Die drei Regentropfen

Die drei Regentropfen
Stella Spyrou
Meiner Mutter gewidmet
Die ganze Nacht schliefen die drei Regentropfen in den nassen Armen der großen Wolke.
Dann erwachten sie frisch und neu. Noch bevor die Sonne lächelte, glitten sie nach unten, um
ihren Weg auf die Erde zu finden.
Drei prächtige Botschafter des Regens!
"Ich", sagte der größte, "werde die Geranien auf dem Fenster drüben gießen. Seit Tagen habe
ich beobachtet, dass keiner der vielen Regentropfen, die in diesem Winter auf die Erde
gefallen sind, die Geranien erfrischt hat. Wenn ich tief in den trockenen Boden einsickere,
werden die blassen Blumen wieder die rote Farbe des Feuers annehmen". Das sagte der größte
Tropfen und ging weg.
Der zweite, runde und glänzende, sehnte sich danach, in einen Garten zu fallen, in dem der
kleine Alexandro umher lief. "Seit einiger Zeit" sagte der zweitgrößte Tropfen, "will ich
seinen kleinen Kopf - aber vor allem seine roten Wangen - sehen". Das sprach der runde und
glänzende Tropfen und ging weg.
Der dritte, der kleinste, hatte einen großen Traum...
Seit vielen Tagen beobachtete er die Wurzeln einer Zyklame an einem geheimen Ort eines
Berges. Es war der traurige Berg im nördlichen (versklavten/besetzten) Teil von Zypern, den
die Menschen Pentadaktylos nannten. Versteckt in einem hohlen Olivenbaum wartete die
Zyklame auf die Regentropfen, die so spät... so spät...
Ich werde dorthin gehen, dachte der kleinste Tropfen, und ich bleibe für immer da. Ich sickere
tief zu den Wurzeln ein. Ich werde der Zyklame Worte flüstern, die ihr noch niemand gesagt
hat. Ich erzähle ihr die schönsten Märchen, die spannendsten Geschichten - über das weite,
blaue Meer, wo versunkene Schiffe aus Kyrenia auf dem Meeresboden liegen, - über den
hellen, glänzenden Himmel, unter dem die freien Vögel dahin gleiten. Ich erzähle noch von
vielen anderen Dingen, die die Zyklame nicht kennt, weil niemand ihr je davon erzählt hat.
Niemand wusste ja - außer mir - dass sie noch am Leben war.
Das sagte der kleinste Tropfen und ging weg.
Und so begaben sich die drei Tropfen auf ihren Weg auf die Erde...
Der größte bewässerte den Blumentopf. Die Geranie wurde lebendig und ein rotes Feuer
leuchtete aus dem Fenster.
Der zweite erfrischte Alexandros Kopf ein wenig und versiegelte mit einem Kuss seine kleine
Wange.
Der kleinste reiste zum Berg Pentadaktylos. Er erzählte der Zyklame wunderbare Geschichten
und Märchen. Die Zyklame entfaltete ihre kleinen bezaubernden Blüten, die mit ihren hellen
Farben den Olivenbaum umarmten und ihn so zum Leuchten brachten.
Und dann... Dann flogen die drei Tropfen, die drei prächtigen Botschafter des Regens, wieder
in den Himmel.
Der erste hatte rote Flügel - wie die gegossene Geranie.
Der zweite hatte rosa Flügel - wie die Wange von Alexandros.
Der dritte hatte weiße und rosa Flügel - wie die Blütenblätter der Zyklame.
Stella lebt immer noch in Kyrenia und jedes Jahr im Frühling pflückt sie Zyklamen.
Eleni hat die Illustrationen mit ihren Erinnerungen an Lapithos gestaltet.
Marcia träumt von Kyrenia und seinen Gärten voller Düfte und Farben.
ISBN 9963-8290-0-7
© Stella Spyrou 1997
Illustrationen: Eleni Lambrou
Design und künstlerische Gestallting: Marcia Dallas