erforderlich sein kann?
2. Wenn die innerstaatlichen Vorschriften eines Mitgliedstaats von der Vorbehaltung dieser
Stellen für seine eigenen Staatsangehörigen bestimmte Fälle der Handelsschifffahrt (im
Hinblick auf Faktoren wie die Bruttotonnage des Schiffes, die Ladung oder die Anzahl der
Passagiere und die Merkmale der Fahrten) ausnehmen und den Zugang von
Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu diesen Stellen
zulassen, darf dann dieser Zugang dem Gegenseitigkeitsvorbehalt unterstellt werden?
IV - Zur ersten Vorlagefrage
23.
Wie den Ausführungen im Vorlagebeschluss zu entnehmen ist, möchte das vorlegende
Gericht mit seiner ersten Frage im Grunde erfahren, ob die in Artikel 8 Absatz 3 des
Königlichen Dekrets 2062/1999 enthaltene grundsätzliche Öffnungsregelung einem
Erfordernis des Gemeinschaftsrechts entspricht.
24.
Der Gerichtshof ist im Rahmen von Artikel 234 EG weder zur Auslegung innerstaatlicher
Rechts- oder Verwaltungsvorschriften noch zu Äußerungen über deren Vereinbarkeit mit
dem Gemeinschaftsrecht befugt. Er kann indessen dem vorlegenden Gericht Hinweise zur
Auslegung des Gemeinschaftsrechts geben, die es diesem ermöglichen, die ihm vorliegende
Rechtsfrage zu beantworten(3). Dazu kann der Gerichtshof die Vorlagefrage gegebenenfalls
entsprechend umformulieren(4).
25.
Aufgrund der im Vorlagebeschluss enthaltenen Angaben empfiehlt es sich, die erste
Vorlagefrage zusammenzufassen und umzuformulieren:
Sind Artikel 39 EG und die Artikel 1 und 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 so
auszulegen, dass sie einem Mitgliedstaat das Recht einräumen, Stellen des Kapitäns und des
Ersten Offiziers wie solche, auf die sich Artikel 8 Absatz 3 des Königlichen Dekrets
2062/1999 bezieht, den eigenen Staatsangehörigen vorzubehalten?
A - Wesentliche Vorbringen der Beteiligten
26.
In der vorliegenden Rechtssache haben die spanische, die deutsche, die französische, die
griechische, die dänische, die italienische und die norwegische Regierung sowie die
Kommission Stellungnahmen abgegeben.
27.
Mit Ausnahme der norwegischen Regierung sind alle Beteiligten im Wesentlichen der
Auffassung, dass es mit Artikel 39 EG vereinbar ist, die Stellen des Kapitäns und des Ersten
Offiziers in der Handelsmarine den eigenen Staatsangehörigen vorzubehalten.
28.
Sie stützen sich dabei in erster Linie auf die Ausnahme für die Beschäftigung in der
öffentlichen Verwaltung gemäß Artikel 39 Absatz 4 EG und verweisen darauf, dass nach
ständiger Rechtsprechung - sowie nach der Mitteilung der Kommission(5) - darunter
diejenigen Stellen zu verstehen seien, die auf eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an
der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung der allgemeinen Belange
des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind und die deshalb ein
Verhältnis besonderer Verbundenheit des jeweiligen Stelleninhabers zum Staat sowie die
Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten voraussetzen würden, die dem
Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen. Sie tragen vor, dass daher die Kapitäne der
Handelsmarine (und die sie vertretenden Ersten Offiziere) aufgrund der besonderen
hoheitlichen Befugnisse und Aufgaben, die mit ihrer Funktion verbunden seien, als
Beschäftigte in der öffentlichen Verwaltung unter die Ausnahme des Artikels 39 Absatz 4
EG fielen.
29.
Was im Einzelnen diese Befugnisse und Aufgaben betrifft, so weist die spanische Regierung
darauf hin, dass die Stellung eines Kapitäns in der Handelsmarine durch eine doppelte
Rechtsposition gekennzeichnet sei: Einerseits stehe dieser als leitender Angestellter in einem
besonderen privatrechtlichen Arbeitsverhältnis zum Reeder. Als solcher stünden ihm auf dem
als autonome Arbeitseinheit anzusehenden Schiff weitgehende unternehmerische Leitungsund Vertretungsbefugnisse zu. Andererseits verweist die spanische Regierung auf eine Reihe
von gesetzlichen Bestimmungen, wonach der Kapitän bestimmte Sicherheits- und
Polizeifunktionen sowie notarielle und standesamtliche Aufgaben wahrzunehmen habe.
Insofern nehme der Kapitän Amtshandlungen vor, die ihn den staatlichen Beamten
gleichstellen, welche normalerweise mit diesen Aufgaben betraut seien (Polizei, Justiz,
Standesamt usw.).
30.
In diesem Sinne äußern sich auch die übrigen Beteiligten und legen dar, dass den Kapitänen
in den meisten Mitgliedstaaten hoheitliche, insbesondere polizeiliche Befugnisse übertragen
seien und ihnen im Unterschied zur übrigen Schiffsbesatzung eine besondere öffentliche
Funktion zukomme. Sie begründen dies im Wesentlichen übereinstimmend mit den
besonderen Erfordernissen der Seefahrt, welche sich aus dem erhöhten Gefahrenpotenzial auf
Hoher See und vor allem aus der Tatsache ergebe, dass sich das Schiff fern des Zugriffs
staatlicher Behörden befinden könne und daher, wie die griechische Regierung ausführt, als
schwimmende Stadt eines Repräsentanten der öffentlichen Gewalt und des öffentlichen
Interesses bzw., wie es die Kommission ausdrückt, einer öffentlichen Verwaltung an Bord in
Person des Kapitäns bedürfe.
31.
Für die norwegische Regierung sind dagegen die öffentlichen Befugnisse, die
Schiffskapitänen traditionell eingeräumt werden, für die Anwendbarkeit der Ausnahme
gemäß Artikel 39 Absatz 4 EG zu begrenzt und inhaltlich zu wenig bedeutsam. Sie weist
darauf hin, dass die Notwendigkeit, von solchen Befugnissen Gebrauch zu machen, aufgrund
der heutigen technischen Möglichkeiten geringer sei als früher, als Schiffe meist viel länger
auf See und Anweisungen nationaler Behörden viel schwieriger zu erhalten gewesen seien.
Außerdem führen heutzutage weltweit mehr als die Hälfte der Schiffe unter Billigflaggen,
und die Tatsache, dass weder die Besatzung noch der Kapitän dieser Schiffe die Nationalität
des Flaggenstaats hätten, habe im Allgemeinen zu keinen besonderen Problemen geführt.
32.
Dagegen bieten nach Ansicht der spanischen und der deutschen Regierung die modernen
Kommunikationsmöglichkeiten keinen Ersatz für die physische Anwesenheit eines
entscheidungsbefugten Vertreters der öffentlichen Gewalt.
33.
Die Kommission begründet zudem die Zulässigkeit eines Staatsangehörigkeitsvorbehalts der
Positionen des Kapitäns und des Ersten Offiziers mit den hoheitlichen Befugnissen, welche
aufgrund des Seerechtsübereinkommens mit diesen Stellen verbunden seien. Nach diesem
Übereinkommen sei nämlich jeder Staat dazu verpflichtet, seine - auf Hoher See
ausschließliche - Hoheitsgewalt über jedes seine Flagge führende Schiff sowie dessen
Kapitän, Offiziere und Besatzung auszuüben. Da die Schiffe die Staatszugehörigkeit des
Staates besitzen würden, dessen Flagge sie führten, müsse zwischen dem Staat und dem
Schiff eine echte Verbindung (genuine link) hergestellt werden. Aus diesen Gründen hätten
die Staaten den Kapitän und seine Vertretung mit umfangreichen Befugnissen beliehen,
welche diese im Namen der Staaten ausübten.
34.
Auch die deutsche und die spanische Regierung argumentieren mit den spezifischen
völkerrechtlichen Verantwortungen, die dem Flaggenstaat insbesondere aufgrund des
Seerechtsübereinkommens zukämen und welche die besondere Loyalität des Kapitäns
erforderlich machten, die nur im Rahmen des Staatsangehörigkeitsbandes bestünde.
35.
Mehrere Beteiligte äußern sich ferner dazu, ob die Stellen der Kapitäne, zumal es sich um
Angestellte privater Reedereien handle, auch angesichts der Urteile des Gerichtshofes in den
Rechtssachen C-283/99(6) und C-114/97(7), wonach der Begriff der Beschäftigung in der
öffentlichen Verwaltung nicht die Beschäftigung im Dienst einer natürlichen oder
juristischen Person des Privatrechts umfasse, unter die Ausnahme von Artikel 39 Absatz 4
EG fielen.
36.
Die Kommission vertritt in diesem Zusammenhang die Auffassung, dass diese
Rechtsprechung, selbst wenn der Gerichtshof damit eine generelle Festlegung treffen wollte,
nicht unbedingt auf den besonderen Fall der Kapitäne übertragbar sei. Dieser Fall
unterscheide sich nämlich von den bisher vom Gerichtshof entschiedenen Fällen in dem
wesentlichen Punkt, dass das Schiff den Zugriffsmöglichkeiten der im engeren Sinne
hoheitlichen Organe entrückt sein könne. Unter diesen Umständen könne es gerechtfertigt
sein, einen Privaten, soweit ihm im Interesse der allgemeinen Belange des Staates
entsprechende hoheitliche Befugnisse verliehen worden seien, auch ohne institutionelle
Verbindung zur Verwaltung als Beschäftigten der öffentlichen Verwaltung anzusehen.
37.
Diese Sichtweise vertreten im Wesentlichen auch die Regierungen Frankreichs, Dänemarks,
Griechenlands und Deutschlands.
38.
Die französische Regierung verweist diesbezüglich darauf, dass die Beschäftigten in den
Sicherheitsdiensten, um die es in den genannten Rechtssachen gegangen sei, über keine
hoheitlichen Befugnisse verfügten und ihre Tätigkeiten allein für ihren privaten Arbeitgeber
und ergänzend zur Staatsgewalt ausgeübt hätten, während der Kapitän der Handelsmarine mit
öffentlichen Funktionen ausgestattet sei und diese Aufgaben für den Staat und nicht für den
Reeder ausübe.
39.
Die griechische Regierung fügt hinzu, dass der Vertrag, auf dessen Grundlage ein Kapitän in
der Handelsmarine beschäftigt werde, sowohl privatrechtliche als auch öffentlich-rechtliche
Elemente aufweise, zumal er zwar zwischen Kapitän und Reeder, jedoch unter Einbeziehung
der staatlichen Behörden, zustande komme. Diese überprüften nämlich die Eignung des
Kapitäns und trügen den Vertrag in das öffentliche Register ein. Würde es sich um ein rein
privatrechtliches Verhältnis handeln und fungierte der Kapitän nicht als Hoheitsträger,
müsste der Staat einen Beamten auf das Schiff entsenden, um die allgemeinen öffentlichen
Interessen zu wahren.
40.
Auch die deutsche Regierung betrachtet den Kapitän, obwohl er in der Regel kein
Beschäftigter der öffentlichen Verwaltung sei, als beliehenes Organ der (mittelbaren)
Staatsverwaltung. Dies entspreche auch dem funktionellen Verwaltungsbegriff, welcher der
ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes zugrunde liege.
41.
Was sodann den Aspekt angeht, ob der Staatsangehörigkeitsvorbehalt nur in solchen Fällen
rechtmäßig sei, in denen vorhersehbarer- und vernünftigerweise die tatsächliche Ausübung
bestimmter staatlicher Funktionen durch die Kapitäne oder die Ersten Offiziere an Bord
erforderlich sein kann, so schlägt die spanische Regierung vor, dies zu bejahen. Sie führt
dazu aus, dass sie den grundsätzlich geltenden Staatsangehörigkeitsvorbehalt für spanische
Kapitäne ausnahmsweise für die in Artikel 8 Absatz 3 des Königlichen Dekrets
beschriebenen Fälle zurückgenommen habe, in denen die Wahrscheinlichkeit der Ausübung
hoheitlicher Befugnisse sehr gering sei. Die spanische Regierung hat in der mündlichen
Verhandlung betont, dass es sich bei den Schiffen, auf die sich diese Bestimmung beziehe,
um kleinere Schiffe mit eingeschränktem Aktionsradius handle, die innerhalb des spanischen
Hoheitsgebiets verkehrten, sodass die Vornahme hoheitlicher Akte leicht verschoben werden
könne. Es seien dies Schiffe, die im Freizeitbereich und im Tourismus zum Einsatz kämen,
wie beispielsweise für Exkursionen zwischen den Kanarischen Inseln oder den Balearen.
42.
Die übrigen Beteiligten äußern sich dagegen überwiegend in dem Sinne, dass es, soweit
Kapitäne in einem Mitgliedstaat mit hoheitlichen Befugnissen und der Wahrnehmung
staatlicher Vertretungsaufgaben betraut seien, nicht auf Faktoren wie die Größe des Schiffes
oder die Wahrscheinlichkeit der Ausübung dieser Funktionen ankommen könne. Die
staatliche Vertretungsfunktion habe vielmehr einen permanenten Charakter, und bedeutend
sei allein, dass der Kapitän über derartige Befugnisse und Aufgaben verfüge. Der Umstand,
dass diese von marginaler Bedeutung seien bzw. das hoheitliche Gepräge der Stelle spiele
keine Rolle.
43.
Die Regierungen Spaniens, Frankreichs, Griechenlands und Italiens berufen sich schließlich
subsidiär - bzw. im Falle der italienischen Regierung hauptsächlich - auf den Vorbehalt der
Gründe der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Sicherheit gemäß Artikel 39 Absatz 3 EG.
44.
Die spanische und die französische Regierung entnehmen diesen Ansatz der Antwort der
Kommission auf die schriftliche Anfrage Nr. 2710/96 von Herrn Klaus Rehder bezüglich des
spanischen Schiffsregisters(8).
45.
Die Kommission widerspricht jedoch dieser Rechtfertigungsmöglichkeit im vorliegenden
Fall. Sie komme, wie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes(9) und der Richtlinie
64/221/EWG(10) hervorgehe, ausschließlich für staatliche Maßnahmen in Bezug auf das
persönliche Verhalten von Einzelpersonen in Betracht, und man könne sich daher nicht auf
diese Bestimmung berufen, um einen ganzen Bereich oder einen Beruf vom Grundsatz der
Freizügigkeit auszunehmen, mit der Begründung, der Kapitän habe an Bord die öffentliche
Ordnung und Sicherheit zu wahren.
B - Würdigung
46.
Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts handelt es sich bei den Kapitänen und Ersten
Offizieren in der spanischen Handelsmarine um abhängig Beschäftigte der Reedereien. Der
Zugang zu derartigen Stellen fällt daher grundsätzlich unter die Bestimmungen des
Gemeinschaftsrechts über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer.
47.
Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer umfasst gemäß Artikel 39 Absatz 2 EG insbesondere
auch ein Verbot der Ungleichbehandlung in Bezug auf den Zugang zur Beschäftigung. Ein
Staatsangehörigkeitsvorbehalt bezüglich der Beschäftigung als Kapitän oder Erster Offizier
auf einem Handelsschiff als offen diskriminierende Zugangsbeschränkung kann daher nur
nach Maßgabe der Ausnahmeregelungen des Artikels 39 Absatz 3 oder Absatz 4 EG mit dem
Grundsatz der Freizügigkeit und der Gleichbehandlung der Arbeitnehmer vereinbar sein.
48.
Gleiches gilt auch im Hinblick auf die in der Vorlagefrage erwähnten Artikel 1 und 4 der
Verordnung Nr. 1612/68, da mit diesen Bestimmungen nur bestimmte Aspekte des bereits
aus Artikel 39 EG folgenden Rechts auf den Zugang zur Beschäftigung verdeutlicht und
durchgeführt werden(11).
49.
Im Folgenden ist also zu untersuchen, ob ein Staatsangehörigkeitsvorbehalt für die Stellen
des Kapitäns und des Ersten Offiziers auf Schiffen der spanischen Handelsmarine auf der
Grundlage der Ausnahmebestimmungen des Artikels 39 Absatz 3 oder Absatz 4 EG zulässig
sein kann. Da Absatz 3 des Artikels 39 EG nur zur Anwendung kommen kann, soweit die
Ausnahme für die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung gemäß Absatz 4 dieses
Artikels nicht greift(12), werde ich zunächst auf die letztgenannte Bestimmung eingehen.
1. Zur Ausnahme für die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung gemäß Artikel 39
Absatz 4 EG
50.
Artikel 39 Absatz 4 EG nimmt die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung von der
Anwendung der Regelungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer aus und eröffnet damit
den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten den Zugang
zu den in diesen Bereich fallenden Stellen zu verwehren(13).
51.
Wie hier auch das Vorlagegericht ausgeführt hat, hatte der Gerichtshof bereits über die
Zulässigkeit eines Staatsangehörigkeitserfordernisses in Bezug auf Stellen in der
Seeschifffahrt, namentlich in der Handelsmarine, im Anwendungsbereich der
Arbeitnehmerfreizügigkeit zu entscheiden.
52.
Im Urteil Kommission/Belgien stellte der Gerichtshof das Vorliegen einer
Vertragsverletzung insoweit fest, als bestimmte Arbeitsplätze in der Seeschifffahrt den
eigenen Staatsangehörigen vorbehalten wurden. Entsprechend dem Klageantrag der
Kommission waren in diesem Verfahren jedoch gerade die Stellen des Ersten Offiziers und
des Kapitäns nicht verfahrensgegenständlich und aus diesem Grund im Urteilstenor
ausdrücklich ausgenommen(14).
53.
In der Rechtssache Kommission/Griechenland hat der Gerichtshof ein allgemeines, für
sämtliche Stellen (u. a.) im Bereich des Seeverkehrs bestehendes
Staatsangehörigkeitserfordernis als nicht durch die Ausnahme des Artikels 39 Absatz 4 EG
gedeckt angesehen.
54.
Zur Begründung verwies der Gerichtshof darauf, dass Stellen (u. a.) im Bereich des
Seeverkehrs im Allgemeinen von den spezifischen Tätigkeiten der öffentlichen Verwaltung
weit entfernt [sind] ...(15).
55.
Damit hat der Gerichtshof im Urteil Kommission/Griechenland aber nicht ausgeschlossen,
dass bestimmte Stellen in diesem Bereich unter die Ausnahmebestimmung gemäß Artikel 39
Absatz 4 EG fallen können.
56.
Bevor ich näher auf die im vorliegenden Fall im Einzelnen aufgeworfenen Rechtsfragen
eingehe, möchte ich überblicksmäßig die Eckpfeiler des Auslegungsansatzes des
Gerichtshofes zu Artikel 39 Absatz 4 EG in Erinnerung rufen.
a) Zur Auslegung des Begriffes der Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung nach der
Rechtsprechung im Allgemeinen
57.
Die jüngere Rechtsprechung und die Tatsache, dass es sich nach den Ausführungen des
vorlegenden Gerichts und der spanischen Regierung bei dem Kapitän und dem Ersten
Offizier auf Schiffen der spanischen Handelsmarine um Angestellte privater Reedereien
handelt, hat unter den Beteiligten zu einer Wiederbelebung der weit zurückreichenden
Diskussion geführt, ob der Begriff der Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung in
Artikel 39 Absatz 4 EG funktionell oder institutionell auszulegen sei.
58.
Vorauszuschicken ist, dass der Begriff der öffentlichen Verwaltung, weil Artikel 39 Absatz 4
EG eine Ausnahme vom Grundprinzip der Freizügigkeit und der Nichtdiskriminierung der
Arbeitnehmer darstellt, eng auszulegen ist(16).
59.
Außerdem muss der Begriff der öffentlichen Verwaltung im Sinne von Artikel 39 Absatz 4
EG in der gesamten Gemeinschaft eine einheitliche Auslegung und Anwendung erfahren, um
zu verhindern, dass die praktische Wirksamkeit und die Bedeutung der
Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und über die
Gleichbehandlung der Angehörigen aller Mitgliedstaaten durch Auslegungen des Begriffs
der öffentlichen Verwaltung geschmälert werden, die allein aus dem nationalen Recht
gewonnen werden und die Anwendung des Gemeinschaftsrechts vereiteln würden(17).
60.
Die Bestimmung dieses Begriffes darf nämlich, wie der Gerichtshof festgestellt hat, nicht
völlig in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt werden(18).
61.
Aus diesem Grunde ist beispielsweise nicht auf die Art der Rechtsverhältnisse zwischen dem
Arbeitnehmer und der ihn beschäftigenden Verwaltung abzustellen, weil diesbezügliche
rechtliche Qualifizierungen je nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften verschiedenen
Inhalt haben [können] und deswegen für die Bedürfnisse des Gemeinschaftsrechts als
Auslegungsmerkmal ungeeignet [sind](19).
62.
Artikel 39 Absatz 4 EG ist jedenfalls funktionell in dem Sinne auszulegen, dass auf die Art
der mit der Stelle verbundenen Aufgaben und Verantwortlichkeiten abzustellen ist(20).
63.
In den Anwendungsbereich von Artikel 39 Absatz 4 EG können nur Stellen fallen, die
typisch für die spezifischen Tätigkeiten der öffentlichen Verwaltung sind(21).
64.
Unter diesen Stellen sind nach ständiger Rechtsprechung diejenigen zu verstehen, die eine
unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der
Wahrnehmung solcher Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen
Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind(22). Als
derartige Tätigkeiten hat der Gerichtshof solche anerkannt, die ein Verhältnis besonderer
Verbundenheit des jeweiligen Stelleninhabers zum Staat sowie die Gegenseitigkeit der
Rechte und Pflichten voraussetzen, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen(23).
65.
Trotz des dargelegten funktionellen Auslegungsansatzes des Gerichtshofes fallen aber
offenbar solche Stellen ungeachtet der mit ihnen verbundenen Aufgaben grundsätzlich aus
dem Anwendungsbereich der Ausnahme gemäß Artikel 39 Absatz 4 EG heraus, die schon
institutionell nicht der öffentlichen Verwaltung des Staates zuzuordnen sind.
66.
Dies ist zumindest aus der jüngeren Rechtsprechung zu dieser Bestimmung abzuleiten, auf
welche insbesondere die Kommission verwiesen hat. So hat der Gerichtshof in seinem Urteil
in der Rechtssache C-114/97 die Anwendbarkeit des Artikels 39 Absatz 4 EG - anders als im
Zusammenhang mit der Ausnahmebestimmung des Artikels 45 EG - ohne Prüfung von
Befugnissen und Aufgaben mit der bloßen Feststellung verneint, dass die privaten
Sicherheitsunternehmen nicht zur öffentlichen Verwaltung gehören(24).
67.
In seinem Urteil in der Rechtssache C-283/99 hat der Gerichtshof schließlich die
Ausnahmebestimmung gemäß Artikel 39 Absatz 4 EG ausdrücklich von den
Vertragsbestimmungen über die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit
abgegrenzt, die Ausnahmen für Tätigkeiten vorsehen, die mit der Ausübung öffentlicher
Gewalt verbunden sind, und festgestellt, dass der Begriff Beschäftigung in der öffentlichen
Verwaltung' nicht die Beschäftigung im Dienst einer natürlichen oder juristischen Person des
Privatrechts, unabhängig von den Aufgaben, die der Beschäftigte zu erfüllen hat,
umfasse(25).
68.
Diese Aussage des Gerichtshofes ist klar und eindeutig. Fest steht, dass der Gerichtshof diese
Wachleute allein unter Bezugnahme auf ihre Beschäftigung im Dienst einer Person des
Privatrechts vom Anwendungsbereich des Artikels 39 Absatz 4 EG ausgeschlossen hat.
69.
Dieser im Grunde an die organisatorische bzw. institutionelle Zuordenbarkeit anknüpfende
Ansatz steht außerdem nicht unbedingt im Widerspruch zur vorangegangenen
Rechtsprechung des Gerichtshofes.
70.
Dieser vorangegangenen Rechtsprechung lässt sich nämlich entnehmen, dass mit dem
funktionellen Kriterium verhindert werden soll, dass Stellen, die zwar dem Staat oder
anderen öffentlich-rechtlichen Einrichtungen zuzuordnen sind, jedoch keine Mitwirkung bei
der Erfüllung von Aufgaben mit sich bringen, die zur öffentlichen Verwaltung im
eigentlichen Sinne gehören, unter die Ausnahme in Artikel 39 Absatz 4 EG fallen(26). Dies
vor dem Hintergrund, dass die Träger hoheitlicher Befugnisse in den einzelnen
Mitgliedstaaten wirtschaftliche und soziale Aufgaben übernommen haben oder in Bereichen
tätig werden, die nicht den typischen Aufgaben der öffentlichen Verwaltung zugerechnet
werden können(27).
71.
Der Gerichtshof hat somit vor dem Urteil in der Rechtssache C-283/99 eine rein
institutionelle Auslegung nur in dem Sinne abgelehnt, dass die in Artikel 39 Absatz 4 EG
vorgesehene Ausnahme sämtliche Stellen, die eine (bloß) organisatorische Zugehörigkeit zu
staatlichen Einrichtungen aufweisen, erfassen würde.
72.
Die beiden Kriterien der institutionellen und der funktionellen Zuordenbarkeit zur
öffentlichen Verwaltung schließen einander insoferne nicht aus, sondern ergänzen einander
vielmehr zu einem engen Auslegungsansatz, wie er für eine Ausnahmebestimmung vom
Grundsatz der Freizügigkeit und der Nichtdiskriminierung der Arbeitnehmer wie Artikel 39
Absatz 4 EG zu fordern ist. Die Anwendbarkeit dieser Ausnahmebestimmung ist daher
jeweils unter institutionellen und funktionellen Gesichtspunkten zu prüfen.
b) Zu den im vorliegenden Fall aufgeworfenen Rechtsfragen im Besonderen
73.
Obwohl also nach der Rechtsprechung davon auszugehen ist, dass eine Beschäftigung im
Dienst einer Person des Privatrechts grundsätzlich nicht für die Ausnahme gemäß Artikel 39
Absatz 4 EG in Betracht kommt, haben mehrere Beteiligte meines Erachtens zu Recht
argumentiert, dass sich die Situation des Dienstes auf Schiffen auf eine Weise von jener
gewöhnlicher Stellen auf dem Festland unterscheidet, die die Übertragbarkeit eines rein
institutionellen Ansatzes auf Kapitäne in Frage stellen kann.
74.
Die hier relevante Besonderheit liegt dabei nicht so sehr in der erhöhten Gefahr, die mit der
Seefahrt verbunden sein mag, sondern in der Tatsache, dass sich Schiffe außerhalb des
Hoheitsgebiets des Flaggenstaats bewegen können, also fern des Zugriffs der staatlichen
Behörden, durch die der Flaggenstaat seine Hoheitsgewalt ausübt.
75.
Wie sich u. a. aus Artikel 94 des Seerechtsübereinkommens ergibt, stehen Schiffe gleichwohl
jederzeit auch außerhalb des Hoheitsgebiets des Flaggenstaats unter dessen Hoheitsgewalt
und Kontrolle.
76.
Man könnte Schiffe insoweit als schwimmende Bestandteile des Hoheitsbereichs des
Flaggenstaats ansehen.
77.
In Bezug auf diese Teile kann sich die Staatsgewalt realistischerweise nur über die
vorhandene Schiffsbesatzung organisieren. Das heißt, dass sich der Flaggenstaat, wenn er
von der ihm unbenommenen staatlichen Organisationsgewalt Gebrauch machen und einen
Vertreter der öffentlichen Gewalt an Bord haben will, sich von vornherein nur an Bord
befindlicher Instanzen wie des Kapitäns oder des Ersten Offiziers bedienen kann.
78.
Unter diesen Umständen hielte ich es nicht für sachgerecht, eine Zugehörigkeit zur
öffentlichen Verwaltung einer Kapitänsstelle auf Schiffen generell bereits aufgrund dessen
auszuschließen, dass diese Stelle formal in keinem Beschäftigungsverhältnis zum Staat,
sondern zu einem privaten Unternehmen zu sehen ist.
79.
Als Zwischenergebnis möchte ich daher festhalten, dass die Anwendbarkeit des Artikels 39
Absatz 4 EG im Falle von Schiffskapitänen und ihren Vertretern grundsätzlich nicht schon
dadurch ausgeschlossen wird, dass diese Beschäftigte natürlicher oder juristischer Personen
des Privatrechts sind.
80.
Was allerdings die in der vorliegenden Rechtssache fraglichen Stellen betrifft, so handelt es
sich nach den Angaben des vorlegenden Gerichts und der spanischen Regierung bei den
Schiffen der spanischen Handelsmarine, auf die sich die im Ausgangsverfahren streitige
Regelung des Artikels 8 Absatz 3 des Königlichen Dekrets 2062/1999 bezieht, um solche,
die nur innerhalb der Hoheitsgewässer des Flaggenstaats bzw. zwischen Häfen oder Gebieten
verkehren, über die der Flaggenstaat Jurisdiktion ausübt.
81.
Daher ist anzumerken, dass die Prämisse, auf die die vorangegangenen Erwägungen zur
Anwendbarkeit des Artikels 39 Absatz 4 EG aufbauen, nämlich die Entrücktheit des Schiffes
vom staatlichen Hoheitsgebiet und vom Zugriff der allgemeinen staatlichen Behörden, somit
allem Anschein nach in Bezug auf Stellen der fraglichen Art nicht gegeben ist.
82.
Sodann ist aber auch darauf einzugehen, ob Stellen mit den Merkmalen, wie sie den
Gegenstand der ersten Vorlagefrage bilden, unter funktionellen Gesichtspunkten, also nach
Art der mit diesen Stellen verbundenen Aufgaben, unter den Begriff der öffentlichen
Verwaltung nach Artikel 39 Absatz 4 EG fallen.
83.
Zweifellos stellt die Tätigkeit eines Kapitäns oder Ersten Offiziers von Schiffen der
Handelsmarine, was die (unternehmerische und technische) Führung des Schiffes als solche
betrifft, inhaltlich keine Verwaltungstätigkeit dar, es wurde aber vorgebracht, dass mit diesen
Stellen auch staatliche Vertretungsfunktionen verbunden wären.
84.
Ob die Tätigkeit des Kapitäns mit Aufgaben der öffentlichen Verwaltung verbunden ist, ist,
wie oben angeführt, nach der Rechtsprechung anhand der Kriterien Ausübung hoheitlicher
Befugnisse und Wahrung der allgemeinen Belange des Staates zu beurteilen, zu deren
näherer Bedeutung sich der Gerichtshof bislang jedoch nicht geäußert hat.
85.
Dies ist nicht unproblematisch, weil diese Begriffe aufgrund der Notwendigkeit einer
einheitlichen Auslegung des Artikels 39 Absatz 4 EG auch nicht allein aus der jeweiligen
Perspektive des nationalen Rechts verstanden werden dürfen.
86.
Jedenfalls darf man aber annehmen, dass es sich bei den hoheitlichen Befugnissen um solche
handeln muss, die über jene Befugnisse hinausgehen, wie sie jedermann zustehen, nämlich
insbesondere - als Ausdruck des Kernbereichs staatlicher Herrschaftsmacht - um Befugnisse
zur Ausübung von Zwangsgewalt(28).
87.
Daneben bezieht sich der Gerichtshof immer auch auf die Wahrung der allgemeinen Belange
des Staates. Da der Gerichtshof die Kriterien der Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher
Befugnisse und der Wahrung der allgemeinen Belange des Staates - in der Regel - durch das
Wort und verbindet und eine restriktive Auslegung des Begriffes der öffentlichen
Verwaltung geboten ist, wurde des Weiteren bereits verschiedentlich darauf hingewiesen,
dass beide Voraussetzungen grundsätzlich nebeneinander erfüllt sein müssen(29).
88.
Was nun die mit den Stellen eines Kapitäns und eines Ersten Offiziers der spanischen
Handelsmarine verbundenen Befugnisse betrifft, so möchte ich zunächst festhalten, dass die
Pflichten der Kapitäne zur Einhaltung und Umsetzung öffentlich-rechtlicher,
völkerrechtlicher oder gemeinschaftsrechtlicher Verpflichtungen oder Auflagen, wie sie
insbesondere die deutsche Regierung im Bereich der Sicherheit der Seefahrt und des
Umweltschutzes genannt hat, nicht mit hoheitlichen Befugnissen gleichzusetzen sind.
89.
Sodann ist festzustellen, dass nach den Angaben des vorlegenden Gerichts und der
Beteiligten dem Kapitän und dem Ersten Offizier in der spanischen Handelsmarine
grundsätzlich Zwangsbefugnisse gegenüber allen auf seinem Schiff befindlichen Personen
eingeräumt sind, zu deren Durchsetzung er auch Strafen auferlegen kann. Es handelt sich
dabei wohl um mehr als um einen bloßen Beitrag zur Aufrechterhaltung der öffentlichen
Sicherheit, zu dem jeder verpflichtet oder berechtigt sein kann(30).
90.
Darüber hinaus ist festzustellen, dass nach den spanischen Vorschriften für Kapitäne und die
sie vertretenden Offiziere in der Handelsmarine Befugnisse im Bereich des
Personenstandswesens und im notariellen Bereich vorgesehen sind, die im allgemeinen
staatlichen Interesse liegen und sich nicht nur aus den Notwendigkeiten der Schiffsführung
erklären.
91.
Insgesamt würde ich daher nicht in Abrede stellen, dass es sich bei diesen nach spanischem
Recht vorgesehenen Funktionen und Befugnissen um hoheitliche Befugnisse und Aufgaben
der allgemeinen staatlichen Interessenwahrung im Sinne der Rechtsprechung des
Gerichtshofes handelt.
92.
Aber ich möchte gleichzeitig der Auffassung der Kommission und anderer Beteiligter
widersprechen, wonach die bloße Tatsache, dass derartige Befugnisse und Aufgaben nach
dem nationalen Recht des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehen sind, automatisch genügen
soll, um eine Tätigkeit als verwaltungstypisch zu qualifizieren.
93.
Geboten ist vielmehr eine Gesamtbetrachtung, die auf die tatsächlich mit der Stelle
verbundenen Aufgaben abstellt.
94.
Aufgrund der den Mitgliedstaaten unstreitig zustehenden Befugnis, ihre Verwaltungen nach
ihren jeweiligen Vorstellungen auszugestalten und Stellen mit hoheitlichen Befugnissen
auszustatten, bestünde sonst die Gefahr, dass das Bestehen von solchen Befugnissen, die in
der Praxis keine Rolle spielen bzw. keine praktische Bedeutung (mehr) haben, Ausnahmen
vom sachlichen Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach sich ziehen könnte.
So könnten unter Umständen je nach Mitgliedstaat unterschiedliche Tätigkeitsbereiche
Arbeitnehmern vorenthalten werden, was im Ergebnis mit der geforderten engen und
einheitlichen Anwendung der Ausnahme für die Beschäftigung in der öffentlichen
Verwaltung nicht vereinbar scheint.
95.
Hält man sich also vor Augen, dass es sich bei Artikel 39 Absatz 4 EG um eine Ausnahme
vom Grundsatz der Freizügigkeit handelt, deren Tragweite auf das unbedingt erforderliche
Maß zu beschränken ist(31), so erscheint es mir mit einer sachgerechten Anwendung dieser
Ausnahme unvereinbar, dass eine Beschäftigung bereits aufgrund der üblicherweise für sie
vorgesehenen hoheitlichen Befugnisse und Aufgaben als Beschäftigung in der öffentlichen
Verwaltung vom Grundsatz der Arbeitnehmerfreizügigkeit ausgenommen sein sollte.
96.
Den Angaben des Vorlagegerichts und der spanischen Regierung ist zu entnehmen, dass es
sich bei jenen Stellen des Kapitäns und des Ersten Offiziers in der spanischen
Handelsmarine, die den Gegenstand der im Ausgangsverfahren streitigen Regelung bilden,
um solche handelt, bei denen die Ausübung staatlicher Vertretungsfunktionen in der Praxis
eine sehr geringe bis gar keine Rolle spielt.
97.
Bei Gesamtbetrachtung der tatsächlich mit den Stellen des Kapitäns und des Ersten Offiziers
der spanischen Handelsmarine, die Gegenstand des Artikels 8 Absatz 3 des Königlichen
Dekrets 2062/1999 sind, verbundenen Befugnisse und Aufgaben komme ich daher zum
Ergebnis, dass derartige Stellen die sehr engen Voraussetzungen zur Anwendbarkeit der
Ausnahme von der Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Artikel 39 Absatz 4 EG nicht erfüllen.
2. Zur Rechtfertigung des Staatsangehörigkeitsvorbehalts auf der Grundlage des Artikels 39
Absatz 3 EG
98.
Was die Ausnahmebestimmung des Artikels 39 Absatz 3 EG betrifft, so ist der
Rechtsprechung des Gerichtshofes zu entnehmen, dass sich ein so allgemeiner Ausschluss
vom Zugang zu bestimmten beruflichen Tätigkeiten wie ein Staatsangehörigkeitserfordernis hier für Kapitäne und Erste Offiziere der Handelsmarine - nicht aus den Gründen der
öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit im Sinne dieses Artikels rechtfertigen lässt,
und zwar auch dann nicht, wenn sich dieses Erfordernis nur auf bestimmte Kategorien dieser
Stellen bezieht(32).
99.
Das Recht der Mitgliedstaaten, die Freizügigkeit von Personen aus diesen Gründen
einzuschränken, bezweckt nämlich nicht, bestimmte Wirtschaftsbereiche bzw. berufliche
Tätigkeiten von der Anwendung dieses Grundsatzes auszunehmen(33).
100.
Aus Artikel 39 Absatz 3 EG lässt sich also weder die Zulässigkeit eines generellen noch jene
eines partiellen Staatsangehörigkeitsvorbehalts für Stellen wie jene des Kapitäns und des
Ersten Offiziers in der spanischen Handelsmarine ableiten.
101.
Auf die erste Vorlagefrage ist nach alledem zu antworten, dass Artikel 39 EG und die Artikel
1 und 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die
Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der Gemeinschaft so auszulegen sind, dass sie einem
Mitgliedstaat nicht das Recht einräumen, Stellen des Kapitäns und des Ersten Offiziers von
Handelsschiffen wie solche, auf die sich Artikel 8 Absatz 3 des Königlichen Dekrets
2062/1999 bezieht, den eigenen Staatsangehörigen vorzubehalten.
V - Zur zweiten Vorlagefrage
A - Wesentliche Vorbringen der Beteiligten
102.
Unter den Beteiligten herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Mitgliedstaaten auf der
Grundlage des Artikels 39 Absatz 4 EG zwar berechtigt seien, die fraglichen Stellen ihren
eigenen Staatsangehörigen vorzubehalten, dass sie aber auch ganz oder teilweise auf diesen
Vorbehalt verzichten könnten. Darüber aber, ob im Falle eines Verzichts bzw. einer
vollständigen oder teilweisen Öffnung des Zugangs zu diesen Stellen bestimmte
gemeinschaftsrechtliche Vorgaben zu beachten seien, die etwa einem
Gegenseitigkeitserfordernis entgegenstehen könnten, gehen die Meinungen auseinander.
103.
Für die spanische Regierung handelt es sich bei dem Staatsangehörigkeitsvorbehalt um ein
Recht, das die Mitgliedstaaten in Anspruch nehmen oder aber nach ihren Bedingungen
einschränken könnten. Auch nach Auffassung der griechischen und der dänischen Regierung
ist die zweite Frage mit der Bejahung des unbeschränkten Staatsangehörigkeitsvorbehalts in
diesem Sinne beantwortet.
104.
Unter Hinweis auf das Urteil in der Rechtssache C-149/79(34) führt die französische
Regierung aus, dass Stellen im Anwendungsbereich des Artikels 39 Absatz 4 EG in die
ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fielen und es diesen daher freistehe, diese
Stellen für andere Staatsangehörige unter Bedingungen wie einem
Gegenseitigkeitserfordernis zugänglich zu machen.
105.
Die Kommission vertritt dagegen die Auffassung, dass im Falle einer teilweisen Öffnung
gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben entsprochen werden müsse. Unter Hinweis auf die
Rechtsprechung des Gerichtshofes(35) führt sie aus, dass das Gegenseitigkeitserfordernis im
Rahmen des Zugangs zu den fraglichen Stellen dem Grundsatz der Gleichbehandlung daher
zuwiderlaufe.
106.
Die norwegische Regierung führt unter Bezugnahme auf das Urteil in der Rechtssache
152/73(36) aus, dass bereits die Tatsache der Aufnahme Staatsangehöriger anderer
Mitgliedstaaten zeige, dass die Interessen, die die Ausnahmen vom Grundsatz der
Gleichbehandlung rechtfertigen, nicht in Frage stünden. Die französische Regierung hält dem
entgegen, dass es im Unterschied zu jener Rechtssache vorliegend nicht um die
Arbeitsbedingungen, sondern um den Zugang zur Beschäftigung als solchen gehe.
B - Würdigung
107.
Mit seiner zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob
es mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Artikel 39 EG vereinbar ist, den Zugang von
Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten zu Stellen wie jenen des Kapitäns und des Ersten
Offiziers, auf die sich Artikel 8 Absatz 3 des Königlichen Dekrets 2062/1999 bezieht, einem
Gegenseitigkeitsvorbehalt zu unterstellen.
108.
Wie ich im Rahmen der ersten Vorlagefrage bereits festgestellt habe, fallen Stellen wie jene,
auf die sich Artikel 8 Absatz 3 des Königlichen Dekrets 2062/1999 bezieht, nicht unter die
Ausnahme für die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung gemäß Artikel 39 Absatz 4
EG, sodass ein Mitgliedstaat gemäß Artikel 39 EG verpflichtet ist, den Staatsangehörigen
anderer Mitgliedstaaten einen diskriminierungsfreien Zugang zu solchen Stellen zu
gewähren.
109.
Dass dieser Zugang keinem Gegenseitigkeitsvorbehalt unterstellt werden darf, ergibt sich
klar aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes. Nach dieser kann nämlich die
Erfüllung der Verpflichtungen, die der EG-Vertrag und das abgeleitete Recht den
Mitgliedstaaten auferlegen, nicht an eine Bedingung der Gegenseitigkeit geknüpft
werden(37).
110.
Auf die zweite Vorlagefrage ist daher zu antworten, dass der Zugang zu Stellen wie jenen,
um die es vorliegend geht, keinem Gegenseitigkeitsvorbehalt unterstellt werden darf.
VI - Ergebnis
111.
Nach alledem wird dem Gerichtshof vorgeschlagen, die Vorlagefragen wie folgt zu
beantworten:
1. Artikel 39 EG und die Artikel 1 und 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom
15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der Gemeinschaft sind so
auszulegen, dass diese einem Mitgliedstaat nicht das Recht einräumen, Stellen des Kapitäns
und des Ersten Offiziers von Handelsschiffen wie solche, auf die sich Artikel 8 Absatz 3 des
Königlichen Dekrets 2062/1999 bezieht, den eigenen Staatsangehörigen vorzubehalten.
2. Der Zugang zu solchen Stellen für Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten darf keinem
Gegenseitigkeitsvorbehalt unterstellt werden.
1: - Originalsprache: Deutsch.
2: - Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der
Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2).
3: - Vgl. die Urteile vom 18. November 1999 in der Rechtssache C-107/98 (Teckal, Slg. 1999, I9121, Randnr. 33) und vom 4. Mai 1993 in der Rechtssache C-17/92 (Distribuidores
Cinematográficos, Slg. 1993, I-2239, Randnr. 8).
4: - Vgl. das Urteil vom 17. Juli 1997 in der Rechtssache C-334/95 (Krüger, Slg. 1997, I-4517,
Randnr. 23).
5: - Mitteilung 88/C 72/02, Freizügigkeit der Arbeitnehmer und Zugang zur Beschäftigung in der
öffentlichen Verwaltung der Mitgliedstaaten - Aktion der Kommission auf dem Gebiet der
Anwendung von Artikel 48 Absatz 4 EWG-Vertrag (ABl. C 72, S. 2).
6: - Urteil vom 31. Mai 2001 in der Rechtssache C-283/99 (Kommission/Italien, Slg. 2001, I4363, Randnr. 25).
7: - Urteil vom 29. Oktober 1998 in der Rechtssache C-114/97 (Kommission/Spanien, Slg. 1998,
I-6717).
8: - ABl. C 83 vom 14. März 1997, S. 53.
9: - Urteil in der Rechtssache C-114/97 (zitiert in Fußnote 7), Randnr. 42.
10: - Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der
Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen
der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (ABl. 1964, Nr. P 56,
S. 850).
11: - Vgl. in diesem Sinne die Urteile vom 7. Mai 1998 in der Rechtssache C-350/96 (Clean Car
Autoservice, Slg. 1998, I-2521, Randnr. 17) und vom 23. Februar 1994 in der Rechtssache C419/92 (Scholz, Slg. 1994, I-505, Randnr. 6).
12: - Vgl. das Urteil vom 17. Dezember 1980 in der Rechtssache 149/79 (Kommission/Belgien,
Slg. 1980, 3881, Randnr. 10).
13: - Siehe u. a. die Urteile vom 12. März 1998 in der Rechtssache C-187/96
(Kommission/Griechenland, Slg. 1998, I-1095, Randnr. 17), vom 13. November 1997 in der
Rechtssache C-248/96 (Grahame und Hollanders, Slg. 1997, I-6407, Randnr. 32), in der
Rechtssache 149/79 (zitiert in Fußnote 12), Randnr. 10, und vom 12. Februar 1974 in der
Rechtssache 152/73 (Sotgiu, Slg. 1974, 153, Randnr. 3).
14: - Urteil vom 1. Dezember 1993 in der Rechtssache C-37/93 (Kommission/Belgien, Slg.
1993, I-6295, Randnr. 1 und Urteilstenor).
15: - Urteil vom 2. Juli 1996 in der Rechtssache C-290/94 (Kommission/Griechenland, Slg.
1996, I-3285, Randnr. 34).
16: - Siehe u. a. auch die Urteile vom 16. Juni 1987 in der Rechtssache 225/85
(Kommission/Italien, Slg. 1987, 2625, Randnr. 7) und vom 3. Juli 1986 in der Rechtssache 66/85
(Lawrie-Blum, Slg. 1986, 2121, Randnr. 28).
17: - Vgl. insbesondere das Urteil in der Rechtssache 149/79 (zitiert in Fußnote 12), Randnrn. 12
und 19.
18: - Urteile vom 2. Juli 1996 in der Rechtssache C-473/93 (Kommission/Luxemburg, Slg. 1996,
I-3207, Randnr. 26) und in der Rechtssache 149/79 (zitiert in Fußnote 12), Randnr. 18.
19: - Siehe die Urteile in der Rechtssache 152/73 (zitiert in Fußnote 13), Randnr. 5, und vom 3.
Juni 1986 in der Rechtssache 307/84 (Kommission/Frankreich, Slg. 1986, 1725, Randnr. 11).
20: - Vgl. die Urteile in der Rechtssache C-473/93 (zitiert in Fußnote 18), Randnr. 28, und in der
Rechtssache 307/84 (zitiert in Fußnote 19), Randnr. 12.
21: - Vgl. das Urteil in der Rechtssache C-473/93 (zitiert in Fußnote 18), Randnr. 27, und bereits
das Urteil in der Rechtssache 149/79 (zitiert in Fußnote 12), Randnr. 12.
22: - Unter anderem die Urteile in der Rechtssache C-290/94 (zitiert in Fußnote 15), Randnr. 34,
in der Rechtssache 66/85 (zitiert in Fußnote 16), Randnr. 28, und in der Rechtssache 149/79
(zitiert in Fußnote 12), Randnr. 10.
23: - Unter anderem die Urteile in der Rechtssache C-290/94 (zitiert in Fußnote 15), Randnr. 2,
in der Rechtssache 66/85 (zitiert in Fußnote 16), Randnr. 28, und in der Rechtssache 149/79
(zitiert in Fußnote 12), Randnr. 10.
24: - Urteil in der Rechtssache C-114/97 (zitiert in Fußnote 7), Randnrn. 33 und 35 ff.
25: - Urteil in der Rechtssache C-283/99 (zitiert in Fußnote 6), Randnr. 25; Hervorhebung von
uns. Siehe auch die Ausführungen von Generalanwalt Jacobs in seinen Schlussanträgen vom 15.
Februar 2001 in dieser Rechtssache, Nr. 26, auf die sich der Gerichtshof an dieser Stelle bezogen
hat.
26: - Vgl. die Urteile in der Rechtssache C-473/93 (zitiert in Fußnote 18), Randnr. 2, und in der
Rechtssache 149/79 (zitiert in Fußnote 12), Randnrn. 10 und 11.
27: - Urteil in der Rechtssache 149/79 (zitiert in Fußnote 12), Randnr. 11.
28: - Vgl. dahin gehend die Definition des Begriffes der öffentlichen Gewalt von Generalanwalt
Mayras in den Schlussanträgen vom 28. Mai 1974 in der Rechtssache 2/74 (Reyners, Urteil vom
21. Juni 1974, Slg. 1974, 631, 665); siehe auch die Schlussanträge von Generalanwalt Mancini
vom 15. April 1986 in der Rechtssache C-307/84 (Urteil zitiert in Fußnote 19), 1729 f.
29: - Siehe beispielsweise Generalanwalt Léger in seinen Schlussanträgen vom 5. März 1996 in
der Rechtssache C-290/94 (Urteil zitiert in Fußnote 15), Nr. 23, und Generalanwalt Lenz in
seinen Schlussanträgen vom 29. April 1986 in der Rechtssache 66/85 (Urteil zitiert in Fußnote
16), 2135.
30: - Vgl. die wohl insofern übertragbaren Erwägungen des Gerichtshofes in Bezug auf den
Begriff der Ausübung öffentlicher Gewalt gemäß Artikel 45 EG im Urteil in der Rechtssache C114/97 (zitiert in Fußnote 7), Randnrn. 36 und 37.
31: - Siehe die Urteile in der Rechtssache 225/85 (zitiert in Fußnote 16), Randnr. 7, und in der
Rechtssache 66/85 (zitiert in Fußnote 16), Randnr. 28. Vgl. auch Generalanwalt Lenz in seinen
Schlussanträgen vom 29. April 1986 in der Rechtssache 66/85 (Urteil zitiert in Fußnote 16),
2136, der sich in diesem Zusammenhang auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bezieht.
32: - Vgl. u. a. die Urteile in der Rechtssache C-114/97 (zitiert in Fußnote 7), Randnrn. 40 bis 42,
und vom 7. Mai 1986 in der Rechtssache 131/85 (Gül, Slg. 1986, 1573, Randnr. 17).
33: - Siehe ebendort.
34: - Urteil in der Rechtssache 149/79 (zitiert in Fußnote 12), Randnr. 10.
35: - Urteile vom 22. Juni 1972 in der Rechtssache 1/72 (Frilli, Slg. 1972, 457, Randnr. 19) und
vom 2. Februar 1989 in der Rechtssache 186/87 (Cowan, Slg. 1989, 195, Randnr. 20).
36: - Urteil in der Rechtssache 152/73 (zitiert in Fußnote 13), Randnr. 4.
37: - Urteil vom 16. Mai 2002 in der Rechtssache C-142/01 (Kommission/Italien, Slg. 2002, I4541, Randnr. 7); vgl. u. a. auch die Urteile vom 29. März 2001 in der Rechtssache C-163/99
(Portugal/Kommission, Slg. 2001, I-2613, Randnr. 22), vom 6. Juni 1996 in der Rechtssache C101/94 (Kommission/Italien, Slg. 1996, I-2691, Randnr. 27), vom 14. Februar 1984 in der
Rechtssache 325/82 (Kommission/Deutschland, Slg. 1984, 777, Randnr. 11) und vom 25.
September 1979 in der Rechtssache 232/78 (Kommission/Frankreich, Slg. 1979, 2729, Randnr.
9).
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