Achim Wahl August 2013 Die Lösung kann nur eine linke sein Zu den Ereignissen und Protesten in Brasilien Das Dilemma der Regierung Dilma Obwohl die PT die Wahl 2010 gewann und die Präsidentin stellte, musste sie eine breite Koalition, die Mitte-Links-Parteien umfasst, eingehen. Im Kongress und im Senat verfügt sie nicht mehr als über ein Drittel der Stimmen. Die Koalition besteht aus fünfzehn Parteien, von denen die Hälfte dem Mitte-Rechtsspektrum zuzuordnen ist. Damit sind in der Regierung Dilma neben Ministern der PT sowohl Minister neoliberaler Prägung als auch des Agrobusiness vertreten. Diese Regierung ist ein Spiegelbild des realen Kräfteverhältnisses der brasilianischen Gesellschaft. Für die Beurteilung der Situation in Brasilien scheint eine Einschätzung der Entwicklung des kapitalistischen Systems des Landes unerlässlich zu sein. In den Jahren der PT-Regierungen bildete sich eine neue Kapitalfraktion heraus, eine - wie sie in Brasilien benannt wird - interne Bourgeoisie mit eigenen politischen und ökonomischen Zielstellungen. Sie unterscheidet sich von alten Eliten, die sich immer den Interessen des internationalen Kapitals unterordnete. Diese Fraktion der brasilianischen Bourgeoisie unterstützt die Regierungsallianz, die ihrem Charakter nach heterogen und in sich widersprüchlich ist. Politisch wird sie repräsentiert durch die PT, die unteren Schichten der Mittelklasse und großen Teilen der Bauernschaft. Besonderem Druck ist die Regierung Dilma seit Ende 2012 durch das internationale spekulative Kapital ausgesetzt. Sie nahm einige Maßnahmen der Kontrolle des ausländischen, bes. des spekulativen Kapitals zurück, so u.a. wurde eine Erhöhung der Zinssätze vorgenommen. Die Wechselpolitik wurde zu Gunsten ausländischen Kapitals verändert. Über die Medien lief eine scharfe Kampagne gegen den Planungsminister Guido Mantega, einem Vertreter des Neodesarrollimus.1 Eine harte Auseinandersetzung findet im Moment um die Versteigerung von Parzellen/Abschnitten des Erdölfeldes Libra statt.2 Nach einem Gesetz aus dem Jahr 2010 hat der Staat das Vorrecht, Gewinne aus der Erdölproduktion für sich zu nutzen. Erlöse werden vom Staat für Bildung, Gesundheit; Wohnungsbau etc. eingesetzt. Von den Interessen ausländischer Ölkonzerne beeinflusst, sind diese Kräfte, auch solche in der Regierung Dilma, bestrebt zum alten Modell der Konzessionserteilung zurückzukehren. Das ist ein Beispiel für das Zurückweichen der Regierung, da sie dem Druck des Kapitals nachgibt. Die Regierung Dilma Rousseffs befindet sich inmitten der Auseinandersetzung, die zwischen den Kapitalfraktionen ausgetragen wird, und auch den Volkskräften, die weitere politische und wirtschaftliche Reformen fordern. Nicht wenige Vertreter linker Auffassungen haben auf die Möglichkeit der Zuspitzung dieser Auseinandersetzungen hingewiesen und betonen, dass sich die Regierung Dilma Rousseffs in einem Dilemma befindet. Es ist ein besonderer Moment in der Geschichte Brasiliens. Die alten und neuen Eliten üben ökonomisch weiterhin die Hegemonie in der Gesellschaft aus. Politisch und ethisch konnte die PT in der öffentlichen Meinung führen, da sie den Kampf Als Neodesarrollismus wird eine post-neoliberale Politik bezeichnet, die den Staat als wichtigen Akteur betrachtet und – wie im Falle Brasiliens – Sozialprogramme im Kampf gegen die Armut realisiert. 2 Es handelt sich um einen Teil des Tupi-Erdölvorkommens, das im Santosbecken liegt. 1 1 gegen soziale Misere und Armut aufnahm und mit den bisherigen Wahlsiegen die Vorherrschaft des Neoliberalismus in Frage stellte, dessen Auswirkungen aber nicht überwunden sind. Der Lulismus als politisches Phänomen Mit den von Lula realisierten Sozialprogrammen wurden ca. 40 Millionen Menschen aus der schlimmsten Armut geholt, die in die ohnehin stark differenzierte Mittelklasse aufrückten. Die neu entstandenen Schichten niedrigeren Einkommens sind politisch kaum organisiert und folgen in ihren Wahlentscheidungen häufig politischen Repräsentanten, die ihnen den sozialen Aufstieg ermöglichten. Über zwei Wahlperioden hinweg vermochte es die Regierung Lula, sich gegen den konservativen Block durchzusetzen. Sie war eine Regierung, „die die korporativen Interessen der Arbeiterschaft und der Unternehmer in Übereinstimmung brachte, konfliktierende Interessen vermittelte und verwaltete und eine Politik für die Gesellschaft formulierte.“3 Dieses Phänomen wird in Brasilien inzwischen als Lulismus bezeichnet. Er stellt eine starke Identifikation des Subproletariats mit der Person des Präsidenten dar. 2006 gehörten 47% der Wahlberechtigten dieser Bevölkerungsgruppe an. Das Paradoxe der Wahl im Jahre 2006: Das Wahlvolk teilte sich auf in Menschen mit niedrigen Einkommen und solchen der reicheren Schichten, die sich durch die Lula-Politik bevorteilt sahen. Lula realisierte eine äußerst pragmatische Politik eines Vermittlers zwischen den Klassen, die im Wesentlichen durch Dilma Rousseff fortgesetzt wird. In gewissem Sinne wurden durch diese Politik Volksbewegungen kooptiert, was ein Abflauen des Volkskampfers und eine Schwächung der sozialen Bewegungen nach sich zog. Damit wurde der eigentliche Konflikt, d.h. die weitere Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus in den Hintergrund gedrängt. Ein besonderer Moment in der Geschichte Brasiliens Die Proteste und großen Massendemonstrationen in den Monaten Juni und Juli, die in ihrer Mehrzahl friedlich verliefen, haben in Brasilien eine neue Situation geschaffen. Regierung, Medien und politische Parteien rechts wie links wurden vom Ausmaß der Mobilisierungen überrascht. Rund eine Million Menschen nahmen an den Protesten am 20. Juni teil. Ausgelöst durch die Bewegung „Movimento Passe Livre“, die die Forderung nach Rücknahme der Fahrpreiserhöhungen auf die Straße trug, und u. a in Sao Paulo durch den Gouverneur Alckmin (PSDB) und den Bürgermeister Fernando Haddad (PT) mit polizeilicher Gewalt beantwortet wurde, war das Signal zur Ausweitung der massenhaften Proteste. Brasilien ist nicht mehr so wie vorher. Die Proteste und Manifestationen sind Ausdruck sozialer Unzufriedenheit, die besonders die städtische Jugend erfasst hat. Sie sind eine Reaktion auf steigende Mieten, die durch Immobilienspekulationen hervorgerufen wurden. Löhne und Gehälter halten nicht mehr Schritt mit den steigenden Lebenshaltungskosten. Zu geringe Investitionen in öffentliche Dienstleistungen verschlechtern Bildungsmöglichkeiten und Gesundheitsfürsorge. In den großen städtischen Zentren sind die öffentlichen Verkehrsmittel im schlechten Zustand, so dass den arbeitenden Menschen Stunden im öffentliche Verkehr verloren gehen. 3 Conjuntura da Semana Especial. „A reorganização do capitalismo brasileiro”, IHU On-Line, 11.11.2009 2 Im Gegensatz zu diesen sozialen Explosionen in anderen Ländern Lateinameriks fanden und finden die sozialen Proteste in Brasilien nicht in einer Situation außerordentlicher Verschlechterung der sozialen Lage der Bevölkerung statt. Die Proteste sind vor allem Ausdruck der Unzufriedenheit mit dem existierenden politischen System, durch das sich eine Mehrheit nicht vertreten sieht. Auf die Straße gingen weniger die etablierte Mittelklasse, auch weniger die Arbeiter. Es waren v.a Jugendliche und Studenten, die in den 90-er Jahren der Durchsetzung des Neoliberalismus geboren wurden. Jener Teil der Mittelklasse, der weniger Anteil an den Sozialprogrammen hatte und sich in seinen Möglichkeiten eingeschränkt sieht, drückte durch seine Teilnahme an den Protesten seine Unzufriedenheit mit der Politik Lulas und Dilmas aus. Auf der Straße waren und sind nicht die Ärmsten, die von den sozialen Maßnahmen der PT-Regierungen (u.a. der Bolsa Familia) profitierten. Alles das macht sichtbar, welche Veränderungen sich in der Zusammensetzung der sozialen Basis des Landes, in der Bevölkerungsentwicklung (ca. 90% der Bevölkerung leben in Städten) und in der Klassenstruktur vollzogen haben. Die Proteste richten sich gegen Korruption und Verschleuderung von Volksvermögen, das in die Großprojekte der kommenden Fußballweltmeisterschaft und der Olympischen Spiele investiert wird. Protestiert wird gegen die Dominanz und Korruption großer Medienkonzerne wie dem „O Globo“ des Multimillionärs Roberto Marinho. Vorerst waren die Gewerkschaften an den Demonstrationen nicht beteiligt, hatten aber dann für den 11. Juli zu Protesten aufgerufen, die landesweit befolgt wurden. Ihre konkreten Forderungen: Mehr Investitionen in das Bildungs- und Gesundheitswesen (eingeschlossen die Befürwortung des Einsatzes kubanischer Ärzte, der von rechten Kräften und entsprechenden Ärztekorporationen heftig abgelehnt wird), Durchsetzung der 40-Stundenwoche, Durchführung einer politischen Reform und eines Plebiszits, Realisierung der überfälligen Agrarreform. Obwohl in den letzten Jahren die Anzahl der Streiks ständig zugenommen hatte und es immer wieder Aktivitäten und Proteste der Landlosenbewegungen, v.a. allem der MST, gab, war insgesamt ein Rückgang der Volksbewegungen zu verzeichnen. Die Explosion der sozialen Proteste in den letzten Monaten in Brasilien signalisieren eine erneute Aufwärtsbewegung und eine neue Welle sozialer und politischer Auseinandersetzungen. Die Regierung Dilma Rousseffs und die PT am Kreuzweg Das Modell des Neodesarrollismus, das eine Phase des Post-Neoliberalismus eingeleitet hatte, hat offenbar seine Möglichkeiten erschöpft. Zu den Unzulänglichkeiten dieser letzten Jahre zählen, dass strukturelle Reformen, eine politische Reform und v.a. auch die Agrarreform nicht durchgeführt wurden. Offensichtlich wird, dass die Massenproteste inhaltlich genau diese Fragen aufwerfen. Das sind aktuelle Paradoxien, die Brasilien zu bieten hat. Nach einer Zeit der Sprachlosigkeit und der Passivität ging Präsidentin Dilma in die Offensive und trat am 21. Juni im öffentlichen Fernsehen auf, unterstützte die Massenforderungen und schlug einen Nationalen Pakt vor, der fünf Vorschläge umfasst: 3 Durchführung eines Plebiszits über eine politische Reform. Maßnahmen gegen die Korruption, Investitionen in das Gesundheitswesen, Investitionen ins Transportsystem (50 Mrd. Reais) und mehr Investitionen ins Bildungswesen. Eine politische Reform würde eine konstitutionelle Veränderung erfordern, insbesondere die Annullierung der Finanzierung von Wahlkampagnen durch große Unternehmen, die Festschreibung von Volksplebisziten, die Absenkung der Zahl der Unterschriften in Volkskampagnen, die Abschaffung des Senates und neue Mechanismen für die direkte Partizipation des Volkes. Dilma äußerte sich positiv zur Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung. In einem Treffen mit Gouverneuren und Bürgermeistern versprach Präsidentin Dilma in Ergänzung zum Nationalen Pakt die Erarbeitung eines Nationalen Planes der öffentlichen Verkehrsmittel. Gleichzeitig versicherte sie, dass die Erlöse aus der Erdölproduktion 100-prozentig für die Verbesserung des Bildungswesens eingesetzt werden. Weiter sollen einige Tausend ausländische Ärzte zur Stabilisierung des Einheitlichen Gesundheitssystems angeworben werben. Präsidentin Dilma traf sich ebenfalls mit Vertretern der Bewegung „Movimento Passe Livre“, die unzufrieden mit der inhaltlichen Vorbereitung der Präsidentin waren. Allerdings konnte die Bewegung den Erfolg verbuchen, dass die Tariferhöhungen im öffentlichen Verkehr zurückgenommen wurden. Präsidentin Dilma verurteilte die während der Demonstrationen verübten Gewalttätigkeiten, ohne jedoch die Verursacher zu benennen, d.h. besonders auf die Gewalt seitens der Polizeikräfte einzugehen. Die Reaktion der Präsidentin auf die Ereignisse des Juni wurde in weiten Teilen der Linken und der demokratischen Öffentlichkeit positiv aufgenommen und als Schritt nach vorn gewertet. Die Ankündigung der Präsidentin kann Ausgangspunkt sein, die gegenwärtige Stagnation aufzubrechen und eine neue Phase der politischen Entwicklung einzuleiten. Das Land steht unter diesen Vorzeichen vor entscheidenden politischen Auseinandersetzungen. 1. Veränderung der politischen Strukturen und Durchführung eines Plebiszits zur Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung Kurz nach Bekanntwerden der Rede der Präsidentin im öffentlichen Fernsehen reagierte der Koalitionspartner PMDB (Partido do Movimento Democrático Brasileiro - Partei der Demokratischen Bewegung Brasiliens).4 Ihr Vorsitzender und Vizepräsident der Republik, Michel Temer, warnte Präsidentin Dilma sofort vor der Gefahr des Bruches der Koalition. Der Fraktionsvorsitzende der PMDB im Kongress, Eduardo Cunha, erklärte, dass der Kongress gegen ein Plebiszit sei. Den Vertretern der PMDB schloss sich die gesamte rechte Opposition an und lehnte das Ansinnen der Durchführung eines Plebiszits ab. Offensichtlich wird, dass die PT die Forderungen der Massen aufnehmen muss, um die Position der Präsidentin zu stärken und dem Druck der bürgerlichen Opposition zu begegnen. Gleichwohl reagierte Präsidentin Dilma mit Zugeständnissen an die PMDB, die ein Plebiszits auf ein Referendum reduzieren will, in dem nur Veränderungen des Wahlsystems zur Abstimmung stehen sollen. 2. Die Auseinandersetzung um die weitere Entwicklung der Volksbewegung 4 Die PMDB ist eine Partei der Mitte liberalen Charakters. Ihr Vorsitzender Michel Temer ist seit 2010 Vizepräsident Brasiliens. 4 Schon während der Protestbewegungen traten Kräfte auf, die sich gegen linke Forderungen und Demonstranten positionierten und versuchten, die Demonstranten gegen die PT-Regierung zu lenken. Provokateure traten in Aktion und organisierten gewaltsame Zwischenfälle. Rechte Medien, die anfangs die Bewegungen kriminalisiert hatten, stellten sich plötzlich „an die Seite“ der Volksbewegung und forderten „Weg mit der Regierung Dilma“. Die Möglichkeit, dass die Masse der Protestierenden durch Medien und Parteien beeinflusst werden kann, ist vorhanden. Die Gefahr, dass deren positiven und progressiven Forderungen, in eine Konfrontation mit der PT-Regierung verwandelt werden, ist gegeben. Zwei Szenarien erscheinen mit Blick auf die Positionierung der Bewegungen möglich: Die Opposition unter Führung der PSDB ((Partido da Social Democracia Brasileira – Sozialdemokratische Partei Brasiliens)5 wird versuchen, die Mobilisierungen zu beeinflussen. Das wird leichter möglich sein, wenn die Forderungen der Protestierenden nicht erfüllt werden und diese in stärkerem Maße auf der Straße zurückkehren. Offen ist, ob die Jugend der Mittelklasse die rechten Parteien als Alternative zur PT-Regierung betrachtet. Ein weiteres Szenarium ist denkbar, wenn die Protestierenden eine Alternative „außerhalb des existierenden Systems“ suchen. Die Ex-Senatorin Marina Silva 6 gründete im Februar 2013 eine eigene Partei „Netzwerk Nachhaltigkeit“, der durchaus 30% der Wählerstimmen der protestierenden Jugend zufallen könnten. Mit Blick auf das Wahljahr 2014 wird der Kampf um die Meinung „der Straße“ wesentlich die kommende Zeit beeinflussen. Medien und Oppositionsparteien werden alles daransetzen, eine Anti-PT und Anti-Dilma-Front zusammen zu bringen. Gelingt es der Linken und der PT, den Kurs auf Umsetzung des Nationalen Paktes zu konzentrieren, kann die gesamte Entwicklung in Richtung links verschoben werden. Die Zukunft dieser PT-Regierung wird von ihrer Fähigkeit abhängen, die Forderung der Protestierenden umzusetzen, um die in mehr als zehn Jahren Regierungen der PT erreichten politischen Veränderungen nicht aufs Spiel zu setzen. 3. Die Unwägbarkeiten der wirtschaftlichen Entwicklung In den Erklärungen der Präsidentin war – im Allgemeinen nicht sehr wahrgenommen – von „fiskalischer Verantwortung“ die Rede. Gemeint sind damit die wirtschaftliche Stabilität und die Kontrolle der Inflation. Die fiskalische Verantwortung ist in einem Gesetz von 2000 geregelt, wonach die Ausgeglichenheit des Staatsbudgets gegeben sein muss, die besonders durch eine Reduzierung der öffentlichen Ausgaben erreicht werden kann. Hinter dieser Bemerkung der Präsidenten versteckt sich die Befürchtung, dass die nun zugesagten Finanzmittel für soziale Programme, bes. für die öffentlichen Verkehrsmittel, negative Folgen, u.a. für die vorgesehenen Konzessionsvergaben für Straßen und Eisenbahn haben können, weil sich interessierte Investoren zurückziehen. Die Regierung, die gegenwärtig mit einem Wirtschaftswachstum von 0,6% im ersten Quartal ausgeht, rechnet mit neuen privaten Investitionen in das Verkehrswesen mit einem Wachstum 2014 von 3,5%, im Wahljahr 2014. Wenn Präsidentin Dilma die „fiskalische Verantwortung“ an den Anfang stellt, steht das im 5 Die PSDB (gegr. 1988) ist die Partei des ehemaligen Präsidenten Brasiliens Fernando Henrique Cardosos, der seine Politik im Sinne des Neoliberalismus und der herrschenden Eliten in den Jahren 1995 – 2002 realisierte. 6 Marina Silva war von 2003 – 2008 Ministerin für Umwelt, verließ die PT und gab den Ministerposten aus Protest gegen Lulas Umweltpolitik auf. Sie trat der PV (Partido Verde – Grüne Partei) bei, für die sie 2010 kandidierte. Sie errang 19,4% der Stimmen. Das war Platz drei hinter Dilma Rousseff und Serra, dem Kandidaten der PSDB. 5 Gegensatz zum Gesamtkonzept des Nationalen Paktes, der mit finanziellen Ausgaben für die sozialen Projekte verbunden ist. An Stelle der „fiskalischen Verantwortung“ braucht das Land ein Projekt der Entwicklung Brasiliens, das eine gerechte Verteilung des Reichtums, die nachhaltige Entwicklung seiner Industrie und der Abkehr von der neoliberalen Orthodoxie beinhaltet. Ihre Beibehaltung, auch eine partielle, versperrt den Weg grundlegender Veränderungen. Die Regierung steht mit diesen Entscheidungen an einem Kreuzweg. 4. Gelingt es der politischen und sozialen Linken neue Wege zu gehen? In der positiven Beurteilung der Reaktion der Präsidentin Dilma auf die Proteste stimmt die Mehrheit des linken Spektrums überein. Wie aber auf die Herausforderung, auf die konkreten Widersprüche in der Regierungskoalition zu reagieren ist, bleibt offen. Für Vertreter des linken Spektrums heißt es, der Regierung Unterstützung gegen die Widerstände aus der eigenen Koalition und der Opposition zu geben. Ein Zurück in neoliberale Zeiten muss ausgeschlossen werden. Die zentrale Frage bleibt die Umsetzung der Forderungen der Protestbewegung, struktureller Veränderungen und die Verhinderung der Vereinnahmung durch rechte und neo-konservative Kräfte. Zu verzeichnen ist eine Reihe von Aktivitäten, in denen sich soziale Bewegungen untereinander abstimmen, innerhalb der PT die linken Kräfte mobil machen, Treffen von Intellektuellen und Gespräche mit den neuen Bewegungen stattfinden, u.a. auch mit der Bewegung „Movimento Passe Livre“. Die Linke im Sinne der politischen und sozialen Linken war nicht auf die neuen Erscheinungen in den Bewegungen vorbereitet und hatte den Charakter dieser Bewegungen nicht erfasst. Dieser offenbarte sich in der Spontanität der Bewegung, die aber nicht unorganisiert erfolgte. Sie hat ihren Ausgangspunkt in sozialen Netzwerken, in denen konkrete Personen wirken. Sie üben direkte Demokratie, die im alltäglichen Leben der repräsentativen verloren ging. Die Linke in ihrer Gesamtheit muss alten Gewohnheiten überwinden und neue Wege gehen, um mit dieser Entwicklung Schritt zu halten. Für die PT beginnt ein Prozess des Lernens und der Überwindung des Lulismus. Für die Partei geht es um die Gestaltung der kommenden Zeit, die mit den bisherigen Mitteln der Wahlpartei nicht zu bewältigen ist. Das betrifft nicht nur die PT, sondern alle linken Kräfte, selbst diejenigen, die einen Anti-PT-Kurs gefahren haben. Die Einheit der politischen und sozialen Linke ist notwendiger denn je. Eine Veränderung der Strategie und der Aktivitäten ist erforderlich. Nur auf diesem Wege wird die Linke in der Lage sein, Tausende von Arbeitern der Stadt und des Landes, Tausende von Menschen der Peripherien der Städte und unterschiedlichsten gesellschaftlichen Kräfte gegen die Gegner des brasilianischen Volkes zu mobillisieren. 6