Praxismanual Depression - ReadingSample - Beck-Shop

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Praxismanual Depression
Orthopädische Chirurgie der rheumatischen Hand
Bearbeitet von
Martin Härter, Isaac Bermejo, Wilhelm Niebling
1. Auflage Buch. 182 S. Hardcover
ISBN 978 3 7691 0496 7
Format (B x L): 16,5 x 23,8 cm
Weitere Fachgebiete > Medizin > Chirurgie > Orthopädie- und Unfallchirurgie
Zu Inhaltsverzeichnis
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Kapitel 2
2 Diagnose und Therapie depressiver Erkrankungen
Martin Härter, Isaac Bermejo, Fely Komarahadi, Frank Schneider, Ulrich Hegerl, Wilhelm Niebling, Mathias Berger
2.1 Diagnostik
Jedem Menschen sind Gefühle von Traurigkeit, Niedergeschlagenheit und Unglücklichsein vertraut, die als normale und vorübergehende Reaktionen auf äußere Ereignisse und
belastende Erfahrungen auftreten, wie z.B.
auf den Tod einer nahe stehenden Person.
Depressive Erkrankungen umfassen im Gegensatz dazu Zeitabschnitte von Traurigkeit,
Niedergeschlagenheit und gedrückter Stimmung, die längere Zeit bestehen bleiben und
von den Betroffenen selbst als sehr beeinträchtigend erlebt werden. Depressive Erkrankungen werden oft nicht rechtzeitig erkannt, einerseits weil der Patient in erster
Linie mit somatischen Beschwerden vorstellig wird, andererseits weil Unklarheiten über
die diagnostischen Kriterien bestehen (s. CDROM, Diagnose und Therapie, Folie 10).
Die Klassifikationssysteme der ICD-10
bzw. des DSM-IV fassen depressive Erkrankungen als psychopathologische Syndrome
innerhalb der diagnostischen Kategorie der
„affektiven Störungen“ (F3) mit „Manie“
und „schwerer Depression“ als den beiden
Polen des Gesamtspektrums zusammen. Sie
klassifizieren depressive Erkrankungen rein
deskriptiv auf der Grundlage von Symptomatologie, Schweregrad, Dauer, Verlauf und
Frequenz wiederkehrender Erkrankungsphasen. Die früher üblichen Kategorien wie
„endogene“, „neurotische“ oder „reaktive“
Depression wurden aufgegeben.
In der vorwiegend in Europa angewendeten ICD-10 spricht man von einer „depressiven Episode“, wenn über einen Zeitraum
von mindestens zwei Wochen mindestens
2 der Hauptsymptome und 2 Zusatzsymptome vorhanden sind (s. Abb. 2.1; Anhang;
CD-ROM, Diagnose und Therapie, Folien
11–13). Die depressive Episode des ICD-10
entspricht im Wesentlichen der „Major
Depression“ im amerikanischen DSM-IV-System.
Die Hauptsymptome einer depressiven
Episode beziehen sich auf eine Veränderung
der Stimmung bzw. Affektivität sowie des allgemeinen Aktivitätsniveaus. Zu den Hauptsymptomen gehören:
D eine gedrückte Grundstimmung (tiefe
Traurigkeit): Gefühle der Verzweiflung
und der „inneren Leere“ stellen sich
ohne erkennbaren Anlass ein.
D Interessenverlust (Anhedonie): Die Fähigkeit, sich an wichtigen Dingen oder
Aktivitäten des Alltags zu freuen bzw.
daran teilzunehmen, geht verloren. Der
Interessenverlust kann sich auf alle
Lebensbereiche, also Familie, Freundeskreis, Beruf, aber auch Hobbies, Sport
oder sexuelle Aktivitäten erstrecken.
D eine Verminderung des Antriebs (Energielosigkeit): Das Gefühl einer starken
inneren Müdigkeit und einer Energielosigkeit lässt jede Aktivität beschwerlich
erscheinen. Die Motivation zur Durchführung selbst einfacher Alltagsaktivitäten wie Essenszubereitung oder Körperpflege nimmt ab.
Die drei Hauptsymptome sind zusätzlich
von weiteren depressionstypischen Beschwerden (Zusatzsymptomen) begleitet
wie:
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D verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit: Häufig fällt es depressiven Menschen schwer, mit den Gedanken bei einer
Tätigkeit oder einer Aufgabe zu bleiben.
Unentschlossenheit und ein verlangsamtes Denken sind weitere Anhaltspunkte
für Konzentrationsschwierigkeiten.
D vermindertes
Selbstwertgefühl
und
Selbstvertrauen: Leistungen und Fähigkeiten bewerten depressiv erkrankte
Menschen häufig als sinn- oder nutzlos
und erleben sich dabei als unfähig oder
als Belastung für andere.
D Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit:
Einhergehend mit mangelnden Selbstwertgefühlen neigen depressive Menschen dazu, sich Fehler und Versäumnisse vorzuwerfen, sich dafür verantwortlich und wertlos zu fühlen. Depressive
Denkinhalte umfassen oft Themen wie
Schuld, Sünde und Armut und können
bei schweren Depressionen psychotische
Inhalte umfassen (s.u.).
D negative und pessimistische Zukunftsperspektive: Entsprechend der negativen
Selbst- und Weltsicht wird jeder neuer
Tag als Belastung und die Zukunft als aussichtslos erlebt.
D Suizidgedanken oder Suizidhandlungen:
Wenn Sinnlosigkeit und innere Leere das
Denken bestimmen, können sich Lebensüberdruss und Suizidgedanken entwickeln und zu konkreten Suizidhandlungen führen.
D Schlafstörungen: Zu den häufigsten Zusatzsymptomen einer Depression gehören wiederholtes nicht ein- oder durchschlafen können. Typische Beschwerden
sind morgendliches Früherwachen und
vor lauter Grübeln nicht mehr einschlafen können.
D verminderter Appetit: Depressionen beeinflussen auch den Appetit. Es fehlt der
Genuss beim Essen. Die Betroffenen müssen sich zum Essen regelrecht überwinden. Als Folge nehmen sie häufig ab. In
seltenen Fällen gibt es auch das gegenteilige Phänomen mit deutlich gesteigertem
Essverhalten.
Hilfreiche Fragen zur Exploration von depressiven Haupt- und Zusatzsymptomen
sind in den Arbeitsmaterialien zu finden
(CD-ROM, Diagnose und Therapie, Folien
14–16).
In der ICD-10 werden depressive Syndrome
weiter differenziert nach (s. Abb. 2.1; CD-ROM,
Diagnose und Therapie, Folie 13):
D Schweregrad,
D Vorliegen somatischer oder psychotischer Symptome und
D Verlauf (monophasisch, rezidivierend/
chronisch, bipolar).
Diese Differenzierung ist wichtig, weil damit
Implikationen für die Krankheitsprognose,
die Therapie und das Ansprechen bestimmter
Behandlungsmaßnahmen verbunden sind.
Für die Beurteilung des Schweregrades
eines depressiven Syndroms gelten die folgenden Kriterien (s. Abb. 2.1; CD-ROM,
Diagnose und Therapie, Folien 12–13):
D Sind 2 der Hauptsymptome und zusätzlich 2 weitere Zusatzsymptome vorhanden, ist eine leichte depressive Episode zu
diagnostizieren (F32.0).
D Bei 3 bis 4 Zusatzsymptomen liegt eine mittelgradige depressive Episode vor (F32.1).
D Wenn alle 3 Hauptsymptome und mehr
als 4 Zusatzsymptome vorhanden sind,
ist eine schwere depressive Episode zu
diagnostizieren (F32.2 bzw. F32.3).
Eine leichte bzw. mittelgradige depressive Episode kann zusätzlich mit (F32.00 bzw. F32.11)
oder ohne (F32.01 bzw. F32.10) somatische
Symptome verschlüsselt werden. Die zusätzlichen typischen Merkmale des somatischen
Syndroms sind in Tab. 2.1 aufgelistet (s. CDROM, Diagnose und Therapie, Folie 17).
Bei schweren depressiven Erkrankungen
wird für somatische Symptome keine zusätz-
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Abb. 2.1: Diagnose depressiver Episoden nach ICD-10
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Tab. 2.1: Somatisches Syndrom depressiver Episoden nach ICD-10
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Interessenverlust oder Verlust der Freude an normalerweise angenehmen Aktivitäten
Mangelnde Fähigkeit, auf eine freundliche Umgebung oder freudige Ereignisse emotional zu reagieren
Frühmorgendliches Erwachen, zwei oder mehr Stunden vor der gewohnten Zeit
Morgentief
Psychomotorische Hemmung oder Agitiertheit
Deutlicher Appetitverlust
Gewichtsverlust, häufig mehr als 5% des Körpergewichts im vergangenen Monat
Deutlicher Libidoverlust
Tab. 2.2: Mögliche Wahninhalte einer schweren depressiven Episode [Berger, van Calker 2003]
• Verarmungswahn: Die Sorgen drehen sich um den bevorstehenden finanziellen Ruin und die Befürchtung, die Familie nicht mehr ernähren zu können.
• Hypochondrischer Wahn: Patienten sind überzeugt, körperlich schwer oder unheilbar erkrankt zu sein.
• Versündigungs- und Verschuldungswahn: Patienten glauben sich schuldig gemacht zu haben, bis hin
zur Vorstellung für alle Unglücke der Welt, wie Erdbeben, Kriege, Hungerkatastrophen etc. verantwortlich zu sein.
• Nihilistischer Wahn: Kranke sind überzeugt, innerlich abgestorben zu sein oder in einem Totenreich zu
leben.
• Verkleinerungswahn: Gewissheit, körperlich ständig zu schrumpfen.
liche ICD-10-Kodierung vergeben, da vom
Vorliegen somatischer Symptome ausgegangen wird. Schwere depressive Erkrankungen
können aber von psychotischen Symptomen wie Wahnideen und/oder Halluzinationen begleitet sein. Die Wahninhalte sind
typischerweise von der depressiven Stimmung bestimmt und drehen sich häufig um
Themen wie z.B. Verarmung oder Versündigung (s. Tab. 2.2). Beim Vorliegen zusätzlicher psychotischer Symptome wird die Diagnose F32.3 vergeben (s. Abb. 2.1; CD-ROM,
Diagnose und Therapie, Folie 18).
Bei depressiven Episoden ist der Verlauf
individuell verschieden (s. Kap. 1.3 und Abb.
1.2). Diagnostisch wird zwischen monophasischen (F32.xx) und rezidivierenden (F33.xx)
Verläufen unterschieden. Tritt eine depressive
Episode im Zusammenhang mit mindestens
einer hypomanischen, manischen oder gemischten affektiven Phase in der Anamnese
auf, wird von einer depressiven Episode im
Rahmen einer bipolaren affektiven Störung
(F31.xx) gesprochen. Bei einer chronischen
depressiven Erkrankung, die seit mehreren
Jahren (> zwei Jahre) andauert, deren Symptomatik aber nicht mindestens die Kriterien
einer leichten depressiven Episode erfüllt,
wird der Begriff Dysthymie (F34.1) verwendet. Tritt bei einer Dysthymie zusätzlich eine
depressive Episode auf, wird eine „Double
Depression“ diagnostiziert. Entsprechend
handelt es sich bei der Zyklothymie (F34.0)
um eine anhaltende Stimmungslabilität mit
wechselnden Episoden leichter Depression
und leicht gehobener Stimmung (s. CD-ROM,
Diagnose und Therapie, Folie 13).
D Zur Abgrenzung der verschiedenen
affektiven Störungen und ihres
Schweregrades ist sowohl die aktuelle Symptomatik als auch der bisherige Verlauf ausschlaggebend.
D Eine behandlungsrelevante Diagnose
depressiver Erkrankungen ist nur
durch die direkte und vollständige
Erfassung der Haupt- und Zusatzsymptome sowie Fragen zu Verlauf, Schwere
und dem Vorliegen somatischer bzw.
psychotischer Symptome möglich.
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2.1.1 Erkennen einer Depression
Das frühzeitige Erkennen und Behandeln depressiver Erkrankungen ist für eine optimale
medizinische Versorgung von entscheidender Bedeutung [Pignone et al. 2002; USPSTF
2002; Williams et al. 2002]. Es schützt einerseits die Patienten vor einer Chronifizierung
der Erkrankung und deren möglichen
schwerwiegenden Folgen, andererseits können Komplikationen und Erschwernisse bei
der Behandlung anderer Erkrankungen (z.B.
Einhalten von Behandlungsvereinbarungen
bei Diabetes oder Bluthochdruck) vermieden
werden. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass das frühzeitige Behandeln von
depressiven Episoden einen positiven Einfluss auf die soziale, körperliche und psychische Funktionsfähigkeit der Patienten hat
[Coulehan et al. 1997] und auch die mit der
Erkrankung verbundene Arbeitsunfähigkeit
verringern kann [Rost et al. 2004].
Hausärzte sind häufig die ersten Ansprechpartner für depressive Patienten. Das
Erkennen einer Depression wird aber hier oft
dadurch erschwert, dass Patienten selten
spontan über typische Symptome einer Depression berichten (s. CD-ROM, Diagnose
und Therapie, Folie 10). Oft können sie diese
Symptome nicht zuordnen und vermuten
bei ihren Beschwerden eher organische Ursachen. Nicht selten haben sie Schwierigkeiten, über psychische Beschwerden zu sprechen und beklagen verschiedene somatische
Beschwerden oder allgemeines Unwohlsein.
Deshalb ist es wichtig, dass Hausärzte depressive Erkrankungen in ihren verschiedenen
Symptompräsentationen frühzeitig erkennen und bei körperlichen Beschwerden wie
Schlafstörungen, Appetitstörungen, Kraftlosigkeit, Schmerzen oder anderen unspezifischen Krankheitsmerkmalen eine mögliche
depressive Erkrankung in Erwägung ziehen
(s. Tab. 2.3; CD-ROM, Diagnose und Therapie, Folie 20).
Insbesondere bei Patienten, die einen
oder mehrere der in Tab. 2.4 aufgeführten
Risikofaktoren aufweisen (s. CD-ROM, Diagnose und Therapie, Folie 21), muss auch das
Vorliegen einer depressiven Erkrankung in
Erwägung gezogen werden.
Tab. 2.3: Beschwerden, die auf eine depressive Störung hinweisen können
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Allgemeine körperliche Abgeschlagenheit, Mattigkeit
Schlafstörungen (Ein- und Durchschlafstörungen)
Appetitstörungen, Magendruck, Gewichtsverlust, Obstipation
Diffuser Kopfschmerz
Druckgefühl in Hals und Brust
Funktionelle Störungen von Herz und Kreislauf, Atmung, Magen und Darm
Schwindelgefühle, Flimmern vor den Augen, Sehstörungen
Muskelverspannungen, diffuse neuralgiforme Schmerzen
Libidoverlust, Sistieren der Menstruation
Tab. 2.4: Risikofaktoren für eine depressive Störung
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Frühere depressive Episoden
Bipolare oder depressive Störungen in der Familiengeschichte
Suizidversuche in der eigenen Vor- oder der Familiengeschichte
Komorbide somatische Erkrankungen
Komorbider Substanzmissbrauch
Aktuell belastende Lebensereignisse
Mangel an sozialer Unterstützung
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Für diese Risikogruppen ist ein Screening, d.h. die Identifizierung möglicherweise depressiv Erkrankter, durch gezieltes Fragen mithilfe spezifischer Testverfahren angebracht [NICE 2004]. Bei Hinweisen auf
depressive Symptome oder auffällige Testwerte sollte eine weitere ausführliche Diagnosestellung veranlasst werden. Hingegen ist
ein breites Routine-Screening aller Patienten
wegen des nicht nachgewiesenen Einflusses
auf Erkennen, Behandlung oder Behandlungsergebnis von Depressionen sowie wegen des Zeit- und Kostenaufwands nicht zu
empfehlen [Gilbody et al. 2005].
Zur schnellen und zeitökonomischen
Abklärung des Verdachts einer möglichen
depressiven Erkrankung ist z.B. der sog. 2Fragen-Test zu empfehlen, der eine Sensitivität von 96% aufweist [Whooley et al. 1997]
(s. CD-ROM, Diagnose und Therapie, Folie
22). Werden die beiden folgenden Fragen
mit „Ja“ beantwortet, ist es ratsam, das Vorhandensein einer depressiven Erkrankung
anhand der ICD-10-Kriterien klinisch zu
diagnostizieren.
D Fühlten Sie sich im letzten Monat häufig
niedergeschlagen, traurig, bedrückt oder
hoffnungslos?
D Hatten Sie im letzten Monat deutlich
weniger Lust und Freude an Dingen, die
Sie sonst gerne tun?
Praktikable Screening-Verfahren, die sich
aufgrund der Kürze und einfachen Auswertung für den hausärztlichen Gebrauch, aber
auch im klinischen Setting anbieten, sind
z.B. der „WHO-Fünf-Fragebogen zum Wohlbefinden“ [WHO 1998a, www.who-5.org;
Henkel et al. 2003] und der „Gesundheitsfragebogen für Patienten (PHQ-D)“ [Löwe et al.
2001; Spitzer et al. 1999]. Beide Verfahren
sind Kap. 6.2 zu entnehmen und ohne
Lizenzgebühren frei zugänglich.
D Eine depressive Störung sollte auch
bei primär körperlichen Beschwerden erwogen werden, da viele
Patienten häufig über somatische
Beschwerden klagen.
D Eine gute Hilfestellung zum Erkennen depressiver Erkrankungen bietet
der „2-Fragen-Test“.
D Positive Ergebnisse von Fragebögen,
z.B. Screenern, müssen immer klinisch durch die Erfassung der ICD10-Kriterien bestätigt werden.
2.1.2 Komorbidität
Andere psychische Störungen
Bei vielen psychischen Erkrankungen, wie
z.B. bipolaren Erkrankungen, psychotischen
Erkrankungen (v.a. Schizophrenie) oder
einer schizoaffektiven Erkrankung, gehören
depressive Symptome zum typischen Krankheitsbild. Bei einer Schizophrenie ist es häufig schwierig, die Symptome einer depressiven Erkrankung von den negativen Symptomen der schizophrenen Grunderkrankung
wie sozialer Rückzug, verflachter Affekt und
Apathie zu unterscheiden. Aufgrund dessen
ist bei entsprechendem Verdacht eine differenzialdiagnostische Abgrenzung unter Einbeziehung eines Facharztes ratsam, um möglichen Komplikationen bei der Behandlung
vorzubeugen.
Depressive Erkrankungen treten oft
gleichzeitig mit anderen psychischen Erkrankungen auf. Besonders häufig zeigt sich
eine Komorbidität mit Angst- und Panikstörungen, somatoformen Störungen, Substanzmissbrauch sowie Ess- und Persönlichkeitsstörungen (s. Abb. 2.2) [Cole, Raju
1996; Goldman et al. 1999; Kennedy et al.
2004]. Komorbidität geht meistens mit stärkerer Symptomschwere, Chronizität, höherer funktioneller Beeinträchtigung, einer
höheren Suizidrate und einem geringerem
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Abb. 2.2: Aktuelle Prävalenz einer depressiven Episode bei anderen psychischen Störungen (DSM-IV) [nach
Kennedy et al. 2003]
Ansprechen auf eine medikamentöse oder
psychotherapeutische Behandlung einher
[Bakish 1999; Goldney et al. 2000; Kaufman,
Charney 2000]. Eine differenzialdiagnostische Abklärung einer psychischen Komorbidität hat eine große Relevanz, da diese
sowohl die Behandlung und Prognose der
depressiven Grunderkrankung erschwert als
auch das Ausmaß von Einschränkungen und
Behinderungen beeinflussen kann. Diese
Abklärung sollte in der Regel durch einen
Facharzt und/oder Psychotherapeuten erfolgen.
Bei Patienten mit mehreren Erkrankungen oder älteren Patienten kann die Diagnose einer depressiven Störung erschwert
sein, da bei ihnen Symptome wie allgemeine
Schwäche oder Schlafstörungen auch unabhängig von einer Depression auftreten können. Als Hinweise für eine behandlungsbedürftige Depression können Symptome wie
Schuldgefühle, starrer Affekt, Tagesschwankungen mit Morgentief, depressive Wahnvorstellungen, Suizidalität oder ein phasenhafter Verlauf der Störung mit früheren
depressiven Episoden angesehen werden.
Auch das Vorliegen einer depressiven Anpassungsstörung (z.B. als eine Trauerreaktion nach Verlust des Partners oder nach Diagnose einer körperlichen Erkrankung), die
besonders bei älteren Patienten mit depressiven Symptomen häufiger vorkommt [Müller-Spahn 2002], sollte ausgeschlossen werden. Die Grenze zwischen unbewältigter
Trauer und einer depressiven Verstimmung
ist nicht immer klar, jedoch kann als Anhaltspunkt gelten, dass Trauerreaktionen zumeist innerhalb von zwei Monaten nach
einem schweren Verlust nachlassen. Weitere
Unterschiede sind [Pies 1994]:
D Bei Trauerreaktionen besteht für gewöhnlich eine Ansprechbarkeit für positive Ereignisse (Schwingungsfähigkeit).
D Trauerreaktionen sind nicht mit vegetativen Symptomen verbunden, wie z.B.
Gewichtsabnahme, frühmorgendlichem
Erwachen und Rückgang der psychomotorischen Leistungsfähigkeit.
D Es gibt gewöhnlich keine Anzeichen für
andauernde, schwere Selbstzweifel oder
starke Schuldgefühle. Suizidabsichten
sind eher selten.
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D Sie führen für gewöhnlich nicht zu Phasen anhaltender Unfähigkeit zu sozialer
oder beruflicher Rollenerfüllung (> 3 Monate).
Bei Verdacht auf eine komorbide psychische
Störung kann im hausärztlichen Bereich ein
direktes Erfragen mittels Schlüsselfragen (s.
CD-ROM, Diagnose und Therapie, Folie 23)
eine ökonomische Möglichkeit zur vorläufigen Abschätzung einer psychischen Komorbidität sein. Falls eine dieser Screening-Fragen mit „Ja“ beantwortet wird, sollte eine
vertiefende Exploration und Abklärung
durchgeführt werden. Bei Verdacht auf eine
klinisch relevante Komorbidität sollte die
Überweisung zum Facharzt und/oder Psychotherapeuten in Erwägung gezogen werden.
Körperliche Erkrankungen
Neben psychischen Erkrankungen können
auch viele somatische Erkrankungen (z.B.
muskuloskelettale und Tumorerkrankungen,
endokrinologische und kardiovaskuläre Erkrankungen) von einer depressiven Symptomatik begleitet sein [Baumeister, Härter
2005; Goodwin et al. 2003; Härter 2002;
Honda, Goodwin 2004]. Für das komplexe
Zusammenspiel von somatischer Erkrankung und psychischer Belastung lassen sich
mehrere klinisch sinnvolle Erklärungsmöglichkeiten unterscheiden, die in Tab. 2.5 zusammengestellt sind (s. CD-ROM, Diagnose
und Therapie, Folie 24) [Härter 2002].
Auch Medikamentenwirkstoffe können
eine depressive Symptomatik verursachen
oder verstärken (s. Tab. 2.6) [Berger, van Calker 2003]. Aufgrund dessen ist vor einer
Behandlung eine routinemäßige Erfassung
der verschriebenen und zusätzlich eingenommenen Medikamente notwendig.
Nach einer WHO-Studie ist ein Jahr nach
einer depressiven Erkrankung das Risiko körperlich zu erkranken beinahe zweifach erhöht [Ormel et al. 1999]. Dazu zählen u.a.
arteriosklerotische Herzerkrankungen, Krebs,
Migräne, Asthma bronchiale, Allergien, Diabetes mellitus Typ II und Infektionserkrankungen [Baumeister et al. 2005; Härter 2002;
Honda, Goodwin 2004; McDaniel et al.
1995; Wulsin, Singal 2003]. Komorbide depressive Erkrankungen beeinflussen Morbidität, Mortalität und die Lebensqualität von
somatisch erkrankten Patienten erheblich
und haben eine stärkere Inanspruchnahme
medizinischer Versorgung und höhere Gesundheitskosten zur Folge. Somatisch erkrankte Patienten mit komorbider Depression leiden häufiger unter zusätzlichen Erkrankungen als Patienten ohne komorbide
Depression [Baumeister, Härter 2005]. Das
Tab. 2.5: Erklärungsmöglichkeiten für somato-psychische Komorbiditäten am Beispiel depressiver
Erkrankungen
• Die depressiven Symptome können auf biologischer bzw. physiologischer Ebene durch die somatische
Erkrankung oder die zur Behandlung eingesetzten Medikamente ausgelöst werden (z.B. eine Schilddrüsenunterfunktion löst depressive Symptome aus).
• Die somatische Erkrankung kann bei genetisch vulnerablen Personen ein auslösender Faktor für eine
depressive Episode sein (z.B. ein Morbus Cushing geht der depressiven Erkrankung voraus).
• Depressive Symptome können sich als Reaktion auf eine somatische Erkrankung und ihre Behandlung
entwickeln (z.B. eine Krebserkrankung löst eine depressive Anpassungsstörung aus).
• Eine depressive Erkrankung kann dem Beginn körperlicher Symptome bzw. Erkrankungen vorausgehen und/oder sie ungünstig beeinflussen (z.B. eine unbehandelte depressive Störung beeinflusst den
Übergang von akuten zu chronischen Rückenschmerzen).
• Die somatische und die depressive Erkrankung können auch zeitlich koinzident, d.h. nicht kausal miteinander verbunden sein.
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2.1 Diagnostik
Tab. 2.6: Auswahl von Medikamenten, die bei Anwendung oder Absetzen Depressionen (mit)bedingen können [nach Berger, van Calker 2003; Kennedy et al. 2004]
Analgetika/Entzündungshemmer
Ibuprofen
Opiate (z.B. Morphin)
Phenacetin
Phenylbutazon
Pentazocin
Antihypertensiva, Kardiaka, Antiarrythmika
β-adrenerge Betablocker
Clonidin
Digitalis
Disopyramidphosphat
Guanethidin
Lidocain
Metoprolol
Prazosin
Reserpin
Methyldopa
Antibiotika/Fungizide
Ampillicin
Cycloserin
Gyrasehemmer
Isoniazid
Sulfonamide
Streptomycin
Tetracyclin
Zentral wirksame Stoffe
Baclofen
Carbamazepin
Levodopa
Phenythoin
Barbiturate
Benzodiazepine
Chlorpromazin
Steroide und hormonartige Stoffe
Orale Kontrazeptiva
Glukokortikoide
Cimetidin
Indometacin
Stimulanzien, Sedativa, Hypnotika
Amphetamine
Benzodiazepine
Zytostatika
Vinca-Alkaloide (z.B. Vincristin, Vinblastin)
Andere
Cholinesterase-Hemmer
Cholin
Physostigmin
Disulfiram
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