pred - Kaufe die Wahrheit

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Gottesdienst vom 27.09.09 um 9.30 Uhr in der Thomaskirche Liebefeld
Predigttext: Sprüche 23,23
"Kaufe Wahrheit und verkaufe sie nicht!"
Liebe Gemeinde
Ich erzähle Ihnen die Geschichte eines Ehepaares in mittleren Jahren:
Der Mann hat keine besonderen schweren Fehler an sich, und die Frau auch nicht; im
Gegenteil, sie waren beide tüchtig – und sie hatten einander sehr lieb und hatten sich
angewöhnt, sich gegenseitig zu bewundern, aufeinander stolz zu sein und immer wieder am
andern die besten und schönsten Eigenschaften zu sehen:
Wenn die Frau bei andern Frauen über ihren Mann redete, dann tat sie das immer in einem
bewussten, überlegenen Ton – "MINE, der ist so und so einer, der macht es so und so", und
man merkte es ihr an, dass es keinen besseren Mann gab als ihrer. Der Mann sagte es zwar
nicht so gerade heraus, aber man spürte es auch ihm an, dass er seine Frau für eine Perle
hielt
So glaubten beide aneinander aus voller Kraft und mit ganzem Herzen. Merkwürdig nur,
dass sie dabei doch nicht ganz glücklich waren. Sie sagten sich zwar gegenseitig oft, dass
sie die glücklichsten Menschen der Welt seien, aber vielleicht war gerade das ein Zeichen
einer gewissen Unsicherheit: In bestimmten Zeiten, wenn sie unter sich waren, konnte der
Mann oft ganz unvermittelt ruppig und böse werden, wenn ihm etwas gerade nicht passte.
Und die Frau hatte manchmal so träumerische, wehmütige Stunden, in denen ihr die Tränen
kamen, und sie wusste nicht warum. Mit der gegenseitigen Bewunderung und Liebe
zueinander kamen sie immer wieder darüber hinweg, aber es wurde doch jedes Mal ein
wenig schlimmer, und das Gefühl des Friedens und der inneren Sicherheit verloren sie beide
immer mehr. Niemand wusste davon, sie selbst redeten nicht darüber.
Da zeigte sich eines schönen Tages der Mann von einer ganz ausserordentlich schlechten
Seite: Er sagte zu seiner Frau ein kleines, hässliches Wort, zuckte darauf mit seinen
Schultern, und sein Gesicht hatte einen Moment lang einen gemeinen Ausdruck; dann war
es vorüber, er entschuldigte sich, ein paar flüchtige Zärtlichkeiten, und es schien alles
vorüber zu sein.
Aber das geschah nicht. Der Frau gingen auf einmal die Augen auf. Sie hatte ihren Mann
nicht weniger lieb als vorher, aber ihr ganzes gegenseitiges Verhältnis kam ihr auf einmal vor
wie eine einzige, gewaltige Lüge: Ihr Mann war ja gar nicht der Held, der Einzigartige, den
sie sich eingebildet hatte. Er war ein Mensch mit liebenswürdigen Eigenschaften und mit
unverständlichen Seiten. Sie merkte auf einmal, dass ihre bisherige Art von Liebe, die auf
Bewunderung aufgebaut war, eine tiefe Unwahrheit in sich trug: Sie merkte bei sich: Wenn
sie ihren Mann ganz und gar, auf "göttliche Art und Weise," lieben wollte, ihn viel
menschlicher lieben müsse, nämlich so, wie er war – mit allen angenehmen Seiten und
seinen Ecken und unverständlichen Kanten, Und die Frau bekam eine grosse Sehrsucht
nach Ehrlichkeit und Einfachheit in ihrem Verhältnis zu ihm. Und sie hatte den Mut, dieser
Sehnsucht nachzugeben; sie musste reden, musste es dem Mann einmal sagen, was sie
drückte – koste es, was es wolle. Keine schweren Laster und Fehler kamen an den Tag,
aber eine ganze Anzahl von kleinen und selbstsüchtigen Gedanken und Gewohnheiten, die
ihr Mann aus seiner Jugend und aus seinen ledigen Jahren mit in die Ehe mitgenommen
hatte, ohne es selber zu merken. Von all dem redete sie, gründlich, ohne Wut und Erregung,
aber auch ohne Rückhalt. Der Mann bekam dabei einen roten Kopf, aber er war innerlich
gesund; er beteiligte sich dabei, die Gründe und die Wurzeln seines Verhaltens
aufzudecken: Es wurde ihm selber ganz wohl dabei, nicht mehr liebevoll bewundert, sondern
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liebevoll kritisiert zu werden. Ganz von selber kam dann das Gespräch auch auf den
Charakter der Frau:
Indem sie ihn ehrlich lieb haben wollte, wurde es ihr ganz selbstverständlich, dass auch er
sie nicht mehr länger als Engel anschaute. Und es kam an den Tag, dass
sie aus ihrem Elternhaus und aus ihrer Entwicklung allerlei mitgebracht hat, was für ihn
peinlich und störend war. Es war ihr nicht im Geringsten zuwider, dass er ihr
das alles nun auch sagte; es war für sie sogar wie eine Erlösung.
Und so fingen die Beiden von dem Tag an ein neues Leben an; es war ihnen, wie wenn sie
an diesem Tag einen grossen Schatz gefunden und gewonnen hätten.
Was hatten sie gefunden? Nichts Schönes und Wertvolles scheinbar: Gegenseitige Mängel
und Fehler waren zum Vorschein gekommen. Wer sie nur von weitem kannte, der hätte
denken können: “Jetzt sind sie enttäuscht; jetzt hat ihr Glück ein Ende!“ Nein, jetzt fing das
Glück an; jetzt war der Grundstein gelegt zu einer sicheren Freude aneinander, zu einem
wirklichen "Sich-Verstehen", indem die Verschiedenheiten von zwei Menschen verbunden
werden. Sie waren damit natürlich noch nicht am Ziel, aber sie atmeten frische, gesunde
Luft, seitdem sich der falsche Dunstschleier verzogen hatte. Sie konnten von jetzt an nicht
nur übereinander den Kopf schütteln, sondern einander begreifen. Sie konnten von jetzt an
nicht nur vergessen, sondern verzeihen, wenn eines einen Fehler machte. Sie konnten nicht
nur Geduld haben miteinander, sondern sie konnten einander vorwärts helfen. Es ist wirklich
alles anderes geworden seit diesem einen Tag. Was hatten sie dort gefunden? Nichts als die
Wahrheit.
"Kaufe Wahrheit und verkaufe sie nicht!" Dies sagt der Schriftsteller in einem Bild. Mit andern
Worten: "Die Wahrheit, die in Liebe offenbar wird, ist etwas so Kostbares, so Wertvolles,
dass Du sie Dir um jeden Preis aneignen musst." Um jeden Preis?
Was ist denn der Preis dafür? Der Preis sind Enttäuschungen - d.h. Täuschungen, die ich
vorher vor meine Augen und um mein Herz gelegt habe, um nicht zu sehen, was ist, die
werden jetzt weg-"gelüpft", weggenommen, enttäuscht, sodass auf einmal das, was ist, zum
Vorschein kommen kann; und das kann weiter heissen: Beschwerlichkeiten und Kämpfe, die
auf einen zukommen und "wo ich hindurchgehen muss", wenn die Wahrheit bei einem
einzieht.
Und es bleibt die Frage: An was kann ich erkennen, dass es die Wahrheit ist, die an mich
herankommt – und nicht vielleicht eine falsche Anklage, ein ungerechter Vorwurf?
Wenn es mich tief drinnen trifft – und dass sie mich danach frei und stark macht, sodass ich
danach umso kräftiger auf beiden Beinen stehe.
Und das Zweite ist: Dass ich es dann auch wage, die Wahrheit zu sagen: Ist die Wahrheit
etwas so Kostbares, dann sind wir es den Menschen um uns herum einfach schuldig, ihnen
die Wahrheit zu sagen: "Das und das stört mich an Dir, und das und das habe ich gegen
Dich!" Statt hintenherum über jemanden zu lästern - und wenn sie oder er in die Nähe
kommt, dann schweige ich:
Ist das nicht der reine Diebstahl, ihm oder ihr die Wahrheit vorzuenthalten, die so kostbar
wäre? Und wenn ich sage: "Ich bin aber nicht ganz sicher, ob es die Wahrheit ist; ob es ihm
oder ihr gut tut, sie zu hören," Dann kann ich es daran erkennen, ob in der Wahrheit die
Liebe mitenthalten ist, ob sie den andern trifft und zugleich fördert und vorwärtsbringt. Wenn
es so ist, dann muss ich reden.
Unter allen Umständen ist die Wahrheit ein Gottes-Geschenk, das wir mit beiden Händen
ergreifen und das wir freigiebig mit beiden Händen austeilen dürfen.
Amen
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