Deutsche Sprachinseln in der Slowakei

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Spuren gemeinsamer Vergangenheit – Europa orientierter Beitrag auf Basis
regionaler Geschichtsforschung
Thema 1:
Ostsiedlung (Košice/Slowakei) → Für Demokratie
b) Deutsche Ansiedlungen in Osteuropa seit dem Mittelalter
(Eva Janetzko, Viktoria Miller)
a) Deutsche Sprachinseln in der Slowakei
(Patrik Šmihuľa, Jozef Antoník, Mária Čřmárová, Michal Hudák, Pavol Sivý)
Thema 2:
Ausrottung (Genozid) (Rīga/Lettland) → Für Erinnerung
b) Die Deportation von Würzburger Juden nach Riga im November 1941
(Alexander Schüßlbauer, Antonia Michel, Elena Yuschenko)
a) Die Würzburger Juden im Rigaer Ghetto und ihre Liquidierung
(Madara Jauģiete, Artūrs Gailis, Austra Klotiņa, Evija Vecumńiece)
Thema 3:
Widerstand (Leszno/Polen) → Für Verantwortung
a) Ohne Widerstand leisten zu können
(Martyna Nortmann, Monika Sikorska)
b) Widerstand gegen die NS-Diktatur in Würzburg?
(Peter Engelmann, Christian Parth, Franz-Julian Seufert)
Thema 4:
Zerstörung (St. Petersburg/Russland) → Für Zukunft
a) Zerstörung von Kulturerbe in Leningrad durch die Deutsche Wehrmacht
(Tatjana Pachomenkowa, Igor Dolgopolow, Ekaterina Iwakina, Natalia Sabonina)
b) Die Zerstörung Würzburgs durch alliierte Bomberverbände 1945
(Johannes Hauck, Anastasia Alles, Annalena Kraus)
Thema 5:
Vertreibung (Heves/Ungarn) → Gegen Vergessen
a) Die Vertreibung der Ungarndeutschen gemäß dem Potsdamer Abkommen
(Szabó Eszter, Vasas Bence, Horváth József, Vona Zsófia, Balogh Dániel, Pataki István,
Török Éva, Nagy Alexandra, Nagy Blanka, Horváth Erika, Sinkovics Boglárka, Király
Éva, Fütö Rózsa, Barna Barbara, Rékasi Nikolett)
b) Vertriebene Ungarndeutsche finden im Raum Würzburg eine neue Heimat
(Moritz Bierwirth, Jonas Dietz, Sylvia Fekete)
Die einzelnen Beiträge wurden nach Themenbereichen in chronologischer
Abfolge geordnet. Die korrespondierenden b-Themen wurden von
Arbeitsgruppen der Gustav-Walle-Schule Würzburg aufbereitet und mit den
Rahmenbegriffen verknüpft.
Deutsche Ansiedlungen in Osteuropa seit dem Mittelalter
Die Ansiedlung von Deutschen in den von Slawen, Awaren und Ungarn nur dünn bevölkerten
Gebieten im Osten und Südosten des Römisch-Deutschen Reiches im Mittelalter ging im 8.
Jahrhundert von Bayern aus in die Donauebene und die Ostalpenländer. Diese wurde nach
dem Sieg über die Ungarn im Jahre 955 wieder aufgenommen und war dann um die Mitte des
11. Jahrhunderts abgeschlossen. Während die Sachsenkaiser (Ottonen) mit der Gründung
zahlreicher Missionsbistümer eine wichtige Voraussetzung der späteren Ostsiedlung schufen
und die mittelelbischen Lande gewannen, setzte sie sich im Nordosten des Reiches erst im 12.
Jahrhundert durch. Die slawische Bevölkerung wurde dabei nur teilweise verdrängt,
besonders wenn sie sich der wirtschaftlichen und technischen Überlegenheit der neuen Siedler
widersetzte, sonst aber in das Siedlungswerk mit eingeschlossen. Aus der Verschmelzung der
Einwanderer mit der slawischen Bevölkerung sind die mittel- und ostdeutschen Neustämme
hervorgegangen.
Ein Sonderfall der deutschen Ostsiedlung, auch deutsche Ostkolonisation genannt, war die
Staatsgründung des deutschen Ordens, durch den Ostpreußen, Kurland und Livland
christianisiert und deutsche Städte gegründet wurden; bäuerliche Siedlungen entstanden nur in
Ostpreußen. Wichtig waren auch die Rodungen, vorbildlichen Wirtschaftshöfe und
Dorfgründungen der Zisterzienser und Prämonstratenser sowie die Niederlassungen der
Johanniter und Templer. Von Bedeutung waren ferner die Ritter und Geistlichen im Gefolge
der mit slawischen Fürsten vermählten deutschen Fürstentöchter, die auf dem ihnen
übergebenen Grundbesitz deutsche Bauern ansiedelten. Die Hanse stellte die Handels- und
Seeverbindung mit Mittel- und Westeuropa her.
Seit dem 13. Jahrhundert haben sich die Staatsgrenzen durch die Ostsiedlung kaum mehr
verändert. Die Volks- und Sprachgrenzen waren weitgehend durch die Ostsiedlung verwischt,
als um 1350 aus nicht völlig erklärbaren Gründen, höchstwahrscheinlich auf Grund großer
Pestepedemien, die Siedlungsbewegung abebbte und schließlich stillstand.
Für die Migration nach dem Osten gab es sowohl politische als auch wirtschaftliche Gründe.
Der politische Beweggrund für die erste Auswanderungswelle nach dem Osten, besonders aus
Hessen, war der Siebenjährige Krieg von 1756 bis 1763. Preußen musste damals gegen
Österreich und seinen Verbündeten Frankreich nicht nur um den Erhalt seiner Länder in
Schlesien, sondern auch um die im Westen Deutschlands (Minden, Kleve, Geldern,
Ostfriesland, Lingen) kämpfen. Dadurch wurde Hessen, das zu damaliger Zeit aufgeteilt war
in viele kleine und mittlere Fürstentümer, Herzogtümer, Grafschaften und Bistümer, von den
kriegführenden Staaten Frankreich und Preußen sehr stark in Mitleidenschaft gezogen. Einige
hessische Kleinstaaten wie die Landgrafschaft Friedrichs II. von Hessen-Kassel schlossen
Subsidienverträge ab, durch die hessische Truppen gegen hohe Geldleistungen fremden
kriegführenden Mächten zur Verfügung gestellt wurden. Um diesen Militärdiensten zu
entgehen, flohen viele junge Männer und meldeten sich zur Auswanderung nach dem Osten.
Zu den politischen Verhältnissen der damaligen Zeit kamen aber auch noch wirtschaftliche
Motive hinzu nach Osteuropa auszuwandern. In großen Teilen Hessens war die Not der
Bevölkerung vor allem wegen des unfruchtbaren Bodens und der Schäden durch Wild schier
ins Unendliche gestiegen. Hinzu kamen hohe Pachten und Zinsen, die für die Bevölkerung
untragbar wurden; die Ernteerträge reichten nicht mehr aus, um die Pacht- und Zinsgelder an
die Grundherren zu zahlen. Die Verschuldung der Landbevölkerung nahm deshalb sehr
schnell zu, so dass ein Teil der Bauern gezwungen war, das zu bestellende Land zu verkaufen.
Schließlich bewirkte der Mangel an ausreichender Weidefläche einen drastischen Rückgang
des Viehbestandes. Die ungenügende Versorgung der Bevölkerung mit Nahrung führte also
letztlich dazu, dass ein Großteil von ihr – nicht zuletzt den Verlockungen auf eine bessere
wirtschaftliche Zukunft ausgesetzt – nach Osteuropa abwanderte.
So folgte auch die Familie Sackmann aus Rielingshausen in Schwaben (heute ein Ortsteil von
Marbach am Neckar) im Jahre 1763 dem Ruf der Zarin Katharina II., in Russland zu siedeln.
Bereits ein Jahr später begann die Auswanderungswelle an die Wolga und nach und nach
umfasste sie 100.000 Personen, die die Privilegien in Russland annehmen wollten. Als Zar
Alexander I. zunächst Napoleon und dann die Türken bezwungen hatte und auch Bessarabien
besetzte, rief er deutsche Bauern ins brachliegende Land, um das von den Türken befreite
Bessarabien landschaftlich zu erschließen. 1814 bis 1842 folgten 8.000 Einwanderer seinem
Ruf dorthin; 1817 war auch die nachfolgende Generation der Familie Sackmann dabei, die
sich zwischen den Flüssen Dnjestr und Pruth niederließ und mit anderen Siedlern das Dorf
Marienfeld gründete. Bessarabien – der Name leitet sich von dem ehemaligen walachischen
Fürstengeschlecht der Basarab ab, die vom 14. bis 16. Jahrhundert ihre Herrschaft über diesen
Landstrich ausdehnten – wurde nach wechselvoller Geschichte 1940 wiederum Bestandteil
von Russland. Mit der sich anschließenden Umsiedlung aus Bessarabien endete die
Geschichte der Deutschen im Osten. Heute ist der Name von der Landkarte gestrichen und
Bessarabien aufgeteilt zwischen den Staaten Moldawien und Ukraine.
Eine starke deutsche Besiedlung vollzog sich auch in der Zips, einem Gebiet, das in der
heutigen Mittelslowakei südöstlich der Hohen Tatra liegt und bis in die südliche Ostslowakei
reicht. Bis 1945 war es überwiegend von Deutschen besiedelt. Diese waren ab dem 12. und
13. Jahrhundert von den ungarischen Königen ins Land geholt worden. Die von den
Deutschen gegründeten Orte erhielten später Sonderrechte und eine Selbstverwaltung, die bis
1876 bestand. Durch die Lage konnten sich die Sitten und Bräuche der alten Heimat
weitgehend erhalten – und auch die Sprache und zwar in der Mundart, wie sie noch vor 200
Jahren gesprochen wurde. Viele deutsche Wörter fanden somit Aufnahme in die slowakische
Sprache. Sie haben die selbe Bedeutung, sie unterscheiden sich lediglich in ihrer Schreibweise.
Hier einige wenige Beispiele:
deutsch
slowakisch
Strümpfe
Vorhang
Bügeleisen
spazieren(gehen)
Schnitzel
Krankenhaus (Spital)
štrimpfl’e
firhang
bigl’ajs
špacirovat’
šnicel’
špital’
Deutsche Sprachinseln in der Slowakei
Im Themenbereich der 7. Jahrgangsstufe Slowaken im Ungarischen Staat haben wir im
Geschichtsunterricht erfahren, wie unser heutiges Staatsgebiet seit dem Mittelalter vom
Ausland her besiedelt wurde. Unser Geschichtslehrer erzählte uns, wie unser Land nach der
Verwüstung durch die Tartaren aussah und weshalb die Herrscher ein Interesse daran hatten,
dieses Gebiet neu zu besiedeln. Als unser Lehrer erwähnte, dass auch in unserer Umgebung
noch viele solche Nachfahren dieser ersten Ansiedler wohnen, fingen wir an uns für sie zu
interessieren, vor allem aber woher diese Siedler in unser Gebiet kamen. Wir haben gehört,
dass die Siedler von damals aus Deutschland kamen; heute sind die Nachkommen im
„Karpatendeutschen Verein (KDV)“ organisiert.
Um die Vergangenheit der Karpatendeutschen besser kennen zu lernen, luden wir die
Vertreter des Karpatendeutschen Vereins zu einem Gespräch in unsere Schule ein. Am 27.
Januar 2005 konnten wir den stellvertretenden Vorsitzenden des KDV, Herrn Ing. Wilhelm
Gedeon, und die Kulturreferentin, Frau Mgr. Lenka Dzugasova, bei uns begrüßen. Herr
Gedeon brachte uns die Geschichte der deutschen Siedler und ihre Tätigkeiten bis in die
Gegenwart nahe. Dabei erklärte er, dass der Begriff „Karpatendeutsche“ erst seit dem Jahre
1918 benutzt wird, um sie von den anderen Deutschen des Karpatenbogens unterscheiden zu
können. Dieser Begriff trägt auch dazu bei, jene Deutschen besser von den „Sudetendeutschen“ auseinanderzuhalten.
Vom 12. bis 14. Jahrhundert besiedelten die Deutschen drei große Gebiete in der Slowakei:
Bratislava (Pressburg), Hauerland und die Zips. In unser Land wurden die Siedler durch die
damalige Obrigkeit eingeladen und zugleich wurden ihnen verschiedene Privilegien zuteil.
Also wanderten Handwerker, Händler und auch Geistliche in die Slowakei ein. Im Mittelalter
beeinflussten die Deutschen markant die damalige Kultur und Bildung. Bei der Gründung
unserer mittelalterlichen Städte wurden auch die deutschen Stadtrechte vergeben. Mit Hilfe
der deutschen Einwohner kamen die Kunst, das gotische Bauwesen, das Kunstgewerbe und
auch Stadtordnungen in die Slowakei. Bauern, Handwerker, Kaufleute und Bergarbeiter
trugen zur Entwicklung der heimatlichen Produktion und des Handels wesentlich bei.
Deutsche Siedler wurden unter der Regierungszeit des ungarischen Königs Stefan I. in die
Slowakei gerufen. Die meisten von ihnen wanderten in unser Gebiet im 13. und 14.
Jahrhundert ein. Das größte Siedlungsgebiet der Karpatendeutschen ist die Zips. Zu den
weiteren Zentren gehören die Städte Kesmark, Leutschau, Göllnitz, Metzenseifen und Stoß.
Nach realistischer Schätzung betrug die Anzahl der Deutschen in der Slowakei im Mittelalter
zwischen 200.000 und 250.000 Menschen, was etwa ein Viertel der damaligen Bevölkerung
ausmachte. Nach der Volkszählung des Jahres 1930 lebten in unserem Land 154.821
Deutsche; das waren knapp fünf Prozent der gesamten Bewohner der Slowakei. Mehr als 90
Prozent von ihnen wurden nach 1945 gemäß der Potsdamer Beschlüsse gezwungen, das
slowakische Gebiet zu verlassen. Im Jahre 1991 bekannten sich zur deutschen Nationalität nur
noch 5.629 Personen.
Frau Mgr. Dzugasova erzählte uns auch etwas über die karpatendeutsche Kultur und Lebensweise, über Traditionen und andere Unternehmungen im Rahmen des Karpatendeutschen Vereins. Dabei konnten wir auch den Dialekt der Mantaken (alte Bezeichnung für die Karpatendeutschen) kennen lernen und hören, den man heute noch in der Zips und in Metzenseifen
spricht. Wir hoffen, mehr davon im Museum von Metzenseifen zu erfahren, das wir bald
besuchen werden.
Mit dem Lebenslauf von Herrn Gedeon und seinen Erinnerungen wollten wir auch die
Geschichte einzelner deutscher Familien in der Ostslowakei kennen lernen; Folgendes
konnten wir dabei erfahren:
Wilhelm Gedeon wurde im Jahre 1922 in Metzenseifen als Sohn einer Hammerschmiedebesitzer-Familie geboren. Seine Familie besaß mehrere Hammerwerke im Metzenseifental. In
seinem Geburtsort besuchte er die deutsche Volksschule, wechselte dann an das deutsche
Realgymnasium, wo er 1942 das Abitur machte. Während des 2. Weltkrieges erlebte er als
Nachhilfelehrer an einer deutschen Schule die Evakuierung und den nachfolgenden Transport
nach Österreich. Freigelassen wurde er im Jahre 1945. Zur gleichen Zeit lief in der Slowakei
die Konfiszierung des deutschen Vermögens. Familie Gedeon verlor alle ihre Hammerwerke,
den gesamten Grundbesitz und auch ihr Einfamilienhaus. Das Haus allerdings wurde ihr zwei
Jahre später wieder zurückgegeben.
Nach dem Krieg setzte Herr Gedeon das Studium im Fach Bauwesen an der Technischen
Hochschule fort. Von 1952 an arbeitete er als Projektleiter in einer Konstruktionsfirma. Seit
1990 (Gründung des KDV) engagiert er sich im Karpatendeutschen Verein; dort ist er
stellvertretender Vorsitzender, der die Deutschen in der Slowakei sprachlich und kulturell
wieder stärken möchte.
In seinen „Erinnerungen“ erwähnte Herr Gedeon, dass es in „deutschen“ Gebieten wie z. B. in
Metzenseifen, Stoß, Göllnitz und Deutschendorf verboten war, in den deutschen Schulen
deutsch zu sprechen. Zu Hause aber sprachen die Angehörigen der deutschen Nationalität den
Mantakendialekt. In diesem Zusammenhang zeigte er uns einen Neujahrsgruß. Die Verse sind
im Dialekt der Mantaken geschrieben und gleichzeitig auch ins Hochdeutsche übersetzt;
beides konnten wir vergleichen. Es war äußerst interessant, das ursprüngliche Deutsch aus
dem 14. bis 17. Jahrhundert, die Sprache der Karpatendeutschen, kennen zu lernen.
Auch hatten wir die Möglichkeit, einen Blick auf den Stammbaum von Herrn Gedeon zu
werfen. Dieses Dokument beinhaltet Angaben über seine Familienahnen bis über das Jahr
1797 hinaus (Gedeon Michael – Urururgroßvater). Alle Ahnen von Herrn Gedeon waren
Hammerschmiede.
Ein großer Teil der Einwohner von Metzenseifen tragen deutsche Familiennamen und wie es
in der Publikation „Metzenseifen-Stoß“ (Deutsche Orte im Bodwatal) steht, wurden die
Gedeons in ihren Nachnamen voneinander durch verschiedene Beifügungen auseinandergehalten; als Beispiele seien genannt Gedeon-Parwetomes oder Gedeon-Ölz.
Christ a gut neö Joa,
pessa abi es alte boa.
Hentan Úwn lukz avoa,
met gekreösltn Hoa.
Christ, ein gutes neues Jahr,
besser als das alte war.
Hinter dem Ofen schaut es hervor
mit dem gekräuselten Haar.
Metten en Tesch
steht a geprútena Fesch.
Dapei a Pecha Bein,
tas de Fraa ond da Harr
solln losteg sein.
Mitten am Tisch
steht ein gebratener Fisch.
Dabei ein Glas Wein,
dass die Frau und der Herr
lustig sollen sein.
A zbe Kreöza en de Hant,
a Stück Kuchn fa de Zänt.
Nech losst mich lang stehn,
ich muss a Häösl beitra gehn.
A zwei Kreuzer in die Hände,
ein Stückchen Kuchen für die Zähne.
Nicht lasst mich lange stehen,
Ich muss ein Häuschen weiter gehen.
Die Deportation von Würzburger Juden nach Riga im November 1941
Am 30. Januar 1941 kündigte Adolf Hitler, wie bereits am 1. September 1939 im Deutschen
Reichstag in Berlin darauf hingewiesen, erneut an, dass der Nationalsozialismus nun, da er
sich auf dem Höhepunkt seiner politischen und militärischen Macht befand, die letzten
Hemmungen in seinem gnadenlosen Kampf gegen das Judentum abzustreifen bereit war. Die
Juden im so genannten Dritten Reich – entrechtet, enteignet, verfemt und durch die Pogrome
Anfang November 1938 äußerst verängstigt – konnten sich, auch wenn es seit Kriegsbeginn
so gut wie keine Möglichkeit zur Flucht aus diesen unmenschlichen Verhältnissen oder zur
Auswanderung aus Deutschland mehr gab, einen Massenmord an einem ganzen Volk nicht
einmal in ihren schlimmsten Angstträumen vorstellen.
Doch bereits zwei Monate später, am 30. März 1941, begründete Hitler auf einer
Geheimkonferenz vor den Befehlshabern der Wehrmacht den bevorstehenden Überfall auf die
Sowjetunion mit der Notwendigkeit einer „endgültigen Vernichtung der jüdischen Rasse“ in
Europa. Hermann Göring übertrug am 31. Juli 1941 in seiner Eigenschaft als „Beauftragter
für den Vierjahresplan und als Vorsitzender des Ministerrats für Reichsverteidigung“ dem
Chef des Reichssicherheitshauptamtes und damit der Sicherheitspolizei Reinhard Heydrich
„die Endlösung der Judenfrage“ anzugehen. Der SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann,
Leiter des Judenreferats im Reichssicherheitshauptamt, wurde von ihm mit dieser
organisatorischen Aufgabe und deren fürchterlichen Durchführung betraut.
Schon am 1. September 1941 erließen die NS-Behörden eine Polizeiverordnung zum
Reichsbürgergesetz, indem es Juden, die das sechste Lebensjahr vollendet haben, verboten ist,
sich in der Öffentlichkeit ohne einen Judenstern zu zeigen. In Würzburg erfuhren die Bürger
von dieser Polizeiverordnung am 9. Oktober 1941 aus der „Mainfränkischen Zeitung“. Denn
zu diesem Zeitpunkt liefen bereits die Deportationen von deutschen und österreichischen
Juden zur Vernichtung in den Osten, vor allem nach Polen an. Die offiziellen Stellen des
Dritten Reiches bezeichneten diese Transporte zynisch als „Evakuierung“. Und im November
und Dezember 1941 sollten 50.000 Juden aus dem Reich nach Riga/Lettland und
Minsk/Weißrussland deportiert werden.
Für die Durchführung der Judendeportationen aus Würzburg war Michael Völkl verantwortlich, der stellvertretende Leiter der Würzburger Gestapo und für Juden zuständig; die
Gestapo Würzburg war eine Außendienststelle der Staatspolizeidienststelle Nürnberg-Fürth.
Völkl war es auch, der nach einer Dienstbesprechung am 3. November 1941 die Liste für die
„zum Transport für Umsiedlungszwecke“ 202 Würzburger Juden erstellte. Denn am 25.
Oktober 1941 wurde die berüchtigte 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz erlassen,
wonach alle Personen „bei Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts ins Ausland“ die
deutsche Staatsangehörigkeit verlieren; des Weiteren „verfällt dem Reich“ das Vermögen der
nunmehr Staatenlosen.
Die für die Deportation vorgesehenen Juden hatten sich am 23. November ab neun Uhr in der
Würzburger Gestapo-Dienststelle in der Ludwigstraße 2 zur „Belehrung“ einzufinden. Dort
erhielten sie auch ein Merkblatt, in dem alle Einzelheiten des Abtransportes beschrieben
waren. So musste sich jede für die „Evakuierung“ benannte Person für mindestens drei
Wochen Marschverpflegung und für vier weitere Tage Mundvorrat aus den in ihren Besitz
befindlichen Lebensmittelkarten beschaffen. Weiterhin war ein Transportkoffer mit einem
Höchstgewicht von 50 Kilogramm am 26. November 1941 zwischen acht und zehn Uhr zum
Güterbahnhof Würzburg-Aumühle zu bringen, das Gettogepäck hatte schon ab dem 25. No-
vember zur Abholung durch das jüdische Arbeitskommando bereitzustehen. Für die Transportkosten waren 60 Reichsmark mitzuführen. Am 24. November 1941 mussten bereits im
Laufe des Tages alle Wertsachen und Urkunden sowie eine gewissenhaft ausgefüllte
Vermögensaufstellung in einem festen offenen Briefumschlag, mit genauer Adresse und der
Evakuierungsnummer verzeichnet, bei der Staatspolizei – Außendienststelle Würzburg
abgeliefert werden. Die Wohnungen waren so herzurichten, dass sie beim Verlassen am 26.
November polizeilich versiegelt werden konnten. D. h. das Feuer in den Öfen musste gelöscht
sein, die Gas- und Lichtrechnungen waren vorher bei den Städtischen Werken noch zu
begleichen, verderbliche Waren mussten aus der Wohnung entfernt werden, überhaupt war
diese in sauberen Zustand zu hinterlassen. Selbst hatte man sich dann am 26. November 1941
in der Zeit von 14 bis 16 Uhr in der Stadthalle (auch „Schrannenhalle“ genannt) hinter dem
Stadttheater in Würzburg zum Abtransport zu melden, um dann dort sämtliche Haus- und
Zimmerschlüssel der Staatspolizei noch zu übergeben.
In der Stadthalle wurde das Handgepäck jedes einzelnen Juden kontrolliert, wobei der eine
oder andere Gegenstand wie Schere oder Taschenmesser vom Personal abgenommen wurde.
Alle Juden mussten eine körperliche Durchsuchung über sich ergehen lassen. Im großen Saal
durften sie sich dann zur Nachtruhe auf den Boden legen. Am 27. November 1941, um 3.30
Uhr morgens, hieß es dann: „Alle Judenschweine heraus und zu fünft in der Reihe antreten!“
Gestapo- und SS-Leute trieben die verschreckten 202 Menschen aller Wahrscheinlichkeit
nach von der Stadthalle durch die Ludwigstraße über den jetzigen Berliner Ring in die
Schweinfurter Straße und von dort nach der Eisenbahnunterführung die Rampe hinauf zum
Güter-Verladebahnhof Würzburg-Aumühle. Nachdem die Würzburger Juden weit über eine
Stunde am Aumühle-Bahnhof gestanden hatten, wurden sechs Waggons (zwei Güter- und vier
Personenwagen) an den regulären Güterzug 6604 angekoppelt. Dieser verließ um 5.50 Uhr in
Begleitung eines Kriminalbeamten und zehn SS-Männern Würzburg in Richtung Nürnberg.
Die 202 Würzburger Juden, unter ihnen auch 40 Kinder und Jugendliche, wurden in das
Sammellager Nürnberg-Langwasser verbracht. Dort mussten sie zunächst in einer großen
Halle warten, dann mit dem Handgepäck durch verschiedene Büros laufen, um eine erneute
Gepäckdurchsuchung und Leibesvisitation über sich ergehen zu lassen; dabei wurde alles
Bargeld abgenommen. Erst jetzt wurden die Juden in Baracken eingewiesen. Zwei Tage
später, am 29. November 1941, wurden sie, kaum mit Wasser versorgt und ohne Rücksicht
auf Familiengemeinschaften nehmend, in Waggons getrieben und gemeinsam mit Leidensgenossen aus Nürnberg, Fürth, Bamberg, Coburg und Bayreuth Richtung Osten „evakuiert“.
Der Transport kam am 2. Dezember 1941, also nach drei Tagen, in Skirotava bei
Riga/Lettland an.
Die Würzburger Juden im Rigaer Ghetto und ihre Liquidierung
Die Historiker haben ganz verschiedene Erklärungen dafür, weshalb in Riga/Lettland ein
Ghetto eingerichtet worden war. Manche sind der Meinung, dass die Hauptabsicht dafür war,
die Juden als Arbeitskräfte auszunutzen. Diesen Standpunkt kann man aber heute nicht mehr
als begründet vertreten, weil – wie sich schnell herausstellen sollte – die Juden in einem
Ghetto für eine schnelle und leichtere Vernichtung konzentriert zusammengezogen werden
konnten. Durch das Rigaer Ghetto waren insgesamt 56.000 Juden aus Lettland und anderen
europäischen Staaten durchgegangen. Etwa 12.000 hatten zwar hier in Lettland überlebt, aber
der Weg führte im August 1944 weiter zu den Konzentrationslagern in Deutschland,
vorwiegend ins Lager Stutthof bei Danzig.
Am 8. November 1941 traf vom Reichssicherheitshauptamt Berlin in Riga die Mitteilung ein,
dass 50.000 deutsche Juden nach dem Ostland evakuiert werden. Das brachte viele Probleme
mit sich, weil einerseits das Rigaer Ghetto bereits überbelegt und das Lager in Salaspils noch
nicht fertiggestellt war. In diesem Zusammenhang offenbart sich auch eine schwere
emotionelle Frage, die noch heute diskutiert wird: Wurden die lettischen Juden deswegen
getötet, um den deutschen Juden den Platz frei zu machen?
Im November und Dezember 1941 kamen in Riga mehrere Transporte an mit insgesamt 3747
Menschen aus Nürnberg, darunter auch 202 Würzburger Juden, aus Stuttgart, Hamburg und
Wien. Diese Juden kamen zunächst in ein improvisiertes Lager am Standrand von Riga, dem
so genannten „Jungfernhof“. Für so viele Menschen gab es noch keine Unterbringungsmöglichkeiten und deshalb war die Sterblichkeitsrate sehr hoch. Viele der Deportierten kamen
durch Hunger und Kälte zu Tode, andere mussten beim Aufbau des Lagers Salaspils ihr
Leben lassen.
Das Lager Salaspils wurde hauptsächlich von den deutschen Juden aufgebaut. Als sie
ankamen, gab es noch keine Unterkünfte, lediglich ein holpriger Weg führte zu der
Waldlichtung des geplanten Lagers. Bei Fertigstellung des Lagers konnte man ungefähr 44
Gebäude zählen. Die mittlere Größe einer Wohnbaracke war 10 mal 20 Meter mit
Liegeplätzen, die mit vier oder fünf Reihen eingerichtet waren. Aber da das zum Bau der
Unterkünfte notwendige Holz in großer Eile herbeigeschafft wurde, war es noch sehr nass.
Doch als die Wände errichtet waren, gab der in der Mitte der Baracke stehende Ofen
wenigstens ein wenig Wärme ab. Viel schlimmer war jedoch, dass es fast nichts zu essen gab.
Am ersten Tag erhielt man eine wässrige Kohlsuppe, dann gab es drei Tage lang überhaupt
nichts Essbares, nur Kaffee, der eine große Ähnlichkeit mit Wasser hatte, und manchmal drei
Stückchen Würfelzucker. Das Lager Salaspils war nach deutschem Muster gebaut worden.
Das Areal war in mehrere Parzellen eingeteilt und mit einem zweifachen Stacheldrahtverhau
umgeben. In der Nacht beleuchteten Scheinwerfer den Zaun.
So genannte „Arbeitsunfähige“ wurden vor allem im März 1942 in Gaswagen ermordet. Die
restlichen Überlebenden kamen ins „deutsche Ghetto“, wo die meisten bis Mitte 1943
überlebten. Einige von ihnen wurden bei der Auflösung des Ghettos im Juli 1943 liquidiert,
die übrigen wurden ins Konzentrationslager Riga-Kaiserwald verbracht, wo viele bis Anfang
1944 blieben. 1944 folgte wegen der herannahenden sowjetischen Front die Evakuierung nach
Westen durch verschiedene Lager, die nur wenige KZ-Häftlinge überlebten. Insgesamt haben
52 Personen die Deportation ins Ostland überlebt, davon 15 der 202 Würzburger Juden.
Ohne Widerstand leisten zu können
Am 1. September 1939 war der 2. Weltkrieg mit dem Angriff Nazi-Deutschlands auf Polen
ausgebrochen. Zwei Frauen, Grażyna Opatrny Janusz und Edith Schütrumpf, deren
Familienschicksale ins Zentrum unserer historischen Forschung gerückt sind, waren damals
noch Kinder: Grażyna Opatrny Janusz damals knapp drei Monate und Edith Schütrumpf
gerade zwölf Jahre alt. Die Familie von Frau Opatrny Janusz hatte in Leszno und die von Frau
Schütrumpf 20 Kilometer nördlich von Czernowitz in Kotzmann in der Bukowina gewohnt.
Über ihre Familie sagt Frau Opatrny Janusz Folgendes: „Meine Großeltern mütterlicherseits,
Kazimiera und Stefan Thomas hatten sich in Leszno Anfang des 19. Jahrhunderts angesiedelt.
Damals war Leszno eine Mehrvölkerstadt, bewohnt von Deutschen, Juden und Polen, die
friedlich nebeneinander gelebt hatten“. Mit der Zeit brachte es ihre Familie in Leszno zu
einigem Wohlstand. Und ihr Vater, Dr. Mieczysław Opatrny hatte auch einen guten Ruf.
Nach den Wirren des 1. Weltkrieges, in dem er zuerst als Soldat im österreichischen, dann im
polnischen Militär gedient hatte, absolvierte er ein Jurastudium an der Jagiellonen-Universität
in Krakau, arbeitete dann als Jurist, bis er seine eigene Rechtsanwaltskanzlei betrieb. Tochter
Dąbrówka wurde 1928 geboren, Tochter Grażyna war am Tag des Kriegsausbruchs drei
Monate alt. Mit Bedauern sagt Frau Opatrny Janusz, wenn sie sich an diese Zeit erinnert: „Gut
und ruhig verlief das Leben meiner Familie nur knapp zwölf Jahre“.
Ähnlich schildert Frau Schütrumpf das Leben ihrer Familie. Ihre Vorfahren waren 1790 in die
Südbukowina gekommen und hatten sich innerhalb eines Jahrhunderts einen guten gesellschaftlichen Ruf erworben. Ihr Vater war ebenfalls Jurist. Als Kind konnte sie in einem
„kleinen Europa“ wohnen, wie sie selber betont. Polen, Deutsche, Juden, Ukrainer und
Rumänen hatten hier gewohnt. Heute sagt Frau Schütrumpf: „Es war nicht so, dass man sich
ununterbrochen liebte und herzte, sondern man respektierte und tolerierte sich. Das versuchte
man mir in meinem Elternhaus beizubringen, so wie es auch in den anderen Elternhäusern
funktioniert hat“. Für sie, das zwölfjährige Mädchen, war diese Zeit eine Zeit von Geborgenheit, Frieden und wunderbaren Kontakten mit Leuten, die jetzt schon zum Teil gestorben sind,
an die sie sich aber gerne erinnert.
Es kam der schon erwähnte 1. September; der 2. Weltkrieg begann. Leszno war damals eine
Grenzstadt. Im Kalendarium der Stadt Leszno findet man folgende Information: „In der Nacht
vom 31.08. auf den 01.09.1939 beginnt die Evakuierung der Staats- und Verwaltungsbehörden. Bald wird das Bürgerkomitee gegründet, das Ordnungs- und Verwaltungsaufgaben in der
Stadt übernimmt. An der Spitze steht Dr. Mieczysław Opatrny, der dann im Namen der
polnischen Behörden die Kapitulation in einer privaten Wohnung unterzeichnet hat“. Laut
Hitlers Verordnung vom 08.10.1939 wurde Großpolen dem Deutschen Reich angeschlossen.
Grażyna Opatrny Janusz, die damals noch ein Säugling war, stützt sich auf Informationen, die
sie von ihrer Mutter erhalten hat und schildert so den Beginn des Krieges: „Vater versuchte,
wie viele andere Männer, zu seiner militärischen Einheit zu gelangen. Mutter wiederum
entschied sich vor den Deutschen zu fliehen und kam bis Środa Wielkopolska, wo es aber
keinen Zweck hatte weiter zu gehen, denn die Deutschen waren schon überall. Sie kam also
nach Leszno zurück, wo beide Omas, Kazimiera Thomas und Maria Opatrny geblieben
waren. Umhergeirrt kam auch der Vater zurück. Er nahm aber die Warnungen von ihm
wohlgesinnten Personen nicht wahr, die ihm rieten sich zu verstecken, denn er war davon
überzeugt nichts Böses getan zu haben“.
Am 18. Oktober 1939 wurden in Leszno viele Personen verhaftet auf Grund von Listen, die
noch vor dem Krieg mit Hilfe deutschstämmiger Mitbürger aufgestellt worden waren. Dies
wurde auch zum Schicksal von Dr. Mieczysław Opatrny, der spät am Abend des gleichen
Tages festgenommen wurde. Die Bemühungen von Grażynas Mutter, ihn aus dem Gefängnis
herauszuholen, schlugen fehl. Sie konnte lediglich einen Kassiber bekommen, der von einem
Gefängnisangestellten geschmuggelt wurde, den Ehering und das Testament. Dieser Brief
trägt das Datum des 21.10.1939: „Meine liebe Ola und alle Meinigen, ich bin noch in Leszno
und weiß nicht, was entschieden wird. ... Ich bin gesund. Für alle Fälle übersende ich Euch
das Testament. Es wird nicht schlimm sein. Ich grüße Dich, die Kinder und beide Omas ganz
herzlich und küsse Euch alle. Euer Mietek“.
Am selben Tag kam es zur Hinrichtung. 20 Personen, Lesznoer Bürger, wurden erschossen.
„In den frühen Morgenstunden kam ein Sonderkommando der Sicherheitspolizei unter
Leitung des Sturmbannführers Gerhard Flesch aus Poznań nach Leszno. Um sieben Uhr fand
das Standgerichtsverfahren im Gerichtsgebäude statt. Man führte die Häftlinge in Gruppen
hinein. Von ihnen wurden 20 Personen zum Tode verurteilt“. Weiter führt Frau Grażyna
Opatrny Janusz in ihren Erinnerungen aus: „Nach der Hinrichtung wurde das Blut an der
Gefängnismauer mit Sand verschüttet. Die Leichen der Erschossenen wurden auf das
eingesetzte Fuhrwerk hinaufgeworfen und hinter dem Friedhof in der Kąkolewska-Chaussee
gebracht, wo ein Graben vorbereitet worden war“.
Und so erinnert sich Frau Schütrumpf an diese Zeit: „Ende August haben mich meine Eltern
auf meinen eigenen Wunsch ins Internat des Lyzeums gebracht, das vollkommen unter der
Obhut der Marien-Nonnen stand. Am 1. September begann der Unterricht. Gleichzeitig kam
die Nachricht, dass Deutschland Polen überfallen hat und dass der Krieg tobt. Da habe ich
zum ersten Mal erlebt, dass ein Graben entstanden ist zwischen den polnischen Schülern und
uns, was man damals im Augenblick nicht verstand. Heute ist einem das klar. Am 10.
September öffneten die Rumänen die Grenze im Norden für Polen. Jetzt kamen die
Flüchtlinge, zum Teil schwer verletzte Leute; sie wurden in unser Krankenhaus eingeliefert,
das neben dem Internat lag. Ich habe zum ersten Mal Menschen gesehen, die ihre Heimat
verloren haben. Wir waren die ganze Zeit im Einsatz zur Versorgung dieser Flüchtlinge.
Gegenüber dem Lyzeum lag der so genannte Volksgarten. In diesem Garten wurden Zelte
aufgeschlagen. Man kochte für die Flüchtlinge und verteilte dann das Essen an alle, die da
saßen. Tags darauf kam ein Transport an mit schwer verwundeten Kindern, und das waren
meine ersten verwundeten Kinder, die ich sah. Das alles war eine völlige Tragödie, die man
begreifen musste, ohne sie richtig verarbeiten zu können. Das kam erst viel später.
Nach zehn Tagen wurden die Grenzen wieder geschlossen. Die Flüchtlinge, die gekommen
waren, durften nicht bleiben – das war die Bedingung -, sondern sie wurden weitergeschleust
nach Bukarest zu den Botschaften von Frankreich und England. Diese sorgten dann dafür,
dass sie außer Landes gebracht wurden in andere Länder, wohin weiß ich nicht. Später habe
ich einen Herrn kennen gelernt, der mir erzählte, dass er über Kotzmann und Czernowitz in
die Botschaft gekommen war und von dort nach England und später zu den Fliegern gehörte,
die wiederum Deutschland bombardierten. Das war ja der Kreislauf, der dann lief“.
Für Frau Grażyna Opatrny Janusz war alles erst der Anfang der Tragödie: „20 Familien haben
ihre Männer, Väter, Söhne, Brüder verloren, aber dies bedeutet noch nicht das Ende des
Krieges. In ihre Wohnungen samt Hauseinrichtung wurden die aus Lettland, Estland und aus
der Ukraine angekommenen Deutschen geführt, und die Familie von Aleksandra Opatrny
wurde am 08.12.1939 festgenommen und in die Schule am Metzigplatz gebracht. Dann wurde
sie mit anderen Familien ... nach Tomaszow Mazowiecki umgesiedelt, wo sie bis 1945 blieb
und mit ihrem Schicksal in der Kriegszeit zurechtkommen musste. Aleksandra Opatrny wurde
dank ihrer Deutschkenntnisse bei deutschen Firmen als Bürokraft eingestellt. Sie arbeitete
dort viereinhalb Jahre. Ihre elfjährige Tochter Dąbrówka musste ebenfalls eine Arbeit aufnehmen, um sich vor der Zwangsarbeit in Deutschland zu schützen. ... Nach solchen
Schicksalsschlägen waren sowohl meine Mutter als auch meine Großmutter krank, aber
trotzdem versuchten sie unter den neuen Bedingungen zurechtzukommen“.
Für Frau Schütrumpf hatte diese Tragödie am Tag der Unterzeichnung des RibbentropMolotow-Vertrages begonnen: Laut dieser Vereinbarung musste ihre Familie die Bukowina
verlassen und ins Deutsche Reich übersiedeln. In ihren Erinnerungen schildert sie es folgendermaßen: „Die Besetzung erfolgte über Nacht vom 28. zum 29. Juni 1940. Die rumänischen
Truppen zogen sich zurück. Meine Freunde kamen sich zu verabschieden, auch von meinen
Eltern; sie versuchten ihre Wertsachen irgendwo zu lassen und zogen dann in der Nacht weg.
Wir dagegen blieben zunächst einmal, bis dann im September die Umsiedlungskommission
kam und alle registrierte. Am 11. Oktober mussten wir dann zum Bahnhof, wurden dort
einwaggoniert und verließen Kotzmann. Wir fuhren fünfeinhalb Tage bis Przemyśl und
überschritten dort die Grenze. Im Kloster Lubiąż wurden wir auf unsere deutsche und arische
Rassenreinheit untersucht. Erst dann durften wir in den Warthegau weiterreisen. Da meine
Familie als rein deutsch eingegliedert worden war, musste sie im Warthegau bleiben, obwohl
meine Eltern Anträge laufen hatten, zu ihren Geschwistern nach Wien bzw. ins Sudetenland
zu kommen. Das wurde abgelehnt. Über Kalisz kamen wir ins gerade geräumte Ghetto
Pabianice; dort wurden wir dann eine Woche eingesperrt. Schließlich gelangten wir nach
Oborniki. Inzwischen war es schon Ende April 1941 geworden. Im Mai erhielt mein Vater die
Berufung ans Gericht in Leszno. Wir hatten keinerlei Einfluss darauf, es hieß ja damals Lissa.
Vater fuhr vor uns hin und holte uns dann Anfang Juni nach“.
Diese deutsche Familie bezog eine der Wohnungen im Haus in der Storchnesterstraße 59. Es
war das Haus von Dr. Mieczysław Opatrny, der hingerichtet und dessen Familie ins Generalgouvernement ausgesiedelt worden war. Die Wohnung in ihrem Vaterhaus wird heute von
Frau Grażyna Opatrny Janusz bewohnt. Und eben das verbindet beide Familien - das Haus, in
dem Frau Schütrumpf bis zum 14. Januar 1945 wohnte, als sie die Flucht ergreifen musste.
Den Krieg und seinen Einfluss auf ihr weiteres Leben bewerten beide Frauen auf gleiche
Weise. Was daraus wurde, ist die Tragödie des Einzelnen, der, wie es Frau Grażyna Opatrny
Janusz sagt, „in die Kriegsmaschinerie verwickelt wurde“. Für sie bedeutet der Krieg, dass
ihrem Vater das Leben genommen wurde, das Glück und der Frieden ihrer Familie zerstört
wurden, sie der Kindheit beraubt wurde und ihre Zukunftspläne zunichte gemacht wurden.
Und Frau Edith Schütrumpf ergänzt: „In dem Augenblick, als wir mit der Kutsche zum
Bahnhof in Kotzmann fuhren und uns noch einmal umguckten und das Haus sahen, da hatten
wir das Gefühl, dass wir ein neues Leben beginnen; und ich sage, seitdem führe ich das Leben
neben mir. Ich kann das nicht anders ausdrücken. Es war so und es ist auch so geblieben.
Wenn ich von Zuhause spreche, dann meine ich immer dieses Haus dort. Denn alles, was
nachher kam, war ja nie in irgendeiner Art Lebensplanung vorgesehen. ... Eine Jugend in
dem Sinne, wie sie die Jugend heute kennt, haben wir nicht kennen gelernt“. Darin steckt die
Botschaft, die beide Frauen an uns richten: Menschenschicksale dürfen nicht zum Spielzeug
von durch gefährliche und krankhafte Ideen Besessenen werden. Toleranz und Verständnis
für den anderen, Respekt und auch eigenen Mut zum Leben muss man zeigen, um sich durchzusetzen und zu behaupten.
Widerstand gegen die NS-Diktatur in Würzburg?
Seit der so genannten „Machtübernahme“ durch Adolf Hitler, also seit seiner Ernennung zum
Reichskanzler am 30. Januar 1933 war der Widerstand gegen die nationalsozialistische
Diktatur in Deutschland niemals ganz erloschen. Trotz der Verfolgung durch die Geheime
Staatspolizei (Gestapo) bildeten sich im Laufe der Jahre in Deutschland, aber auch im
benachbarten Ausland, zahlreiche Widerstandsgruppen. Die Gründe, warum einzelne
Personen und Gruppen gegen Hitler und seinen Nationalsozialismus standen, waren
unterschiedlichster Art. Eine schwere Entscheidung allerdings war ihnen gemeinsam: Sie
mussten die militärische Niederlage Deutschlands in Kauf nehmen, wenn sie den politischen
Umsturz und damit die Befreiung Deutschlands von der NS- Diktatur wollten.
Ein gemeinsames Vorgehen der Gegner des NS-Regimes war daher äußerst schwierig, zumal
der NS-Staat ein Polizei- und Spitzelsystem entwickelte, das die Bildung einer organisierten
Opposition außerordentlich erschwerte. Die Menschen, die im Herzen Hitler und seine Taten
verabscheuten, sind nicht zu zählen. Von dieser „stillen Form“ des Widerstands reichten die
Möglichkeiten hinauf bis zum Umsturzversuch. Da gab es Menschen, die innerhalb der
Betriebe politische Diskussionen auf der Grundlage der freien Meinungsäußerung forderten
und wagten. Andere druckten und verteilten Flugblätter oder verbreiteten Predigten der
Bischöfe. Wieder andere vermittelten Nachrichten aus dem Ausland, was bei schwerer Strafe
verboten war. Andere sammelten gleichgesinnte Freunde um sich und berieten, was man nach
dem Ende des Krieges tun könne, um Deutschland wieder zu einem freiheitlichen Land zu
machen. Andere wanderten aus und suchten im Ausland eine menschenwürdige Wirkungsstätte. Gemeinsam aber war allen Männern und Frauen in den vielen Widerstandsgruppen
dem Ausland zu beweisen, dass Recht und Gewissen in Deutschland nicht völlig abgetötet
waren.
Den Widerstandskreisen gehörten Offiziere und Geistliche, Arbeiter und Adelige, Professoren
und Studenten, Mitglieder der verschiedensten aufgelösten Parteien und Gewerkschaften an.
Die Männer und Frauen des Widerstandes hatten es sehr schwer: Hitlers Erfolge bei der
Beseitigung der Arbeitslosigkeit, die deutschen Siege bei Beginn des Zweiten Weltkrieges
ließen einen Umsturzversuch als aussichtslos erscheinen. Dazu kamen schwere
Gewissensfragen: Durfte ein Beamter, ein Offizier seinen Eid brechen? War man an den Eid
gegenüber einem Diktator überhaupt gebunden? Konnte man inmitten eines Krieges einen
Umsturz wagen? So ist es nicht zu verwundern, dass viele Menschen aus Furcht vor der
Gestapo einen „lautlosen Widerstand“ als ehrenhaft dennoch ansahen. Und in Würzburg?
Bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten Ende Januar 1933 zeigte sich Würzburg
freiheitlich-demokratisch bis traditionell-katholisch. Doch bereits Mitte des Jahres hatte sich
die Situation, und hier besonders für die linksorientierten Gruppierungen, deutlich zu ihren
Ungunsten verändert. Weder die Kommunisten noch die Sozialdemokraten schätzten ihre
Lage und die von den Nationalsozialisten ausgehenden Gefahren richtig ein. Die KPD hielt es
nicht für nötig, gemeinsam mit der SPD gegen die Nationalsozialisten vorzugehen: Die strikt
legale Vorgehensweise der Sozialdemokraten war nicht mit der revolutionären Haltung der
KPD in Einklang zu bringen. So nimmt es nicht wunder, dass bis Ende März bei der KPD und
bis Juli 1933 bei der SPD die Parteistrukturen weitgehend zerstört worden waren. Viele nicht
direkt verfolgte Parteigenossen hatten sicherlich auch von den brutalen Vorgehensweisen der
Nationalsozialisten erfahren, sodass bei vielen Parteimitgliedern die Angst vor Hausdurchsuchungen und Inschutzhaftnahmen sehr groß war. Und diejenigen, die schon einmal
inhaftiert worden waren, mussten sich regelmäßig bei der Gestapo oder Polizei melden und
unterlagen somit der ständigen Kontrolle durch die Nationalsozialisten.
Dennoch, am frühesten begannen in Würzburg die Kommunisten mit Widerstandshandlungen, die auf Mobilisierung der Öffentlichkeit zielten, hier und weiter also Widerstand im
Sinne von aktiver politischer Handlung gegen das NS-Regime gemeint. Vom Frühsommer
1933 bis zum Dezember 1934 wurden Würzburger Kommunisten bei heimlichen
Flugblattaktionen erwischt oder als sie Parolen wie „Rotfront lebt“ oder „KPD lebt“ an Hauswände der Versbacher Straße schmierten. Nach dem dritten gescheiterten Versuch brach ihre
Widerstandstätigkeit in Würzburg ab. Lediglich vom Kommunisten Georg Friedrich Hornung
ist bekannt, dass er in die Tschechoslowakei flüchtete und von dort Schriftmaterial nach
Würzburg transportieren ließ.
Eine andere Form oppositionellen Verhaltens als die Kommunisten bevorzugten diejenigen
Sozialdemokraten, die sich dem Regime nicht anpassten oder sich nicht völlig zurückzogen.
Diese Sozialdemokraten versuchten vor allem, die Kontakte untereinander trotz des Verbots
der alten Vereine nicht abreißen zu lassen und sich gegenseitig zu helfen. So führte man
insgeheim Sammlungen durch, um die so genannten Schutzhäftlinge und deren Angehörige
mit Lebensmittelpaketen zu unterstützen. Andere trafen sich am Wochenende auf Wanderungen oder in Gaststätten, um sich für ein paar Stunden unter Freunden frei bewegen und
aussprechen zu können. Im Mai 1938 organisierte der damals 27-jährige MotorenbauFacharbeiter Richard Spitznagel eine Radtour von Kirchheim nach Würzburg, um sich in
einer Gaststätte mit Würzburger Sozialdemokraten zum „Gedankenaustausch“ zu treffen.
Durch Denunziation wurde Spitznagel in das Konzentrationslager Buchenwald verbracht, wo
er von Ende Mai 1938 bis Ende Januar 1940 eingesessen hatte. Im Herbst 1940 wurde er zum
Wehrdienst herangezogen und konnte daher erst nach seiner Entlassung aus amerikanischer
Kriegsgefangenschaft Anfang Juni 1945 für die Sozialdemokraten wieder aktiv werden.
Theodor Drey, Würzburger SPD-Parteisekretär, gehörte zu den Sozialdemokraten, die ebenfalls den aussichtslosen Kampf gegen den nationalsozialistischen Terrorstaat aufgenommen
und, durch Misserfolge nie entmutigt, für ihre Gesinnung gelitten haben. Er kam in Kontakt
mit einer Nürnberger Widerstandsgruppe und schmuggelte für diese aus der Tschechoslowakei sozialdemokratische Schriften. Außerdem klebte er angefeuchtete Flugblätter auf
Hausdächer, die von der Sonne getrocknet auf die Straße segelten. Dafür kam er zwei Jahre
nach Ebrach ins Gefängnis, danach für drei Jahre ins KZ Dachau. Nach seiner Entlassung
schloss er sich erneut einer Widerstandsgruppe an.
Die minimale Form des Widerstands sollte nicht verkannt werden. Die Feigheit des Einzelnen
kann man leichter verstehen, wenn man sich den extremen Druck und die Angst vorstellt, mit
der jeder Einzelne selbst zu kämpfen hatte. So konnten sich vor allem die Katholiken in die
Organisationen ihrer Kirche zurückziehen – eine Form der Opposition, die vor allem in
Würzburg stark ausgeprägt war. Die Nationalsozialisten führten einen erbitterten Kampf
gegen den Geist der katholischen Kirche in der Kiliansstadt. Das Bischofspalais, das dem
Palais Thüngen gegenüberliegt und den Nationalsozialisten als Tagesraum diente, und
besonders sein Hausherr, Bischof Matthias Ehrenfried, waren ihnen ein Dorn im Auge, da
seinem straffen Regiment der „schwärzeste Gau im Reich“ zu verdanken war. Dem glaubenstreuen Bischof waren die Nazis mit ihrer „Hitlerei“ und dem lauten Gesang und Gegröhle
mitten in der Nacht ebenso zuwider. Doch bis 1944 hielt die glaubensstarke Gemeinde
Fronleichnamsprozessionen ohne größere Zwischenfälle ab. Lediglich die Kerzen wurden von
NS-Männern ausgeblasen, die nebenher liefen und ihre eigenen Lieder lautstark sangen.
Zuvor bekundeten katholische Frauen offen ihren Protest. Als man 1941 begann, die
Kruzifixe aus den Schulzimmern zu entfernen und die Kreuzbergwallfahrten zu verbieten,
warfen einige erregte Frauen ihre Mutterkreuze den Gestapo-Beamten vor die Füße. Trotz des
stillen Widerstandes konnte vielen Priestern nicht geholfen werden. 600 Priester der Diözese
Würzburg wurden verhaftet und 200 vor Gericht gestellt.
Zerstörung von Kulturerbe in Leningrad durch die Deutsche Wehrmacht
Es ist kein Geheimnis, dass St. Petersburg eine der schönsten Städte der Welt ist. Als
Hauptstadt des Nordens bewahrt sie behutsam das Kulturerbe vieler Generationen. Doch
Zerstörung durch Krieg und die dadurch entstandenen bitteren Verluste waren auch in unserer
Stadt nicht zu vermeiden. Es ist kaum zu glauben, wie viele Baudenkmäler wir in der Zeit der
Belagerung verloren. Vieles ging ganz verlustig oder war zerstört. Aber die Archi-tekten
stellten viele Denkmäler wieder her und gaben sie so der Baukunst zurück.
Smolnyj-Kloster
Nachdem das Newskij-Ufer von Eroberern befreit war, befahl Peter I. eine größere Stätte zur
Lagerung und zum Kochen von Teer, das die russische Flotte benötigte, zu errichten; so
entstand der „Teerhof“ (Smolnyi Dwor). An die Stelle des Teerhofes ließ Elisabeth, die
Tochter von Zar Peter, das Woskresenskij-Nowodewitschij-Kloster bauen. Den Entwurf und
die Pläne für die Klosterkathedrale, die man „Smolnyi“ nannte, schuf B. F. Rastrelli. Am 30.
Oktober 1748 fand die feierliche Grundsteinlegung der Kathedrale statt. Mehrere Male wurde
der Bau aus verschiedenen Gründen eingestellt. Doch im Jahre 1828 wurde angeordnet, den
Bau zu Ende zu führen. Sieben Jahre später vollendete W. P. Stassow den Innenausbau der
Kathedrale.
In den Blockadejahren häuften sich die Verluste der Ensemble-Architektur. So traf im Herbst
1941 eine Sprengbombe den westlichen Klosterkomplex und zerstörte ihn. Lediglich das
Fundament und ein Teil der Außenwand blieben von der Anlage übrig. Aber auch die anderen
Gebäude des Smolnyj-Klosters wurden beschädigt.
Ab 1946 führte man im ganzen Komplex Restaurierungsarbeiten durch. Im Jahre 1953 konnte
nach Entwürfen des Architekten I. N. Benua, die auf Grund seiner Kenntnisse in grafischen
Darstellungen und durch Vermessungen des erhaltenen symmetrischen Gebildes erarbeitet
wurden, das zerstörte südwestliche Gebäude wieder völlig aufgebaut werden.
Peterhof
Das Ensemble aus Parks, Palästen und Springbrunnen gehört zu den Denkmälern, die der
russischen Kunst Weltruhm verleihen. Der Große Palast ist das kompositorische Zentrum des
Peterhofer Ensembles, das die Ober- und Unterparks zu einem kunstvollen Ganzen vereinigt.
Der Große Palast ist auch noch deshalb interessant, weil die Idee zum Bau des Schlosses von
Peter I. stammte. In der Geschichte der Erbauung des Großen Palastes, an der die Architekten
B. F. Rastrelli, Ü. M. Felten und G. B. Vallen-Delamot, die Maler D. Valeriani, I.
Vischnjakow, A. und E. Belskij, die Bildhauer F. Gordeew, A. Iwanow, M. Koslowskij und
andere mitwirkten, spiegelt sich eine breite schöpferische Verbindung der russischen Kunst
des 18. Jahrhunderts mit der Kultur europäischer Länder wider. Im Laufe von zwei
Jahrhunderten verwandelte sich der Große Palast in eine Schatzkammer der russischen Kunst.
Das großartige Panorama des Großen Palastes, die Große Kaskade mit dem Kanal zum Meer
und die Allee der Springbrunnen sind ein schönes Beispiel von Architektur, Skulpturen und
Parkanlagen.
Trotz der Entbehrungen und der Schwierigkeiten am Anfang des Großen Vaterländischen
Krieges begann man mit der Evakuierung der Kunstsammlungen. Die Auslagerung der
Kunstgegenstände aus den Museen Peterhofs und dem Großen Palast erfolgte nach
Nowosibirsk und Sarapul. Es gelang mehr als 2000 von den etwa 4000 Kunstgegenständen
des Großen Palastes wegzuschaffen. Die Verlegung der Museumsschätze wurde bis zur
letzten Stunde durchgeführt, als bereits die Kämpfe am Stadtrand im Gange waren. Seit den
ersten Belagerungstagen loderten die Flammen, die niemand löschen konnte, weil alle
Einwohner sofort nach dem Eintreffen der Faschisten aus der Stadt vertrieben wurden. Durch
das Feuer wurden hölzernes vergoldetes Schnitzwerk, kunstvolle Deckenleuchten,
einzigartige Parkettböden vernichtet. Generalfeldmarschall Reichenau wies nach einem
Befehl Hitlers an: „Für die Truppen sind nur solche Gebäude interessant, die als Truppenlager
benutzt werden können. Alles andere muss vernichtet werden. Historische oder künstlerische
Werte gibt es im Osten nicht“.
Ausgebrannt, mit eingeschlagenen Fensterscheiben und eingestürzten Decken sowie ohne
Bedachung stand so der Große Palast bis Anfang 1944. Aus Peterhof kommend gelang es den
Faschisten den Mittelbau von Peters Palast zu sprengen. Vom Mittelbau blieb nur Schutt
übrig. Fotos des zerstörten Palastes gingen durch das ganze Land. Die staatliche Kommission
erklärte in einer außerordentlichen Mitteilung: „Wir werden unsere Paläste, Museen,
Gemäldegalerien, Springbrunnen und Parks wiederherstellen“. Im Jahre 1946 konnte man auf
dem Architektenkongress in London hören: „Die barbarische Zerstörung von Peterhof,
Puschkin und Pavlovsk machte die ganze Menschheit ärmer“. In unserer Zeit, nachdem diese
weltberühmten Paläste und Parkensembles restauriert sind, können wir mit Nachdruck sagen:
„Die Menschheit ist reicher“. Heutzutage bringt das wiederhergestellte Museum Freude, es
führt an die Schönheit heran, es macht uns stolz auf die Kunst der Meister der Vergangenheit
und es begeistert mit seinem Wiederaufbau durch die Restauratoren, die den Palast aus den
Ruinen und der Asche geschaffen haben.
Irgendwann wird das Wort KRIEG aus allen Wörterbüchern aller Sprachen, welche die
Bewohner des Planeten „Erde“ sprechen, verschwinden und die Menschen werden nicht
mehr die Zeit nach ihrem größten Kummer bemessen. Aber für die Menschen, die die „harten
Vierziger“ erlebt haben, verläuft die Zeit auf „vor“ und „nach“. Dazwischen liegt das
Kriegsfeuer, das Millionen von Menschenleben verschlang, Hunderte von Städten einäscherte
und Tausende von Kunstdenkmälern vernichtete.
Die Zerstörung Würzburgs durch alliierte Bomberverbände 1945
Bis heute hat wohl kaum ein Ereignis in der Geschichte Würzburgs diese Stadt mehr geprägt
als der Luftangriff durch britische Bomber vom 16. März 1945. Doch weshalb musste diese
Stadt zerstört werden, war sie doch aus strategischer Sicht unerheblich? Hierzu kann
selbstverständlich nur spekuliert werden.
Tatsache jedoch ist, dass britische Landstreitkräfte auf dem europäischen Kontinent derart
geschwächt waren, dass ein Krieg auf dem Boden ohne jede Aussicht auf Erfolg gewesen
und einem Himmelfahrtskommando gleichgekommen wäre. Es bot sich somit lediglich die
Möglichkeit des Luftkrieges von den Britischen Inseln aus, da dieser mit minimalem
Personalaufwand ein enormes Maß an Zerstörung erzielen konnte. Des Weiteren war es
erklärtes Ziel des britischen Premierministers Winston Churchill möglichst großen Schaden
an der deutschen Zivilbevölkerung anzurichten, um sie zu demotivieren, aber auch aus Rache
für die Angriffe des „Blitz“ gegen England.
Nachdem bereits unzählige Luftangriffe auf beinahe jede größere deutsche Stadt geflogen
worden waren, wurde am 16. März 1945 auch Würzburg als vorerst letzte Stadt angegriffen.
Es hatte zwar bereits zuvor kleinere Angriffe auf Würzburg gegeben, diese hatten im
Nachhinein betrachtet aber vergleichsweise wenig Schaden angerichtet.
Noch bis kurz vor den Angriffen auf ihre Stadt fühlten sich die Bürger Würzburgs vergleichsweise sicher. Gauleiter Dr. Otto Hellmuth, dem übermäßigen Genuss von Alkohol zugetan,
schlug mehrmals eine „goldene Brücke“ durch eine Erklärung Würzburgs zur offenen Stadt
aus und begründete dies damit, dass man niemals eine Stadt mit so vielen Kulturgütern
angreifen würde, in der, so die Behauptung, der englische Premier Churchill selbst studiert
habe. Damit irrte er sich allerdings bekanntermaßen. Und so verwandelten am Abend des 16.
März 1945 um 21:25 Uhr rund 500 viermotorige Maschinen vom Typ „Lancaster“ und 24 so
genannte „Mosquitos“ der Number 5 Bomber Group der britischen Royal Air Force den
Himmel über Würzburg in ein Meer aus Flammen.
Etwa 260 schwerste bzw. schwere Sprengbomben und rund 300.000 Stabbrandbomben
erzeugten einen Feuersturm mit Temperaturen von bis zu 2.000 °C und brachten rund 5.000
Menschen den Tod. Bei diesem Inferno wurden ungefähr 85 Prozent der Innenstadt
einschließlich des Stadtteils Heidingsfeld zerstört. An Gotteshäusern und Kulturdenkmälern
entstand enormer Schaden, zahlreiche Kostbarkeiten mit hohem ideellen Wert wurden
unwiederbringlich zerstört. Über 100.000 Menschen standen nun obdachlos vor den Ruinen
der einstmals stolzen Stadt am Main, der Barockstadt Balthasar Neumanns – einer der
schönsten Städte des alten Deutschlands, die nun für immer verloren schien.
Über die Nacht des Bombenangriffs berichtet der damals 23-jährige Uhrmacher Ernst Hüfner:
Ich wohnte damals bei meinen Eltern in der Göbelslehenstraße. Es war ein Abend wie jeder
andere, bis mich der Fliegeralarm und die Warnung im Radio in die Realität des Krieges
zurückriss. Sofort gingen meine Mutter, meine Schwester und ich in den nächstgelegenen
Luftschutzkeller in der heutigen Jakob-Stoll-Schule. Wenige Minuten später hörten wir die
erste Detonation; einige der Anwesenden warfen sich auf die Knie und begannen zu beten.
Alle Lichter gingen aus, Dunkelheit herrschte. Die Detonationen häuften sich, schienen aber
nach geraumer Zeit zu verstummen. Daraufhin verließ ich den Luftschutzkeller, um mich
umzusehen. Die Umgebung sah aus wie ein einziger Bombenkrater. Meine Schwester und
Mutter verließen ebenfalls den Luftschutzkeller und gingen in unser einseitig beschädigtes
Haus hinein ohne zu ahnen, dass dies nicht von einer Bombe, sondern von einer Zeitmine
stammte.
Sekunden später explodierte die Zeitmine und das ganze Haus fiel zusammen. Kurz darauf
hörte ich die Hilferufe meiner Mutter, die schwer verletzt war; meine Schwester fand ich
bereits tot. Ich nahm meine schwerverletzte Mutter auf den Rücken und versuchte sie in ein
Krankenhaus zu bringen. Erst am anderen Morgen wurde sie, nachdem wir die Nacht im
Zwerchgraben unter freiem Himmel verbracht hatten, in einem offenen Lkw nach Ochsenfurt
in ein Notkrankenhaus gebracht. Ich ging zu Fuß zurück nach Würzburg und benachrichtigte
meinen Vater durch eine Aufzeichnung an der Mauer des Luftschutzkellers.
Georg Götz schreibt über die Bombennacht, die er als neunjähriger Schüler vom Gartenhaus
seines Großvaters am Oberen Schalksberg in der Nähe des Bismarckwäldchen aus erlebt hat:
Wir waren mit dem Abendessen noch nicht fertig, als meine Tante
mal schnell den Raum verließ und ins Freie ging. Hastig und
aufgeregt kam sie sofort zurück und rief, dass über dem
Luitpoldkrankenhaus und Flugplatz Christbäume am Himmel
stehen. Alle verließen sogleich das Häuschen und sahen, wie die
rötlichen Leuchtkugeln langsam herunter kamen. ... Plötzlich tat es
einen gewaltigen Schlag; eine Bombe hatte unser Gartenhaus
getroffen. Sie fiel genau zwischen Hühnerstall und der rückwärtigen
Hauswand. Das Geschirr polterte aus dem Schrank und außerhalb
hörte man den Lärm der Hühner. ...
Ein zweiter Schlag in unmittelbarer Nähe ließ alles erzittern. Ich
wollte gerade durch die Tür springen, als genau vor mir auf der
Türschwelle eine Brandbombe einschlug. Ich sah nur noch Feuer,
das wie eine Wand vor mir die ganze Tür ausfüllte. Ich schrie und
wusste nicht, was ich tun sollte. Es war meine Mutter, die sich
umdrehte, durch das Feuer hindurchlangte und mich herauszog.
Das Ganze spielte sich nur in wenigen Sekunden ab. ...
Überall lagen Brandbomben und vom Garteneingang lief eine
brennende Flüssigkeit den Weg herunter. Die ganze Stadt war in
Feuer eingehüllt und es krachte ununterbrochen. Was man von hier
aus sah, war unbeschreiblich. Rauch und Brandgeruch machten
sich überall breit. Niemand hielt es für möglich, dass hier, hoch
über der zerbombten Stadt, auch das Gartenhaus daran glauben
musste.
Und Helmut Försch, damals gerade 16 Jahre alt, weiß über den Bombenangriff auf Würzburg
zu berichten:
Im Arbeitsdienst-Lager bei Erlangen, etwa 100 Kilometer von Würzburg entfernt, sahen wir
den blutroten Himmel über Würzburg; aber man hatte uns verheimlicht, was geschehen war.
Mit fünf Kollegen kam ich wenige Tage später in Würzburg an. Brandgeruch lag über der
Stadt, das Baywa-Lagerhaus brannte noch. Wir suchten unsere Familien, unsere Wohnstätten
– nichts. Meine Mutter mit den kleinen Brüdern fand ich am nächsten Tag. Sie lebten.
Neben dem Verlust von Menschen, ihrer Wohnungen, ihres Hab und Guts, war auch die Zerstörung fast aller Kulturdenkmäler zu beklagen. So auch die der fürstbischöflichen Residenz
in Würzburg. Sie gilt als Hauptwerk des süddeutschen Barock und ist gleichzeitig eines der
bedeutendsten Schlösser Europas. Erbaut wurde sie 1720 bis 1744 nach Plänen von Balthasar
Neumann. Bei der Ausstattung wirkte eine große Zahl hervorragender Künstler mit, darunter
der Stuckateur Antonio Bossi und der unvergleichliche Freskenmaler der Zeit, der Venezianer
Giovanni Battista Tiepolo, der im Treppenhaus das größte zusammenhängende Fresko der
Welt schuf. Bei der Zerstörung der Stadt am 16. März 1945 blieben das Treppenhaus, der
Weiße Saal, Kaisersaal und Gartensaal erhalten. Der Rest brannte fast völlig aus. Die
mächtigen steinernen und statisch raffinierten Gewölbe Neumanns bewahrten damals den
Mitteltrakt vor der Vernichtung. Die Paradezimmer, ausgestattet in reichstem Rokoko,
konnten inzwischen wiederhergestellt werden, die Möbel und Gobelins wurden fast
vollständig gerettet. Der Wiederaufbau dauerte fast 40 Jahre.
Die Vertreibung der Ungarndeutschen gemäß dem Potsdamer Abkommen
In der Beilage der Kalászer Zeitung vom August 1989 thematisierte József Nick erstmalig
nach dem Zweiten Weltkrieg in Ungarn „Die Aussiedlung der Schwaben aus Budakalász“. Er
schrieb:
So wurde am 18. Februar eine neue Liste ausgehängt, auf der auch der Tag des
Abtransportes festgelegt war. Das war der 22. Februar 1946. Das Schicksal von tausend
Menschen hatte sich also endgültig entschieden und man begann mit der praktischen
Abwicklung der Aussiedlung. Die lag bereits in den Händen der Polizei. Dabei darf aber
nicht unerwähnt bleiben, dass die Menschen, die ihr bisheriges Heim verlassen mussten, 40
bis 50 Kilogramm Gepäck – hauptsächlich Lebensmittel, Kleidung, Bettwäsche und die
allernötigsten Küchengeräte – mitnehmen durften. Den Transport des Reisegepäcks von der
Wohnung bis zu den Eisenbahnwaggons übernahmen vor allem Pferdefuhrwerke. Der letzte
Waggon des Zuges wurde mit Lebensmitteln vollgepackt. Ich selbst hatte Gelegenheit mit dem
damaligen örtlichen katholischen Pfarrer die Waggonreihen entlangzugehen, um Abschied zu
nehmen. Das war kein herzerfreuender Anblick.
Ein letztes, ergreifendes Bild war, als sich aus den zurückbleibenden und den auszusiedelnden
Musikern ein Orchester zusammenfand, das die ungarische Nationalhymne spielte. Danach
stieg ein Teil der Musiker in den Zug ein, der andere Teil blieb zurück, der Zug aber setzte
sich langsam in Bewegung. Mit diesem Augenblick war die Aussiedlung der Schwaben aus
Budakalász beendet.
Josef Szedlak aus Kernen-Stetten bei Ludwigsburg erinnert sich an seine Vertreibung aus
Budakalász und hat uns nachfolgende Ausführungen geschrieben:
Freitag, 22. Februar 1946. Morgens um 6 Uhr wurden wir geweckt. Das letzte Mal gab es
Frühstück in der vertrauten Stube, wo ich aufgewachsen war und die ersten siebzehn Jahre
meines Lebens verbrachte. Meine Eltern sahen müde aus, wahrscheinlich hatten sie in der
Nacht zuvor nicht geschlafen. Die Verwandten kamen schon früh am Morgen um Abschied zu
nehmen. Es wurde ein langer, schwerer Tag für uns. Unser Gepäck stand bereit zur
Abholung. Pro Person durften wir 100 kg Gepäck mitnehmen. Unsere Eltern wurden immer
unruhiger, wann das Fuhrwerk käme, wann es hieße endgültig Abschied vom vertrauten Heim
zu nehmen. Jeder der Anwesenden wischte sich verstohlen die Tränen aus den Augen. Meine
Eltern gingen ein letztes Mal durch das Haus und schauten nochmals alles durch, was man
noch mitnehmen konnte. Meine Großmutter hatte uns ein letztes Mittagessen in der alten
Heimat gekocht.
Es sind nun mehr als 50 Jahre vergangen und ich glaube, dass sich heute niemand mehr
vorstellen kann in Ungarn zu leben. Die meisten Älteren sind verstorben und die Jüngeren
haben kaum noch Verbindung in die alte Heimat und zu den dort lebenden Menschen. Ich
persönlich empfinde keinen Groll, nur vergessen kann und will ich diese Geschehnisse nicht.
Am 4. November 2004 reisten wir nach Budakalász, um alle die Leute zu finden, die sich an
die Aussiedlung von 1946 erinnern können. In einem Altenclub trafen wir drei Frauen, die
diese Geschichte persönlich erlebten. Eine davon ist Frau Eta; sie ist Ungarndeutsche. Ihre
Verwandten und Bekannten aus diesem Dorf wurden 1946 ausgesiedelt. Sie gab uns das
folgende Interview:
Meine Vorfahren kamen ursprünglich aus Schwaben; meine Verwandten wurden 1946
ausgesiedelt, sie mussten alles hier zurücklassen. Wir durften hier bleiben, obwohl wir
damals auch auf der Liste standen. Diese Liste wurde eine Woche vor der Aussiedlung
ausgehängt. Auf dem Bahnhof mussten die Leute in einen Viehwaggon einsteigen. Die
Menschen weinten und weinten, man kann es sich vorstellen. Wer hier bleiben durfte, war auf
dem Bahnhof; alle tobten. Die Vertriebenen dachten zurückkehren zu dürfen und nicht
wegbleiben zu müssen. Zwei Familien kamen zurück, aber die anderen Familien blieben für
immer fort.
Auch Franz Trendl, der jetzt in Deutschland lebt, wurde im Jahre 1946 vertrieben. Er ließ uns
Folgendes wissen:
Bereits seit Sommer 1945 wurde in den Zeitungen und im Radio darüber berichtet, dass die
deutsche Bevölkerung nach Deutschland ausgesiedelt werden soll. Nach meiner Erinnerung
wurde nach der Potsdamer Konferenz der Siegermächte die öffentliche Diskussion und
Auseinandersetzung bis Ende 1945 immer schärfer. Am 22. Dezember 1945 beschloss dann
die ungarische Regierung die Aussiedlung und nach Abfahrt des landesweit ersten Transports
aus Budaörs am 19. Januar 1946 wurde die Aussiedlung zur Gewissheit. Angeblich standen
auf der Liste etwa 1200 Namen, von denen ungefähr zehn Prozent befreit werden durften.
Als Aussiedlungsgründe wurden genannt:
- Deutsche Muttersprache (laut Volkszählung von 1941)
- Deutsche Nationalität
- Mitgliedschaft im Volksbund der Deutschen in Ungarn
- Zugehörigkeit zu einer deutschen militärischen Einheit
- Wiederannahme des zwischenzeitlich magyarisierten alten deutschen
Familiennamens
Andere Familien hatten mit unterschiedlichem Erfolg Anträge auf Befreiung gestellt. Welche
Kriterien zu einer positiven oder negativen Entscheidung führten, wurde nicht bekannt
gemacht. Die Stimmung war allgemein sehr gedrückt. Selbst die ungarischen und serbischen
Dorfbewohner waren äußerst betroffen. Die Aussiedlung war das fast einzige Gesprächsthema jener Tage, die Menschen empfanden sie als Unrecht. Außer der offiziellen
schriftlichen Bekanntmachung gab es keine Erklärungen von Amtspersonen. Über die Dauer
unserer Vertreibung wurde nichts gesagt, denn es war von vornherein klar: für immer!
Bis Ende der 40er Jahre war es meines Wissens kaum möglich, nach Ungarn zu reisen. Erst
Anfang der 50er Jahre fingen einzelne Leute an, zu besonderen Anlässen wie Hochzeit oder
Beerdigung von nahen Verwandten nach Hause zu reisen. Ich war mit meiner Frau, ihrem
Bruder und unserer Tochter im Sommer 1963 mit dem Auto erstmals zu einem Verwandtenbesuch gefahren.
Es gab und gibt aber auch Leute meines Alters, die den materiellen Verlust unserer Eltern
nicht so stark empfunden hatten und nicht heimgehen wollen. Einer meiner Schul- und
Spielfreunde gehört auch dazu; vor vielen Jahren sagte er mir: „Die haben uns unsere ganze
Jugend geraubt, das kann ich nicht vergessen“. Ich selbst empfand und empfinde immer noch
den Raub meiner ungarischen Staatsangehörigkeit schwerer als den Verlust der Heimat.
Wir leben inzwischen 58 Jahre lang in Deutschland, für die meisten sind dies mindestens drei
Viertel ihres Lebens. Die Zeit heilt Wunden. Und so wird dieses Ereignis zwar nicht
vergessen, aber als zunächst erlittener, dann notgedrungen akzeptierter und zuletzt
bewältigter Teil unseres Lebens empfunden.
Vertriebene Ungarndeutsche finden im Raum Würzburg eine neue Heimat
Im Februar 1945 zeichnete sich bereits die endgültige militärische Niederlage Deutschlands
ab. Doch schon zwei Jahre vorher, im Januar 1943, hatten sich nach den deutschen
Niederlagen von Stalingrad und El Alamein der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt, der englische Premierminister Winston S. Churchill und der Führer der französischen
Résistance, Charles de Gaulle, in der marokkanischen Stadt Casablanca getroffen, um sich
gegenseitig zu verpflichten, den Krieg bis zur bedingungslosen Kapitulation Deutschlands
fortzusetzen. Es sei bemerkt, dass die Forderung nach einer bedingungslosen Kapitulation in
den folgenden Jahren den Widerstand gegen Hitler in Deutschland sehr erschwerte.
Ende 1943 verhandelten dann Roosevelt, Churchill und der sowjetische Generalissimus Josef
W. Stalin in der persischen Hauptstadt Teheran. Die Alliierten beschlossen die Teilung
Deutschlands, legten aber die Grenzen noch nicht fest. Des Weiteren wurde vereinbart, dass
Russland die baltischen Länder und die ostpolnischen Gebiete behalten sollte. Polen sollte
dafür im Westen bis an die Oder vorgeschoben werden. Nachdem Stalin versprochen hatte,
die demokratischen Grundrechte zu achten, wurden der sowjetischen Einflusssphäre auch die
Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien zugesprochen. Für diesen Machtzuwachs sicherte Stalin die Mitarbeit der Sowjetunion an einer künftig zu gründenden
Weltfriedensorganisation zu.
Auf der so genannten Krimkonferenz in Jalta im Februar 1945 berieten die „Großen Drei“,
Roosevelt, Churchill und Stalin über die Beendigung des Zweiten Weltkrieges und über die
Maßnahmen in den besetzten Gebieten. Hierzu wurde das Land in drei Besatzungszonen
eingeteilt. Doch wurden bei dieser Konferenz bereits Differenzen zwischen den „Großen
Drei“ sichtbar. Über die polnische Westgrenze konnte keine Einigung erzielt werden, sie
sollte erst auf einer Friedenskonferenz endgültig festgelegt werden.
Am 7. Mai 1945 wurde im US-Hauptquartier in Reims die bedingungslose Kapitulation
Deutschlands unterzeichnet, einen Tag später im sowjetischen Hauptquartier in BerlinKarlshorst bestätigt. Gemäß dem Plan, der auf der Konferenz von Jalta aufgestellt worden
war, wurde Deutschland nach der Kapitulation aufgeteilt; es entstanden unter späterer
Einbeziehung Frankreichs vier Besatzungszonen, in denen die jeweiligen Siegermächte die
vorläufige Regierungsgewalt übernahmen. Vom 17. Juli bis 2. August 1945 tagten die Sieger
in Potsdam. Für die Sowjetunion nahm an der Konferenz wiederum Stalin teil, anstelle
Roosevelts, der im April 1945 verstorben war, vertrat die USA jetzt Präsident Harry S.
Truman. Churchill wurde nach seiner Wahlniederlage durch den neuen Premier Clement
Attlee während der Konferenz abgelöst. Neben der Bestätigung des am 5. Juni eingesetzten
„Alliierten Kontrollrates“, der die Regierung in Deutschland übernehmen sollte, der
Einrichtung der Oder-Neiße-Linie oder der Reparationsleistungen wurde im „Potsdamer
Abkommen“ auch die Bevölkerungsumschichtung der Deutschen von Ost- und Südosteuropa
nach Westen entschieden:
Die Konferenz erzielte folgendes Abkommen über die Ausweisung Deutscher aus Polen, der
Tschechoslowakei und Ungarn: Die drei Regierungen haben die Frage in allen Punkten
beraten und erkennen an, dass die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile
derselben, die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach
Deutschland durchgeführt werden muss. Sie stimmen darin überein, dass jede derartige
Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll.
Zu den Millionen von Deutschen, die ihre Heimat schon während des Krieges verlassen
mussten, kamen jetzt Millionen Vertriebener in den Westen. Unter den Kriegsfolgen hatten
neben den Bombengeschädigten ganz besonders die Heimatvertriebenen zu leiden. Nicht
immer fanden sie Verständnis bei der einheimischen Bevölkerung.
Über ihre Erlebnisse von der Vertreibung aus Ungarn berichtet Frau Helene Baumann aus
Würzburg-Lengfeld:
Ich war damals sieben Jahre alt und lebte mit meiner Familie in Szeged, keine sechs
Kilometer von der jugoslawischen Grenze entfernt. Im Mai 1946 erhielt unsere Familie die
Nachricht, dass wir sofort unser Haus verlassen müssten und zum Bahnhof fahren sollten.
Gepäck durften wir nur so viel mitnehmen wie wir tragen konnten. Ich klemmte mir nur ein
Kissen unter den Arm. Am Bahnhof angekommen trafen wir noch weitere Ungarn-Deutsche.
Wir wurden dann Viehwaggons zugeteilt. Bei der Fahrt in Richtung Österreich wurde der
Zugtransport von russischen Soldaten militärisch begleitet. Unsere Familie kam nach
mehreren Tagen Eisenbahnfahrt in Bad Kissingen in Bayern an. Dort wurden wir im Hotel
„Diana“ untergebracht; anschließend kamen wir nach Lengfeld, wo wir dem Bauern
Flurschütz zugeteilt wurden. Bei diesem waren wir solange untergebracht, bis mein Vater das
so genannte „Schmerzensgeld“ erhielt und sich und uns davon ein Häuschen bauen konnte.
Meine ehemalige Heimat besuche ich regelmäßig; das habe ich sogar schon getan, als Ungarn
noch kommunistisch war.
Frau Gisela Scharnberger aus Würzburg erinnert sich an ihre Vertreibung so:
Damals war ich zehn Jahre alt. Zu der Zeit lebte ich mit meiner Familie in Györ in
Nordungarn, nur 40 Kilometer von der österreichischen Grenze weit. Im Mai 1946 wurden
wir aufgefordert sofort unser Haus zu verlassen. Allerdings gestatteten uns die ungarischen
Behörden, eine große Holzkiste mit Kleidung, diversen Gebrauchsgegenständen und
Verpflegung mitnehmen zu dürfen. Wir wurden, wie viele andere unserer Bekannten auch,
von da mit der Bahn in Viehwaggons nach Gerlachsheim in Nordbaden transportiert. Dort
wurden wir zunächst mit 30 anderen Vertriebenen im Schloss von Gerlachsheim
untergebracht. Danach kamen wir nach Königheim, wo wir sehr große Unterstützung durch
das Rote Kreuz erfuhren. Meine alte Heimat Ungarn habe ich schon mehrere Male besucht.
Herr Georg Petz aus Hergolshausen bei Schweinfurt gibt folgende Schilderung von seiner
Vertreibung aus Ungarn:
Als unsere Familie, die seit Generationen in Bátaszék in der Nähe von Baja/Donau lebte, im
Mai 1946 die Nachricht bekam, unser Haus verlassen zu müssen, war ich gerade fünf Jahre
alt. Man erlaubte uns jedoch, pro Person 40 Kilogramm Gepäck mitzunehmen; meine
Lieblingsgans allerdings musste ich zurücklassen. Mit einer Kutsche brachten uns die dort
wohnenden Ungarn zum Bahnhof. In einem Viehwaggon wurden wir nach Schweinfurt
transportiert; die Zugfahrt dauerte drei Tage. Nach der obligatorischen Entlausung lebten wir
dann in einem alten Bunker am Wasserturm. Einige Wochen später verteilte man uns auf die
Landkreisgemeinden, wo wir nicht ganz willkommen waren. Schon in kommunistischer Zeit
hatte ich Ungarn einige Male besucht; jetzt tue ich das regelmäßig.
Und von der uns schon bekannten Familie Sackmann, bis 1940 seit Generationen in Bessarabien ansässig, ist zu berichten, dass ihre Umsiedlung 1940/41 zunächst über Polen nach
Danzig-Westpreußen führte, von dort dann vor der herannahenden Roten Armee die Flucht
nach Linz in Österreich erfolgte, um daraufhin bei Kriegsende in Bremervörde eine neue
Heimat zu finden. Da man aber das Nordseeklima nicht vertrug, ließ sich die Familie von
Johannes und Mathilde Sackmann Anfang 1946 in Schwaben, dem Heimatland ihrer Urahnen
nieder. Helmut Sackmann, das jüngste Kind der letzten „Bessarabien“-Generation, wurde
bereits in Backnang geboren und lebt heute in Würzburg.
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