9. Das Parlament im politischen System Das politische System der Republik Österreich kann als "demokratischparlamentarisches System" charakterisiert werden. Darunter wird ein System verstanden, in welchem die staatliche Willensbildung von einem demokratisch gewählten Parlament maßgeblich gestaltet wird und das durch die Bestandsabhängigkeit der Regierung von der Volksvertretung gekennzeichnet ist. Dieser Wesenskern des parlamentarischen Systems ist in Österreich durch die ersten beiden Hauptstücke der Bundesverfassung, aber auch durch Art. 74 des Bundes-Verfassungsgesetzes gewährleistet, wo die "politische Ministerverantwortlichkeit", also die Möglichkeit eines Mißtrauensvotums des Nationalrates gegen die Bundesregierung oder einzelne ihrer Mitglieder verankert ist. Die politische Ministerverantwortlichkeit ist daher ein wesentliches Merkmal, welches das parlamentarische System der Republik Österreich vom politischen System der konstitutionellen Monarchie, wie es bis 1918 bestanden hat, grundsätzlich unterscheidet. Bis 1918 war die Regierung politisch allein dem Monarchen verantwortlich, und zwischen dem Parlament auf der einen und der Regierung auf der anderen Seite bestand jener Gegensatz, wie er der klassischen Gewaltenteilungsvorstellung entsprach: das Parlament stand in seiner Gesamtheit der Regierung gegenüber, setzte ihr in Form von Gesetzesbeschlüssen materiellrechtliche Vorgaben und kontrollierte deren Vollzug. Diese "Frontstellung" hat sich unter der Bedingung der politischen Ministerverantwortlichkeit grundlegend verändert: Unter dieser Bedingung kann eine Regierung in der Regel nur dann dauerhaft bestehen, wenn sie eine Mehrheit der Abgeordneten in der Volksvertretung hinter sich weiß. Es wird daher auch, wenn die Regierung nicht vom Parlament gewählt, sondern, wie dies in der Republik Österreich seit 1929 der Fall ist, vom Staatsoberhaupt bestellt wird, im allgemeinen überhaupt nur dann eine Regierung gebildet werden können, wenn ihr eine parlamentarische Mehrheit gesichert erscheint, und das bedeutet: wenn sie entweder von einer Fraktion, die über eine absolute Mehrheit an Mandaten verfügt, oder von einer Koalition von Fraktionen, die gemeinsam über eine solche Mehrheit verfügen, unterstützt wird. Die "Frontstellung" verläuft daher im parlamentarischen System nicht mehr, wie es der klassischen Gewaltenteilungslehre entspräche, zwischen Parlament und Regierung, sondern in wesentlichem Ausmaß auch zwischen der Regierung und der (bzw. den) sie unterstützenden Parlamentsfraktion(en) auf der einen und den oppositionellen Parlamentsfraktionen auf der anderen Seite. Dies hat mehrere Konsequenzen: Zunächst einmal kommt es bei der Wahrnehmung einer der zentralen Parlamentsfunktionen, nämlich jener der Kontrolle der Vollziehung, zu einer Verschiebung. Wenn die parlamentarische Mehrheit die Regierung von vornherein grundsätzlich unterstützt, kann von ihr kaum erwartet werden, daß sie die dem Parlament zur Verfügung stehenden Kontrollinstrumente mit aller Schärfe zum Einsatz bringt. Die Aufgabe der parlamentarischen Kontrolle fällt daher schwerpunktmäßig den oppositionellen Fraktionen zu, die jedoch, da sie eben nicht über die parlamentarische Mehrheit verfügen, nur jene Kontrollinstrumente nützen können, die auch einzelnen Abgeordneten bzw. einer Minderheit von Abgeordneten zustehen. Die Geschäftsordnungsentwicklung der letzten Jahrzehnte war daher unter anderem von einer schrittweisen Übertragung von einzelnen Kontrollrechten in die Verfügungsgewalt parlamentarischer Minderheiten geprägt. Noch zentraler als die Kontrollfunktion ist die Gesetzgebungsfunktion des Parlaments. Auch ihre Ausübung spiegelt die Wesenszüge des parlamentarischen Systems wider: Wenn die Regierung von einer parlamentarischen Mehrheit gebildet wird, dann ist die Regel, daß Regierungsfunktionen von politischen Spitzenvertretern dieser parlamentarischen Mehrheit übernommen werden. Dadurch ist gewährleistet, daß die politischen Grundsätze, zu denen sich die Abgeordneten der Mehrheitsfraktion(en) bekennen, bei der Gestaltung der Regierungspolitik, insbesondere aber auch bei der Formulierung der Gesetzesvorschläge, welche die Regierung dem Parlament zur Beschlußfassung vorlegt, Berücksichtigung finden. In weiterer Folge sichert dieser Umstand den genannten Gesetzesvorschlägen aber auch eine hohe Annahmewahrscheinlichkeit. Dadurch ist in vielen parlamentarischen Systemen der Eindruck entstanden, als hätte sich das Parlament seiner Gesetzgebungsfunktion selbst entäußert und sie materiell an die Regierung abgetreten. Der Triumph des Parlamentarismus, die vollziehende Gewalt an die gesetzgebende Gewalt zu binden, ist so scheinbar in das Gegenteil, nämlich eine Abhängigkeit des Parlaments von der Regierung, umgeschlagen. Tatsächlich ist diese materielle Konzentration der Vorbereitung von Gesetzen bei der Regierung jedoch eine notwendige, aus den eben dargelegten Gründen folgende Konsequenz der politischen Abhängigkeit der Regierung vom Parlament. Verstärkt wird diese Tendenz durch den Umstand, daß die Regierung nach wie vor in allen parlamentarischen Systemen über den die Vollziehung bildenden großen Behördenapparat verfügt, mit dem die parlamentarische Administration in keinem Staat der Welt auch nur annähernd vergleichbar ist, wobei die Tendenz der letzten Jahre dahin geht, auch die parlamentarische Infrastruktur auszubauen und zu verbessern. Diese Entwicklung findet auch in Österreich statt und hat gerade in jüngerer Vergangenheit zu einer stärkeren Verlagerung des inhaltlichen "Feinschliffs" an vielen Regierungsvorlagen hin zum Parlament geführt, insbesondere im Zuge der Beratungen der Ausschüsse bzw. der Unterausschüsse. Ein weiteres Charakteristikum des parlamentarischen Systems ist die große Bedeutung, die dem Bestehen festgefügter parlamentarischer Fraktionen für die Funktionsfähigkeit dieses Systems zukommt. Die Fraktionen des Parlaments der konstitutionellen Monarchie waren noch eher lose Vereinigungen von Abgeordneten mit verwandten politischen Ansichten, die sich in durchaus veränderlichen Konstellationen zusammenschlossen. Das Auseinanderbrechen und die Neubildung von Fraktionen auch inmitten einer parlamentarischen Funktionsperiode war damals durchaus die Regel. Für die politische Stabilität im parlamentarischen System wäre dies fatal, hier kommt klaren und stabilen parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen zentrale Bedeutung zu, ist doch von ihnen der Bestand der Regierung und die Kontinuität der Regierungsarbeit abhängig. Die Parlamentsfraktionen im parlamentarischen System sind daher keine Vereinigungen von Abgeordneten mehr, die sich erst im Parlament zusammenschließen, sondern sie sind der "parlamentarische Arm" außerhalb des Parlaments bestehender, organisatorisch festgefügter politischer Parteien. Die Herausbildung organisatorisch stabiler politischer Parteien war freilich darüber hinaus auch eine Folge der Einführung des allgemeinen Wahlrechts bzw. des Verhältniswahlrechts, das aufwendigere Wahlwerbungsaktivitäten notwendig machte, als sie bis dahin üblich gewesen waren; zu solchen Aktivitäten bedurften (und bedürfen) die Kandidaten der Unterstützung durch die Organisationsinfrastruktur einer politischen Partei. Darüber hinaus erfüllen politische Parteien die für die repräsentative Demokratie unverzichtbare Funktion, die Fülle von Einzelfragen, die politisch zu entscheiden sind, auf eine begrenzte Zahl abstimmbarer Alternativen zu reduzieren, die im wesentlichen in politischen Grundorientierungen bestehen, nach denen - dem Wählerwillen gemäß - für die Dauer einer Gesetzgebungsperiode die politischen Einzelfragen entschieden werden sollen. Die Kandidaten der einzelnen wahlwerbenden Parteien erhalten so, durch ihre Identifikation mit dem politischen Programm einer Partei, einen Wählerauftrag, an dem sie ihr Verhalten in Ausübung ihres Mandats zu orientieren haben. Freilich handelt es sich dabei um eine politische, keineswegs um eine rechtliche Verpflichtung: Der Grundsatz des "freien Mandats" schützt den einzelnen Abgeordneten vor jedem Zwang seitens seiner Partei, aber auch seiner Wählerschaft, sein Mandat in einem bestimmten Sinn auszuüben, etwa ein bestimmtes Abstimmungsverhalten zu setzen. Dennoch erweist die Erfahrung in allen parlamentarischen Systemen, daß die in einer Fraktion zusammengeschlossenen Abgeordneten in den meisten Fällen ein einheitliches Abstimmungsverhalten zeigen. Diese "Klubdisziplin" - oft als "Klubzwang" bezeichnet - ist nicht nur auf die bereits erwähnte, aus der gemeinsamen Kandidatur auf der Liste einer bestimmten politischen Partei ableitbare politische Verpflichtung zurückzuführen, an den gemeinsamen Grundsätzen festzuhalten, sondern darüber hinaus auch aus dem Erfordernis parlamentarischer "Arbeitsteilung" begründbar: die Vielzahl der zu behandelnden Materien gleichermaßen zu überschauen, wäre für den einzelnen Abgeordneten faktisch unmöglich. Dies macht eine systematische Trennung der Arbeitsgebiete der einzelnen Abgeordneten notwendig, die durch das parlamentarische Ausschußsystem - welches die tiefergehende inhaltliche Auseinandersetzung mit den Vorlagen in die Ausschüsse verlagert - unterstützt wird. In der Praxis wird daher die Abstimmungslinie der Mitglieder eines Klubs zu den einzelnen Vorlagen durch die Vertreter dieses Klubs in jenem Ausschuß vorgeprägt, welcher die Vorlage vorberaten hat. Freilich zeigt die österreichische Parlamentsstatistik in den letzten Jahren einen gewissen Rückgang der "Klubdisziplin"; so hat beispielsweise in verschiedenen Fällen eine Verpflichtung gegenüber dem jeweiligen Wahlkreis oder der Herkunftsregion Abgeordnete davon abgehalten, der Abstimmungslinie ihres Klubs zu folgen, was im übrigen eine "Normalisierung" im Sinne der Situation in anderen europäischen Parlamenten bedeutet und alle Fraktionen des österreichischen Nationalrates betrifft. Den politischen Parteien und ihren Parlamentsfraktionen kommt also nicht zuletzt die Aufgabe zu, die Komplexität der vielfältigen zu entscheidenden politischen Einzelfragen auf ein - zunächst für den Wähler, dann aber auch für den einzelnen Mandatar - überschaubares Maß zu reduzieren. Ihnen obliegt es, nicht nur die verschiedenen Sachargumente, sondern auch die verschiedenen gesellschaftlichen Interessen, die mit jeder Einzelfrage verknüpft sind, jeweils auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Während somit die Aggregation, die Zusammenführung der verschiedenen gesellschaftlichen Interessen eine wesentliche Aufgabe der politischen Parteien ist, wirken im politischen Prozeß auch die zur Vertretung der Interessen einzelner gesellschaftlicher Gruppen berufenen Organisationen aktiv mit. Möglichkeiten dafür sind in der informellen Beeinflussung von politischen Entscheidungsträgern, dem sogenannten "Lobbying", in der Teilnahme an formalisierten Verfahren, beispielsweise an Begutachtungsverfahren, aber auch in organisatorischen und personellen Verflechtungen mit politischen Parteien gegeben. In der Republik Österreich hat die formalisierte Einbindung von Interessenvertretungen in politische Entscheidungsprozesse eine besonders gut ausgebildete Tradition. Schon im vorparlamentarischen Raum kommt den Kammern ein Begutachtungsrecht zu Ministerialentwürfen von Gesetzesvorschlägen zu; erst nach einem formellen Begutachtungsverfahren wird der überarbeitete Ministerialentwurf dem Ministerrat und in der Folge als Ministerratsbeschluß dem Nationalrat zugeleitet, wo er als Regierungsvorlage in Verhandlung genommen wird. Die "Sozialpartnerschaft" der wichtigsten Interessenvertretungen hat seit den 50er Jahren ihre feststehende institutionelle Struktur und lange Zeit hindurch sehr starken inhaltlichen Einfluß auf den Gesetzgebungsprozeß ausgeübt; seit einigen Jahren ist allerdings ein Rückgang dieses Einflusses bzw. eine Konzentration auf die Kernbereiche der Wirtschafts- und Sozialpolitik feststellbar. Auch der Anteil von Funktionären und Bediensteten von Interessenvertretungen an der Gesamtzahl der Abgeordneten ist deutlich zurückgegangen. Im parlamentarischen Verfahren werden allerdings Vertreter von Interessenvertretungen weiterhin häufig von Ausschüssen als Auskunftspersonen zu bestimmten Sachfragen gehört. Die Vielzahl organisierter gesellschaftlicher Interessen im modernen Staat einerseits, die Komplexität der in diesem Staat zu regelnden Sachmaterien andererseits hat in den letzten Jahrzehnten zu einem Phänomen geführt, das unter dem Schlagwort "Gesetzesflut" zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion geworden ist: Die Fülle der Rechtsnormen - nicht nur der Gesetze, sondern vor allem auch der diese ausführenden Verordnungen sowie der Staatsverträge - läßt das Rechtssystem für den einzelnen kaum mehr überblickbar erscheinen. Hinzu kommt noch die von vielen als unverständlich empfundene Rechtssprache sowie Rechtsetzungstechnik - z.B. der Novellierungen -, welche das Verständnis der Rechtsnormen erschweren. Während Rechtssprache und Rechtsetzungstechnik verbessert werden können - in der Republik Österreich ist diesbezüglich in den letzten Jahren viel Problembewußtsein geschaffen worden -, scheint das Problem der Regelungsdichte und der Regelungstiefe kaum lösbar, vielmehr mit dem Leistungsstaat und mit der pluralistischen Demokratie aufs engste verbunden. Wo viele Regelungsbedürfnisse artikuliert werden können und politisch rezipiert werden, dort werden auch viele Regelungen getroffen werden müssen. Und sollen diese Regelungen den Regelungszielen adäquat sein, so werden sie angesichts der Komplexität vieler Probleme der technisch-industriellen Welt und der modernen Gesellschaft auch ausreichend differenziert sein müssen, wenn man nicht ein hohes Maß an Entscheidungsgewalt und Gestaltungsspielraum vom Gesetzgeber auf die Vollziehung (Behörden) übertragen will. Das Parlament als das Organ der staatlichen Willensbildung ist somit das zentrale Organ, der Angelpunkt im modernen politischen System der parlamentarischen Demokratie. Durch den Wahlakt entscheidet das Volk über die Zusammensetzung der Volksvertretung und damit über die politischen Grundsätze, nach denen der staatliche Wille für die Dauer der Gesetzgebungsperiode gebildet werden soll, zugleich aber auch in der Regel über die politische Zusammensetzung der Regierung. Verschiedene Formen der Arbeitsteilung - zwischen Volk und Volksvertretung, zwischen Parlament und Regierung, innerhalb des Parlaments zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen, innerhalb der Fraktionen zwischen den einzelnen Abgeordneten - sind nötig, um der Komplexität der Regelungserfordernisse im modernen Staat unter den gegebenen Randbedingungen des parlamentarischen Systems entsprechen zu können. Neben den klassischen Parlamentsfunktionen der Gesetzgebung, Kontrolle und Mitwirkung an der Vollziehung kommt dem Parlament in der Informationsgesellschaft in immer höherem Ausmaß eine Kommunikationsfunktion zu: Von der parlamentarischen Tribüne aus werden die Beweggründe der staatlichen Willensbildung dargestellt und transparent gemacht, aber auch laufend politische Alternativen präsentiert; umgekehrt obliegt es den Parlamentariern aber auch, den Kommunikationsfluß in der Gegenrichtung aufrecht zu erhalten, die politische Meinung der Bürgerinnen und Bürger in den Prozeß der staatlichen Willensbildung kontinuierlich einzubringen. Die Kommunikationsfunktion ist somit untrennbar verbunden mit der Integrationsfunktion des Parlaments: Das Parlament ist nicht nur das Organ der inhaltlichen Integration der verschiedenen gesellschaftlichen Interessen in die staatliche Willensbildung, sondern auch der Integration der einzelnen politischen Akteure - von den im Parlament repräsentierten Bürgerinnen und Bürgern bis zu den politischen Parteien, die selbst bereits Integrationswirkung ausüben - in das politische System.