1 Wer spricht denn schon Russisch? Über die Stellung der russischen Sprache in Europa „Ach, Russisch studierst du?“ Die nette Unbekannte hat die für Münster übliche Frage nach dem Studienfach abgespult, doch darauf war sie nicht gefasst. „Na dann kommst du sicher aus dem Osten – mußtet ihr doch in der Schule lernen?“ Doch ich verneine: „Nee, ich komm aus Bottrop, und lernen mußte ich nur Englisch!“ Das Entsetzen im Gesicht meiner Gegenüber wird nur noch größer und scheint zu sagen: „Dann hätte ich’s ja noch verstanden, aber das ist doch verrückt!“. Die Frage nach dem Studienfach hilft uns oft unsere Gesprächspartner in kleine Schubladen Kennenlernen einzuordnen, wieder befreien aus denen dürfen, falls sie sie sich beim dort näheren doch nicht hineingehören. BWLer, Maschinenbauer oder Primarstufenstudentin: bei fast allen Fächern können wir innerhalb von Sekundenbruchteilen auf das Seelenleben unserer Mitmenschen durch altbewährte Schemata schließen. Beim Fach Russisch sieht dies allerdings etwas anders aus: Je nach dem mit wem wir es zu tun haben, ist die andere Person entweder rege interessiert oder hält einen für verrückt (oder beides) und versucht in jedem Falle eine Erklärung für dieses ungewöhnliche Studienfach zu finden. „Ach deine Mutter kommt doch aus Polen, deswegen machst du das?“ Wenn die nur wüßten was meine polnische Verwandtschaft darüber denkt (das wüßte ich manchmal auch gerne): daß ich der polnischen Sprache zwar nicht mächtig bin , dennoch mich voller Ehrgeiz am Russischen versuche, oje oje... Doch genauso erfolglos wie meine Mitmenschen nach einer Erklärung suchen, muß ich gestehen, daß ich mir meine Entscheidung selbst nicht so richtig erklären kann. Das kyrillische Alphabet, die Sowjetunion, die Kosmonauten, ein Staats- und Parteichef (nicht etwa ein Kanzler oder Präsident!) mit riesengroßem Feuermal: schon als ich klein war, hatte all dies den Glanz des Unbekannten und Fremden und wenn wir doch ehrlich sind: alles, was östlich der Elbe lag, galt als tabu und hatte diesen Hauch des Verruchten. Vielleicht war es dieses Geheimnisvolle, das mich noch 2 Jahre später dazu gebracht hat, mich mit der russischen Sprache zu beschäftigen. Auf meiner Schule kann man zwar Russisch lernen, doch meine Jahrgangsstufe zeigte daran leider kein Interesse, so das der Kurs in meinem Jahr ausnahmsweise nicht zustande kam. In meiner Zivildienstzeit fiel mir schließlich das Programmheft der Volkshochschule in die Hände und da ich gerne eine neue Sprache lernen wollte meldete ich mich für Französisch und Russisch an. Der Französischkurs hatte sich nach fünf Wochen selbst erledigt, das Publikum bestand zum großen Teil aus Schülerinnen, die dort hin von ihren Eltern geschickt wurden und aus Müttern, die ihren Kindern in der Schule doch helfen wollten. Die Themen erstreckten sich vom ‚terrain de camping‘ bis zum ‚frommage du Normandie‘ und waren dennoch nur allzu gewöhnlich. Ich mag die französische Sprache heute dennoch wirklich sehr, doch war die Atmosphäre im Russischkurs gleich von Anfang an eine ganz andere und hat zu meinem Interesse beigetragen: Bei den Teilnehmern handelte es sich unter anderem um einen Lehrer mit Schnapsnase, eine Puschkin-Verehrerin mittleren Alters, einen Mitte-dreißiger, der mit einer Russin verlobt war, und zwei andere Zivis. In diesen wunderbar zusammengewürfelten, wenn auch für die Sprache typischen, Haufen sollte sich unsere Lehrerin Katharina prima einreihen. Vor etlichen Jahren hatte sie Russisch und Französisch studiert und leider nie an einer Schule eine Anstellung gefunden. So arbeitete sie im Bergbaumuseum in Bochum in der Erwachsenenbildung, d.h. sie führt dort unter anderem Gruppen von Aussiedlern durch die Stollen und hält außerdem einige Kurse an der Volkshochschule. Das Erlernen der Sprache machte auf Anhieb viel Spaß, auch wenn ich für meine erste Vokabel ‚Zdravstvujte‘ einige Tage Zeit brauchte um sie aussprechen zu können. Interessant war es dagegen zu sehen, wie der mit der Russin verlobte Mitschüler – er hatte damals in der DDR mehrere Jahre Russisch in der Schule – daran scheiterte die Lautfolge ‚cha-cha-cha‘ auszusprechen und statt dessen etwas wie ‚ach-ach-ach‘ herauskam. Nach der dritten Stunde wurde er auch nicht mehr gesehen. Katharina hatte die Antwort dafür schon parat: ‚Entweder er hat eingesehen, daß die russische Sprache für ihn unerlernbar ist und die Verbindung gelöst, oder sie hat die 3 Verbindung gelöst und die russische Sprache ist nun überflüssig...‘. Doch auch den anderen Teilnehmern wurde es nicht einfach gemacht: ‚Wenn Sie glauben eines Tages Puschkin im Original lesen zu können – schlagen Sie sich das mal aus dem Kopf! Da ist das Russische einfach zu schwierig!‘ oder: ‚Was auch immer sie studieren, studieren Sie bloß nicht Russisch! Da finden Sie nie eine Arbeit!‘ So wie man Kindern davor warnt auf die heiße Herdplatte zu greifen und gerade dies das Interesse daran weckt, so wurde für mich als angehender Student durch die Warnung Katharinas die russische Sprache nur noch interessanter. Nein, für Russisch habe ich mich dann an der Uni Münster doch nicht gleich eingeschrieben, es ging aber auch nicht, da Russisch als Diplom-Nebenfach praktisch nicht wählbar ist. Mein gewecktes Interesse war dennoch groß genug um einen Russischkurs zu besuchen. Mein Lehrer hieß diesmal Evgenyj, war selbst noch Student und kam aus Russland. Dort hatte er sein Lehrer-Diplom in Englisch und Deutsch zwar schon abgeschlossen, doch hatte er sich entschieden nach Deutschland zu gehen um dort noch einen BWL-Abschluss zu machen. Das war mein erstes Erlebnis mit echten Russen, also Leuten, die die Sprache als Muttersprache benutzten. Wenn man in Deutschland Englisch, Französisch oder Niederländisch hören möchte, dafür gibt es ja Fernsehsender im Kabelnetz auf denen man das bewundern kann. Für Russisch benötigt man da schon eine Parabolantenne. Italienisch und Griechisch, sogar Indisch und Chinesisch bekommt man in den jeweiligen Restaurants in Wort (Bedienung) und Schrift (Speisekarte) präsentiert. Russische Gastronomiebetriebe sind noch immer sehr rar. In Münster gab es ein Jahr lang mal das ‚Bolschoj’, doch habe ich es nie geschafft jemanden zu überreden dort essen zu gehen – mir wollte niemand abnehmen, das es außer Kohlsuppe und Rinderschmortopf noch ganz andere leckere Sachen gab. Wie und wo kommt man nun dazu Russisch zu hören? Sehr schnell merkte ich, dass Evgenyj als Russe in Münster nicht allein war und das man in den Buslinien 9, 15 und 16 immer jemanden fand, dem man zuhören konnte. 4 Darin bestärkt, es mit einer wirklich lebendigen Sprache zu tun zu haben, nahm ich nach einem Jahr beim Wechsel zum Lehramtsstudium natürlich das Fach Russisch in meinen Fächerkanon auf. Ich konnte nun schon einige Dinge auf Russisch sagen, doch wollte ich mit dem Grundkurs 1 anfangen um die Sprache von klein auf zu erlernen. Die Atmosphäre gefiel mir sehr: In unserer für Universitäten doch recht kleinen Gruppe gab es neben den regulären Studierenden wieder jemanden der aus Liebe zu einer Frau – ich vermute weniger aus Liebe zur Sprache – sich dem Russischen widmete. Er mit einer Weißrussin verheiratet. Wie ich später erfuhr war mein ehemaliger Lehrer Evgenyj bei der Hochzeit als Übersetzer tätig. Und es war wieder eine Puschkin-Verehrerin dabei, die als Altersstudentin ihrem großen Ziel, Evgenyj Onegin eines Tages im Original lesen zu können, nachging. Ein Jahr später lernte ich die Studenten kennen, die schon Russisch konnten und den Grundkurs nicht mehr besuchen mussten. Das waren einmal einige wenige, die Russisch in der Schule hatten und zum anderen viele, deren Muttersprache Russisch war. Interessanterweise gab es unter den ‚Deutschen’ fast niemanden, der sein Studium direkt mit Russisch begonnen hatte, sondern man hatte erst später zu diesem Fach gewechselt. Die ‚Russen’ dagegen hatten fast alle direkt damit begonnen und es zum Hauptfach auserwählt. Für viele schien dies die Möglichkeit zu sein ein Magisterhauptfach ohne viel Aufwand zu studieren. Ganz so einfach war das dann natürlich nicht: Auf die Frage beispielsweise wie viele Partizipien es im Russischen gäbe, kamen Antworten wie: ‚Partizipien im Russischen? – gibt es nicht, hab ich nie von gehört!’ oder ‚Eins. Oder zwei – höchstens.’ Wenn man sich als Nicht-Muttersprachler fast ein halbes Jahr nur mit Partizipien beschäftigt, darf man in solchen Situationen auch schon mal schmunzeln. Waren die Studienbedingungen anfangs noch optimal, so tauche vor gut zwei Jahren eine Schreckensmeldung scheinbar aus dem Nichts auf: Das Slavisch-Baltische Institut der Uni Münster soll geschlossen werden. Diese Meldung kam wohl irgendwo aus dem Ministerium und erreichte noch das Rektorat der Universität. Das Institut oder gar die Studenten wurden erst sehr viel später informiert. So vermeidet man größere Proteste in dem man die Betroffenen vor vollendetet Tatsachen stellt. Die Schließung wurde erst 5 auf das Jahr 2007 gelegt, es dürfte nur niemand mehr das Studium neu aufnehmen. Das war eine geschickte Entscheidung seitens des Ministeriums. Alle Studenten konnten zuende studieren und hatten eigentlich keine Nachteile zu befürchten. Zur Demonstration gegen die Schließung erschienen auch nur Idealisten, das waren etwa ein Dutzend Slavisten. So wie die Förderung der russischen Sprache in der Zeit vor der Wende noch politisch gewollt war, hatte die Politik die Slavistik nun wegrationalisiert. Auf unsere Bitte legte die polnische Botschaft noch einmal Protest beim Ministerium ein. Diese wurde mit dem Verweis auf einen neu geplanten Osteuropa-Studiengang in Münster (ich kenne niemanden der an dessen Einführung glaubt) beschwichtigt und das war es. Warum sollte man als Deutscher aber auch Russisch erlernen? Vor einigen Jahren hieß es noch, dass es in der ehemaligen DDR genügend Leute gäbe, die das noch gut genug können sollten. Darüber möge der Leser selbst urteilen. Heute heißt es, das es doch genügend Aussiedler gäbe, deren Muttersprache gar Russisch sei und zudem perfekt Deutsch sprächen. Das mag wohl stimmen, dennoch sind deutschmuttersprachliche Slavisten nicht minder beliebt bei gleicher beruflicher Qualifizierung. Wie schon beschrieben wird Russisch nicht nur an der Universität gesprochen, sondern ist nicht nur in Europa, sondern auch in Deutschland eine durchaus lebendige Sprache. In den letzten Jahren hat der Zuzug von vielen Aussiedlern die Bevölkerungszusammensetzung vieler Stadtteile verändert. In Münster wohnen in den nördlichen Stadtteilen Kinderhaus und Coerde die meisten Aussiedler, daher ist speziell in diesen Buslinien ständig Russisch zu hören. In Bottrop, meiner Geburtsstadt wurde vor einiger Zeit ein altes Zechengelände in ein Wohngebiet verwandelt, jedoch aus Denkmalschutzgründen die Zechenmauer stehen gelassen. So entstanden viele günstige Wohnungen, in die zum großen Teil Aussiedler einzogen. Dass viele Bottroper Aussiedler nun hinter einer Mauer leben liegt nicht zuletzt an den Bewohnern auf der anderen Seite der Mauer, die allesamt kein Russisch sprechen. 6 Auch wenn es viele Aussiedler in Deutschland zunächst etwas schwer haben, was neben der nicht anerkannten Berufsausbildung auch an mangelnder Sprachkenntnis liegt, denke ich, das die nächste Generation sich bereits recht gut zurechtfinden wird. Ich habe den Eindruck gewonnen, das Bildung in der Sowjetunion als sehr hohes Gut galt und dieses Denken bis heute an hält. Durch Förderung und Unterstützung in der Familie und den Willen Deutsch zu lernen und zu gebrauchen (wobei das Russisch natürlich weiter gepflegt wird) sind es der nächsten Generation sehr viele Chancen gegeben. Doch wie steht es mit der russischen Sprache im übrigen Europa? In den Ländern Osteuropas, die nicht zur Sowjetunion gehörten scheint es häufig zwecklos sich auf Russisch verständigen zu wollen, mit Deutsch oder Englisch kommt man sicher besser durch. Im Baltikum dagegen spricht etwa jeder Dritte Russisch als Muttersprache. Und Russisch als Fremdsprache sprechen auch noch ein Großteil der Litauer, Letten und Esten als Fremdsprache. Im Prinzip. Nur nicht so gerne. In Russland wurde ich manchmal gefragt ob ich den aus dem Baltikum käme. Zunächst nahm ich dies als Kompliment auf und fühlte Fortschritte im Russischen gemacht zu haben. Nachdem ich das erste Mal im Baltikum war, sah ich die Sache etwas anders. Vielleicht sah man die Russen als Besatzer und daher wollte man sich beim Erlernen der Besatzersprache nicht all zu viel Mühe geben. Die Zwistigkeiten der verschiedenen Bevölkerungsgruppen sind ja bekannt, die Europäische Union hatte sich auch schon eingeschaltet. Und das Okkupationsmuseum in der Innenstadt von Riga ist wohl auch eine Ohrfeige für jeden Letten mit russischen Wurzeln. Ich habe mal ein halbes Jahr in Russland gewohnt und meine Mitbewohnerin war eine lettischsprachige Lettin. Als einmal ein Russe mich besuchen kam, dessen Vater in Riga lebte... oje, oje... Was den Balten bezüglicher der EU-Osterweiterung sicher etwas zu schaffen macht: Würde dann Russisch in der EU nicht häufiger gesprochen als Litauisch, Lettisch oder Estnisch? 7 Ich denke das Russisch als europäische Sprache nicht zu vernachlässigen ist, und das nicht nur, weil Russland zum Teil in Europa liegt, sondern die russische Sprache viele Spuren in ganz Europa hinterlassen hat. Seien es die ehemaligen Sowjetrepubliken, andere osteuropäische Staaten, oder Deutschland – überall ist das Verhältnis zur russischen Sprache mit dem zu kaum einer anderen vergleichbar und nirgends hat diese Sprache eine ungerechte Abwertung verdient, wie sie es in letzter Zeit in vielen Ländern erfahren musste.