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Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury: Eine Untersuchung über Tugend und
Verdienst. In: Standard Edition. II. Moral and Political Philosophy Band 3. Herausgegeben,
übersetzt und kommentiert von Wolfram Benda u.a., Stuttgart-Bad Cannstadt: FrommannHolzboog 1998.
BUCH II
TEIL I
ABSCHNITT I
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Wir haben erwogen, was Tugend ist und auf wen diese Bezeichnung zutrifft. Es bleibt
zu untersuchen, welche Verpflichtung gegenüber der Tugend besteht und aus welchem
Grunde man sie sich zu eigen machen sollte.
Wir haben gefunden, daß ein Wesen, um die Bezeichnung "gut" oder "tugendhaft" zu
verdienen, alle Neigungen und Gemütsbewegungen, die ganze Verfassung seines Geistes und
seines Gemüts, in Übereinstimmung mit und passend zu dem Guten seiner Art oder des
Systems halten muß, zu dem es gehört und von dem es einen Teil bildet. In dieser Weise
wohlgestimmt zu sein und seine Gemütsbewegungen richtig und unversehrt zu halten, nicht
nur in bezug auf das eigene Wohl, sondern auf das der Gesellschaft und Allgemeinheit, das ist
Rechtschaffenheit, Integrität oder Tugend. Und wenn es in einem dieser Punkte mangelt oder
gar das Gegenteil der Fall ist, so bedeutet das Verderbtheit, Korruption und Laster.
Es ist bereits gezeigt worden, daß in den Trieben und Gemütsbewegungen bestimmter
individueller Geschöpfe eine beständige Beziehung zum Guten einer Art oder gemeinsamen
Natur besteht. Dies wurde am Beispiel natürlicher Gemütsbewegungen demonstriert, wie
elterliche Zuwendung, Fürsorge für die Nachkommenschaft, Interesse an der Fortpflanzung
und der Aufzucht des Nachwuchses,
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Verlangen nach Gemeinschaft mit anderen und Gesellschaft, Mitleid, gegenseitige
Unterstützung und was sonst noch dazugehört. Und niemand wird bestreiten, daß diese Art
von Zuwendung gegenüber dem Wohle der Art oder der gemeinsamen Natur einem Geschöpf
genauso angemessen und natürlich ist, wie es für ein Organ, einen Teil oder ein Glied eines
Tierkörpers oder eines pflanzlichen Wesens angemessen und natürlich ist, in seiner bekannten
Weise und einem regelmäßigen Wachstumsprozeß zu funktionieren. Es ist für den Magen
nicht natürlicher zu verdauen, für die Lungen zu atmen, für die Drüsen, Säfte abzusondern
oder für andere Eingeweide, ihre verschiedenen Aufgaben zu erfüllen, wie sehr sie auch
manchmal gestört oder in ihrer Tätigkeit behindert sein mögen.
Wenn man also einem Geschöpf solche Neigungen wie die zur gemeinsamen Natur oder dem
System der Art zugesteht und zugleich auch jene anderen Gemütsbewegungen, welche sich
auf die individuelle Natur oder das Eigensystem beziehen, so muß es notwendigerweise
vorkommen, daß die Kreatur bei vielen Gelegenheiten in Konflikt mit den letzteren gerät und
ihnen zuwider handelt, wenn sie den ersteren folgt. Wie sonst sollte die Gattung erhalten
werden? Oder was sonst sollte jene tiefverwurzelte natürliche Neigung bedeuten, mittels derer
eine Kreatur durch so viele Schwierigkeiten und Risiken hindurch ihren Nachwuchs erhält
und ihre Artgenossen unterstützt?
Man könnte deshalb vielleicht meinen, daß es einen direkten und unbedingten Gegensatz
zwischen diesen beiden habituellen Gemütsbewegungen oder Neigungen gebe. Man könnte
annehmen, daß die Verfolgung des Gemeininteresses oder öffentlichen Wohles aufgrund von
Gemütsbewegungen der einen Art ein Hindernis für das Erreichen des persönlichen Wohls
aufgrund von Gemütsbewegungen der anderen sein müsse. Denn es wird für
selbstverständlich gehalten, daß Risiken und Entbehrungen, welcher Art auch immer, von
Natur aus schlecht für die private Existenz sind; und da es sicherlich im Wesen jener auf das
Öffentliche zielenden Gemütsbewegungen liegt, daß sie oft zu den größten Entbehrungen und
Risiken jeglicher Art führen, so
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wird sofort daraus geschlossen, daß es im Interesse eines jeden Geschöpfes liege, ohne
jedes Gefühl für das öffentliche Wohl zu sein.
Soviel wissen wir mit Sicherheit: daß alle Liebe zur Gesellschaft, Freundschaft, Dankbarkeit
oder was sonst es an Gemütsbewegungen dieser edlen Art geben mag, seiner Natur nach den
Platz der eigensüchtigen Leidenschaften einnimmt, uns aus uns selbst gleichsam herauszieht
und uns die eigene Bequemlichkeit und Sicherheit mißachten läßt. So daß gemäß einer
wohlbekannten Argumentationsweise bezüglich des Eigeninteresses all das, was an sozialer
Gesinnung in uns ist, eigentlich abgeschafft werden sollte. Jede Liebenswürdigkeit,
Nachsicht, Zärtlichkeit, jedes Mitleid, kurz: alle natürlichen Gemütsbewegungen sollten
beharrlich unterdrückt werden, und man sollte ihnen als bloßen Torheiten der Natur
widerstehen und sie überwinden, damit auf diese Weise nichts in uns zurückbliebe, was dem
unmittelbaren Eigeninteresse entgegengesetzt sei, nichts, was im Gegensatz zu einer stetigen
und bewußten Verfolgung des ganz eng definierten Eigeninteresses stehe.
Nach dieser außerordentlichen Hypothese muß man es für selbstverständlich halten, daß im
System einer Art oder Gattung das Interesse der individuellen dem der gemeinsamen Natur
direkt entgegengesetzt sei, das Interesse des Einzelwesens direkt entgegengesetzt dem der
Allgemeinheit. Eine seltsame Einrichtung, in der es zugegebenermaßen viel Unordnung und
Widerwärtigkeiten gäbe, ungleich allem, was wir sonst in der Natur beobachten. So als ob in
einem pflanzlichen oder tierischen Wesen ein Körperteil oder -glied für sich allein als in
gutem und florierendem Zustand befindlich betrachtet werden könnte, wenn es zu seinem
Ganzen im Widerspruch stünde und unnatürlich wachse oder wirke.
Daß dies in Wirklichkeit ganz anders ist, werden wir zu beweisen versuchen, damit offenbar
wird, daß das, was Menschen als schlechte Ordnung und Verfassung des Universums
darstellen, indem sie Sittlichkeit als das Übel und Bosheit als das Gute und dem Vorteil eines
Geschöpfes Dienende erscheinen lassen, in Wirklichkeit das genaue
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Gegenteil ist; daß dem öffentlichen Interesse und zugleich dem eigenen gegenüber
aufgeschlossen zu sein, nicht nur kein Widerspruch ist, sondern daß die beiden Interessen
nicht voneinander getrennt werden können; und daß Sittlichkeit oder Tugend
dementsprechend zum Vorteil und Lasterhaftigkeit zum Schaden und Nachteil jeglicher
Kreatur sein muß.
ABSCHNITT II
Es gibt wohl nur wenige, die ein Geschöpf, das sie sich als völlig bar jeden natürlichen
Gefühls und gänzlich ohne ein Gemeinschafts- oder soziales Prinzip denken, doch zugleich
als einigermaßen glücklich in seinem Verhältnis zu sich selbst oder nach außen hin in Bezug
auf seine Mitgeschöpfe oder seine Artgenossen betrachten. Man nimmt allgemein an, ein
derartiges Geschöpf empfinde nur wenig Freude am Leben und kaum Befriedigung in den
bloß sinnlichen Vergnügungen, die ihm nach dem Verlust sozialer Freuden und all dessen
bleibt, was man als Menschlichkeit oder natürliche Güte bezeichnen kann. Wir wissen, daß es
bei einem solchen Geschöpf nicht rein zufällig ist, wenn es verdrießlich, verbittert und
boshaft ist, daß vielmehr ein Geist oder ein Gemüt ohne derartige Milde und Wohlwollen sich
mit Notwendigkeit in das Gegenteil verkehren und von Leidenschaften einer ganz anderen Art
beherrscht sein wird. Ein solches Herz muß notwendigerweise ein ständiger Wohnsitz
verkehrter Neigungen und bitterer Aversionen sein, die aus einer ständig schlechten Laune,
aus Griesgrämigkeit und Ruhelosigkeit kommen. Das Bewußtsein, eine solche Natur zu
haben, die der Menschennatur und allen Wesen, die ihr nahe kommen, so zuwider ist, muß
das Gemüt mit dunklem Argwohn und Mißtrauen überschatten, es in Furcht und Schrecken
versetzen und immerfort in sich verwirren, selbst im scheinbar schönsten und sichersten
Glückszustand und auf der höchsten Stufe äußeren Wohlergehens.
Daß dies mit dem Zustand völliger Unsittlichkeit in Beziehung
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steht, bemerken die Menschen von sich aus bald selbst. Wo diese absolute Entartung,
diese totale Abwendung von Offenheit, Vertrauen, Soziabilität oder Freundschaft vorhanden
ist, gibt es nur wenige, die das Elend nicht sehen und eingestehen, das daraus folgt. Der Fall
wird selten mißverstanden, wenn er im Extrem vorliegt. Unglücklicherweise bemerken wir
diese Verderbtheit nicht, wenn sie in geringerem Grade auftritt, oder kümmern uns nicht
weiter darum. Das Unheil, so denken wir, stehe dann in keinem notwendigen Verhältnis zur
Ungerechtigkeit oder Schlechtigkeit. Als ob es zwar das größte Unglück und Elend wäre,
absolut unsittlich und unmenschlich zu sein, aber nicht schlimm oder schädlich, dies in
geringerem Maße zu sein! Dies zuzulassen ist genauso vernünftig wie anzunehmen, daß es
zwar das größte Übel für den Körper sei, total entstellt und verstümmelt zu sein, daß es aber
überhaupt keine Unannehmlichkeit oder Beeinträchtigung sei und keiner Erwähnung bedürfe,
wenn man nur den Gebrauch eines Gliedes verliere oder nur an einem einzigen Organ oder
Körperteil versehrt ist.
Die Teile und Maßverhältnisse des Geistes, ihre gegenseitige Beziehung und Abhängigkeit
voneinander, die Verknüpfung und Struktur der Neigungen, welche die Seele oder das Gemüt
ausmachen, können leicht von jedem verstanden werden, der es für der Mühe wert hält, diese
innere Anatomie zu studieren. Es ist gewiß, daß die Ordnung oder Symmetrie des Inneren in
sich nicht weniger wirklich und genau ist als die des Körpers. Jedoch ist es offenbar, daß nur
wenige von uns sich darum bemühen, Anatomen dieser Art zu werden. Auch schämt sich
niemand der tiefsten Unwissenheit auf diesem Gebiet. Denn obwohl zugegeben wird, daß das
größte Elend und Übel im allgemeinen aus der seelischen Disposition und dem Gemüt kommt
und daß der Seelenzustand sich oft ändern kann und sich bei vielen Gelegenheiten sehr zu
unserem Nachteil tatsächlich ändert, fragen wir nicht danach, woher dies kommt. Wir geben
uns nicht die Mühe, gründlich darüber nachzudenken, durch welche Mittel oder Methoden
unsere innere Konstitution manchmal beeinträchtigt oder gestört wird. Die solutio continui,
von der die richtigen Ärzte sprechen, wird von Ärzten der anderen Art auf diese Fälle nie
angewandt. Der Begriff
100 vom Ganzen und seinen Teilen ist von dieser Wissenschaft noch nicht aufgenommen
worden. Wir wissen nicht, was geschieht, wenn wir eine Gemütsbewegung übertreiben, einer
falschen Leidenschaft nachgeben oder in der Ausübung einer guten und natürlichen
Gewohnheit oder guten Neigung nachlassen. Und wir können uns auch nicht vorstellen, wieso
eine bestimmte Handlung einen so plötzlichen Einfluß auf den ganzen Geist hat, daß die
Person sofort zu leiden beginnt. Wir nehmen dann an, daß ein Mensch einen Treuebruch oder
eine Bosheit begehen kann, die ihm vorher fremd war, sich in irgendein Laster oder eine
Schurkerei verwickeln kann, ohne selbst den geringsten Schaden zu nehmen oder an der
natürlichen Folge der bösen Tat elend zu werden.
So hören wir oft sagen: "Dieser oder Jener hat in der Tat Böses getan. Aber geht es ihm
deshalb etwa schlechter?" Wenn wir aber von einem Charakter sprechen, der durch und durch
roh, widerlich und unverbesserlich ist, sagen wir zutreffend: "So einer ist eine Plage und eine
Qual für sich selbst." Und wir geben zu, daß ein Mensch durch bestimmte Launen oder
Gemütsbewegungen und durch seinen bloßen Seelenzustand völlig elend werden kann, wie
glücklich auch seine äußeren Lebensumstände sein mögen. Diese unterschiedlichen Urteile
demonstrieren zur Genüge, daß wir nicht daran gewöhnt sind, einigermaßen
zusammenhängend über diese moralischen Fragen nachzudenken, und daß unsere Begriffe in
dieser Hinsicht nicht wenig verworren und widersprüchlich sind.
Wenn das Gefüge des Geistes oder Gemüts uns so vor Augen stünde, wie es wirklich ist;
wenn wir es für unmöglich ansehen würden, daraus jegliche gute oder geordnete
Gemütsbewegung herauszunehmen oder irgendwelche bösen oder nicht der Ordnung
entsprechenden in es einzuführen, ohne damit bis zu einem gewissen Grade jenen Zustand der
Auflösung herbeizuführen, von dem wir zugeben, daß er so elend ist, wenn er auf seinem
Höhepunkt angelangt ist, dann würden wir ohne Zweifel auch zugeben, daß jeder, der Böses
tut oder zum Schaden seiner Integrität, seiner Wohlgesonnenheit oder seiner Würde handelt,
damit notwendigerweise mit größerer
101 Grausamkeit gegen sich selbst handelt als derjenige, der nicht zögern würde, Giftiges
zu schlucken, oder derjenige, der aus freiem Willen mit eigenen Händen seinen Körper, seine
Glieder oder sein Aussehen verstümmeln oder entstellen würde, weil keine böse, unsittliche
oder ungerechte Handlung begangen werden kann, ohne daß ein neues Einfallstor und eine
neue Bresche in das Gefüge des Gemüts und der Neigungen geschlagen oder das begonnene
Zerstörungswerk weiter vorangetrieben würde.
ABSCHNITT III
Es ist bereits gezeigt worden, daß man von keinem Tier sagen kann, es handele anders als aus
solchen Gemütsbewegungen oder Neigungen heraus, wie sie für ein Tier charakteristisch
sind. Denn bei krampfartigen Anfällen, bei denen eine Kreatur sich selbst oder andere schlägt,
läuft ein einfacher Mechanismus ab. Es ist eine Maschine oder eine Art von Uhrwerk, das
dabei "handelt", nicht das Lebewesen.
Was auch immer also von einem Lebewesen als solchem getan oder ausgeführt wird,
geschieht nur aus einer Gemütsbewegung oder Leidenschaft heraus, die es bewegt, wie
Furcht, Liebe oder Haß.
Und so, wie es unmöglich ist, daß sich eine schwächere Gemütsbewegung gegenüber der
stärkeren durchsetzt, ist es ebenso unmöglich, daß in Fällen, in denen die Gefühle oder
Leidenschaften im ganzen vorherrschen und aufgrund ihrer Stärke oder Anzahl die stärkste
Partei bilden, das Tier in diese Richtung tendiert und diesem Übergewicht entsprechend
geleitet und in seinem Handeln bestimmt wird.
Die Gemütsbewegungen oder Leidenschaften, die ein Lebewesen mit Notwendigkeit
beeinflussen und regieren, sind entweder:
1. die natürlichen Gemütsbewegungen, die auf das Wohl der Allgemeinheit gerichtet sind,
102 2. oder die egozentrischen, die bloß auf das private Wohl abzielen
3. oder solche, die zu keiner der beiden Arten gehören und auch weder auf das allgemeine
noch auf das eigene Wohl gerichtet sind, sondern in die entgegengesetzte Richtung tendieren
und aus diesem Grunde mit Recht als unnatürliche Gemütsbewegungen bezeichnet werden
können.
Danach muß also ein Geschöpf, je nachdem, wie es mit diesen Gemütsbewegungen steht,
entweder gut oder böse, tugendhaft oder lasterhaft sein.
Die Gemütsbewegungen der letzteren Art, das ist evident, sind ganz und gar lasterhaft. Die
beiden anderen können je nach dem Grade ihres Auftretens lasterhaft oder tugendhaft sein.
Ich weiß, es mag seltsam erscheinen, wenn ich von natürlichen Gemütsbewegungen als "zu
stark" oder von egozentrischen als "zu schwach" spreche. Um jedoch diese Schwierigkeit
auszuräumen, müssen wir uns in Erinnerung rufen, was schon erklärt wurde: daß eine
natürliche Gemütsbewegung in besonderen Fällen exzessiv und in unnatürlich hohem Grade
vorhanden sein kann. So wenn z. B. Mitleid so sehr vorherrschend ist, daß es sein eigentliches
Ziel verfehlt und die Leistung der erforderlichen Unterstützung und Hilfe geradezu
verhindert; oder wenn die Liebe zum Nachwuchs so sehr zur Affenliebe wird, daß sie die
Eltern und infolgedessen auch den Nachwuchs zugrunde richtet. Und obwohl es sehr hart
erscheinen mag, wenn man etwas als unnatürlich und lasterhaft bezeichnet, das nichts anderes
ist als das Extrem einer natürlichen und freundlichen Gemütsbewegung, so gilt doch
unzweifelhaft, daß immer dann, wenn eine einzelne gute Gemütsbewegung dieser Art im
Übermaß vorhanden ist, diese ein schlimmer Feind der übrigen sein und sie bis zu einem
gewissen Grade in ihrer Kraft und natürlichen Funktionsweise beeinträchtigen muß. Denn ein
Wesen, das von so übermäßiger Leidenschaft besessen ist, wird dieser mit Notwendigkeit
zuviel Raum geben und anderen Leidenschaften zu wenig, die von derselben Art
103 und ebenso natürlich und nützlich in Bezug auf ihren Zweck sind. Und es muß
notwendigerweise zu Parteilichkeit und Ungerechtigkeit führen, wenn nur eine einzige Pflicht
oder natürliche Funktion erfüllt und andere Funktionen oder Pflichten vernachlässigt werden,
die eigentlich mitberücksichtigt oder vielleicht gar an Stelle der anderen erfüllt und ihr
vorgezogen werden müßten.
Dieser Sachverhalt darf in jeder Hinsicht für wahr gelten: denn sogar die Religion selbst,
betrachtet man sie als eine Leidenschaft der edleren, nicht selbstsüchtigen Art, wird in einigen
ihrer Ausprägungen über ihre natürlichen Grenzen hinaus strapaziert, und man kann dann von
ihr sagen, daß sie in zu hohem Grade vorhanden ist. Denn da das Ziel der Religion darin
besteht, uns vollkommener und vollendeter in allen sittlichen Pflichten und Leistungen zu
machen, kann man doch behaupten, daß wir zu viel Religion haben, wenn wir im Höhenflug
frommer Verzückung und Kontemplation in dieser Beziehung eher behindert und unfähiger
für die Pflichten und Aufgaben des bürgerlichen Lebens gemacht werden, und daß die
Religion in uns zu stark ist. Denn mit welchem Recht man so etwas Aberglauben nennen
kann, vermag ich nicht zu sehen, jedenfalls nicht solange der Gegenstand der Verehrung als
gerecht und der zugrunde liegende Glaube als orthodox anerkannt wird. Es ist vielmehr nur
ein Übermaß an Eifer, der in diesem Falle so überwältigend ist, daß er den frommen
Menschen nachlässiger in weltlichen Angelegenheiten und weniger interessiert an den
unbedeutenderen und zeitlichen Interessen der Menschheit macht.
Wie nun einerseits in bestimmten Fällen die Gemütsbewegung für das Gemeinwohl zu stark
entwickelt sein mag, so kann andererseits die auf das individuelle Wohl gerichtete zu schwach
entwickelt sein. Denn wenn ein Wesen sich selbst ständig vernachlässigt und kein Gefühl für
drohende Gefahr hat, oder wenn ihm jener Grad von Leidenschaftlichkeit jeglicher Art in
einem Maße fehlt, der zur Selbsterhaltung, -ernährung oder -verteidigung nützlich wäre, so
muß dies sicherlich als lasterhaft im Hinblick auf den Plan und Endzweck der Natur gelten.
Die Natur selbst macht dies in ihrer bekannten Art und Weise und nach ihren festgelegten
Regeln offenbar. Es ist gewiß, daß
104 ihre Fürsorge und Besorgnis für das ganze Lebewesen mindestens ebenso groß sein
muß wie ihr Interesse an einem einzelnen Teil oder Glied. Nun hat sie, wie wir sehen, den
einzelnen Teilen geeignete Triebe mitgegeben, die ihrem Interesse und ihrer Sicherheit
dienlich sind, so daß diese sogar zu ihrer Verteidigung und zu ihrem Nutzen und ihrer
Erhaltung wirksam werden, ohne daß wir uns dessen bewußt sind. So schließt sich ein Auge
in seinem natürlichen Zustand von selbst, ohne daß wir es wüßten, kraft seiner
eigentümlichen Vorsicht und Furchtsamkeit. Fehlten diese, dann könnten wir noch so sehr auf
die Erhaltung unseres Auges bedacht sein, wir wären letztlich doch nicht in der Lage, es
durch Beobachtung oder Voraussicht zu bewahren. Wenn also jene auf das Wohl des Ganzen
gerichteten maßgebenden Gemütsbewegungen fehlen, so muß das Laster und
Unvollkommenheit bedeuten, die sicherlich ebenso groß sind, wenn sie im leitenden Teil (der
Seele oder dem Gemüt) auftreten, wie wenn bei einem der niederen und untergeordneten
Teile die selbsterhaltenden Triebe fehlen, die ihnen eigentümlich sind.
Und somit werden die auf das Eigenwohl gerichteten Gemütsbewegungen notwendig und
wesentlich für das Gutsein. Zwar kann keine Kreatur nur deshalb gut oder tugendhaft heißen,
weil sie diese Gefühle besitzt. Aber weil es unmöglich ist, daß das öffentliche Wohl oder das
Wohl des Systems ohne sie erhalten werden kann, folgt daraus, daß einer Kreatur, der sie
tatsächlich fehlen, in Wirklichkeit bis zu einem gewissen Grade auch Gutheit und natürliche
Rechtschaffenheit fehlen und folglich diese Kreatur als lasterhaft und mit Mängeln behaftet
eingeschätzt werden muß.
Daher sagen wir auch mit freundlichem Vorwurf, jemand sei zu gut, wenn seine
Gemütsbewegungen gegenüber anderen so heiß und heftig sind, daß sie ihn sogar über seine
Pflicht hinausfuhren, oder auch, wenn er tatsächlich darüber hinausgeht, aber nicht aufgrund
einer zu heißen Leidenschaft dieser Art, sondern infolge einer übermäßig kühlen Leidenschaft
einer anderen Art, oder auch des Fehlens einer egozentrischen Neigung, die geeignet wäre,
ihn innerhalb angemessener Grenzen zu halten.
105 Hier könnte eingewendet werden, daß der Besitz überstarker natürlicher
Empfindungen (wenn also die eigensüchtigen Gemütsbewegungen vorherrschend sind) oder
auch der Besitz der eigensüchtigen Gemütsbewegungen in zu geringem oder schwachem
Grade (wenn also die natürlichen Gemütsbewegungen ebenfalls zu schwach sind)
gelegentlich der einzige Grund dafür ist, daß ein Wesen ehrenhaft und sittlich angemessen
handelt. Denn auf diese Weise kann ja jemand, der geradezu schuldhaft sorglos mit seinem
Leben umgeht, obwohl er mit dem denkbar geringsten Maß an natürlichen Neigungen
ausgestattet ist, all das tun, was man vom höchsten Grad an Liebe zum Gemeinwohl oder
eifrigster Freundschaft erwarten kann. Und andererseits mag ein in extremem Maße
furchtsames Wesen kraft eines ebenso hohen Maßes an natürlichem Empfinden all das
vollbringen, was der höchste Mut einzugeben vermag.
Darauf antworte ich: immer wenn wir irgendeine Leidenschaft bezichtigen, sie sei zu stark,
oder uns darüber beklagen, sie sei zu schwach, müssen wir die bestimmte Verfassung oder
Ökonomie eines Einzelwesens oder einer Gattung beachten. Denn wenn eine
Gemütsbewegung, die ein bestimmtes Ziel erstrebt, nur dann umso zweckdienlicher und
wirksamer ist, je stärker sie ist; wenn wir ferner sicher sein können, daß ihre Stärke nicht
Ursache irgendeiner Störung oder eines Mißverhältnisses zwischen ihr und anderen Gefühlen
wird, dann kann folglich diese Gemütsbewegung nicht als lasterhaft verdammt werden, und
sei sie noch so stark. Wenn aber der Besitz aller Leidenschaften in einem gleichen Verhältnis
mit dieser einen die Konstitution eines Wesens überfordert, infolgedessen nur einige
Leidenschaften zu jener Höhe gesteigert sind, andere aber nicht im gleichen Verhältnis zu ihr
stehen und auch nicht stehen können, dann muß man jene mächtigen Leidenschaften, obwohl
sie von der besseren Art sind, als exzessiv bezeichnen. Denn weil sie in ungleichem
Verhältnis zu den anderen stehen und ein Ungleichgewicht im Gesamthaushalt der
Empfindungen erzeugen, müssen sie zwangsläufig Anlaß zu Schwankungen im Verhalten
sein und zu einer falschen sittlichen Lebensgestaltung führen.
106 Um aber im einzelnen zu zeigen, was mit der Ökonomie der Leidenschaften gemeint
ist, einige Beispiele aus den unter uns stehenden Gattungen und Arten. Was Geschöpfe
anbetrifft, die keine von der Natur mitgegebenen Fähigkeiten oder Mittel zu ihrer
Verteidigung gegen Gewalt noch irgend etwas haben, wodurch sie sich furchterregend für
andere Kreaturen machen könnten, die sie verletzen oder schädigen, so ist es für sie
notwendig, daß sie ein überdurchschnittliches Maß an Furchtsamkeit und zugleich wenig oder
gar keine Neigung zur Feindseligkeit besitzen, die sie dazu veranlassen könnte, Widerstand zu
leisten oder sie dazu verführen könnte, ihre Flucht zu verzögern. Denn in dieser liegt ihre
Sicherheit, und ihr dient das Gefühl der Furcht, indem es die Sinne wachsam sein läßt und die
Lebensgeister in ständiger Bereitschaft zur Flucht hält.
Und so kann Ängstlichkeit und ein habituell starkes Furchtgefühl durchaus der Ökonomie
einer bestimmten Kreatur entsprechen, sowohl hinsichtlich ihrer selbst als auch ihrer
gesamten Gattung. Auf der anderen Seite kann Mut sogar im Gegensatz zu ihrer Ökonomie
stehen und daher lasterhaft sein. Selbst innerhalb ein und derselben Gattung ist dies von der
Natur verschieden eingerichtet, je nach Geschlecht, Alter und Wachstumsphase. Die
zahmeren Kreaturen der grasenden Art, die in Herden leben, sind anders als die wilderen, die
nicht in Herden, sondern ausschließlich paarweise leben, fern von ihren Artgenossen, so wie
es natürlich und passend zu ihrer räuberischen Lebensart ist. Trotzdem findet man sogar unter
der ersteren, angriffsscheuen Tierart einen Grad von Mut, der ihrer Gestalt und Kraft
entspricht. Im Augenblick der Gefahr, wenn die ganze Herde flieht, bietet allein der Stier dem
Löwen oder einem anderen angreifenden Raubtier die Stirn und zeigt so, daß er die eigene
Beschaffenheit kennt. Sogar das Weibchen ist bei einer solchen Tierart von der Natur bis zu
einem gewissen Grade gerüstet, der Gewalt zu widerstehen und vor einer gewöhnlichen
Gefahr nicht zu fliehen. Was eine Hirschkuh oder ein Reh oder eine sonstige zahme und
hilflose Kreatur anbelangt, so ist es für sie in keiner Weise unnatürlich oder lasterhaft, ihre
Jungen im Stich zu lassen und sich in Sicherheit zu bringen, wenn der Feind naht. Aber für
Kreaturen, die imstande sind, Widerstand zu leisten
107 und von der Natur zum Angriff ausgerüstet sind, ist es natürlich, vor Wut
hochzugehen und unter Einsatz ihres Lebens jedem Feind ihrer Gattung oder Eindringling
entgegenzutreten, selbst wenn es sich um die armseligste Insektenart wie Bienen oder Wespen
handelt. Denn durch diese wohlbekannte Gemütsbewegung wird der Bestand der Art
gesichert, weil die Erfahrung zeigt, daß die Kreatur, obwohl sie außerstande ist, den Angreifer
zurückzuschlagen, doch aus freiem Willen ihr Leben um der Bestrafung des Eindringlings
willen aufs Spiel setzt und nicht zuläßt, daß ihre Gattung ungestraft geschädigt wird. Der
Mensch ist in dieser Hinsicht die gefährlichste Gattung. Denn wenn er es nur richtig und
abschreckend hält, kann er möglicherweise in eigener oder seines Landes Sache eine
Kränkung an jedem Lebenden rächen, und indem er sein eigenes Leben wegwirft
(vorausgesetzt daß er zum Äußersten entschlossen ist), wird er fast mit Sicherheit zum Herren
über fremdes Leben, und sei dieses auch noch so wirksam gesichert. Beispiele dieser Art
haben oft dazu gedient, die Mächtigen daran zu hindern, ihre Macht voll auszuspielen und
Unterlegene zum Äußersten zu treiben.
Im allgemeinen kann man sagen, daß es sich mit den Gemütsbewegungen oder Gefühlen in
der Konstitution eines Wesens genauso verhält wie mit den Sehnen oder Saiten eines
Musikinstruments. Werden diese, so gut sie auch aufeinander abgestimmt sind, über ein
gewisses Maß hinaus gespannt, so ist das mehr, als das Instrument vertragen kann: Die Laute
oder Leier wird dadurch mißbraucht und ihrer Wirkung beraubt. Wenn anderenfalls einige
Saiten richtig gespannt, aber andere nicht bis zum richtigen Grad angezogen sind, ist das
Instrument immer noch nicht in Ordnung, und es wird seinen Part nicht richtig spielen
können. Die verschiedenen Arten von Lebewesen gleichen verschiedenen Sorten von
Instrumenten. Und selbst innerhalb derselben Art von Kreaturen (wie bei derselben Sorte von
Instrumenten) ist ein Exemplar nicht völlig gleich dem anderen, und auch dieselben Saiten
werden nicht auf alle passen. Das gleiche Maß von Kraft, das die Saiten des einen richtig
anzieht und die einzelnen Sehnen zur Harmonie und zum Zusammenklang stimmt, mag bei
einem anderen sowohl die Saiten als auch das Instrument selbst zum Reißen bringen.
108 Genauso brauchen Menschen, die über äußerst lebhafte Empfindungen verfugen und
im höchsten Maße von Freude oder Schmerz heimgesucht werden, ein sehr hohes Maß an
anderen Gefühlen wie Zärtlichkeit, Liebe, Geselligkeit und Mitleid, damit in ihnen das rechte
Gleichgewicht entsteht und sie zur Erfüllung ihrer Pflicht und zur Ausübung ihrer Funktion
fähig bleiben, während andere, die von kühlerem Blute und weniger hochgestimmt sind, nicht
die gleiche Art von Besänftigung oder Gegengewicht brauchen und auch von der Natur nicht
so geschaffen sind, daß sie jene zarten und liebenswerten Gefühle in so außergewöhnlichem
Grade empfinden würden.
Ich könnte mir denken, daß es reizvoll wäre, auf diese Weise die unterschiedlichen
Stimmungsverhältnisse der Gefühlsbewegungen, die verschiedenen Mischungen und
Beimengungen zu untersuchen, durch die Menschen sich so sehr voneinander unterscheiden.
Denn so wie die höchste Veredlung des Charakters dem Menschengeschlecht möglich ist, so
läßt sich bei ihm auch die größte Verderbnis und Verkommenheit entdecken. Bei den anderen
Arten von Wesen um uns herum findet man im allgemeinen eine genaue Angemessenheit,
Beständigkeit und Regelmäßigkeit in all ihren Gefühlen und Gemütsbewegungen: sie greifen
nicht fehl bei der Fürsorge für die Nachkommenschaft oder die Gesellschaft, der sie
angehören; sie schänden sich nicht selbst und sind in keiner Weise maßlos oder
ausschweifend. Die kleineren Geschöpfe, die sozusagen in Staatswesen leben (z. B. Bienen
und Ameisen), führen beständig das gleiche, geordnet ablaufende und harmonische Leben
und kommen nicht ab von jenen Gemütsbewegungen, die sie dazu antreiben, zum Wohl ihrer
Gesellschaft zu leben. Sogar die Raubtiere, die am wenigsten in Gesellschaft leben,
beobachten offenbar ein solches Verhalten gegeneinander, wie es dem Wohl ihrer eigenen
Gattung genau entspricht. Dagegen lebt der Mensch, wie wir sehen, oft weniger in
Übereinstimmung mit der Natur, obgleich die Religion ihm beisteht und Gesetze ihn leiten; ja
gerade durch die Religion wird er oft barbarischer und unmenschlicher. Man brandmarkt
Menschen, erfindet Unterschiede, dekretiert Meinungen unter strengster Strafandrohung, man
flößt den Menschen feindliche Gefühle ein und weckt ihre Abneigung gegen die Mehrzahl
109 ihrer Mitmenschen. Daher gibt es kaum irgendwo eine menschliche Gemeinschaft mit
menschlichen Gesetzen. Kein Wunder, wenn sich in solchen Gesellschaften selten ein
Mensch findet, der natürlich und wie ein Mensch lebt.
Wir haben also gezeigt, was es heißt, ein Gefühl habe einen zu hohen oder zu niederen Grad;
ferner, daß eine zu starke natürliche oder eine zu schwache egozentrische Gemütsbewegung
streng genommen ein Laster und eine Schwäche ist, mag man sie auch oft als Tugend
gutheißen. Wir kommen nun zu dem leichter verständlichen und wesentlicheren Aspekt der
Lasterhaftigkeit, zu der Art von Laster, die allein diese Bezeichnung zu Recht verdient,
nämlich
1. wenn entweder die auf das öffentliche Wohl gerichteten Gemütsbewegungen zu schwach
oder nicht vorhanden sind, oder
2. die egozentrischen und selbstsüchtigen Gemütsbewegungen zu stark sind, oder
3. wenn Gemütsbewegungen aufkommen, die zu keiner dieser Gruppen gehören noch in
einem gewissen Maße auf die Erhaltung des allgemeinen oder des individuellen Systems
zielen.
Anders als in dieser Weise kann ein Wesen unmöglich von der Art sein, die wir böse oder
lasterhaft nennen. Wenn wir folglich beweisen können, daß es wirklich nicht in seinem
Interesse liegt, so unmoralisch zu empfinden, wenn vielmehr das Gegenteil gilt, dann werden
wir auch bewiesen haben, daß es in seinem Interesse liegt, ganz gut und tugendhaft zu sein,
denn bei einem unversehrten und heilen Zustand seiner Gemütsbewegungen, wie wir ihn
beschrieben haben, kann es in seinem Handeln und Verhalten nicht anders als heil, gut und
tugendhaft sein.
Unsere Aufgabe wird deshalb sein, folgendes zu beweisen:
1. Derjenige, bei dem sich die natürlichen, artbezogenen und edlen
110 Gemütsbewegungen stark und mächtig auf das öffentliche Wohl richten, besitzt auch
schon das entscheidende Mittel und Vermögen zum eigenen Lebensgenuß. Und wem sie
fehlen, der ist gewiß elend und unglücklich.
2. Derjenige, bei dem die egozentrischen oder auf das eigene Wohl gerichteten
Gemütsbewegungen zu stark sind oder über den gehörigen Grad der Unterordnung unter die
artbezogenen und natürlichen hinausgehen, ist ebenfalls unglücklich.
3. Der schließlich ist im höchsten Grade unglücklich, dem jene unnatürlichen
Gemütsbewegungen zu eigen sind, die weder im Interesse der Art oder Allgemeinheit noch
der eigenen Person oder des Lebewesens selbst ihren Grund haben.
TEIL II
ABSCHNITT I
111 Als erstes also wollen wir beweisen: Wer die natürlichen Gemütsbewegungen besitzt,
die in der Liebe, Zuneigung, Sympathie und dem Wohlwollen gegenüber der Art oder
Gattung gründen, hat schon das entscheidende Mittel und Vermögen, sich an sich selbst zu
freuen. Wem sie fehlen, der ist mit Sicherheit elend und unglücklich.
Die Untersuchung dessen, was wir Vergnügen oder Befriedigung nennen und wonach
gemeinhin das Glück abgeschätzt wird, mag am Anfang stehen. Nach der gewöhnlichen
Unterscheidung gibt es körperliche und geistige Befriedigungen und Vergnügen.
Daß die letztgenannte Art von Befriedigung die größte ist, geben die meisten Menschen zu,
und man kann es folgendermaßen beweisen. Wenn der Geist von einer Tat oder einem
Verhalten eine hohe Meinung gefaßt und den stärksten Eindruck gewonnen hat und seine
Leidenschaft für diese Sache auf die Spitze getrieben und aufs höchste gesteigert wurde, dann
setzt er sich über alle körperlichen Schmerzen und Vergnügen gleichermaßen hinweg und läßt
sich durch keinerlei Verlockung oder Abschreckung von seinem Zweck abbringen. So sehen
wir Indianer, Wilde, Verbrecher und sogar die abscheulichsten Schurken im Interesse ihrer
Bande oder Sippschaft oder wegen eines sorgsam hochgehaltenen Begriffs oder Prinzips von
Ehre oder Tapferkeit, Rache oder Dankbarkeit jede Art von Mühsal auf sich nehmen und
Folter und Tod verachten. Wohingegen anderseits eine Person, die alles hat, was man an
äußeren Glücksumständen wünschen mag, die
112 umgeben ist von allem, was die Sinne locken und verzaubern kann und sich eben jetzt
im Zustand wohligen Genießens befindet, kaum daß irgend etwas innen verkehrt ist, kaum
daß sie ein Unwohlsein oder eine Störung in ihrem Inneren verspürt, etwas, das sie innerlich
verdrießt oder beunruhigt, sofort ihre Lust verliert. Der sinnliche Genuß ist zu Ende, und
jedes Mittel zum Lustgewinn versagt und wird als lästig und widerlich abgelehnt.
Gibt man also zu, daß die geistigen Vergnügen den körperlichen überlegen sind, so folgt: was
in einem vernünftigen Wesen eine stetig fließende Reihe oder Folge von inneren seelischen
oder geistigen Vergnügen hervorrufen kann, trägt mehr zu seinem Glück bei als alles, was bei
ihm eine ebenso stetige Kette oder Folge von sinnlichen Genüssen oder körperlichen
Vergnügen hervorrufen könnte.
Die geistigen Vergnügen sind nun entweder tatsächlich die natürlichen Gemütsbewegungen
selbst in ihrem unmittelbaren Wirken, oder sie gehen gewissermaßen ganz aus ihnen hervor
und sind nichts anderes als ihre Wirkungen.
Wenn dies gilt, so folgt daraus: da ein rationales Geschöpf nur vermöge der in ihm fest
gegründeten natürlichen Neigungen eine stetige Reihe oder Abfolge geistiger Genüsse
erlangen kann, wird es nur durch diese sicheres und beständiges Glück erlangen.
Nun sei zunächst erläutert, wie sehr die natürlichen Gemütsbewegungen an sich selbst die
höchsten Freuden und Genüsse sind. Wem je einmal bewußt geworden ist, in welcher
Verfassung sich der Geist befindet, wenn ihn Liebe, Dankbarkeit, Freigebigkeit, Großmut,
Mitleid, Hilfsbereitschaft oder sonst eine der sozialen und freundlichen Neigungen lebhaft
bewegen, der bedarf hierfür gewiß keines Beweises. Wer ein klein wenig nur die menschliche
Natur kennt, fühlt die Freude, die der Geist empfindet, wenn ihn so Edles rührt und bewegt.
Der Unterschied, den wir zwischen Einsamkeit und Gesellschaft finden, zwischen einer
gewöhnlichen Gesellschaft und einem Freundeskreis, die Beziehung, in der fast alle unsere
Freuden zum
113 gegenseitigen Austausch stehen, wie auch ihre Abhängigkeit von der Gesellschaft, der
vorhandenen oder vorgestellten, all das sind hinreichende Beweise für unsere Sache.
Wie weit die sozialen Freuden allen anderen Vergnügen überlegen sind, kann man an
sichtbaren Zeichen und Wirkungen erkennen. Bereits die äußeren Erscheinungsweisen, die
Merkmale und Anzeichen, die diese Freuden begleiten, bringen einen tieferen, reineren und
ungestörteren Genuß zum Ausdruck als diejenigen, welche die Befriedigung von Durst,
Hunger oder anderen heftigen Begierden begleiten. Aber ganz besonders kann man diese
Überlegenheit an der wirklichen Vorherrschaft und Übermacht dieser Gemütsbewegungen
über alle anderen erkennen. Wo immer sie sich mit einigem Vorteil zeigen, bringen sie jede
andere Regung des Vergnügens zum Schweigen und zur Ruhe. Keine nur sinnliche Freude
kann gegen sie aufkommen. Wer über beide Arten von Vergnügen Richter ist, wird stets der
ersteren den Vorzug geben. Um aber Richter über beide sein zu können, muß man einen Sinn
für beide haben. Ein rechtschaffener Mensch kann durchaus sinnliche Vergnügen beurteilen
und kennt ihre äußerste Stärke. Denn sein Geschmack oder Sinn ist nicht etwa stumpfer,
sondern ganz im Gegenteil intensiver und reiner, weil er maßvoll und bescheiden genießt. Ein
unsittlicher und ausschweifender Mensch hingegen kann keineswegs ein guter Beurteiler der
sozialen Freude genannt werden, da er ihr von seiner Natur her so ganz fremd gegenübersteht.
Man kann hier auch nicht einwenden, daß bei vielen Naturen die gute Gemütsbewegung zwar
wirklich vorhanden, doch nicht genügend stark sei. Denn wo sie nicht in ihrem natürlichen
Stärkegrad vorhanden ist, da ist es gerade so, als sei sie nicht da oder nie dagewesen. Je
weniger diese Gemütsbewegung in einem eigensinnigen Wesen vorhanden ist, umso größer
ist das Wunder, sollte sie doch einmal die Oberhand gewinnen. Und gewinnt sie diese nur
einmal und in einem einzigen Fall, so zeigt dies zweifellos, daß diese Gemütsbewegung in
allen anderen die Oberhand behielte, wenn sie nur durchgreifend erfahren und bewußt würde.
114 So ist der Zauber der artbezogenen Gemütsbewegung allen anderen Vergnügen
überlegen, hat er doch die Kraft, den Menschen von jedem anderen Begehren oder Trieb
abzuziehen. Und wie in der Liebe zu den Kindern und in tausend anderen Fällen wirkt der
Zauber so stark auf das Gemüt, daß es auch inmitten anderer Verlockungen einzig und allein
empfänglich ist für dieses Gefühl: es bleibt als Meister-Freude und Bezwinger aller übrigen
zurück.
Wer in der Wissenschaft und Bildung nicht einmal weiter als bis zu den Grundlagen der
Mathematik fortgeschritten ist, merkt, daß die Betätigung seines Geistes bei den
Entdeckungen, die er hier macht, obgleich sie von rein spekulativer Wahrheit sind, ihm eine
Freude und Lust bereitet, die über sinnliche Vergnügen hinausgehen. Wenn wir die Natur
dieser kontemplativen Lust eingehend untersuchen, werden wir feststellen, daß sie von ihrer
Art her in keinerlei Beziehung zu irgendwelchen individuellen Interessen der betreffenden
Person steht, noch den Nutzen oder Vorteil des individuellen Systems zum Gegenstand hat.
Bewunderung, Freude oder Liebe wenden sich ganz auf etwas hin, das außer uns liegt und
nicht zu uns selbst gehört. Und wenn auch die reflektierte Freude oder Lust, die entsteht,
sobald man das Augenmerk auf die zuvor einmal gewonnene Lust richtet, als ein
selbstbezogenes Gefühl oder interessiertes Wohlgefallen verstanden werden mag, so kann
sich doch die ursprüngliche Befriedigung nur aus der Liebe zur Wahrheit,
Verhältnismäßigkeit, Ordnung und Symmetrie in den Dingen außer uns ergeben. Ist dies aber
der Fall, dann muß diese Leidenschaft wirklich zu den natürlichen Gemütsbewegungen
gezählt werden. Denn da sie im Umkreis des individuellen Systems keinen Gegenstand hat,
muß man sie entweder für überflüssig und unnatürlich erachten (wirkt sie doch nicht zum
Vorteil oder Wohl von irgend etwas in der Natur) oder aber man muß sie als das beurteilen,
was sie wahrhaft ist: eine natürliche Freude an der Betrachtung jener Zahlenverhältnisse,
Harmonie, Proportionen und Eintracht, welche die gesamte Natur erhalten und wesentlich für
die Konstitution und Form jeder einzelnen Art oder Ordnung der Wesen sind.
115 Aber wie bedeutend und wertvoll diese spekulative Freude auch sein und wie sehr sie
jede nur sinnliche Regung übersteigen mag, sie wird doch weit übertroffen von der
tugendhaften Regung, vom tätigen guten Willen und tätiger Güte. In ihnen verbindet sich das
beglückendste Empfinden der Seele mit der freudigen Einwilligung und Zustimmung des
Geistes zu den Handlungen, die aus dieser guten Verfassung und edlen Neigung heraus
vollbracht werden. Denn was auf Erden wäre passender für die Spekulation, ein anmutigerer
Anblick und Gegenstand der Betrachtung als die schöne, angemessene und schickliche Tat?
Oder könnte uns etwa der Gedanke und die Erinnerung an irgendeine andere Sache eine
stärkere und anhaltendere Freude bieten?
Wir können beobachten, daß in der Liebe zwischen den Geschlechtern, in der es neben den
Empfindungen der niedrigen Sorte ein Gemisch aus gütigen und freundlichen
Gemütsbewegungen gibt, die letztgenannten den anderen wirklich überlegen sind. Nimmt
doch oft kraft dieser Gemütsbewegungen ein liebender Mensch um des geliebten anderen
willen das größte Ungemach der Welt auf sich, ja er geht sogar freiwillig in den Tod, ohne
einen Ausgleich zu erwarten. Wo sollte auch der Grund für eine solche Erwartung liegen?
Sicherlich nicht hier in dieser Welt, denn der Tod macht allem ein Ende. Noch auch in einer
zukünftigen, anderen. Denn wer hätte je gedacht, für die leidende Tugend Liebender sei ein
Himmel oder zukünftiger Lohn bereitet?
Wir können überdies zugunsten der natürlichen Gemütsbewegungen noch bemerken, daß sie
nicht nur dann wirklichen, also mehr als sinnlichen Genuß mit sich bringen, wenn ihnen
Freude und Begeisterung beigemischt sind. Selbst die Beunruhigungen, die zu den natürlichen
Gemütsbewegungen gehören, gewähren noch, obgleich sie dem Vergnügen ganz
entgegengesetzt zu sein scheinen, eine größere Zufriedenheit und Genugtuung als die
Befriedigung der Sinne. Und wo man es dahin bringen kann, daß die zarten und freundlichen
Gemütsbewegungen in ununterbrochener Reihe oder Folge selbst unter Furcht, Schrecken,
Kummer und Sorge fortdauern, da ist das
116 seelische Empfinden immer noch wohltuend. Auch dieser traurig stimmende Anblick
oder Eindruck der Tugend bleibt wohlgefällig. Ihre Schönheit erhält sich unter einer Wolke
von Unglücksfällen, die sie umschließen mag. Wenn daher auch nur durch bloßen Schein, wie
in einer Tragödie, Gemütsbewegungen dieser Art geschickt in uns erregt werden, so ziehen
wir diese Unterhaltung einer jeden anderen von gleicher Dauer vor. Wir entdecken an uns
selber, wie lustvoll es ist, wenn unser Gemüt derart zur Trauer bewegt, für Vortrefflichkeit
und sittliche Würde eingenommen wird, und wenn alles, was wir an sozialen
Gemütsbewegungen und menschlichem Mitgefühl besitzen, in Erregung gerät, und daß der
Genuß, den wir hierbei für unser Denken und Fühlen gewinnen, größer ist als alles sonst, was
wir vermittels der Sinnlichkeit oder gewöhnlichen Begierde erlangen. Demzufolge zeigt sich
klar, wie sehr die geistigen Genüsse in der Tat die eigentlich natürlichen Gemütsbewegungen
sind.
Um nun als nächstes zu erklären, wie die geistigen Genüsse als ihre natürlichen Wirkungen
aus ihnen hervorgehen, gilt es folgendes zu bedenken: die geistige Freude, welche aus der
Liebe oder freundlichen Gemütsbewegung entsteht, ist ein Genuß des Guten durch
Mitteilung. Man empfangt das Gute sozusagen durch Spiegelung oder durch Teilhabe am
Guten anderer, ferner als das angenehme Bewußtsein, von anderen wirklich geliebt und
verdientermaßen geachtet und bejaht zu werden.
Welch ein beträchtlicher Teil des Glücks aus der ersten dieser Wirkungen entspringt, wird
jeder leicht einsehen, der nicht extrem bösartig ist. Man betrachte nur, wie viel Vergnügen es
bereitet, Zufriedenheit und Freude mit anderen zu teilen, sie mit anderen in gegenseitiger
Verbundenheit zu erlangen und sie gewissermaßen aus den angenehmen und glücklichen
Lebensumständen derer zu sammeln, die um uns sind, wie auch aus Berichten und
Erzählungen von solchem Glück, ja selbst aus dem Gesichtsausdruck, den Gebärden,
Stimmlauten und Tönen auch der Kreaturen, die nicht von unserer Art sind und deren
Anzeichen von Freude und Befriedigung wir einigermaßen unterscheiden können. Diese
Freuden der Sympathie nehmen
117 uns derart ein und durchdringen unser ganzes Leben, daß sie wohl von allem, was uns
erfüllt und befriedigt, einen wesentlichen Teil ausmachen.
Bei der zweiten Wirkung der sozialen Liebe, also dem Bewußtsein, zu Recht geschätzt und
geachtet zu werden, läßt sich leicht sehen, wie sehr sie inneres Vergnügen bereitet und den
Hochgenuß und das Glück derjenigen Menschen ausmacht, die genußsüchtig im engsten
Sinne sind. Ist es nicht für den Selbstsüchtigsten unter uns ganz natürlich, fortwährend eine
gewisse Befriedigung aus seinem guten Ruf zu schöpfen und sich in der Einbildung
verdienter Bewunderung und Achtung zu gefallen? Denn wenn es auch nur eine Einbildung
sein mag, so wollen wir sie doch wahrhaben und schmeicheln uns selber, so gut wir können,
mit dem Gedanken an irgendwelche Verdienste und reden uns ein, daß wir zumindest einige
wenige, mit denen wir näheren und vertrauteren Umgang pflegen, zu Dank verpflichtet haben.
Welcher Tyrann, welcher Räuber oder offene Schänder der bürgerlichen Rechte hätte nicht
einen Spießgesellen oder eine besondere Sippschaft von Verwandten etwa oder sogenannten
Freunden, mit denen er gerne sein Gut teilt, deren Wohlergehen ihn erfreut und deren Freude
und Befriedigung er zu seiner eigenen macht? Wer bliebe unbeeindruckt, wenn vertraute
Menschen ihm schmeicheln oder freundlich tun? Stehen nicht fast alle unsere Handlungen in
einer Beziehung zu dieser süßen Hoffnung und Aussicht auf Freundschaft? Zieht sie sich
nicht durch unser ganzes Leben und mischt sich sogar mit den meisten unserer Laster?
Eitelkeit, Ehrgeiz und Verschwendung haben Anteil an ihr, und an vielen anderen Übeln
unseres Lebens ist sie beteiligt. Noch die unkeuscheste Liebe schöpft reichlich aus dieser
Quelle. Wäre es möglich, Freude so zu verrechnen wie gemeinhin andere Dinge, so könnte
man wohl sagen, daß aus diesen beiden Zweigen (der Gemeinsamkeit oder Teilnahme an den
Freuden anderer und dem Glauben, sich um andere wohl verdient gemacht zu haben) mehr als
neun Zehntel aller Freuden im Leben entspringen. Und so gibt es summa summarum im
Glück kaum einen einzigen Posten, der sich
118 nicht von der sozialen Liebe herschriebe und nicht unmittelbar von den natürlichen
und freundlichen Gemütsbewegungen abhinge.
Wie nun die Ursachen sind, so müssen auch ihre Wirkungen sein. Und je nachdem, ob die
natürliche Gemütsbewegung oder soziale Liebe vollkommen oder unvollkommen ist, müssen
auch Zufriedenheit und Glück, die davon abhängen, beschaffen sein.
Damit sich aber niemand einbilde, daß eine natürliche Gemütsbewegung geringeren Grades
oder ihre unvollkommene, einseitige Beachtung die Stelle der ganzen, reinen und wahrhaft
moralischen Gemütsbewegung einnehmen könne und eine leichte soziale Einfärbung der
Neigung nicht für hinreichend gehalten werde, dem Ziel nämlich, der Freude an der
Gesellschaft zu genügen und uns jenen Genuß der Teilhabe und Gemeinschaft zu gewähren,
der so wesentlich für unser Glück ist, so werden wir zuerst bedenken, daß eine einseitige
Neigung oder soziale Liebe für eine Seite, ohne Rücksicht auf die Gesellschaft, d.h. auf ein
Ganzes, an sich eine Ungereimtheit ist und einen absoluten Widerspruch enthält. Wenn sich
eine Neigung, zu was auch immer, ausgenommen uns selber, nicht nach Art der natürlichen
Gemütsbewegungen auf das System oder die Gattung richtet, dann muß sie, stärker als jede
andere Gemütsbewegung, das allgemeine Wohl zersetzen und die Freude an der Gesellschaft
zerstören. Gehört sie dagegen zu den natürlichen Neigungen und wird nur einseitig auf einen
Teil der Gesellschaft oder Gattung angewendet, nicht aber auf die Gattung oder Gesellschaft
selbst, so läßt sich das so wenig begründen wie ein ganz vereinzelt vorkommendes,
unberechenbares oder launisches Gefühl. Wer sich also dieser Neigung bewußt ist, kann sich
keines Wertes oder Verdienstes bewußt sein, den er ihr verdanken würde. Noch kann sich,
wer einmal von dieser unberechenbaren Gemütsbewegung überfallen wird, gegen ihre Dauer
oder Gewalt irgendwie absichern. Da sie kein Fundament und keinen Grund in der Vernunft
hat, muß sie leicht zu beseitigen sein und Veränderungen ohne vernünftigen Grund
unterliegen. Nun muß aber die Veränderlichkeit eines solchen Gefühls, da es doch allein von
der Unberechenbarkeit und Laune abhängt und häufigem Wechsel von Haß und Liebe
119 sowie Abscheu und Zuneigung unterliegt, mit Notwendigkeit dauerndes
Mißvergnügen und Ekel erzeugen, aller unmittelbaren Freude an Freundschaft und
Gesellschaft einen fremden Beigeschmack geben und am Ende selbst die Neigung zu
Freundschaft und menschlichem Umgang gewissermaßen auslöschen. Die ungeteilte, integre
Gemütsbewegung hingegen (von der die Integrität ihren Namen hat) entspricht sich selbst,
steht im rechten Verhältnis und ist vernünftig; somit ist sie unzerstörbar, fest und dauerhaft.
Und so wie im Falle der einseitigen, parteiischen oder lasterhaften Freundschaft ohne Regel
und Ordnung jede Reflexion zum Nachteil gereichen muß und den Genuß mindert, so wirft
im Falle der Integrität das Bewußtsein rechten Verhaltens gegenüber der Menschheit im
allgemeinen ein gutes Licht auf jede freundliche Gemütsbewegung im besonderen und
steigert noch, vermittels der Gemeinschaft und Teilhabe, wie oben erwähnt, den Genuß der
Freundschaft.
Weiterhin gilt folgendes: So wie die einseitige Gemütsbewegung nur einen kurzlebigen und
geringen Genuß jener Freuden der Sympathie oder Teilhabe am Leben anderer einbringen
kann, so vermag sie auch keine nennenswerte Freude aus jenem anderen Hauptzweig
menschlichen Glücks hervorzubringen, nämlich aus dem Bewußtsein, tatsächlich oder
verdientermaßen die Wertschätzung anderer zu genießen oder beanspruchen zu können. Denn
woher sollte diese Wertschätzung kommen? Das Verdienst an sich kann nur gering sein, wenn
die Gemütsbewegung so schwankend und unsicher ist. Was für eine Art von Vertrauen kann
sich auf eine bloß gelegentliche Zuneigung oder eine nur kapriziöse Hinwendung gründen?
Wer kann sich auf eine Freundschaft verlassen, die nicht auf einem sittlichen Gesetz aufbaut,
sondern willkürlich auf eine einzelne Person oder einen kleinen Teil der Menschheit gerichtet
ist und die Gesellschaft und das Ganze ausschließt?
Man kann es überhaupt als ein Ding der Unmöglichkeit ansehen, daß Menschen, die nach
anderen Grundsätzen als denen der Tugend Wertschätzung empfinden oder lieben, jemals ihre
Zuneigung Gegenständen schenken sollten, die sie auf Dauer schätzen oder lieben
120 können. Sie werden es schwer haben, unter ihren derart geliebten Freunden solche zu
finden, an denen sie sich von ganzem Herzen erfreuen können, oder umgekehrt deren
Wertschätzung oder Liebe für sie wirklich einen Wert und eine Freude bedeutet. Auch können
solche Freuden nicht echt und von Dauer sein, die aus Eigendünkel oder der falschen
Überzeugung stammen, man werde von anderen geschätzt und geliebt, die zu echter
Wertschätzung oder Liebe gar nicht fähig sind. Von daher ist es offensichtlich, wie sehr
Menschen mit eingeengter oder einseitiger Gemütsbewegung in dieser Hinsicht
notwendigerweise Verlierer sind und in diesem zweiten Hauptbereich geistiger Freuden zu
kurz kommen müssen.
Hingegen hat die ungeteilte Gemütsbewegung alle entgegengesetzten Vorzüge. Sie ist
ausgeglichen, beständig, jederzeit zu rechtfertigen, immer befriedigend und angenehm. Sie
findet Beifall und Liebe von seiten der Besten und sogar der Schlechtesten, falls bei diesen
kein Eigennutz im Spiele ist. Wir können von dieser Gemütsbewegung mit Recht sagen, daß
sie das Bewußtsein verdienter Liebe und Billigung seitens der ganzen Gesellschaft, aller
intelligenten Wesen und seitens des wie auch immer bestimmten Urhebers aller Intelligenz
mit sich bringt. Und wenn es in der Natur einen solchen Urheber gibt, so können wir
hinzufügen, daß die Befriedigung, welche die ungeteilte Gemütsbewegung begleitet,
vollkommen und edel ist, entsprechend ihrem Endziel, in dem alle Vollkommenheit ist,
gemäß dem Begriff des Theismus, wie er weiter oben dargelegt wurde. Denn dies ist, wie wir
gezeigt haben, das Ergebnis der Tugend. Und diese ungeteilte, integre Gemütsbewegung oder
Integrität des Gemüts zu besitzen, heißt der Natur und den Geboten und Grundsätzen der
höchsten Weisheit gemäß leben. Dies aber ist Sittlichkeit, Gerechtigkeit, Frömmigkeit und
natürliche Religion.
Aber damit dieses Argument nicht zu scholastisch und mit Begriffen und Ausdrücken
vorgetragen erscheint, die nicht gebräuchlich sind, wollen wir versuchen, ob wir es nicht in
ein helleres Licht stellen können.
121 Denkt jemand einmal richtig über die Vergnügen nach, die er entweder in
Zurückgezogenheit, Betrachtung, Studium und der Beschäftigung mit sich selbst oder in
Fröhlichkeit, Lustigkeit und Unterhaltung mit anderen erlebt, so wird er finden, daß sie
gänzlich auf einem heiteren Gemüt beruhen, das frei von Schroffheit, Bitterkeit oder Ekel ist,
sowie auf einem Geist oder einem Verstand, der wohlgeordnet, ruhig und heiter in sich selbst
ruht und eine Inspektion und Beurteilung seiner selbst ohne Einschränkung zu ertragen
vermag. Solch ein Geist und solch ein Gemüt, die zum Genuß der erwähnten Freuden
geeignet und fähig machen, sind notwendigerweise auf die natürlichen und guten
Gemütsbewegungen zurückzuführen.
In bezug auf das Gemüt erwäge man folgendes. Es gibt keinen Zustand äußeren Gedeihens
oder fortdauernden Wohlergehens, in dem Neigung und Wünsche stets befriedigt, Vorstellung
und Laune immer zufriedengestellt sind. Fast stündlich gibt es Hindernisse oder Querschläge
für die Begierden, Ereignisse, die manchmal von außen, manchmal von innen kommen und
das freie Spiel der Neigungen hemmen, denen wir uns hingeben. Diese Neigungen sind durch
bloßes Nachgeben allein nicht immer zu befriedigen. Und wenn das Leben nur durch die
Vorstellung geleitet wird, so ist für Widerwärtigkeiten und Störungen hinreichend Platz.
Selbst die normalen Abgespanntheiten, Unbehaglichkeiten und Dispositionsstörungen auch
im kräftigsten Körper, der unterbrochene Fluß der Körpersäfte oder Lebensgeister auch beim
gesündesten Menschen, und die zufälligen Störungen, die bei jeder Konstitution vorkommen,
genügen, wie wir wissen, um bei manchen Gelegenheiten Unwohlsein und Mißvergnügen
hervorzurufen. Und dieser Vorgang muß mit der Zeit da habituell werden, wo sich nichts
seinem Fortschreiten entgegenstellt und ihn daran hindert, Herrschaft über das Gemüt zu
erlangen. Nun bieten die natürlichen und freundlichen Gemütsbewegungen den einzigen
verläßlichen Widerstand gegen Übellaunigkeit. Denn wir können folgendes beobachten: wenn
der Geist sich nach Selbstprüfung zu irgendeiner Zeit entschließt, die Störungen, die im
Gemüt schon aufgetreten sind, zu unterdrücken und sich diesem Besserungswerk mit Eifer
und in vollem Ernst widmet, so kann er sein Unternehmen nur
122 dann vollenden, wenn er sein Empfindungsvermögen einem sanften Gefühl der
sozialen und freundlichen Art öffnet, einer belebenden Regung der Freundlichkeit, der
Kameradschaftlichkeit, des Wohlwollens oder der Liebe, um so die entgegengesetzte Regung
der Ungeduld und Unzufriedenheit zu mildern und zu verwandeln.
Wenn nun etwa gesagt wird, in dem vorliegenden Falle seien religiöses Gefühl und
Frömmigkeit hinreichende und geeignete Heilmittel, so antworte ich, daß dies davon abhängt,
von welcher Art diese zufällig sind. Denn sind sie von der unheimlichen Art und gehen einher
mit Gemütsbewegungen, die denen der Menschlichkeit, der Hochherzigkeit, des Mutes und
des freien Denkens entgegengesetzt sind, so wird man durch ihre Anwendung nichts
gewinnen und das Heilmittel wird sich am Ende schlimmer als die Krankheit erweisen. Noch
so strenge Überlegungen hinsichtlich unserer Pflicht und Berücksichtigung allein dessen, was
uns durch Autorität und unter Strafandrohung obliegt, wird auf keinen Fall dazu dienen, uns
in dieser Lage Ruhe zu bringen. Je finsterer unsere Gedanken über einen solchen Gegenstand
sind, desto schlimmer wird unsere Gemütsart und desto mehr geneigt, sich rauh und streng zu
erweisen. Wenn auch vielleicht infolge eines politischen Zwangs oder irgendeiner
Notwendigkeit oder Furcht zeitweilig ein anderes Benehmen zur Schau getragen oder andere
Grundsätze geäußert werden mögen, so wird das Verhalten im Grunde doch das gleiche
bleiben. Mag die äußere Erscheinung auch gelassen und ruhig sein, das Herz ist nicht
verändert. Die böse Leidenschaft mag für den Augenblick daran gehindert sein, sich im
Handeln zu äußern, sie wird sich dennoch bei der nächsten Gelegenheit nicht als unterworfen
oder auch nur im geringsten geschwächt erweisen. So große Frömmigkeit sich demnach auch
in einem solchen Herzen finden mag, ist es doch wahrscheinlich, daß auf die Dauer nur wenig
an Gelassenheit des Geistes oder Gutmütigkeit und infolgedessen auch nur wenige und
spärliche Freuden geistiger Art übrig bleiben werden.
Sollte man auf der anderen Seite einwenden, daß bei andauerndem äußeren Wohlergehen und
auf der Höhe des Glücks wahrscheinlich nichts geschehen könne, was das Gemüt so
verbittern und ihm solchen
123 Widerwillen einflößen würde, so müssen wir bedenken, daß gerade der Zustand bester
Stimmung und Entspanntheit geeignet ist, am ehesten durch jegliche Enttäuschung oder auch
nur die kleinste Plage gestört zu werden. Und wenn bei denen, die der Willkür und Stimmung
am meisten nachgeben, Reizungen am leichtesten entstehen und die Leidenschaften des
Zorns, des Beleidigtseins und der Feindschaft am stärksten sind, so bedürfen sie der sozialen
Gemütsbewegungen umso dringender, um das Gemüt davor zu bewahren, der Barbarei und
Unmenschlichkeit zu verfallen.
Nun zum anderen Teil unserer Überlegung, der sich auf einen wohlgeordneten und in sich
ruhenden Geist oder Verstand bezieht. Warum auch dieses Glück für abhängig von den
natürlichen Gemütsbewegungen gehalten werden darf, können wir uns vielleicht
folgendermaßen erklären. Man wird zugeben, daß ein Geschöpf wie der Mensch, der über
verschiedene Stufen der Reflexion zu der Fähigkeit aufgestiegen ist, die wir Vernunft und
Verstand nennen, gerade beim Gebrauch dieses seines Denkvermögens wiederum
Reflexionen von dem, was in ihm selbst und in seinen Gemütsbewegungen oder seinem
Willen vorgeht, kurz von allem, was sich auf seinen Charakter, sein Verhalten oder Betragen
gegenüber seinen Mitgeschöpfen und der Gesellschaft bezieht, in seinem Geist empfangen
muß. Oder sollte er selber dazu nicht fähig sein, so werden andere ihn bereitwillig daran
erinnern und durch diese Art von Kritik sein Erinnerungsvermögen auffrischen. Wir alle
haben Erinnerungen genug, die uns bei dieser Arbeit unterstützen. Auch die größten
Günstlinge des Glücks sind von dieser Aufgabe der Selbstbetrachtung nicht befreit. Selbst
Schmeicheleien machen uns in dieser Richtung aufmerksamer und verführen uns zu
gewohnheitsmäßiger Selbstbetrachtung, weil sie uns den Anblick unserer selbst angenehm
machen. Je eitler jemand ist, desto mehr heftet er den Blick innerlich auf sich selbst und
macht diese häusliche Betrachtung gewissermaßen zu seiner Beschäftigung. Und wenn uns
schon nicht wahre Achtung vor uns selbst zu dieser Schau auf uns selbst veranlassen kann, so
liefern uns doch falsche Rücksichtnahme auf andere und der Wunsch, angesehen zu sein,
genügend Reflexionen über unseren eigenen Charakter und unser Verhalten.
124 Wie wir dies auch ansehen, immer werden wir finden, daß jedes vernünftige oder
reflektierende Geschöpf von Natur aus gezwungen ist, der Überprüfung seines eigenen
Geistes und seiner Handlungen standzuhalten und Vorstellungen von sich und seinen inneren
Angelegenheiten zu haben, die ständig vor seinen Augen vorbeiziehen und sich in seinem
Geiste bewegen. Wie nun für jemand, der sich der natürlichen Affekte entledigt hat, nichts
schmerzlicher sein kann als dies, so ist auch nichts köstlicher für den, der sie sich redlich
bewahrt hat.
Es gibt zwei Dinge, die einem vernünftigen Wesen furchtbar peinlich und schmerzlich sein
müssen, nämlich wenn es in seinem Geiste eine ungerechte Handlung oder Verhaltensweise
reflektiert, von der es weiß, daß sie hassenswert und strafwürdig ist, oder aber eine törichte
Handlung oder Verhaltensweise, die dem eigenen Interesse oder Glück schädlich ist.
Nur die erste von diesen beiden Reflexionen verdient in einem moralischen oder religiösen
Sinne die Bezeichnung Gewissen. (...)
(Es folgt ein Abschnitt über das Gewissen. das nicht auf Furcht beruhe. Religiöses Gewissen
setze das sittliche oder natürliche Gewissen voraus. Jedes Wesen habe Gewissen.)
128 Aus all dem können wir leicht schließen, wie sehr unser Glück von der natürlichen
und guten Gefühlsbewegung abhängt. Denn wenn das größte Glück aus den geistigen Freuden
kommt und diese von der Art sind, wie wir sie beschrieben haben, und sich auf die
natürlichen Gemütsbewegungen gründen, so folgt: wer die natürlichen
129 Gemütsbewegungen hat, der hat das wichtigste und kraftvollste Mittel zum
Selbstgenuß, den höchsten Besitz und das höchste Glück des Lebens.
Hinsichtlich der körperlichen Genüsse und der Befriedigung der bloßen Sinnlichkeit ist es
evident, daß sie unmöglich anders ihre Wirkung tun und Vergnügen von Wert bieten können
als mittels der sozialen und natürlichen Gemütsbewegungen.
Gut leben bedeutet manchen Leuten nichts anderes als gut essen und trinken. Und mich dünkt,
es ist ein unbedachtes Zugeständnis, das wir diesen angeblichen Lebenskünstlern machen,
wenn wir uns ihnen anschließen und ihre Art zu leben mit der Bezeichnung Wohlleben
beehren. Als ob diejenigen am besten lebten, die sich die größte Mühe geben, möglichst
wenig vom Leben zu genießen. Denn wenn unsere Darstellung des Glücks richtig ist, eilen
solche Leute gerade an den größten Genüssen des Lebens hastig vorüber und nehmen sich fast
Sinnesgenüsse niemals die Freiheit, sie zu kosten.
Aber so beträchtlich auch der Anteil des Lebensgenusses sein mag, der sich auf die Freuden
des Gaumens gründet, und so bemerkenswert auch die Wissenschaft, die sich damit befaßt, so
kann man doch wohl mit Recht vermuten, daß die Zurschaustellung von Luxus sowie ein
gewisser Wetteifer und das Streben, sich in dieser üppigen Lebenskunst auszuzeichnen, sehr
viel dazu beitragen, daß die Genießer einen so hohen Begriff von ihr haben. Denn nähme man
die begleitenden Umstände hinweg: Tafel und Geselligkeit, Equipagen, Dienerschaft und was
sonst noch dazu gehört, dann würde selbst nach Meinung des größten Schwelgers kaum ein
erstrebenswertes Vergnügen übrig bleiben.
Der Begriff der Schwelgerei als solcher (der einen Streifzug durch alles bezeichnet, was sich
an Vergnügen und Üppigkeit nur denken läßt), enthält eine ganz klare Beziehung zur
Gesellschaft oder Geselligkeit. Man kann von Übermaß oder Exzess im Essen und Trinken
reden, aber kaum von einer Schwelgerei der erwähnten Art, wenn
130 der Exzess ganz allein, fern von aller Gesellschaft oder Geselligkeit, begangen wird.
Und jemand, der sich auf diese Weise selber mißbraucht, wird zwar oft Fresser und Säufer,
aber niemals Schwelger genannt. Die Kurtisanen und selbst die gemeinsten Weiber, die von
der Prostitution leben, wissen sehr wohl, wie notwendig es ist, daß jeder, den sie mit ihrer
Schönheit beglücken, sich einbildet, die Befriedigung sei wechselseitig und es werde Genuß
ebensowohl empfangen wie gegeben. Und wenn diese Illusion gänzlich wegfiele, so würde
sich auch unter den gröber empfindenden Menschen kaum einer finden, der den
übrigbleibenden Genuß nicht für sehr geringwertig hielte.
Wer kann sich Wohl allein und für längere Zeit an etwas erfreuen, wenn er in seinem Geist
und Denken vollkommen abgesondert von allem lebt, was zur Gesellschaft gehört? Wen
würde unter solchen Bedingungen jede Befriedigung der Sinne nicht alsbald anekeln? Wer
würde nicht selbst der ausgesuchtesten Genüsse überdrüssig werden, so lange er nicht Wege
gefunden hätte, sie mit anderen zu teilen und sie dadurch zu wirklichen Genüssen zu machen,
daß er sie mit wenigstens einer einzigen Person teilte und diese daran Anteil nehmen ließe?
Menschen mögen sich einbilden, was sie wollen, mögen sich für noch so selbstsüchtig halten
oder noch so sehr den Vorschriften jenes engen Prinzips zu folgen wünschen, durch das sie
der Natur Zwang antun wollen: die Natur wird dennoch durchbrechen und durch Schmerzen,
Unruhe und krankhafte Zustände die schlimmen Folgen. solcher Gewaltanwendung, die
Absurdität eines solchen Vorhabens und die Strafe demonstrieren, welche einem so
widernatürlichen und abscheulichen Bemühen folgen muß.
So hängen also nicht nur die Freuden des Geistes von der natürlichen Gemütsbewegung ab,
sondern sogar die des Körpers, insofern nämlich als sie da, wo jene fehlt, nicht nur ihre
Wirkung verlieren, sondern sich in gewisser Weise in Unbehaglichkeit und Ekel verkehren.
Die Empfindungen, welche natürlicherweise Zufriedenheit und Wohlbehagen gewähren
sollten, bringen Unzufriedenheit und Verdrossenheit hervor und erzeugen Langeweile und
Ruhelosigkeit im Gemüt. Dies sehen wir an der ewigen Unbeständigkeit und der Sucht nach
Abwechslung,
131 die bei denen so auffallend sind, deren Vergnügungen nichts Geselliges oder
Freundliches enthalten. Sogar gute Kameradschaft im verderbten Sinne des Wortes scheint
etwas Beständigeres und Festeres an sich zu haben. Geselligkeit befördert gute Laune. Ebenso
ist es in der Liebe. Zärtlichkeit und Mitteilungsfähigkeit des Gefühls unterstützt die
Leidenschaft, die sich sonst sehr schnell ändern würde. Die vollkommenste Schönheit allein
kann sie auf die Dauer nicht bewahren oder festhalten. Und eine Liebe, die kein anderes
Fundament hat und nur auf das Äußere gerichtet ist, verwandelt sich schnell in Abneigung.
Sättigung, ständiger Ekel und Fieberhaftigkeit der Begierde begleiten denjenigen, der
leidenschaftlich Genuß erstrebt. Am meisten genießen diejenigen, die sich bemühen, ihre
Leidenschaften zu zügeln. Dadurch gelangen sie bald zu der Erkenntnis, daß bloße
Sinnlichkeit absolut unfähig ist,: Freude und Zufriedenheit zu gewähren, wenn sie nicht auf
etwas Freundschaftlichem oder Sozialem beruht, etwas, das mit der artbezogenen oder
natürlichen Gemütsbewegung zusammenhängt und verwandt ist.
Bevor wir jedoch diesen Abschnitt über die soziale oder natürliche Gemütsbewegung
beschließen, wollen wir eine allgemeine Ansicht von ihr gewinnen und sie endgültig auf die
Waage legen, um zu prüfen, was für eine Art von innerem Gleichgewicht sie herzustellen
hilft, und was die Folgen sind, wenn sie fehlt oder zu leicht wiegt.
Es gibt niemand, der so wenig von der Beschaffenheit des menschlichen Körpers verstünde,
daß er nicht wüßte, wie der Körper ohne Tätigkeit, Bewegung und ständigen Gebrauch
erschlafft und hinfällig wird; wie ihn die Ernährung krank macht, wie die nach außen
unbeschäftigten Lebensgeister dazu beitragen, die inneren Organe zu verzehren. Die Natur
nagt gleichsam an sich selbst. In gleicher Weise ist das Empfindungs- und Lebensorgan, die
Seele oder der Geist, niedergedrückt und krank, wenn ihm die angemessene und natürliche
Übung fehlt. Wenn seine Gedanken und Leidenschaften in unnatürlicher Weise von ihren
eigentlichen Gegenständen abgehalten werden, wenden sie sich gegen es selbst und erzeugen
äußerste Ungeduld und Gemütsverstimmung.
132 Bei Tieren und anderen Geschöpfen, die Vernunft und Verstand nicht (oder
wenigstens nicht in der Art wie die Menschen) besitzen, hat es die Natur so geordnet, daß
durch die tägliche Futtersuche und dadurch, daß sie entweder mit dem Geschäft der
Lebenserhaltung oder den Angelegenheiten ihrer Gattung befaßt sind, fast ihre ganze Zeit in
Anspruch genommen wird und daß sie für ihre Leidenschaft, entsprechend dem Grade der
Erregbarkeit, der ihnen angemessen und für ihre Konstitution notwendig ist, immer volle
Betätigung finden. Wenn eines dieser Geschöpfe aus seinem natürlichen, tätigen Leben
herausgenommen und in einen Überfluß versetzt wird, der in überreichem Maße allen seinen
Begierden und Bedürfnissen gerecht werden kann, so wird man beobachten, daß im selben
Maße, in dem es in üppigere Verhältnisse kommt, auch seine Launen und Leidenschaften
wachsen. Sobald es zu irgendeiner Zeit wohlfeiler und leichter zu den Annehmlichkeiten des
Lebens gelangt, als es ihm von der Natur zugedacht war, muß es auf andere Weise teuer dafür
bezahlen, indem es seine von Natur aus gute Verfassung und die seiner Art oder Gattung
eigene Lebensordnung verliert.
Dies braucht nicht durch besondere Beispiele bewiesen zu werden. Wer nur die geringste
Kenntnis der Naturgeschichte besitzt oder die verschiedenen Arten von Geschöpfen, ihre
Lebensweise und ihre Fortpflanzung beobachtet hat, wird diesen Unterschied in der
Lebensordnung zwischen wilden und zahmen Individuen derselben Art leicht verstehen. Die
letzteren erwerben neue Gewohnheiten und weichen von ihrer ursprünglichen Natur ab. Sie
verlieren sogar den normalen Instinkt und die ihrer Art spezifische Begabung und können
diese auch nicht wiedergewinnen, so lange sie in dem Zustand der Verweichlichung
verharren. Aber sobald sie sich wieder draußen durchschlagen müssen, gewinnen sie die
natürlichen Neigungen und den Scharfsinn ihrer Art zurück. Sie lernen, sich zu engerer
Gemeinschaft zusammenzuschließen und entwickeln wieder mehr Interesse für ihre
Nachkommenschaft. Sie treffen Vorsorge für die Jahreszeiten und machen sich die Vorteile
bestmöglich zunutze, welche die Natur zum Schutz und zur Erhaltung ihrer Art gegen fremde
und feindliche Wesen bietet. Und so wie sie tätig werden und sich beschäftigen, wird
133 ihr Leben geordnet und gut. Launenhaftigkeit und Laster fallen mit Müßiggang und
Trägheit von ihnen ab.
Bei den Menschen verhält es sich so, daß einige durch Notwendigkeit an die Arbeit gebunden
sind, während andere durch die Mühe und Arbeit ihrer Untergebenen im Überfluß mit allen
Gütern versehen sind. Wenn nun bei den Höherstehenden und bequemer Lebenden nicht
irgendeine andere Art von passender und angemessener Beschäftigung an die Stelle der
gewöhnlichen schweren Arbeit tritt; wenn sie, anstatt sich einer Arbeit zu widmen, die ein für
die Gesellschaft gutes und ehrenwertes Ziel hat (wie etwa Literatur, Wissenschaft, Kunst,
Hausund Landwirtschaft, Politik, Ökonomie oder dergleichen); wenn sie jegliche
Pflichterfüllung oder Beschäftigung völlig vernachlässigen, müßig, träge und untätig
dahinleben, so muß das mit Notwendigkeit einen Zustand der äußersten Unbeherrschtheit und
der Liederlichkeit hervorbringen. Es muß die Gefühle vollständig durcheinander bringen und
zu den seltsamsten Zügellosigkeiten fuhren.
Wir beobachten das enorme Zunehmen des Luxus in den Hauptstädten, die seit langem
Zentren der Herrschaft sind. Wir beobachten, welche Fortschritte die Laster aller Art dort
machen, wo viele Menschen in trägem Überfluß und üppiger Fülle leben. Anders steht es mit
denen, die einer achtbaren und angemessenen Beschäftigung nachgehen und von Jugend auf
daran gewöhnt sind. Das können wir bei den robusten Menschen entfernter Provinzen, den
Einwohnern kleinerer Städte und den fleißigen Leuten aus den unteren Ständen beobachten,
wo man nur selten Beispielen solcher Zügellosigkeiten begegnet, wie man sie an den Höfen
und in den Palästen oder auf den reichen Pfründen bequemer und wohlgenährter Priester
kennt.
Wenn nun das, was wir bezüglich einer inneren Konstitution dargetan haben, wahr und richtig
ist; wenn es wahr ist, daß die Natur ebenso in den Leidenschaften und Gemütsbewegungen
wie auch in den Gliedern und Organen, die sie bildet, nach einer bestimmten Ordnung und
Regelmäßigkeit wirkt; wenn es außerdem einleuchtet,
134 daß sie dieses Innere so eingerichtet hat, daß ihm nichts so wesentlich ist wie Übung
und daß keine Übung so wesentlich ist, wie die in den natürlichen sozialen
Gemütsbewegungen, dann folgt, daß da, wo die letzteren nicht mehr vorhanden oder
geschwächt sind, das Innere notwendig leiden und beeinträchtigt sein muß. Man möge
Trägheit, Gleichgültigkeit oder Gefühllosigkeit einüben wie eine Kunst oder mit der größten
Sorgfalt kultivieren, die zurückgedrängten Leidenschaften werden ihren Kerker aufbrechen
und so oder so zur Freiheit gelangen und volle Betätigung finden. Sie werden sich mit
Sicherheit ungewöhnliche und unnatürliche Betätigungsfelder schaffen, wenn sie von allem
abgeschnitten sind, das natürlich und gut ist. Und so wird sich an Stelle der geordneten und
natürlichen Gemütsbewegung eine neue und unnatürliche einstellen, und jegliche innere
Ordnung und Ökonomie wird zerstört sein.
Man muß schon einen sehr unvollkommenen Begriff von dem Plan der Natur in Bau und
Gestaltung der Lebewesen haben, wenn man sich einbildet, daß ein so großes Prinzip, ein so
fundamentaler Bereich wie jener der natürlichen Gemütsbewegungen möglicherweise
verloren oder verdorben werden könne, ohne daß in Gemüt und Geist Zerstörung und
Umsturz die Folge wären.
Wer nur ein wenig in dieser sittlichen Art von Architektonik bewandert ist, wird das innere
Gefüge so abgestimmt und das Ganze so geschickt gebaut finden, daß es ausreicht, wenn nur
eine einzige Leidenschaft, die sich zu breit macht oder zu lang anhält, genügt, nicht wieder
gut zu machendes Chaos und Elend herbeizuführen. Er wird diese Erfahrung in den Fällen
von gewöhnlichem Wahnsinn und Verrücktheit machen können, wenn der Geist, der sich zu
lange mit einem einzigen Gegenstand (gleich ob Glück oder Unglück verheißend) beschäftigt,
unter dem Gewicht dieser Beschäftigung zusammensinkt und damit den Beweis liefert, wie
notwendig eine ausgewogene Balance mit Gegengewichten im System der
Gemütsbewegungen ist. Er wird ferner herausfinden, daß bei den verschiedenen Arten von
Geschöpfen und auch bei den Geschlechtern eine verschiedene und deutlich unterschiedene
Ordnung, Richtung und
135 Abfolge der Gefühle besteht, die der jeweiligen Lebensordnung, den verschiedenen
Funktionen und Fähigkeiten entspricht, die jeweils artgemäß sind. So wie die Verrichtungen
und Wirkungen verschieden sind, so sind auch die Triebfedern und Ursachen in jedem System
verschieden. Das innere Uhrwerk paßt zu den äußeren Handlungen und Leistungen. Wo also
Gewohnheiten und Neigungen aus ihrer Lage gebracht, versetzt oder vertauscht sind, wo
solche, die der einen Gattung zugehörig sind, mit denen einer anderen vermischt sind, da
müssen mit Notwendigkeit innere Verwirrungen und Störungen eintreten.
All dies können wir leicht beobachten, wenn wir vollkommenere Naturen mit weniger
vollkommenen vergleichen, solchen etwa, die von Geburt an unvollkommen sind, weil sie bei
ihrer frühesten Gestaltung und schon in der Gebärmutter geschädigt wurden. Wir wissen, wie
es sich mit Mißgeburten verhält, die sich aus verschiedenen Arten oder verschiedenen
Geschlechtern zusammensetzen.
Und diejenigen sind ja nicht weniger Mißgeburten, die in ihrem Inneren mißgestaltet oder
unförmig sind. Die niedrig stehenden Tiere erscheinen unnatürlich und monströs, wenn sie die
ihnen eigenen Instinkte verlieren, ihresgleichen im Stich lassen, ihre Nachkommenschaft
vernachlässigen und die ihnen von Natur verliehenen Funktionen oder Fähigkeiten
pervertieren. Wie erbärmlich muß es daher vor allen anderen Geschöpfen beim Menschen
bestellt sein, wenn er jenen Sinn und jenes Gefühl verliert, welche ihm als Menschen
eigentümlich sind und zu seiner Artung und Anlage passen? Welch ein Unglück muß es für
ein Wesen sein, das mehr als irgendein anderes von der Gesellschaft abhängt, wenn es die
natürliche Neigung verliert, die es dazu antreibt, das Wohl und Interesse seiner Gattung und
Gemeinschaft zu fördern? So groß ist in der Tat der natürliche Anteil des Menschen an dieser
Neigung, daß er am wenigsten unter allen anderen Wesen fähig ist, Einsamkeit zu ertragen.
Auch ist wohl nichts klarer, als daß die soziale Neigung bei jedem Menschen von Natur aus
so stark ist, daß sie ihn antreibt, vertrauten Umgang und Freundschaft mit seinen
Mitmenschen zu suchen. In dieser Umgebung gibt er Gefühlen nach und läßt Wünschen die
Zügel, die er auch durch inneres Ringen oder inneren Zwang kaum zurückhalten kann;
136 oder, wenn ihm dies doch gelingt, so erzeugt das mit Sicherheit Traurigkeit,
Niedergeschlagenheit und Melancholie in seinem Gemüt. Denn wer ungesellig ist und aus
freiem Willen Gemeinschaft oder Verkehr mit der Welt meidet, muß notwendig grämlich und
bösartig sein. Wer andererseits durch Gewalt oder Zufall von der Welt ferngehalten wird, der
wird in seinem Gemüt die üblen Wirkungen solchen Zwanges verspüren. Wenn diese
Neigung unterdrückt wird, erzeugt sie Unzufriedenheit, im gegenteiligen Falle jedoch
heilende und belebende Freude, wenn sie Freiheit und vollen Spielraum hat. Dies können wir
besonders sehen, wenn sich nach einer Zeit der Einsamkeit und langer Abwesenheit das Herz
öffnet, die Seele sich von ihrer Last befreit und ihre innersten Geheimnisse einem vertrauten
Freunde offenbart.
Noch bemerkenswertere Belege dafür sehen wir bei Menschen in den höchsten Stellungen,
selbst bei Fürsten, Monarchen und solchen, die durch ihren Stand über den Verkehr mit
gewöhnlichen Menschen erhaben zu sein scheinen und eine Art von kühler Zurückhaltung
gegenüber anderen Menschen zur Schau tragen. Aber deren Verhalten ist nicht gegenüber
allen Menschen gleich. Sicherlich werden die Weiseren und Besseren als ungeeignet für
Intimität und Vertraulichkeit häufig auf Distanz gehalten. Aber zum Ausgleich läßt man an
deren Stelle andere als Ersatz treten, die, obwohl sie es kaum verdienen und vielleicht sogar
zu den nichtswürdigsten und verächtlichsten Menschen gehören, dennoch zum Zwecke einer
eingebildeten Freundschaft genügen und förmlich zu Günstlingen werden. Das sind dann die
Objekte der Menschenliebe bei den Großen. Für solche sehen wir sie oft in Sorge und
Kummer, auf solche vertrauen sie leicht, und solche können sie mit Vergnügen an ihrer Macht
und Größe teilnehmen lassen, zu ihnen sind sie offen, frei, großmütig, vertrauensvoll und
großzügig, wobei sie sich daran selber freuen, ohne weitere Absichten und Zwecke dabei zu
haben und obwohl ihr politisches Interesse sie oft gerade in die entgegengesetzte Richtung
weist. Wo aber weder Liebe zu den Menschen noch die Neigung .zu Günstlingen vorherrscht,
wird sich unfehlbar das tyrannische Temperament in seinen wahren Farben und naturgetreu in
aller Schärfe, Grausamkeit und an dem Mißtrauen zeigen, die einem derartigen einsamen und
düsteren Zustand
137 unmitteilsamer und unfreundlicher Größe eigen sind. Es bedarf wohl kaum besonderer
Beweise aus der Geschichte oder der gegenwärtigen Zeit, um diese Feststellungen zu belegen.
Aus alledem mag klar geworden sein, wie sehr die natürliche Gemütsbewegung in uns
vorherrscht, wie tief sie innerlich zu uns gehört und unserer Natur eingepflanzt ist, wie sehr
sie mit unseren anderen Gefühlen und Leidenschaften verwoben und wie wesentlich sie für
den regelmäßigen Fluß und Verlauf unserer Gemütsbewegungen ist, von denen unser Glück
und die Freude an uns selbst so unmittelbar abhängen.
Und so haben wir nun folgendes bewiesen: Zum einen, wer die natürlichen und guten
Gemütsbewegungen besitzt, hat schon das entscheidende Mittel und Vermögen, sich an sich
selbst zu freuen. Zum anderen, wem sie fehlen, ist gewiß elend und unglücklich.
ABSCHNITT II
Wir haben jetzt zu beweisen, daß ein Geschöpf dadurch unglücklich wird, daß seine auf das
eigene Wohl gerichteten Gemütsbewegungen zu heftig und zu stark sind.
Dazu müssen wir, um methodisch zu sein, diejenigen intimen Gemütsbewegungen aufzählen,
die sich auf das individuelle Wohl oder die eigene Organisation des Geschöpfes beziehen, wie
etwa Liebe zum Leben, Groll über erlittenes Unrecht, Lust oder Begierde nach Nahrung und
dem Zeugungsakt, Eigennutz oder Streben nach all den Gütern, die uns eine gute Versorgung
gewähren und sichern, Ehrgeiz oder Verlangen nach Ruhm und Ehren, Trägheit oder
Verlangen nach Gemächlichkeit und Ruhe. Dies sind die Gemütsbewegungen, die sich auf
das individuelle System beziehen und alles das ausmachen, was wir Eigennützigkeit oder
Selbstliebe nennen.
138 Wenn nun diese Neigungen mäßig sind und innerhalb gewisser Grenzen bleiben, so
sind sie weder dem sozialen Leben nachteilig noch ein Hindernis für die Tugend; sind sie aber
in extremem Maße vorhanden, so fuhren sie zu Feigheit, Rachsucht, Zügellosigkeit, Geiz,
Eitelkeit und Ehrsucht, Faulheit, und man muß sie als solche für lasterhaft und übel in Bezug
auf die menschliche Gesellschaft erklären. Wie sehr sie auch für die Betreffenden selbst
ebenso wie für die Allgemeinheit böse und von Nachteil sind, werden wir in Betracht ziehen,
wenn wir jede einzelne gesondert untersuchen. (...)
(Auf diese Weise werden besprochen:
Liebe zum Leben, Zorn, sinnliche Leidenschaften, Luxus, Besitzstreben, Trägheit, Ehrgeiz,
Selbstsucht)
Abschnitt III
153 Die Leidenschaften also, die wir als letzte zu untersuchen haben, sind diejenigen, die
weder auf ein öffentliches noch auf ein privates Wohl gerichtet sind und weder der ganzen
Gattung noch dem einzelnen Geschöpf zum Vorteil gereichen. Diese nennen wir im
Unterschied zu den sozialen oder natürlichen die unnatürlichen Gemütsbewegungen. (...)
(Es werden besprochen: Grausamkeit, Bosheit, Schadenfreude, Neid, Ungeselligkeit,
Menschenhaß, Aberglaube, sexuelle Perversionen, Arroganz, Tyrannei, Treulosigkeit,
Undankbarkeit)
157 Was nun die Folgen dieses unnatürlichen Zustands hinsichtlich des Eigeninteresses
und der allgemeinen Lebensumstände betrifft und auf welchem Fuße jemand, der alles, was
wir Natur nennen, auf die erwähnte Art eingebüßt hat, zur menschlichen Gesellschaft stehen
mag, wie er sich in dieser fühlen wird, wie er selbst seine Einstellung gegenüber anderen und
umgekehrt die der anderen zu ihm empfindet, all das kann man sich leicht vorstellen.
Welche Freude oder Ruhe gibt es für den, der sich nicht verdienter Zuneigung oder Liebe
bewußt sein kann, sondern im Gegenteil Groll und Haß von jedem menschlichen Wesen
erfährt? Welch günstigen
158 Nährboden für Schrecken und Verzweiflung muß dies abgeben! Welche Grundlage für
Furcht und ständigen Argwohn gegen die Menschen und die höheren Mächte! Wie stark und
tief muß die Melancholie sein, die, einmal in Gang gesetzt, nichts Sanftes oder Erfreuliches
von seiten guter Freunde erwarten kann, das sie lindern oder ablenken könnte! Wohin auch
immer ein solches Geschöpf sich wendet, wohin es auch blickt, alles muß ihm düster und
schrecklich erscheinen, alles feindlich und gewissermaßen gegen ein individuelles und
einzelnes Wesen gerichtet, das von allen anderen abgeschnitten ist und in Feindschaft und
Krieg mit der Natur lebt.
So kann eine Seele schließlich zur Wildnis werden, in der alles verwüstet, alles Schöne und
Anmutige ausgerottet und nur noch Wildes und Häßliches vorhanden ist. Wenn nun
Ausweisung aus dem eigenen Vaterland, Verbannung nach einem fremden Ort oder was sonst
gleichbedeutend mit Einsamkeit oder Verlassenheit ist, so schwer zu ertragen ist, wie muß
dann das Gefühl dieser inneren Verbannung, dieser tatsächlichen Entfremdung von allem
menschlichen Umgang sein, sich in der angesprochenen Weise in einer Art von Wüste und in
der schrecklichsten aller Einsamkeiten zu befinden, selbst dann, wenn man inmitten
menschlicher Gesellschaft ist? Wie muß es sich leben in dieser Disharmonie mit allem und
jedem, diesem Unfrieden und dieser unversöhnlichen Opposition gegenüber der Ordnung und
Regierung des Universums?
Aus alledem scheint klar: das größte Elend begleitet den Zustand, der vom Verlust der
natürlichen Gemütsbewegungen herrührt. Und ferner: jene abscheulichen, monströsen und
unnatürlichen Gemütsbewegungen zu besitzen, heißt im höchsten Grade elend sein.
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