Gastpredigt 29.8. Sankt Laurenzen, St. Gallen Von Erika Forster-Vannini, Ständeratspräsidentin, FDP/SG Lieber Herr Pfarrer Félix, Liebe Kirchgemeinde Den Bibeltext zur heutigen Gastpredigt, oder etwas bescheidener wohl eher Gedanken eines Kirchenmitglieds zu einem Bibeltext hat mir Pfarrer Felix während eines Gesprächs zum heutigen Tag vorgeschlagen. Ich habe eingewilligt, ohne genau zu wissen, was im 1. Korinther Vers 13 steht. Ist es richtig, wenn ich mich als Politikerin ausgerechnet zum Hohelied der Liebe äussere? Ist das nicht paradox? Wie halten wir es, oder etwas zugespitzt wie halten es Politikerinnen und Politiker mit der Wahrheit, wenn es darum geht andere zu überzeugen, wenn es darum geht Stimmen für ihre Meinung und ihre Partei zu gewinnen? Wenn man hin und wieder Wahlreden, oder Voten im Parlament hört, so hat man mindestens den Eindruck, der eine oder andere führe „prophetische Reden“, rede mit „Engelszungen“ und besitze allein alle Erkenntnis. Beim genaueren Hinhören wird aber schnell klar, dass hier (um mit den Worten aus Vers 13 zu sprechen „ein tönernes Erz, eine lärmende Zindel“ zu hören ist. Inhalt Der Text hat mich in den letzten Wochen intensiv begleitet und spricht mich an, je länger ich darüber nachdenke. Er spricht das an, was mir im Laufe der Zeit immer wichtig wurde. Zur Wahrheit gehört Liebe. Ausdruck dieser Liebe gegenüber dem Leben ist für mich auch Lessings Wort: „"Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke, und sagte: Vater gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!" Dieser Ausdruck der Bescheidenheit ist die Quelle allen Respekts. Diesen Ausdruck des Respekts ist eine ganz spezielle Tugend, die den Menschen, die wirklich Berge versetzen, zu eigen sind. Diese Leute überzeugen uns nicht nur, oder in erster Linie mit ihren Reden, sondern mit aussergewöhnlichen Taten, ohne Aufhebens um ihre Person. Bescheidenheit Bescheidenheit ist nun aber nicht gerade das, was heute Menschen an der Macht, sei es in der Wirtschaft (Stichwort Abzockerei) sei es in der Politik (Aufmerksamkeitshascherei um jeden Preis) auszeichnet. Im Gegenteil, wer sich an der Macht wähnt, benimmt sich oft, als sei er im Besitz aller Erkenntnis, aller Wahrheit. Ihre prophetischen Reden erschöpfen sich in der Darstellung dessen, was nicht sein kann, weil es nicht sein darf. Hier liegt das Risiko.Wer nicht hinschauen will, kann auch nicht sehen. Um jederzeit Abstand zu nehmen von den eigenen Wunschvorstellungen, vom eigenen Wahn bedarf es der Liebe. Liebe, die auf dem Urwissen basiert, dass alle Menschen, alles Leben Bezug und Beziehung braucht. Nur wenn wir verstehen, dass wir im sozialen Bereich, im gesellschaftlichen Umgang miteinander, in der Wirtschaft Mehrwerte schaffen müssen, vermeiden wir zerstörerische Nullsummenspiele, in welchen der Gewinn des einen, den Ruin des andern bedeutet. Verantwortung tragen Tatsächlich gebricht es vielen Menschen in einflussreichen Positionen, egal in welchen Bereichen, an echtem Verantwortungsbewusstsein. Ich höre daher vielerorts enttäuschte Menschen in unserem Land. Sie geben diese Enttäuschung mit dem bekannten Spruch: “Die Kleinen hängt man, die Grossen lässt man laufen“ Ausdruck. Während beim Kleinen gilt, Unwissen schützt vor Strafe nicht, ist manifeste Misswirtschaft strafrechtlich nicht zu belangen. Die Folgen baden in jedem Fall die Schwächeren aus. Vielfach kommt der Staat, letztlich die Gesellschaft nicht darum herum, die fatalen Konsequenzen dieser tönernen Erze abzufedern. Mediatisierung der Gesellschaft Die Mediatisierung der Politik, ja der Gesellschaft insgesamt hat die latente Tendenz, sich und seine Meinung als das Mass aller Dinge anzusehen, nicht hervorgerufen, aber klar gestärkt. Der gängige Spruch: „Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr“ findet je länger je mehr Zuspruch und Anwendung. Das zeigt sich unter Anderem in den Medien, in Facebook und im Internet. Ich bin schon manchmal etwas erstaunt, wie offen und freizügig viele Leute unserer Gesellschaft ihre Ansichten, ihre vermeintlichen Erkenntnisse und Geheimnisse an allen möglichen und unmöglichen Orten zum Besten geben. Wie ungeniert Mitbürgerinnen und Mitbürger ungefragt ihre Meinung mitteilen und einer weiteren Öffentlichkeit bekannt geben. Dies oft ohne Kenntnis der Dinge, dafür umso überzeugter, die „Wahrheit mit Löffel“ gefressen zu haben. Da haben insbesondere auch Diejenigen, die eigentlich ein Vorbild sein sollten ihre Schuld daran. Kaum ereignet sich irgendwo auf der Welt etwas aussergewöhnliche, kaum sind irgendwo in der Wirtschaft, insbesondere aber in der Politik Entscheide gefallen, melden sich dien zu Wort, die mit dem Entscheid nicht einverstanden sind. Dies in einer oft taktlosen, ungenierten und pointierten Art und oft ohne genaue, oder auch schlichtweg ohne Kenntnis der Dinge. Man freut sich nicht an der Wahrheit, die Hauptsache ist, man wurde gehört, oder noch besser gehört und gesehen. „Schreihälse“ erhalten überdimensionierte mediale Beachtung – oft durch grobe Vereinfachung komplexer Sachverhalte oder durch das Ausbauschen von Details. Dies wohl auch im Wissen darum, dass das Gesagte bei den meisten Leuten sowieso nicht lange haften bleibt. Heute stellen wir auch fest, dass permanente Opposition, ja Obstruktion gemacht wird und dass bei jeder sich bietenden und jeder sich nicht bietenden Gelegenheit Kompromisse wieder in Frage gestellt werden. Kein Wunder, wenn sich viele in der Gesellschaft berechtigt sehen, ein Selbiges zu tun. Freiheit Die Freiheit des Einzelnen, das zu tun, was ihm richtig erscheint, ist mir wichtig und soll auch nicht in Frage gestellt werden, Aber, wer seine Freiheit nutzt, muss die Freiheit des Andern respektieren. Leute an der Macht, egal wo, müssen in meinen Augen auch Vorbilder sein. Das wiederum ist nicht immer ganz leicht! Da gibt es Zwänge weit weg von den Inhalten des Hohenliedes. Zwänge, denen zu widerstehen viel Kraft und eine feste Verwurzelung in den eigenen Werten verlangt und der man gerne erliegt, denn es geht um Bedeutung, Karriere, Anerkennung! Und dann tritt man die Flucht nach vorne an. Man zeigt in aller Unverfrorenheit seinen Machtanspruch, seine Gier und verlangt Belohnung! Wie bringt jemand angesichts dieser Umstände eine Ständeratspräsidentin mit den Aufgaben des Hohenliedes in Verbindung? Ich stelle leider immer wieder fest: wer sich in der Politik und in der Wirtschaft seine Unabhängigkeit bewahrt, sich ein eigenes Urteil bildet, schafft sich damit nicht nur Freunde. Kritische Stimmen in Verwaltungsräten werden zum Schweigen gebracht, mutige Politiker/innen bei Karrierechancen manchmal kommentarlos übergangen. Rhetorik in Form eben des prophetischen Redens – das ist, was zählt, das ist, wonach mancher Wirtschaftsführer, mancher Politiker, Parteileitungen, die People-Presse und leider immer mehr auch die seriösen Tageszeitungen schielen. „Da vermag uns „Normalsterbliche“ dieser wunderschöne Text des Korinther Verses doch wirklich zu trösten. Er drückt aus, was am Schluss wirklich zählt: Inhalte nicht Lärm, keine tönernen Erze, sondern Liebe. Liebe zum Mitmenschen, Liebe zu den Schwächeren bei genauer Unterscheidung für diejenigen, die wirklich unserer Hilfe bedürfen. Denn diese Liebe ist nicht sentimental und dient nicht dem wohligen Gefühl, „ein guter“ oder gar „ein besserer“ Mensch zu sein. Liebe auch für die Stärkeren, die in Bildung und Arbeitswelt gute Rahmenbedingungen brauchen, um ihre Talente entfalten zu können. Liebe zur Natur, Einsatz für eine intakte Landschaft, für frei fliessende Gewässer und unbebaute Alpen. Und noch einmal, diese Liebe erfordert Bescheidenheit. Einsicht in die Grösse des Menschen, der dank Wissenschaft und Forschung vieles kann und weiss, Einsicht aber auch, dass sein Verständnis für das Universum, in das er gestellt ist, beschränkt ist. Die Wahrheit liegt in Gottes rechter Hand – wir tun gut daran, uns an Lessing zu halten und uns zu erinnern, dass es um das Streben nach Wahrheit geht, denn „die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!" Das ist für mich Ausdruck der Liebe, von der das Hohelied spricht. Mir gefallen dabei ganz besonders die Abschnitte 4 bis 6: 4 Die Liebe hat den langen Atem, gütig ist die Liebe, sie eifert nicht. Die Liebe prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf, 5 sie ist nicht taktlos, sie sucht nicht das ihre, sie lässt sich nicht zum Zorn reizen, sie rechnet das Böse nicht an, 6 sie freut sich nicht über das Unrecht, sie freut sich mit an der Wahrheit.