Friedrich Wilhelm Graf

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Studia Theologica VI, 1/2008, 84 - 113
Friedrich Wilhelm Graf
Prägnante Distinktion. Das theologische Programm Joseph Ratzingers
[Benedikt XVI.]
1. Religious market oder: My God sells
Zu den vielversprechenderen Deutungsmodellen der Religionswissenschaften
zählt schon seit einigen Jahrzehnten die sogenannte Religionsökonomie. 1963
hat der heute in Boston lehrende Religionssoziologe Peter L. Berger einen
inzwischen berühmten Essay „A Market Model for the Analysis of Ecumenicity“
publiziert.1 Berger hat dort zwei widersprüchliche Entwicklungen auf den
Religionsmärkten der USA analysiert. Einerseits ließen sich vielfältige
Gesprächskontakte zwischen christlichen Kirchen und kleineren religiösen
Gemeinschaften beobachten, Verhandlungen über konkrete Zusammenarbeit,
etwa im sozialen Bereich, Vereinbarungen über Zweckbündnisse, auch
Gespräche über Fusionen. Zur modernen Religionskultur gehört eben der
permanente ökumenische Dialog, ohne daß sich immer genau sagen ließe,
worüber da geredet wird. Worum geht es eigentlich – wenn man von
funktionärstypischen Selbstbeschäftigungsritualen einmal absieht? Nicht nur
um Annäherung jedenfalls. Denn viele dieser Akteure sind andererseits
zugleich auch um neue konfessionelle Profilbildung bemüht, um klare
Abgrenzung von anderen Kirchen und religiösen Gruppen durch
Neubestimmung konfessionsspezifischer Identität. Zwischen den ökumenischen
1
Berger, Peter L.: A Market Model for the Analysis of Ecumenicity, in: Social Research 30
(1963), 77-93.
Aufbrüchen des 20. Jahrhunderts und der energischen Betonung des
Konfessionellen bestehe jedoch, so Berger, kein Widerspruch. Gerade der
intensivierte ökumenische Dialog zwinge die Beteiligten vielmehr dazu, auf
diese Prozesse durch neue konfessionelle Identitätserfindung zu reagieren, da
alle religiösen Organisationen und Institutionen auf einem pluralistischen
Religionsmarkt agieren. In dieser Marktsituation ist jeder Anbieter dazu
gezwungen, die besondere Leistungsfähigkeit seiner Heilsprodukte,
Seelendienstleistungen und Lebenssinngüter deutlich herauszustellen. Je
vielfältiger, bunter, unübersichtlicher moderne Religionsmärkte zu werden
drohen, je mehr alte christliche Anbieter durch neue religiöse Bewegungen und
Sinnstifter unter Konkurrenzdruck geraten, desto entschiedener muß jeder
einzelne Wettbewerber die überlegene Qualität seiner Angebote zur Schau
stellen. Anders formuliert: Wie jedes andere Unternehmen müssen auch
Religionskonzerne ihre „corporate identity“ pflegen, den eigenen Markennamen
profilieren, die Qualität ihrer Güter und Dienstleistungen sichtbar machen.
Genau dazu dient unter den Bedingungen des Pluralismus das neue
Konfessionsbranding.
Seit dem Erscheinen von Bergers Aufsatz vor gut vierzig Jahren hat sich in den
USA eine eigene akademische Disziplin, eben die „Religious Economics“,
entwickelt. Die von ihren profiliertesten Vertretern wie Roger Finke, Rodney
Stark und Laurence Iannaccone entworfenen religionsökonomischen
Deutungsmuster ermöglichen es, religiöse Wandlungsprozesse relativ präzise
zu modellieren und das konkrete Reaktionsverhalten einzelner Akteure
schlüssig nachzuzeichnen.2 Der prekäre diagnostische Nachteil klassischer
2
Finke, Roger/Stark, Rodney: The Churching of America, 1776-1990. Winners and Losers in
2
Interpretationskonstrukte im Stil der Säkularisierungsthese lag darin, daß sie
die religiösen Organisationen und Institutionen lediglich als passive Opfer
diffuser gesellschaftlicher Megatrends wie „Entkirchlichung“,
„Verwissenschaftlichung“, „Konsumismus“ oder „Hedonismus“ in den Blick
nahmen. Gerade diese Vorstellung aber ist in den analytisch kühlen Begriffen
und erschließungsstarken Sprachspielen der Religionsökonomie als
modernisierungstheoretisches Dogma destruiert worden. Denn religiöse
Akteure reagieren auf sich ändernde Rahmenbedingungen und steigende
Konsumentenautonomie höchst unterschiedlich. Das Spektrum ihrer
Verhaltensmuster reicht von theologisch induzierter Wahrnehmungsresistenz
und notorischer Selbstveränderungsverweigerung bis hin zu professionalisierter
Welt- und Selbstbeobachtung, die sich häufig mit der Bereitschaft verbindet,
Anpassungsflexibilität zu entwickeln und kundenorientiert zu handeln,
beispielsweise semantische Umschaltprozesse gezielt zu forcieren und
Rezeptionsblockaden abzubauen. So war etwa der Umgang der römischkatholischen Kirche mit dem Begriff der „Menschenrechte“ noch um die Mitte
des 20. Jahrhunderts von polemischen Ausfällen gegen liberalistische
Zeitgeistverirrungen und ein falsches anthropozentrisches
Autonomieverständnis geprägt. Nur wenige Jahrzehnte später aber setzt sich
eben diese Institution in bioethischen Diskursgremien ganz selbstverständlich
als berufene Hüterin der wahren Rechte des Menschen in Szene. Manche
Kirchen haben also auf die Traumata der – zumal im „langen“ 19. Jahrhundert
– krisenhaft erlittenen Modernisierung bemerkenswert intelligent reagiert. Fern
verschwommener Konsensrhetorik haben sie Strategiekonzepte entwickelt und
Our Religious Economy, New Brunswick 1992; Iannaccone, Laurence R.: Introduction to the
Economics of Religion, in: Journal of Economic Literature 36 (1998), 1465-1495.
3
umzusetzen vermocht, die inmitten eskalierender Unübersichtlichkeit das
Angebot verläßlicher Orientierung und starker Identitätssicherung mit werbend
suggestiver Kraft präsentieren. Diese ganz unterschiedlichen Verhaltensmuster
im Umgang mit externen wie internen Status-quo-Bedrohungen und
Pluralisierungsschüben differenzierter erfassen und nachzeichnen zu können,
zählt zu den großen Stärken der Religionsökonomie. Mit ihrer Ausrichtung auf
die Marktmechanismen von Angebot und Nachfrage aber gelingt es ihr auch,
die immer wieder frappierenden religionskulturellen Unterschiede im Vergleich
der nordamerikanischen und europäischen Religionslandschaften zumindest in
wichtigen Aspekten plausibel zu deuten. In wie weit diese
religionsökonomischen Prozesse zugleich im Zuge ihrer Beschreibung
sozialkonstruktivistisch generiert oder etabliert werden, soll hier undiskutiert
bleiben.
2. Herausforderungen der Persönlichkeit: pontifex maximus e sede
litterarum
Benedikt XVI. wird nur gerecht, wer das theologische Programm des
Dogmatikprofessors Joseph Ratzinger ernst nimmt. Nie zuvor in der neueren
Christentumsgeschichte ist ein vergleichbar brillanter Theologenintellektueller
auf die cathedra Petri gelangt. Sein thematisch weit gespanntes theologisches
Œuvre ist von hoher innerer Kontinuität und faszinierender gedanklicher
Stringenz geprägt. Außergewöhnliche ideenhistorische Bildung verband sich
schon in der Dissertation über „Augustins Lehre von der Kirche“ mit dem
Interesse am prägnanten, distinktionsstarken dogmatischen Begriff. Früh
entwickelte Ratzinger eine kritische Sicht der modernen pluralistischen
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Beliebigkeitskultur und der vielfältigen Pathologien einer offenen Gesellschaft,
die eines integrativen Ethos entbehrt. In engem Zusammenhang mit seinen
Zeitdiagnosen entfaltete er eine Theorie der starken Kirche als Hüterin wahrer
Humanität. Obgleich viele seiner deutschsprachigen Fachkollegen ihn bald als
starrsinnigen Hardliner und unbelehrbaren Glaubenswächter kritisierten, war er
genau gelesen ein hörbereiter, dialogischer Denker. Bemerkenswerte
Rezeptionsbereitschaft und sensible Nachdenklichkeit hat Ratzinger gerade mit
Blick auf die deutschsprachige protestantische Theologie des 19. und 20.
Jahrhunderts bewiesen. Seine Aufsätze und Bücher lassen Spuren intensiver
Auseinandersetzung mit Ernst Troeltsch, Karl Barth, Rudolf Bultmann und
Wolfhart Pannenberg erkennen. Gerade wegen seiner Hochschätzung
protestantischer Universitätstheologie leidet auch Ratzinger unter dem Verfall
der evangelischen Kirchentümer in Deutschland.
Im Münchner Gespräch mit Jürgen Habermas hat der Präfekt der
Glaubenskongregation im Januar 2004 noch einmal das Grundproblem der
europäischen Geistesgeschichte entfaltet, das Verhältnis von fides et ratio.
Glaube und Vernunft ordnet Ratzinger einander in einem Modell wechselseitiger
Begrenzung zu. Mit den Frankfurter Meisterdenkern einer „Dialektik der
Aufklärung“ führt er die antiliberalen, totalitären Ideologien des 19. und 20.
Jahrhunderts auf den Monomythos einer sich selbst verabsolutierenden
Zweckrationalität zurück. Wo die Vernunft sich keiner konstitutiven Grenzen
bewußt bleibe, schlage sie in zerstörerische Allmachtsphantasien um. Ob der
sich autonomisierenden Erkenntnisdynamik der modernen Wissenschaften und
ihrer zerstörerischen Potenzen, von der Atomwaffe bis hin zu Menschenpark5
Projekten einer biotechnischen Selbsterschaffung des endlich neuen Menschen,
hält Ratzinger die Kantianische Konzeption einer kritizistischen
Selbstbegrenzung der modernen Vernunft für gescheitert. Nur religiöser Glaube
könne dank seines konstitutiven Bezugs auf Gott ethisch relevante Grenzen
des „Moderne-Projekts“ rein rationaler Selbst- und Weltentwürfe des Menschen
markieren. Aufklärungsbelesen betont Ratzinger zugleich die hohe Ambivalenz
des religiösen Bewußtseins, das in mehr oder minder subtiler symbolischer
Selbstgleichschaltung mit Gott seinerseits sündhafte Omnipotenzlust zu
kultivieren und in Fanatismus, Intoleranz oder gar in gewalttätigen Terror
umzuschlagen drohe. Ratzinger will zugleich die Vernunft durch die Religion
begrenzen und den christlichen Glauben durch die Vernunft vor
religionsideologischer Selbstverabsolutierung bewahren. Nur dank innerer
Klarheit, Vernünftigkeit könne der recht verstandene, zur Einsicht in seine
Grenzen fähige christliche Glaube dramatisch bedrohte Humanität stützen.
Einst von der römischen Kirche vehement abgelehnte „Menschenrechte“ deutet
er als Konkretionen der Ebenbildlichkeit Gottes. In diesem
Interpretationsprogramm steckt auch der steile Anspruch, daß letztlich nur der
Kirche eine zureichende Deutungskompetenz über die Rechte des Menschen
eigne.
Mit seiner „Korrelationsmethode“ (P. Tillich) kann Ratzinger der kulturellen
Partikularität des okzidentalen Rationalismus ebenso gerecht werden wie der
religionskulturellen de-facto-Relativität der christlichen Kirchen. Präziser als
andere deutschsprachige katholische Dogmatiker seiner Generation hat er sich
an den harten kognitiven Problemen des überkommenen christlichen
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Wahrheitsanspruchs abgearbeitet. Wo manche katholische Gelehrte die Vielfalt
je eigener religiös grundierter Moralkulturen ignorieren und die Menschheit
überhaupt mit ihrem artifiziell abstrakten Welteinheitsethos beglücken wollen
(was Andersdenkende nur als wohlmeinende Unterdrückung erleiden können),
setzt Ratzinger auf die Anerkennung faktischer Differenzen, so daß er
interkulturelle Dialoge zu intensivieren verlangt. Essentialistische Stereotypen
antagonistischer Religionskulturräume, etwa im Sinne Huntingtons,
dekonstruiert er mit dem Hinweis darauf, „daß alle kulturellen Räume durch
tiefgreifende Spannungen innerhalb ihrer eigenen kulturellen Tradition geprägt
sind“. Die römisch-katholische Weltkirche sieht er in ihren pluralen religiöskulturellen Umwelten deshalb mit je eigenen Wertkonflikten konfrontiert.
Gerade deshalb gibt er der klaren, verbindlichen Lehre der Kirche auch in
moralischen Fragen ein so hohes Gewicht. Nur durch prägnant definierte
Identität, durch einen klaren ekklesiologischen Begriff ihrer selbst, könne die
römisch-katholische Kirche verhindern, in den vielfältigen Interaktionen
innerhalb divergenter Kulturen in ein Ensemble mehr oder minder katholischer
„Ortskirchen“ auseinanderzufallen. Im klaren Gegensatz zu Walter Kardinal
Kasper hat Ratzinger der römischen „Gesamtkirche“ konsequent eine
ontologische wie temporale Priorität vor jeder einzelnen „Teilkirche“ zuerkannt.
In seinen zahlreichen Texten zur Amtstheologie des Papsttums, die nun den
Charakter antizipierter Selbstreflexionen gewonnen haben, hat Ratzinger gern
die unaufhebbare Widersprüchlichkeit der Primatsidee betont. Gerade der
ideale Repräsentant der Einheit wirkt faktisch kirchenspaltend. Insoweit kann
ein protestantischer Theologe Benedikt XVI. nur an die Einsicht des
Regensburger Dogmatikprofessors Joseph Ratzinger erinnern: „Für das
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Papsttum und die katholische Kirche bleibt die Papsttumskritik der nichtkatholischen Christenheit ein Stachel, eine immer christusgemäßere
Verwirklichung des Petrusdienstes zu suchen“.
Im Land der Reformation hat der Präfekt der Glaubenskongregation vor allem
mit der Erklärung „Dominus Jesus“ vom 6. August 2000 Ärgernis erregt. Die
vehement geführte Debatte hat begrüßenswerte theologische Klarheit
befördert. Zwar können einzelne Getaufte anderer Konfessionen als „Brüder“
und „Schwestern“ angeredet werden. In einer höchst modernen
Institutionentheorie hat das Lehramt jedoch zugleich darauf insistiert, daß die
eine Kirche Jesu Christi allein in der römisch-katholischen Kirche „subsistiert“.
Bedeutet dies eine Zweiklassen-Ekklesiologie, derzufolge die Christen in den
nicht-römischen „kirchlichen Gemeinschaften“ erst dann wieder Glieder der
wahren Kirche sind, wenn sie den Primat des Papstes anerkennen, das
römisch-katholische Amtsverständnis teilen und die Eucharistie nur so
empfangen, wie das Lehramt dies vorschreibt? Viele reformerische römischkatholische Theologen haben diese Frage damals bejaht und Ratzinger eine
klerikalarrogante Herabsetzung der leider getrennten protestantischen
„Geschwister“ vorgeworfen. Nicht wenige protestantische Universitätstheologen
haben genau umgekehrt argumentiert und Ratzinger für wohltuende Präzision
im ökumenischen Diskurs gedankt. Ratzinger ist kein Antiökumeniker, sondern
genau umgekehrt ein offensiver Theoretiker ökumenischer
Differenzhermeneutik. Er will die theologischen Unterschiede zwischen der
römischen (in seiner Sprache: allein katholischen) Kirche und den aus der
Reformation hervorgegangenen „kirchlichen Gemeinschaften“ möglichst scharf
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und präzise benennen, weil nur im harten Ringen um die Wahrheit sich
Chancen möglicher konstruktiver Verständigung eröffnen. In einem
Glückwunschbrief an den Tübinger protestantischen Dogmatiker Eberhard
Jüngel schrieb Joseph Kardinal Ratzinger: „Mitten in den Versuchungen des
Relativismus haben Sie nachdrücklich das Bekenntnis zum Dominus Iesus in
seiner ganzen Größe lebendig gehalten. Mit allem haben Sie auch einen
entscheidenden ökumenischen Dienst geleistet, denn am Ende kann uns nur
das Stehen zum 1. Gebot und das unverrückbare Bekenntnis zum Herrsein
Jesu Christi miteinander verbinden. Daß Sie dabei auch kontrovers das
protestantische Erbe im Gegenüber zur katholischen Kirche verteidigt und
eilfertige Harmonisierungen abgewiesen haben, sehe ich im letzten auch als
einen Beitrag zur wirklichen Einheit an. Denn darin drückt sich nicht nur Ihre
Treue zu dem Erbe aus, von dem her Sie in den Glauben hineingeführt worden
sind, sondern auch der Ernst des Ringens um die Wahrheit.“ So schreibt kein
Gegner ökumenischer Gespräche, sondern ein seriositätsbesessener Denker,
der andere ernst nimmt, indem er argumentativen Streit um den theologischen
Begriff verlogenen Konsensritualen vorzieht. Mit hoher Prägnanz hat er die
ekklesiologische Alternative bezeichnet, um die es im Kern geht: Entweder
existiert die eine Kirche Jesu Christi in einer legitimen Vielfalt sichtbarer
Konfessionskirchen, so daß Einheit allein spirituell, als Prädikat der ecclesia
invisibilis zu denken ist. Oder die Einheit muß empirisch gedacht, also strikt auf
Rom bezogen werden.
In der Entfaltung des römischen Exklusivitätspostulats hat sich Ratzinger
allerdings in tiefe Widersprüche verwickelt. Der Wahrheitsanspruch des
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kirchlichen Dogmas läßt sich dogmatisch nur im Rahmen der
Offenbarungslehre und ethisch nur über eine Theorie des Naturrechts als lex
divina begründen. Wieso dem römischen Lehramt hier eine qualitativ eigene
Wissensnähe zu Gott zukommen soll, derer die Christen in den nicht-römischen
Kirchen entbehren, begründet Ratzinger häufig durch amtstheologische
Argumente, mit zirkulärer Selbstreferenzialität. Intellektuelle Fairneß gebietet
den Hinweis, daß der Theologenintellektuelle Ratzinger hier selbst Probleme
sieht, die ein Präfekt der Glaubenskongregation und nun ein Papst nur um den
Preis einer - in römischer Perspektive – fatal protestantisch wirkenden
Spiritualisierung des Kirchenverständnisses eingestehen könnte. Ob hier
Beschwörungsformeln wie „gesetzt als nicht-gesetzt, unverfügbar“
weiterhelfen? Oder hat der Präfekt der Glaubenskongregation, der kraft Amtes
die Grenzen des kirchlich legitimen Diskurses definieren soll, hier implizit eine
Politik der Diskursöffnung vorgeschlagen und sich als Reformer in mancherlei
Moralfragen positioniert? Man wird bei der Beantwortung dieser Frage seine
erste Enzyklika nicht außer Acht lassen können.
3. cum caritate coniuncta: Liebe vs. Li(e)beralismus
Deus caritas est ist neben "Einführung" und "Schluß" wesentlich in zwei
Hauptteile gegliedert: Einen ersten Teil über "Die Einheit der Liebe in
Schöpfung und Heilsgeschichte" sowie den zweiten Teil über "Caritas – Das
Liebestun der Kirche als einer 'Gemeinschaft der Liebe'". Beide Hauptteile
gewinnen jeweils durch Zwischenüberschriften Struktur, in denen die
einzelnen, numerierten Absätze zu thematischen Blöcken zusammengefaßt
werden. Über das Verhältnis der "beiden großen, eng miteinander verbundenen
1
0
Teile" der Enzyklika gibt eine ihnen vorangestellte "Einführung" (1) Auskunft:
"Der erste (scil. Teil) wird einen mehr spekulativen Charakter haben, da ich
beabsichtige, darin (...) einige wesentliche Punkte über die Liebe, die Gott dem
Menschen in geheimnisvoller Weise und völlig vorleistungsfrei anbietet, zu
klären und zugleich die innere Verbindung zwischen dieser Liebe Gottes und
der Realität des menschlichen Lebens aufzuzeigen. Der zweite Teil wird
konkreterer Natur sein, denn er soll die kirchliche praktische Umsetzung des
Gebotes der Nächstenliebe behandeln" (1). Der Heilige Vater möchte zur
Intensivierung kirchlicher Caritas beitragen: "Mein Wunsch ist es, auf einige
grundlegende Elemente nachdrücklich einzugehen, um so in der Welt eine neue
Lebendigkeit wachzurufen in der praktischen Antwort der Menschen auf die
göttliche Liebe" (1).
Der zweite Teil ist in sechs Themengruppen gegliedert: "Das Liebestun der
Kirche als Ausdruck der trinitarischen Liebe" (19), "Das Liebestun als Auftrag
der Kirche" (20-25), "Gerechtigkeit und Liebe" (26-29), "Die vielfältigen
Strukturen des Liebesdienstes im heutigen sozialen Umfeld" (30), "Das
spezifische Profil der kirchlichen Liebestätigkeit" (31) sowie "Die Träger des
karitativen Handelns der Kirche" (32-39). Schon dieser Aufbau läßt erkennen,
daß hier entschieden von der Kirche her gedacht wird. Für den Heiligen Vater
ist Nächstenliebe zunächst innerhalb der Kirche "als Gottes Familie in der Welt"
geboten (25a). "In dieser Familie darf es keine Notleidenden geben." (25a)
"Innerhalb der Gemeinschaft der Kirche darf es keine Armut derart geben, daß
jemandem die für ein menschenwürdiges Leben nötigen Güter versagt
bleiben." (20) Zwar betont Benedikt in einem zweiten Schritt auch die
1
1
Allgemeinheit des Liebesgebots, das "die Grenzen der Kirche" überschreite
(25b). Aber dem nach innen gerichteten, kirchenfamiliären Liebesdienst
erkennt er einen Vorrang zu: "Unbeschadet dieser Universalität des
Liebesgebots gibt es aber doch einen spezifisch kirchlichen Auftrag - eben den,
daß in der Kirche selbst als einer Familie kein Kind Not leiden darf" (25b).
Kirchliche oder kirchennahe Sozialdienstleister agieren europaweit faktisch auf
einem hochdifferenzierten Sozialmarkt, in dem zahlreiche gewinnorientierte,
entschieden weltliche Anbieter genau dieselben Assistenzdienstleistungen wie
"Caritas" und "Diakonie" anbieten. Der Heilige Vater kommt auf diese
Konkurrenzsituation indirekt zu sprechen, indem er "das spezifische Profil der
kirchlichen Liebestätigkeit" zu schärfen versucht (31). Daß sozialkaritative
Angebote und Assistenzdienstleistungen auch von nicht-kirchlichen,
"weltlichen" Unternehmen erbracht werden, sucht er mit einer höchst
traditionellen naturrechtlichen Reflexionsfigur zu deuten: "Das Zunehmen
vielfältiger Organisationen, die sich um den Menschen in seinen verschiedenen
Nöten mühen, erklärt sich letztlich daraus, daß der Imperativ der
Nächstenliebe vom Schöpfer in die Natur des Menschen selbst eingeschrieben
ist. Es ist aber auch ein Ergebnis der Gegenwart des Christentums in der Welt,
die diesen in der Geschichte oft tief verdunkelten Imperativ immer wieder
weckt und zur Wirkung bringt. (...) In diesem Sinn reicht die Kraft des
Christentums weit über die Grenzen des christlichen Glaubens hinaus. Um so
wichtiger ist es, daß das kirchliche Liebeshandeln seine volle Leuchtkraft behält
und nicht einfach als eine Variante im allgemeinen Wohlfahrtswesen aufgeht."
(31) Auf einem konkurrenzbestimmten Sozialmarkt will Benedikt die – im
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Management-Deutsch formuliert – 'Sichtbarkeit' und Identität katholischer
Anbieter durch entschieden geistliche Profilierung stärken. Er setzt auf neue
Rückbindung von Caritas-Organisationen an die Kirche, die Reklerikalisierung
relativ autonomer Caritas-Dienstleister, um ihre (römisch-)katholische Bindung
sichtbar zu machen. Zugleich werden die hier Mitarbeitenden an ihre
Treuepflicht gegenüber den Bischöfen erinnert und ihnen in neuer
Gebotsintensität die Pflichten eines dezidiert geistlichen Lebenswandels im
Zeichen von ora et labora eingeschärft. "Es ist Zeit, angesichts des Aktivismus
und des drohenden Säkularismus vieler in der karitativen Arbeit beschäftigter
Christen die Bedeutung des Gebetes erneut zu bekräftigen." (37) Benedikt
bemüht hier den alten Kampfbegriff "Säkularismus" nicht etwa zur
Bezeichnung einer gottvergessenen Mentalität außerhalb der Kirche. Vielmehr
sieht er "viele" in Caritas-Unternehmen tätige Menschen von "Säkularismus",
also von Glaubensverlust oder Abfall vom Glauben bedroht. Mit seiner
Enzyklika will er den in Caritas-Organisationen Mitarbeitenden ihre
Glaubenspflicht verdeutlichen; konkret sollen sie vor allem wieder mehr beten.
Auch fordert er mehr aktiv gelebte Kirchlichkeit und Gehorsam gegenüber dem
jeweiligen Bischof: "Wer Christus liebt, liebt die Kirche und will, daß sie immer
mehr Ausdruck und Organ seiner Liebe sei. Der Mitarbeiter jeder katholischen
karitativen Organisation will mit der Kirche und daher mit dem Bischof dafür
arbeiten, daß sich die Liebe Gottes in der Welt ausbreitet (...)" (33). Es ist nur
konsequent, daß der Heilige Vater die professionsspezifischen Fähigkeiten von
Caritas-Mitarbeitern nicht allein als "berufliche", sondern zugleich als
spirituelle, geistliche Kompetenz beschreibt. "Die Helfer müssen so ausgebildet
sein, daß sie das Rechte auf rechte Weise tun und dann für die weitere
1
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Betreuung Sorge tragen können. Berufliche Kompetenz ist eine erste,
grundlegende Notwendigkeit, aber sie allein genügt nicht. Es geht ja um
Menschen, und Menschen brauchen immer mehr als eine bloß technisch
richtige Behandlung. Sie brauchen Menschlichkeit. Sie brauchen die
Zuwendung des Herzens. Für alle, die in den karitativen Organisationen der
Kirche tätig sind, muß es kennzeichnend sein, daß sie nicht bloß auf gekonnte
Weise das jetzt Anstehende tun, sondern sich dem anderen mit dem Herzen
zuwenden, so daß dieser ihre menschliche Güte zu spüren bekommt.
Deswegen brauchen diese Helfer neben und mit der beruflichen Bildung vor
allem Herzensbildung: Sie müssen zu jener Begegnung mit Gott in Christus
geführt werden, die in ihnen die Liebe weckt und ihnen das Herz für den
Nächsten öffnet, so daß Nächstenliebe für sie nicht mehr ein sozusagen von
außen auferlegtes Gebot ist, sondern Folge ihres Glaubens, der in der Liebe
wirksam wird (vgl. Gal 5,6)." (31) Dieser Begriff der "Herzensbildung" wird
theologisch im "Programm Jesu" verankert, der im Unterschied zu allen
weltlichen Sozialutopien und Ideologien allein das "sehende Herz" gewollt habe
(31). Wie auch immer man solche "Herzensbildung" näher verstehen mag –
Benedikt will die karitativen Berufe als kirchliche Professionen verstanden
wissen; "Sozialdienst" ist für ihn ein "zugleich durchaus geistlicher Dienst",
"wirklich geistliches Amt" (21). Mehr Spiritualität und Gebetspraxis werden
eingeklagt. In dieser Kirchenperspektive können die harten ökonomischen
Realitäten, mit denen sich kirchliche oder kirchennahe Sozialdienstleister auf
konkurrenzbestimmten Sozialmärkten konfrontiert sehen, gar nicht erst in den
Blick kommen. In einer Art papaler Verdachtshermeneutik führt Benedikt die
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vielfach zu beobachtenden Krisenphänomene katholischer Sozialdiakonie auf
die mangelnde Frömmigkeit der hier Beschäftigten zurück.
Mit seinen Glaubensappellen und Gebetsrufen schreibt er faktisch nur die
religiös induzierte Realitätsferne und Ökonomievergessenheit vieler kirchlicher
Diakonie-Diskurse fort. Die derzeit entscheidenden Fragen werden gar nicht
erst gestellt: Wie lassen sich unter den Bedingungen harter
Anbieterkonkurrenz etablierte Standards von Assistenz sichern? Wie läßt sich
sozialpaternalistische Bevormundung der Hilfeempfänger durch die Helfenden
vermeiden? Wie können im Rahmen gemeinnütziger Organisationsstrukturen
hinreichende Mittel für gebotene Investitionen erwirtschaftet, also Gewinne
gemacht werden? Wie läßt sich die Leistungskraft christlich geprägter
Sozialunternehmen stärken? In den Leitbildprozessen katholischer
Sozialdienstleister vermag Deus caritas est schon deshalb keine konstruktive
Orientierungskraft zu entfalten, weil die soziale Umwelt dieser Organisationen
und Unternehmen nur äußerst reduziert in den Blick kommt. So steht zu
befürchten, daß Deus caritas est in den Selbstverständigungsprozessen der
diversen Sozialkatholizismen eher eine desorientierende, zerstörerische
Wirkung entfalten wird: als hilfloser Versuch, der harten Logik eines
konkurrenzbestimmten Sozialmarktes mit dem autoritativen Appell an die
Gesinnung der in katholischen Sozialunternehmen Arbeitenden zu begegnen;
als ein Versuch, der immer nur in kontraproduktiver Überforderung von
Menschen3 enden kann, die "die Kirche" doch braucht, will sie "das Licht Gottes
in die Welt einlassen" (39).
3
Karl Kardinal Lehmann geht hingegen davon aus, daß die "Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
der vielfältigen Caritas" durch die Enzyklika "ermutigt" werden (Lehmann, K., a.a.O., 137).
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5
Karl Kardinal Lehmann hat in seiner Würdigung von Deus caritas est den wohl
umfangreichsten Absatz 28 über die "gerechte Ordnung der Gesellschaft und
des Staates" als besonders gelungen bezeichnet. "Der Unterschied und die
Bezogenheit von Politik und Glaube aufeinander werden aufgezeigt. (...) Hier
kommt es zu guten Formulierungen über die Aufgabe der Kirche in Politik und
sozialer Gestaltung der Gesellschaft".4
Auch in Fragen politischer Ethik argumentiert Benedikt XVI. entschieden
traditionsorientiert. Die spezifisch katholische Vision einer idealen Ordnung
menschlichen Zusammenlebens entfaltet er in scharfer Abgrenzung vom
Marxismus. Von "der christlichen Staats- und Soziallehre" sei immer betont
worden, "daß das Grundprinzip des Staates die Verfolgung der Gerechtigkeit
sein muß und daß es das Ziel einer gerechten Gesellschaftsordnung bildet,
unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips jedem seinen Anteil an den
Gütern der Gemeinschaft zu gewährleisten" (26). Gerechtigkeitssemantik
durchzieht den gesamten Hauptteil des Textes. Gerechtigkeit dient
insbesondere als Leitbegriff zur Ordnung der komplexen Beziehungen zwischen
Glaube und Politik, Kirche und Staat. Desto mehr fällt auf, daß der so zentrale
Begriff nirgends prägnant bestimmt wird.
"Die gerechte Ordnung der Gesellschaft und des Staates ist zentraler Auftrag
der Politik." (28a) Denn für das Christentum sei die Unterscheidung von Staat
und Kirche oder, wie die Enzyklika im Zitat der Pastoralkonstitution Gaudium et
spes betont, die Anerkenntnis einer "Autonomie des weltlichen Bereichs"
4
Lehmann, K., a.a.O., 132f.
1
6
grundlegend. Doch so entschieden die Definitionsmacht über "das Gerechte"
zunächst der "praktischen Vernunft" zugewiesen wird, so sehr wird auch eine
Mitauslegungskompetenz der Kirche geltend gemacht. "Was ist Gerechtigkeit?
Das ist eine Frage der praktischen Vernunft; aber damit die Vernunft recht
funktionieren kann, muß sie immer wieder gereinigt werden, denn ihre
ethische Erblindung durch das Obsiegen des Interesses und der Macht, die die
Vernunft blenden, ist eine nie ganz zu bannende Gefahr." (28a) Eigene
Beachtung verdient die Metaphorik der "ethischen Erblindung": Interesse und
Macht können die Vernunft so stark blenden, daß sie ethisch
wahrnehmungsgestört, unterscheidungsunfähig wird. Deshalb bedarf die
Vernunft der "Reinigung". Wann genau diese Reinigungsmetaphorik in offizielle
Texte des Vatikans Eingang gefunden hat, wäre noch näher zu untersuchen; in
seinen eigenen theologischen wie kirchenpolitischen Publikationen machte der
Präfekt der Glaubenskongregation von ihr in den letzten Jahren einen so
intensiven Gebrauch, daß seine Textteppiche bisweilen als von
Reinigungsphantasmen durchwebt erschienen.
Als Instanz der Reinigung der Vernunft galt in Joseph Kardinal Ratzingers
theologischen Publikationen naturgemäß der Glaube. Auch in seiner ErstEnzyklika erkennt Benedikt XVI. dem Glauben und speziell der "Katholischen
Soziallehre" Mandat und Kraft zu, die Vernunft zu reinigen. "Der Glaube (...) ist
zugleich auch eine reinigende Kraft für die Vernunft selbst. Er befreit sie von
der Perspektive Gottes her von ihren Verblendungen und hilft ihr deshalb,
besser sie selbst zu sein. Er ermöglicht der Vernunft, ihr eigenes Werk besser
zu tun und das ihr Eigene besser zu sehen. Genau hier ist der Ort der
1
7
Katholischen Soziallehre anzusetzen: Sie will nicht der Kirche Macht über den
Staat verschaffen; sie will auch nicht Einsichten und Verhaltensweisen, die dem
Glauben zugehören, denen aufdrängen, die diesen Glauben nicht teilen. Sie will
schlicht zur Reinigung der Vernunft beitragen und dazu helfen, daß das, was
recht ist, jetzt und hier erkannt und dann auch durchgeführt werden kann."
(28a) Für diese Orientierungskraft oder Reinigungskompetenz der "Soziallehre
der Kirche" – ausdrücklich verweist der Papst auf das neue Kompendium5 –
wird schon im folgenden Satz auf "Vernunft und Naturrecht" rekurriert: "Die
Soziallehre der Kirche argumentiert von der Vernunft und vom Naturrecht her,
das heißt von dem aus, was allen Menschen wesensgemäß ist." Im nächsten
Absatz wird erneut das Bild gebotener "Reinigung" bemüht: "Es hat sich
gezeigt, daß der Aufbau gerechter Strukturen nicht unmittelbar Auftrag der
Kirche ist, sondern der Ordnung der Politik – dem Bereich der
selbstverantwortlichen Vernunft – zugehört. Die Kirche hat dabei eine
mittelbare Aufgabe insofern, als ihr zukommt, zur Reinigung der Vernunft und
zur Weckung der sittlichen Kräfte beizutragen, ohne die rechte Strukturen
weder gebaut werden noch auf Dauer wirksam sein können." (29) Trotz der
Rede von "der Autonomie des weltlichen Bereichs" oder der Qualifizierung der
praktischen Vernunft als "selbstverantwortlich" soll die Vernunft nur durch den
Glauben (bzw. die "Soziallehre der Kirche") davor geschützt werden können,
angesichts der Übermacht von Interessen zu erblinden. Insoweit bleibt die
Vernunft um ihrer Reinheit willen abhängig von der Orientierungskraft des
Glaubens und "der Kirche". Das von Joseph Kardinal Ratzinger in den letzten
Jahren immer wieder empfohlene komplexe Korrelationsmodell von Glaube und
5
Päpstlicher Rat "Justitia et Pax" (Hg.), Kompendium der Soziallehre der Kirche, Freiburg,
2006.
1
8
Vernunft6 ist in der ersten Enzyklika des Papstes nun sozialethisch konkretisiert
worden. Die dem Glauben der Kirche zugeschriebene vernunftfördernde
Reinigungskraft setzt allerdings voraus, daß "die Kirche" als Institution jenen
"Verblendungen" durch Machtfixierung oder Selbstinteresse nicht zu
unterliegen vermag, von denen sie die "praktische Vernunft" zu reinigen
intendiert. Doch üben Päpste keine mehr oder minder symbolische Macht aus?
Verfolgt die Kirche als Institution keinerlei Interessen? Sind ihr alle weltlichen
Versuchungen immer schon wesensfremd? Ist nur ihr eine fortwährend reine,
verblendungsresistente praktische Vernunft erschlossen? Weiß sie über das
behauptete "Naturrecht" prinzipiell mehr zu sagen als andere Akteure? Das
Korrelationsmodell von Deus caritas est spiegelt ein Selbstverständnis des
römisch-katholischen Lehramtes, in dem "der Kirche" immer schon eine
implizite moralische Prärogative im Kampf gegen die "Verunreinigungen" der
politischen Vernunft eignet. Insofern bleibt Benedikt XVI. sehr viel stärker als
seine Autonomie-der-Welt-Rhetorik suggeriert den römisch-katholischen
Überlieferungen einer potestas indirecta der Kirche in den politischen Arenen
verpflichtet. Wolfgang Huber hat dies mit Blick auf das monomythische
Vernunftkonzept gezeigt, an dem Benedikt XVI. trotz aller neueren Debatten
um eine Vielfalt von Rationalitäten, aber in Fortschreibung idealistischer
Einheitsvernunftsbegriffe ungebrochen festhält. Benedikt könne keine
Selbstbegrenzung der in der "Katholischen Soziallehre" inkarnierten Vernunft
denken. "Wenn demgegenüber jedoch Rationalität selbst einen pluralen
Charakter hat, dann kann auch die in der katholischen Soziallehre enthaltene
Rationalität nur eine unter vielen sein; und es kann gerade nicht im vornherein
6
Siehe beispielsweise Ratzinger, J.: Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen
der Zukunft bestehen, Freiburg, 2005, bes. 38.
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und für jeden Fall als sicher vorausgesetzt werden, daß sie mit anderen
Perspektiven auf die Autonomie weltlicher Bereiche zur Deckung kommen oder
für deren angemessene Deutung einen Alleinvertretungsanspruch geltend
machen kann. Diesem unausweichlichen Deutungsstreit (...) scheint die
Enzyklika so entgehen zu wollen, daß sie eine Reinigung der weltlichen
Vernunft für notwendig erklärt, für die eine besondere Verantwortung der
Kirche zu konstatieren ist. Gegenüber der Tradition einer Lehre von der
potestas indirecta der Kirche in weltlichen Angelegenheiten aber ist dies (...)
nur ein gradueller, nicht ein prinzipieller Unterschied – obwohl der Begriff der
Autonomie zunächst etwas anderes nahe zu legen scheint."7
In der päpstlichen Reinigungsmetaphorik steckt trotz aller Demutsgesten viel
moralische Arroganz. Weder vermag der Heilige Vater zu sagen, wo und wie,
mit welchen Verfahren und Instrumenten "die Kirche" die intendierte
Purifizierung der praktischen Vernunft empirisch vollzieht, noch kann er sich
der pluralismuskompatiblen Einsicht öffnen, daß "die Kirche" im öffentlichen
Diskurs über die ethischen Grenzen der politischen Vernunft bestenfalls ein
Mandat neben anderen hat. Seine ideale Kirche "reinigt" andere, etwa
Institutionen der politischen Vernunft, sagt aber nichts darüber aus, daß auch
sie zur Vermeidung von Fehlentwicklungen institutionalisierter Religion immer
neu der "Reinigung" bedarf. Insoweit bleibt Benedikts Argumentation einer
spezifisch römisch-katholischen Asymmetrie, einer Überdetermination der
Kirche verpflichtet. Dies dürfte auf Dauer sehr viel problematischer sein als die
eklatante analytische Schwäche in den vagen Aussagen zur "Globalisierung"
7
Huber, W.: Reinigung der Liebe – Reinigung der Vernunft. Zur päpstlichen Enzyklika "Deus
caritas est', in: Benedikt XVI, a.a.O., 97-111, hier 108.
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oder die widersprüchlichen Beschreibungen der Rolle der "Laien" im politischen
Prozeß der Durchsetzung besserer Gerechtigkeit. Denn unbeschadet seines
polemischen Gebrauchs des Interessenbegriffs leitet Benedikt aus seinem Bild
der starken Kirche als des idealen Subjekts personzentrierter Carität auch klare
Forderungen nach staatlicher Unterstützung des kirchlichen Liebesdienstes ab:
"Nicht den alles regelnden und beherrschenden Staat brauchen wir, sondern
den Staat, der entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip großzügig die Initiativen
anerkennt und unterstützt, die aus den verschiedenen gesellschaftlichen
Kräften aufsteigen und Spontaneität mit Nähe zu den hilfsbedürftigen
Menschen verbinden." (28)8
Darf man dies auch als einen Reflex kirchlichen Selbstinteresses an staatlicher
Alimentation kirchlich organisierter Caritas lesen? Dies ist, zugegebenermaßen,
eine "typisch protestantische" Frage. Aber man muß sie stellen, im Interesse
der Beförderung einer zunehmend europäisierten Zivilgesellschaft, die allen
Assistenzbedürftigen effiziente soziale Dienstleistungen anzubieten vermag.
Die legitimen Interessen der Bürger sind jedenfalls zu wichtig, um deren
Deutung allein einer kirchlichen Institution zu überlassen, die sich
traditionstreu eine exklusive Definitionsmacht über "das ganzheitliche Wohl des
Menschen" (19) zuschreibt. "Das gemeine Wohl aller" gebietet es, daß auch
alle mit gleicher Autorität an den Deutungskämpfen um beste Lösungen
teilnehmen dürfen. Welch grundlegende Bedeutung nicht nur die Debatte als
solche, sondern deren Aneignung über die konfrontationsorientierte Auslegung
8
Ein Vertreter der "Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände" erklärt dazu:
"Diese Aussagen könnten gut als ordnungspolitisches Leitbild beim Angebot sozialer
Dienstleistungen und der Schaffung der entsprechenden staatlichen Rahmenbedingungen
dienen" (Enste, D. H., a.a.O., 8).
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von Symbolbegriffen erlangen kann - auch weit über eine Vision Europas
hinaus – zeigte ja nicht zuletzt der Streit um manche Äußerung zur
Identitätsbestimmung in Abgrenzung vom Islam.
4. Graecia amissa! – Akademische Offenheit und
Konkurrenzbewußtsein
In der Regensburger Universität, der für ihn wichtigsten Station seines
Professorenlebens, hatte Benedikt XVI. auf eigenen Wunsch noch einmal über
sein wissenschaftliches Zentralthema, das Verhältnis von Glaube und Vernunft,
reden und zugleich den Ort akademischer Theologie in der modernen
Forschungsuniversität markieren wollen. Gerade die nun hinzugefügten
Anmerkungen machen deutlich, daß der Redner weniger als Papst auftreten
denn als Systematischer Theologe sein individuelles theologisches Programm
bündeln wollte. Der Autor schlägt selbst den Bogen zur Bonner
Antrittsvorlesung von 1959 über „Der Gott des Glaubens und der Gott der
Philosophen. Ein Beitrag zum Problem der theologia naturalis“. Auch zitiert er
sein als Präfekt der Glaubenskongregation geschriebenes Buch „Der Geist der
Liturgie“ und betont die Kontinuität zur erstmals 1968 erschienenen
„Einführung in das Christentum“. Nicht ohne Anflüge von
Intellektuelleneitelkeit teilt Benedikt zum wohl populärsten Ratzinger-Buch mit:
„Ich denke, daß das dort Gesagte trotz der weitergegangenen Diskussion nach
wie vor sachgemäß ist“. Muß selbst ein Papst noch für seine Bücher werben?
Der Heilige Vater will sichtlich akademische Kompetenz demonstrieren. Den
fiktionalen Dialog des byzantinischen Kaisers Manuel II. Palaeologos mit einem
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„gebildeten Perser“ hatte der Regensburger Redner nach einer philologisch
nicht unumstrittenen Teiledition des mit ihm seit Münsteraner Tagen
verbundenen Islamforschers Adel Theodor Khoury zitiert. Nun werden auch
zwei neuere Editionen genannt. Zur berühmten Sure 2,256 „Kein Zwang in
Glaubenssachen“ hatte der Redner erklärt, daß „die Kenner sagen“, sie sei
„eine der frühen Suren aus der Zeit, in der Mohammed selbst noch machtlos
und bedroht war“. Nun ist es „wohl eine der frühen Suren“, und dies sagt nur
noch „ein Teil der Kenner“. Die Fähigkeit zu subtiler Abschwächung des
ursprünglich Gesagten bekunden noch diverse andere kleinere Texteingriffe.
Für den Redner hatte Palaeologos seine Kritik, der Islam biete „nur Schlechtes
und Inhumanes“ und wolle den Prophetenglauben „durch das Schwert“
verbreiten, „in erstaunlich schroffer, uns überraschend schroffer Form“
geäußert. In der definitiven Druckfassung spricht der Papst nun von „uns
unannehmbar schroffer Form“. Auch betont er in einer eigenen Anmerkung,
daß er sich Palaeologos’ Fundamentalkritik des Islam nicht zu eigen mache,
sondern seine Regensburger Hörer „einzig ... auf den wesentlichen
Zusammenhang zwischen Glauben und Vernunft hinzuführen“ gedachte. Noch
immer liest man freilich, daß der Kaiser in seiner Mohammed-Kritik
„zugeschlagen hat“. Man mag darüber streiten, ob Gelehrte so reden sollten.
Denn Kampfmetaphern dürften wenig hilfreich sein, zum theologisch äußerst
anspruchsvollen Thema von Glaube und Vernunft „hinzuführen“.
Gewalttätige Proteste muslimischer Akteure und der besonnene „Offene Brief“
prominenter Imame, Muftis und Religionsgelehrter haben in der deutschen
Öffentlichkeit den Eindruck verstärkt, es sei in Regensburg vor allem um eine
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Positionsbestimmung der Papstkirche gegenüber einem in Teilen auch
gewalttätigen Islam gegangen. Benedikt selbst aber konzentriert sich primär
auf die Verhältnisbestimmung von „Glaube und Vernunft“. Vier aktuellen
theologischen Diskursen gilt die besondere Aufmerksamkeit des Systematikers
auf dem Petrusstuhl: wahres Wesen Gottes, wahres Konzept der Theologie,
wahrer Begriff der Vernunft, wahre Sozialgestalt des Christentums. Es geht,
prononciert gesagt, in der Regensburger Rede sehr viel mehr um Gottesbild
und falsche Religion, Wissenschaft und deutsche Universität, Europa und das
Christentum sowie Inkulturation und neue, außereuropäische Formen des
Christentums als um den Islam. Der Regensburger Redner formuliert hier
jeweils prägnante, harte Abgrenzungen, geleitet von klar erkennbaren kulturund religionspolitischen Intentionen. Mit faszinierender gedanklicher
Konsequenz steuert er auf seinen Zielpunkt zu: Das Christentum sei essentiell
an griechisches Vernunftdenken, hellenistische Metaphysik gebunden, und
deshalb seien viele neue außereuropäische Entwicklungsformen des
Christentums kirchlich unausweichlich illegitim.
Dem Islam unterstellt der Papst, wenig überzeugend, Gott rein als abstrakt
transzendenten Willen aufzufassen. Gegenüber diesem „Willkürgott“ müsse der
wahre Gott, der dreieinige Gott der Christen, als liebendes Vernunftwesen
gedacht werden, ganz im Sinne des Prologs zum Johannesevangelium, der
„das abschließende Wort des biblischen Gottesbegriffs“ biete: Am Anfang war
die Vernunft. Die notwendige, wesensmäßige Bindung des christlichen
Glaubens an den Logos-Gott erläutert Benedikt näher mit Begriffen der
klassischen Analogielehre, daß es zwischen Gottes ewigem Schöpfergeist und
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unserer geschaffenen Vernunft Ähnlichkeiten gebe, die uns Gott zu erkennen
erlaubten. Schon bei einzelnen Theologen im alteuropäischen Spätmittelalter
sah Ratzinger und sieht der Papst allerdings genau jenes voluntaristische
Gottesbild vertreten, das er dem Islam zuschreibt. Vor allem bei Duns Scotus
lokalisiert er den theologischen Ursprung einer „Enthellenisierung“ des
Christentums, die er dann in der Reformation, der Philosophie Kants und den
liberalprotestantischen Theologien seit der Aufklärung vertreten sieht. Es ist
kein Zufall, daß er gerade hier, in der kritischen Absage an den
kulturprotestantischen Kirchenhistoriker Adolf von Harnack, auf seine Bonner
Antrittsvorlesung zurückkommt. Der Regensburger Redner führt nur den Kampf
fort, den er schon 1959 gegen die Harnacks Deutungslinien folgenden
Fachkollegen in der deutschsprachigen römisch-katholischen
Universitätstheologie eröffnet hatte. Im Klartext: Wer das Christentum von den
griechischen Denkformen der altkirchlichen Lehrbildung zu lösen versucht, gibt
für Ratzinger Essentielles, Wesensnotwendiges preis und hat nach Benedikts
Papalsicht schlicht keinen Anspruch darauf, sich Christ nennen zu dürfen.
Nur konsequent ist es dann, alle Konzepte der Theologie als historischer
Kulturwissenschaft des Christentums abzulehnen. Ausdrücklich verwirft der
Papstautor einen theologischen Historismus, der die Wissenschaftlichkeit der
Theologie an streng geschichtliches Denken rückbinden, ihre
Existenzberechtigung innerhalb der Universität kulturwissenschaftlich
begründen will. Ratzinger setzt auf eine metaphysische Theologie, die
angesichts des grassierenden Spezialistentums in den einzelnen Disziplinen ein
„inklusives“, „umfassendes“, „weites“ Verständnis der „Vernunft“ einklagt, eine
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theologia perennis, die sich für „das Ganze“ zuständig weiß und gegen
jeglichen methodologischen Atheismus eine konstitutive Gottbezogenheit aller
wissenschaftlichen Wahrheitssuche betont. Akademische Theologie müsse
gegen spezifisch moderne Selbstbegrenzungen der Vernunft darauf insistieren,
daß Gott, Religion und Ethos nicht aus dem wissenschaftlichen Diskurs
ausgeschlossen werden dürften. Sie soll gemeinsam mit der Philosophie in den
Institutionen der Wissenschaft „das Hören auf die großen Erfahrungen und
Einsichten der religiösen Traditionen der Menschheit, besonders aber des
christlichen Glaubens“ sichern. Benedikt erhebt den steilen Anspruch, daß
„eine dem biblischen Glauben verpflichtete Theologie“ über Vernunft und
Wahrheit einfach mehr zu sagen wisse als andere Wissenschaften.
Der metaphysische Theologiebegriff des Papstes ist eng verknüpft mit einer
Fundamentalkritik sowohl aller kritizistischen Vernunftkonzepte als auch einer
rein positivistischen, aufs isolierte Einzelne und technische Verfügungsmacht
konzentrierten Wissenschaftspraxis. Zwar verzichtet der Regensburger Redner
auf seine Lieblingsformel „Diktatur des Relativismus“. Aber er lastet sehr
pauschal „dem Westen“ – gehört der Bischof von Rom nicht dazu? – eine
pathologische Verengung des Vernunftverständnisses an, die ungewollt nur
krankhafte Perversionen des Religiösen fördere. Auch hier argumentiert
Benedikt XVI. faszinierend konsequent. Wo Europa seine normative religiöse
Grundlage, die „Synthese“ von Jerusalem, Athen und Rom, preisgebe,
„säkularistisch“ werde, provoziere es nur jene harten, bei einzelnen
gewaltförmigen Glaubensreaktionen, unter denen es leide. Implizit steckt in
seiner Kritik „des Westens“ ein massiver Machtanspruch. Nur „die Kirche“ weiß
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um die „bleibende Grundlage dessen, was man mit Recht Europa nennen
kann“.
Biographische Erinnerung und philosophisch-theologische Reflexion dienen in
der Regensburger Rede einem prägnanten religionspolitischen Interesse. Dies
zeigen gerade die kritischen Passagen zur „Enthellenisierung des
Christentums“. „Enthellenisierung“ wirkt wie ein Stichwort aus theologischen
Spezialistendebatten, in denen es nur um tote Vergangenheit, lebensfern
Abgehobenes geht. Für den Regensburger Redner ist „Enthellenisierung“
jedoch ein zentraler Begriff zur Analyse der gegenwärtigen religionskulturellen
Lage des globalen Christentums. Er spricht von einer „dritten
Enthellenisierungswelle, die derzeit umgeht“: „Angesichts der Begegnung mit
der Vielheit der Kulturen sagt man heute gern, die Synthese mit dem
Griechentum, die sich in der alten Kirche vollzogen habe, sei eine erste
Inkulturation des Christlichen gewesen, auf die man die anderen nicht
festlegen dürfe. Ihr Recht müsse es sein, hinter diese Inkulturation
zurückzugehen auf die einfache Botschaft des Neuen Testaments, um sie in
ihren Räumen jeweils neu zu inkulturieren. Diese These ist nicht einfach falsch,
aber doch vergröbert und ungenau.“ Diese Passage markiert die
religionspolitische Zielsetzung der Rede ungleich prägnanter als das
umstrittene Palaeologos-Zitat. Für den Bischof von Rom sind die lehrhaften
„Grundentscheidungen“ der Alten Kirche unaufgebbar, dem Glauben
wesentlich. Nur wer der europäischen Kultursynthese von biblischer
Überlieferung und griechischem Geist folge, sei wahrhaft Christ. Den
boomenden neuen Christentümern der südlichen Hemisphäre bestreitet der
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Papst damit jede christliche Legitimität. Indem er „die Reformation“ als erste
Enthellenisierungswelle deutet, formuliert er eine radikal antiprotestantische
religionspolitische Agenda. Seine Kritik gilt insbesondere den protestantischen
Pfingstkirchen, zu denen in den letzten Jahren allein in Lateinamerika mehrere
Millionen Katholiken konvertiert sind.
Kein vernünftiger Europäer kann ein Interesse an neuen innerchristlichen
Konfessionskonflikten und Kulturkämpfen haben. Aber gebotener intellektueller
Respekt gegenüber dem Regensburger Redner zwingt dazu, seine implizite
Botschaft ernst zu nehmen: Der Bischof von Rom spricht ca. 400 Millionen
Menschen, die sich als Christen bekennen, wahre, weil dem griechischen Geist
verpflichtete Christlichkeit ab.
5. Evidenz gelungener Papstwahl: Benedikt im Spiegel katholischer
„Marktpolitik“
Ratzingers Wahl fügt sich bei Beachtung des bisher Gezeigten hervorragend ein
in religionskulturelle Entwicklungstrends, die sich weltweit seit den 1970er
Jahren beobachten lassen. Auf allen Kontinenten sind die religiösen Märkte seit
den 1970er Jahren durch verschärfte Konkurrenz zwischen alten und neuen
Anbietern geprägt. Viele westeuropäische Intellektuelle haben lange Jahre nur
auf einen neuen aggressiven Islam geblickt, den sie dann schnell als
"Fundamentalismus" verwarfen. Aber neue "harte Religion" hat keineswegs nur
in traditionell muslimischen Gesellschaft an Gewicht gewonnen. Auch im
Christentum lassen sich derzeit einige aggressiv expandierende Gruppen und
Strömungen beobachten, die mit sehr hoher Durchsetzungskraft gerade viele
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junge Menschen an sich zu binden vermögen. In zahlreichen Gesellschaften
des Südens, in Lateinamerika und in Afrika, wird der traditionelle
Volkskatholizismus durch die erfolgreiche Missionstätigkeit der sog.
Pfingstkirchen bedroht, durch charismatische Gruppen und auch Sekten, die
harte moralische Normen predigen, aber auch effizient Netzwerke der
Nächstenliebe knüpfen. Auch in den USA haben in den letzten dreißig Jahren
auf den pluralistisch umkämpften Religionsmärkten primär die Anbieter mit
starker Marke, die Meinungsführer der Christian Right gewonnen. Mit
Ratzingers Wahl bestätigt die römisch-katholische Kirche, daß sie diesen Trend
verstanden hat, sich ihn zu eigen machen will.
Vielleicht sollte so betrachtet die Namenswahl gar nicht an den XV. Benedikt,
den Friedenspapst des Ersten Weltkriegs, erinnern. Benedikt XIV., Papst von
1740 bis 1758, gilt als einer der gelehrtesten Päpste der Neuzeit. Er war trotz
vielfältiger innerkirchlicher Reformen in der Sache, der Verteidigung des
römisch-katholischen Wahrheitsanspruchs gegen den Geist der Aufklärung, von
harter Entschiedenheit. Je vielfältiger, unübersichtlicher moderne
Gesellschaften werden, desto mehr müssen religiöse Institutionen ihre
Unterscheidbarkeit betonen. Die Wahl Benedikts XVI. zeigt nur, daß die
Kardinäle dies verstanden haben. Joseph Kardinal Ratzinger als Papst Benedikt
XVI.: Die römische Kirche setzt auf die starke Marke prägnanter
Unterscheidbarkeit mit dezidiert eurozentrischem Profil.
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