Dr. W. Schindler. Zur Erkennung und Einstufung von Konfixen. PS/HS Morphologie. Seite 1 Das Konfix1 1 Vororientierung Konfixe gehören zu den gebundenen Morphemen bzw., mit anderen Worten, sämtliche Allomorphe eines Konfixes sind gebunden. Der Prototyp des Konfixes ist eine entlehnte Wortform griechischer bzw. lateinischer Herkunft (elektr-, -therm-, -lekt). Freie Morpheme sind mindestens einmal alle unflektierbaren Wörter (gestern, heute, wegen, nachdem etc.). Wenn man nicht einer Nullaffigierungstheorie anhängt (in der z. B. analog zu den Bild-er-n bild-PL-DAT dann der Bild-er-ø bild-PL-GEN mit „Kasusnullsuffix“ anzusetzen wäre), kann man auch Substantive und Adjektive (prädikativer, adverbialer Gebrauch!) als freie Morpheme ansehen. Bei Verben erscheinen die Verhältnisse schwieriger (vgl. Lach/Lache//*Rechn/Rechne/*Ess/Iss!). 2 Übersicht: Morpheme bzgl. [frei/gebunden] - frei: Tag, Haus, alt - gebunden: (i) Him- (unikales M.); (ii) Schwieger-/Stief-/Zimper- (Natives Präkonfix? Gebundenes Wort? Eventuell als außer Gebrauch kommende Lexeme anzusehen, deren Endstadium das unikale Morphem sein könnte (aber nicht muss)); (iii) -haft, un- (native Affixe); schließlich (iv) entlehnte Elemente wie -therm-, elektr-, ident-, -mat, -krat, -itis, anti-, ex-, exo- (Konfixe, Lehnaffixe) 3 Entlehnungen und Konfixmerkmale Das morphologische Lehngut lässt sich grob wie folgt aufteilen: - Lehnwörter (Bibliothek, Chauffeur, Computer) - Konfixe (elektr-, ident-, -therm-, -phob, -aholic) - Lehnaffixe (a-, ex-; -esk, -ität) Wörter erkennt man an ihrer syntaktischen Selbstständigkeit (Der Computer ist ...), sie können beispielsweise syntaktische Phrasenköpfe sein etc. Somit stellen sie meist kein Problem dar. Doch wie trenne ich die die syntaktisch unselbstständigen Lehnaffixe von den Konfixen? Problem: Die nachfolgenden Tests lassen sich mit "angelsächsischem" Material wohl nicht oder nur teilweise durchführen, vgl. z. B. cyber-, Kino-(a)holic, Kino-tainment, Tor-minator (Konfixe sind vermutlich nur cyber- und -(a)holic, während Spar-/Tor-/Tour-minator eventuell durch Kontamination/Einkreuzung entstanden sind, aber auch hier ist mehr Datenanalyse nötig). Es heißt nicht *Cyberonaut, sondern Cybernaut. Immerhin ist bei cyberdie Basisfähigkeit überprüfbar: cyber-isier-t, cyber-isier-en. 1 In dieses Papier fließen Überlegungen mit ein, die in den Magisterarbeiten (LMU, Inst. f. Deut. Philologie, Germanist. Linguistik) von Johannes Aschenbrenner und Christian Ebert sowie in der Zulassungsarbeit von Jakob Gehlen entwickelt wurden! Dr. W. Schindler. Zur Erkennung und Einstufung von Konfixen. PS/HS Morphologie. Seite 2 3.1 Der Distributionstest (sowohl X+Y als auch Z+X) Wenn ein Lehnelement in Voran- wie in Nachstellung auftreten kann (bei vergleichbarer Bedeutung), dann ist es ein Konfix: Thermohose, endotherm. Argument: Affixe treten ausschließlich links (Präfixe) oder rechts (Suffixe) oder als Zirkumfixe auf. Sie sind strikt positional gebunden, so dass „Ambifixe“ (anders z. B. Ambipositionen wie wegen in wegen des Preises und, gehoben, des Preises wegen) wohl nicht existieren. (Das sollte man zur Absicherung noch sprachtypologisch überprüfen.) 3.2 Der Suffix-Test (X + -isch/-ier/-ität/...) Wenn das Lehnelement nur vorangestellt (als Erstelement der Bildung) auftreten kann, aber mit eindeutigen Suffixen kombinierbar ist, dann ist es [basisfähig] und ein (Prä-)Konfix. Beispiele: cyber-isier, elektr-isch, faszin-ier, Ident-ität, ident-isch, kosm-isch, psych-isch. Argument: Bildungen des Typs *Affix+Affix werden in der Morphologie in der Regel abgelehnt. Es muss immer eine Basis und ein Affix in eine Bildung (Derivation) eingehen, bei X+Suffix muss links also ein Basiselement vorliegen. 3.3 Der Test mit der o-Fuge (bei angelsächsischen „Verdächtigen“ nicht anwendbar) 3.3.1. Wenn ein Lehnelement links mit einer o-Fuge kombinierbar ist, dann handelt es sich um ein (Prä-)Konfix, vgl. Elektr-o+motor, faszin-o+gen (Peter Sloterdijk), Kosm-o+polit/naut, Psych-o+onkel. 3.3.2. Kann man ein rechts anzuordnendes Element wenigstens einmal mit einem Linkselement mit o-Fuge kombinieren, dann ist das Rechtselement ein (Post-)Konfix. Beispiele: Elektr-o+thek, therm-o+phil (wärme-FUG+liebend), cancer-o+gen (krebs-FUGerzeugend); anders: Apostroph(*o)+itis. Problem: Das "o" ist möglicherweise aus rein phonologischen Gründen ausgeschlossen! Problem: Das Vorkommen einer -o-Fuge ist (bei der Bildung eines Kompositionsstammes) möglicherweise (empirische Frage Materialuntersuchung) nicht ganz so systematisch, dass hieraus ein sicherer Test gewonnen werden kann (man findet Merkelkratie und Merkelokratie, Peri(*o)skop versus Stroboskop). Es müsste zudem genauer darauf gesehen werden, inwiefern -o phonologischen, z. B. den Silbenkontakt betreffenden bzw. metrischen Bedingungen folgt. Fallbeispiel: -itis ‚Krankheit’ (ursprünglich ‚Entzündung’) Wenn man das unsichere (!) Kriterium der lexikalischen (worthaft) versus grammatischen/funktionalen (Suffixe) Bedeutung betrachtet, müsste -itis eigentlich ein Postkonfix (ein „gebundenes Wort“) darstellen. Das Element kann aber nur ohne „o-Fuge“ auftreten: Apostroph(*o)itis, Telefon(*o)itis (oder mit Verb links Scheiß-er-itis, Dusch-er-itis). Gibt es die fugenlosen Versionen nun deshalb, weil -itis kein Postkonfix, sondern ein Lehnsuffix ist oder weil phonologische Gründe das „o“ ausschließen? Wenn man die Bildungen derm-at-isch ‚zur Haut gehörend’ und Derm-at-itis ‚HautEntzündung’ sowie Derm-at-o-loge und Derm-o-plastik ‚Plastik/Nachbildung mit Haut’ vergleicht, sieht man, dass die Verfugung mit -at bei -isch zur Derivationsstammbildung (vgl. Dr. W. Schindler. Zur Erkennung und Einstufung von Konfixen. PS/HS Morphologie. Seite 3 Eisenberg, Grundriß/ss, Band 1, Kap. zur Wortbildung) führt, so dass man -itis analog als Derivationssuffix einstufen dürfte! Es fällt auf, dass Fremdsuffixe fast immer vokalisch anlauten (-esk, -ität, -ismus, -oid), wogegen Fremdpostkonfixe aus den alten Sprachen (Altgr., Lat.) konsonantisch anlauten, z. B. -gen, -phil, -phob, -thek. Dem entspricht, dass sich Konfixe phonologisch wie Wörter verhalten, während Suffixe tendenziell keine eigenständigen phonologischen Wörter darstellen und phonologisch mit Material des voraufgehenden Basiselements fusionieren (vgl. E.lek.tro.+thek und e.lek.tr+isch). Das ist zwar kein scharfes Diagnoseinstrument, aber immerhin eine Daumen-mal-Pi-Hilfe, die sehr umsichtig anzuwenden ist. Völlig überzeugend ist dieses Verfahren allerdings nicht, denn im nativen Bereich sieht man, dass Suffixe sowohl phonologisch worthaft (-heit, -lich) als auch phonologisch unselbstständig sein können (-ig, -isch). Allerdings liegt die phonologische Worthaftigkeit zumindest bei –heit und –lich daran, dass hier ehemalige Kompositionselemente (früher: lîch ‚*Gestalt’, vgl. heute Leich(e)) vorliegen, die infolge eines Grammatikalisierungsvorgangs in die Kategorie der Suffixe übergegangen sind.