PD Dr. Wolfgang Schindler. Proseminar „Morphologie“. Morphologische Analyse (Ergänzendes). Seite 1 Dies ist ergänzend zur Musteranalyse in meinem Morphologiehandout (am Ende) zu verstehen und soll noch etwas expliziter machen, welche Analyseangaben in meinen Klausuren und gegebenenfalls in anderen Prüfungstypen (ZP, Staatsexamen etc.) erwartet werden. 1. Kategorisierung aller einfachen und komplexen morphologischen Einheiten/Formen (auch der allerobersten (Text-)Form) = Angabe der Wortarten, der Affixsubklassen, von Konfix, Fuge etc. Bei Wortformen mit Flexion: Angabe aller Flexionskategorien Bei Wortbildungen: 2. Wortbildungssemantik: Angabe einer Wortbildungsparaphrase (fortgeschritten zudem: Angabe des semantischen WB-Typs, sofern es sich um einen häufiger vorkommenden Typ handelt (m. a. W. erwarte ich nicht, dass Sie seltene semantische Typen benennen), z. B. Nomen Actionis, Nomen Agentis, ornativ, diminutiv, ...) und ggf. Anmerkungen zur (leichteren/mäßigen) Idiomatisierung.1 3. Wortbildungstyp 4. (gegebenenfalls) Auffälligkeiten wie Ablaut, Umlaut, Tilgung, Akzentverschiebung. Ggf. semantische Effekte (kann man aber auch unter 2. anführen) wie Huperei, -erei mit negativer Konnotation. Sollten Sie bei einer speziellen Analyse von sich aus etwas Interessantes hinzufügen wollen – nur zu! Das kann nie schaden! Eventuell zusätzlich (mit abnehmender Erwartbarkeit) 1. Eventuell die Angabe von frei – gebunden und lexikalisch – grammatisch bei allen einfachen Formen = Morphemen, also bei {Haus} und {Tür}, aber nicht bei Haustür. 2. Eventuell die Angabe der morphologischen Mittel (MM) wie Affigierung, Mutation, Kürzung etc. 3. Eventuell bei determinativen Komposita Grundwort (GW) und Bestimmungswort (BW) 4. Eventuell Angabe paralleler Wortbildungen nach dem Muster: ent+gift(en), dazu vergift(en) bzw. entkern(en) 5. Eventuell Angabe der Produktivität des Wortbildungstyps: produktiv, aktiv, unproduktiv) 1 Z. B. Haustür: eigentlich ‚Tür eines Hauses’, jedoch heute mäßig idiomatisiert, da nicht mehr jede x-beliebige Tür eines Hauses bezeichnend, vgl. eine Tür zum Hinterhof oder in den Garten. – Bei stärkerer Idiomatisierung genügt es, die Bildungssemantik als „idiomatisiert“ zu beschreiben. Das ist z. B. nicht selten bei (älteren) Präfixverben der Fall, man unterscheide aber ent+schlummer-n, ‚zu schlummern beginnen’ (inchoativ, wogegen schlummer-n imperfektiv ist wie schlaf-en, dazu das Inchoativum ein+schlaf-en) und ent+steh-en, das idiomatisiert ist, weil man nicht mehr recht sagen kann, inwiefern steh-en modifiziert wird. PD Dr. Wolfgang Schindler. Proseminar „Morphologie“. Morphologische Analyse (Ergänzendes). Seite 2 Analysebeispiel: Ihr sonnenuntergangsroter Haarschopf gefiel ihm sonnenuntergangsroter sonnenuntergangsrot Sonnenuntergangs Sonnenuntergang Sonnen Sonne -er rot -s Untergang -n untergang untergeh unter geh Schritt 1 (nicht vergessen): Beschreibung der zu analysierenden Wortform (Textform bzw. angegebene Form) sonnenuntergangsroter 1. Kategorie: Adj Falls flektiert wie hier, dann zusätzlich: 2. Flexionskategorien: Kasus: Nom., Numerus: Sg. Genus: Mask., Komparationsstufe: Positiv, Art der (artikelabhängigen) Adjektivflexion: stark (bzw. gemischt – je nach Ansatz)2 >> kurz: Nom.Sg.Mask.Pos.st. (bzw. gem.) Schritt 2 (erster Zerlegungsschritt, hier Flexionsanalyse) sonnenuntergangsrot + -er 1. Kategorien: Adj sonnenuntergangsrot 2 Manche arbeiten nur mit stark vs. schwach. Traditionell wird in stark – gemischt – schwach unterschieden. PD Dr. Wolfgang Schindler. Proseminar „Morphologie“. Morphologische Analyse (Ergänzendes). Seite 3 Flex-Suf -er (gebundenes grammatisches Morphem)3 (Morph. Mittel (MM): Affigierung) Anm.: Man kann bei Flex-Suf die Flexionskategorien wiederholen; mir genügt es jedoch, wenn sie einmal unter Schritt 1 oder unter Schritt 2 genannt werden. Schritt 3 (zweiter Zerlegungsschritt, hier Beginn der WB-Analyse) sonnenuntergangs + rot 1. Kategorien: N-Kompositionsstammform Sonnenuntergangs Adj rot (GW; freies lexikalisches Morphem) 2. Semantik: ‚rot wie ein Sonnenuntergang’ (vergleichend) 3. WB-Typ: Determinativkompositum (MM: Komposition/Konkatenation) (Komposition N + Adj: produktiv) (parallele Bildungen: rosenrot, sonnenuntergangsgelb) Schritt 4 Sonnenuntergang + -s 1. Kategorien: N(mask) Sonnenuntergang (BW) paradigmatisches Fugenelement –s (gebunden? grammatisch?)4 Bildung der Kompositionsstammform5 Schritt 5 Sonnen + Untergang 1. Kategorien: N-Kompositionsstammform Sonnen N(mask) Untergang (GW) 2. Semantik: ‚Untergang der Sonne’ 3. WB-Typ: Determinativkompositum (MM: Komposition/Konkatenation) (Komposition N + N: produktiv) (parallele Bildungen: Sonnenschein, Monduntergang) Schritt 6 Sonne + -n 1. Kategorien: N(fem) Sonne Fugenelement –n6 3 4 5 6 (frei, lexikalisch) (BW) (gebunden? grammatisch?) Die in Arial gesetzten und eingeklammerten Angaben können Sie bei mir anführen oder auch weglassen (ich gebe dafür keine Punkte, aber sie „stören“ mich auch nicht). Ich halte nicht viel davon. Aber für Prüfungen (ZP, Abschlussprüfung, Examen etc.) anderswo empfehle ich, diese Angaben zu machen. Hat eine Fuge Morphemstatus? Bedeutet sie etwas? MM? Den Fugen wird von einem Teil der Morphologen eine Bedeutung und damit der Morphemstatus abgesprochen! Also wären es keine Morpheme (bzw. Allomorphe eines „Fugen-Morphems“). Andererseits Ähnlichkeit mit dem MM Affigierung. Oder vielleicht als Kompromiss bis zur endgültigen Abklärung: MM „Verfugung“? Das –n stammt von dem alten Gen.Sg. z. B. in der sonnen untergang (nhd. der Untergang der Sonne). Synchron könnte man das –n dem Pluralparadigma zuordnen, jedoch geht bei uns (Rauschphänomene ausgenommen) in der Regel nur eine Sonne unter. Also, was tun? PD Dr. Wolfgang Schindler. Proseminar „Morphologie“. Morphologische Analyse (Ergänzendes). Seite 4 Bildung der Kompositionsstammform Schritt 7 unter(ge)gang(en) → Untergang 1. Kategorien: Konversionsbasis: Partizipialstamm des st. V untergeh = untergang Konversionsprodukt: N(mask) Untergang 2. Semantik: ‚Vorgang, wenn x (= Sonne) untergeht’, n. actionis 3. WB-Typ: Konversion, Ablautbildung (MM: Mutation) (Ablautkonversion V → N: aktiv? – oder unproduktiv?)7 4. Auffälliges: Ablaut <e> → <a> (parallele Bildungen: aufgeh → Aufgang, umgeh → Umgang) Schritt 8 unter geh 1. Kategorien: Verbpartikel (trennbar) unter (frei, grammatisch)8 Verb(stamm) geh (gebunden,9 lexikalisch) 2. Semantik: ?‚so gehen, dass x (= Sonne) unter y (= Horizont) ist’ 3. WB-Typ: Partikelverbbildung (MM: Komposition?/Konkatenation?)10 (Partikelverbbildung Typ „präpositionale Verbpartikel + V“: produktiv) (parallele Bildungen: aufgeh, ˈunterstell) 7 8 9 10 An sich ein historischer Typus, dessen damalige Bildungsprodukte immer noch (in größerer Zahl) im Lexikon verweilen. Andererseits lassen sich Analogiebildungen? / neue Konversionen? gelegentlich erzeugen: Beflug, Wildabbiß, Abfraß, Überflug, Reifenabrieb. Wobei darüber nachzudenken wäre, ob man Präpositionen subklassifizieren müsste in grammatische (wie beim PO denken [an NP] etc.) und lexikalische wie evtl. auf, unter, die lokale Relationen zwischen zwei Entitäten angeben. (Die Sonne geht quasi „unter den Horizont“.) Hier wird der Meinung gefolgt, dass Verbstämme grundsätzlich gebunden seien (auch wenn ich das selbst nicht ganz „glaube“). Ist die Partikelverbbildung morphologisch als Komposition aufzufassen? Partikelverben sind insofern problematische Bildungen, als sie teils syntaktische (u. a. Trennbarkeit, Klammerbildung), teils morphologische Eigenschaften aufweisen.