Pfr. Dr. Matthias Loerbroks Altjahrsabend 2006 Französische Friedrichstadtkirche Predigt über Johannes 8,31-36 31 32 33 34 35 36 Jesus sagte zu den Juden, die zum Glauben an ihn gekommen waren: wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wahrhaftig meine Schüler und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch befreien. Sie antworteten ihm: Same Abrahams sind wir und niemals irgendjemandem versklavt gewesen. Wie sagst du: ihr werdet frei werden? Jesus antwortete ihnen: amen, amen, ich sage euch: jeder, der die Sünde tut, ist Sklave der Sünde. Der Sklave aber bleibt nicht im Haus auf ewig, der Sohn bleibt auf ewig. Wenn euch nun der Sohn befreien wird, dann werdet ihr wirklich frei sein. Freiheit – das ist ein Sehnsuchtswort. Der Wunsch nach Freiheit scheint irgendwie in uns Menschen angelegt zu sein. Und so leiden wir, wenn wir uns eingezwängt und angekettet fühlen, unter Druck, unterdrückt. Das können äußere, gesellschaftliche Verhältnisse sein, die wir trotz freier Wahlen und des Rechts, uns frei zu äußern, nur sehr zum Teil selbst bestimmen oder beeinflussen können, zumal ja auch die von uns oder nicht von uns gewählten Politiker das nur sehr begrenzt können oder wollen. Das können auch innere Zwänge sein, die uns daran hindern, uns frei zu bewegen und zu betätigen, frei zu leben; tyrannische Mächte in uns, die wir zwar selbst – wer sonst? – hervorgebracht und ermächtigt haben, die aber dann doch so wirken, als hätte eine fremde Besatzungsmacht unsere Seele, unseren Geist unterworfen, viel mächtiger als unser Wunsch, unser Streben, unsere Sehnsucht nach Freiheit. Freiheit – das kann aber auch ein Besitztitel sein, stolz vor sich hergetragen von Menschen, die von ihrer Freiheit wenig Gebrauch machen, selbst weder frei noch befreiend wirken. Als der Kalte Krieg die ganze Welt und auch diese Stadt teilte, ein Krieg, der mit allen Mitteln geführt wurde außer militärischer Gewalt, jedenfalls hier in Europa, also insbesondere mit den Mitteln der Propaganda, da gehörte das Wort Freiheit zur Munition. Freier Deutscher Gewerkschaftsbund hießen im Osten Gewerkschaften, die natürlich in angeblich volkseigenen Betrieben wenig durchzusetzen hatten; Freie Deutsche Jugend die eher verstaatlichte als sozialisierte, also vergesellschaftete Jugend – für den Westen Inbegriff der Sklaverei. In Westberlin hieß der eine Radiosender Freies Berlin, der andere nannte sich eine freie Stimme der freien Welt und in Dahlem wurde eine Freie Universität gegründet. Schöne Freiheit, höhnte der Osten über den Westen: die einen haben die Freiheit, andere auszubeuten, die anderen die Freiheit, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, und wenn die sich nicht rentabel verwerten lässt, werden sie freigesetzt. Wirkliche Freiheit müsste doch erst einmal Freiheit von Not und Elend bedeuten, auch die Freiheit von der Angst vor Verelendung. Schöne demokratische Republik, spottete der Westen zurück, die ihr Volk einmauern muss, damit es nicht davonläuft. Als dann Mitte der 60er Jahre ausgerechnet in Westberlin, auf der Insel der Freiheit mitten im roten Meer der Sklaverei, Studierende bezweifelten, dass es sich um eine wirklich freie Gesellschaft handelte, sich anschickten, für wirkliche Befreiung erst noch zu kämpfen, und zwar mit den Mitteln der Freiheit: Aufklärung, Diskussion, Demonstration, Information, Herstellung von Öffentlichkeit, stießen sie auf kein Verständnis, sondern auf offene Aggression. So ähnlich geht es auch Jesus in unserem Text bei einem seiner – im Johannesevangelium häufigen – Besuche in Jerusalem im Gespräch mit Juden, die Vertrauen zu ihm gefasst haben, zum Glauben an ihn gekommen sind. Dieser merkwürdige Sprachgebrauch des Johannesevangeliums, in dem oft die Juden Jesus und den Seinen, die doch selbst Juden sind, 2 gegenübergestellt werden, nicht selten feindselig, bedarf der Aufklärung, zumal uns im neuen Kirchenjahr schon einige Johannestexte begegnet sind und noch viele begegnen werden. Für viele von uns ist diese Redeweise nach fast 2000 Jahren christlicher Judenfeindschaft quälend und belastend, hindert manche auch daran, Bachs Johannespassion unbefangen zu hören. Hinter dieser Art zu reden steckt zunächst einmal eine geographische Tatsache: die Jesusbewegung entstand im Norden Israels, im Galil, in Galiläa, ein ethnisch und religiös etwas gemischtes Gebiet, es wurde darum auch von Juda oder Judäa aus, also von Jerusalem und südlich davon, mit etwas gemischten Gefühlen betrachtet: was kann von Nazareth Gutes kommen? Es ist auch schon vorgeschlagen worden, iudaioi im Johannesevangelium nicht mit Juden, sondern mit Judäern zu übersetzen. Doch steckt in diesem geographischen auch ein politischer Unterschied: führende Kreise in Juda und Jerusalem hatten sich sehr viel biegsamer der Römerherrschaft angepasst als der Norden, sie sahen, wie wir hier hören, in ihr keine Einschränkung ihrer Freiheit: wir sind Abrahams Nachkommen und niemals irgendjemandem versklavt gewesen. Der Chef der römischen Besatzungsmacht, Pontius Pilatus, wird sie später durch geschicktes Fragen zum Eingeständnis völliger Machtlosigkeit bringen, politisch, aber auch theologisch: wir haben keinen König denn den Kaiser. Einige von ihnen sind nun zu Jesusanhängern geworden, doch auch sie reagieren mit Unverständnis auf die Verheißung Jesu: die Wahrheit wird euch befreien – im Johannesevangelium stößt Jesus sowohl bei seinen Jüngern wie bei seinen Gegnern immer wieder auf Unverständnis und auf Missverständnisse. Was sagt nun uns diese historische innerjüdische Debatte zwischen Jesus und seinen judäischen Anhängern? Auch uns Jesusanhängern aus den Völkern gilt ja die Verheißung: wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wahrhaftig meine Jünger und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch befreien. Gut vorstellbar, dass gerade wir evangelischen Christen darauf ähnlich verständnislos reagieren, denn Freiheit gehört doch zum Selbstverständnis, zum Pathos der evangelischen Kirche: Kirche der Freiheit, heißt ein kürzlich veröffentlichter, geradezu pausbäckig selbstbewußter Diskussionstext der Evangelischen Kirche in Deutschland. Wir sind evangelische Christen und niemals irgendjemandem versklavt gewesen, sondern leben in der Freiheit eines Christenmenschen: ein Christ ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan. Zweimal sagt Jesus „die Wahrheit“ und dazu noch einmal „wahrhaftig“. Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch befreien. Und: wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wahrhaftig meine Jünger. Es gibt also auch eine falsche eine unwahre Art, sein Jünger zu sein. Was aber meint Jesus mit Wahrheit? Was sollen wir erkennen, was wird uns befreien? Mit dieser Frage geraten wir in wenig sympathische Gesellschaft. Im Johannesevangelium ist es eben jener Pontius Pilatus, der Zyniker der Macht, der sie Jesus stellt, freilich ohne eine Antwort abzuwarten oder überhaupt zu erwarten. Doch wenn wir genau hinsehen und hinhören, entdecken wir in unserem Text eine Antwort. Auch vom Befreien ist zweimal die Rede: die Wahrheit wird euch befreien, und: wenn euch der Sohn befreit, dann werdet ihr wirklich frei. Jesus selbst, der Sohn, ist die Wahrheit, die zu erkennen befreiend wirkt. Wahrheit, das ist in der Bibel nie eine objektive Tatsachenbehauptung, etwa dass zwei mal zwei vier ist, sondern eine Beziehungswirklichkeit, hat mit Treue zu tun und mit Vertrauen, mit Verlässlichkeit, mit Bewährung: sie wird erst Wahrheit durch Bewährung. Wahrhaftige Jünger Jesu sind wir dann, wenn wir ihm die Treue halten, bei ihm, in seinem Wort bleiben, unsere Bleibe finden. Und Jesus ist darin die befreiende Wahrheit, dass in ihm, in seinen Taten und Worten, der befreiende Gott Israels seine Treue zu seinem Volk und darin zu allen Menschen bewährt, bewahrheitet. Denn anders als die Gesprächspartner Jesu hält Gott die Freiheit Israels und die Freiheit der Jesusjünger nicht für ein für allemal erreicht. Gerade die Nachkommen Abrahams sind doch in Ägypten in die Sklaverei geraten, mussten erst wieder befreit werden, mussten immer wieder befreit werden. Und uns Christen, die mit dem Abendmahl ans Pessachfest, das Gedenken der 3 Befreiung anknüpfen, einen Vergleich ziehen zwischen der Befreiung Israels aus Ägypten und unserer Befreiung vom Regime aus Sünde, Tod und Teufel, uns geht es ähnlich: auch wir haben die Befreiung nicht ein für allemal erreicht, können darum auch die evangelische Freiheit nicht als stolzen Besitz vorweisen, sondern sind immer wieder darauf angewiesen, die Wahrheit, die Jesus Christus ist, neu zu erkennen, um neu befreit zu werden, können darum nur dadurch wahrhaftig seine Jünger sein, also getreu und verlässlich unsere Treue seiner Treue gegenüber bewähren, dass wir in seinem Wort bleiben, in ihm und nicht in unseren selbstgemachten materiellen oder geistigen vier Wänden unsere Bleibe, unser Zuhause haben und so, mit ihm auch bleiben im Haus seines Vaters, der barmherzig und gnädig ist, geduldig und von großer Güte und Treue, denn der Sklave bleibt nicht auf ewig im Haus, der Sohn bleibt auf ewig. Angesichts des Jahreswechsels und der durch ihn markierten vergehenden Zeit fragen wir uns: was bleibt? Was bleibt von uns und was bleibt uns? Wo haben wir, wo finden wir eine Bleibe, die verlässlich ist in allen Veränderungen und Umbrüchen? Lasst uns bei ihm, in seinem Wort bleiben, es uns immer wieder sagen lassen – auch hier in der Kirche –, es zu Herzen nehmen und bewähren – wir werden erleben, dass Jesus nicht aufgehört hat, uns zu befreien. Amen.