Europäische Parteien I. Begriffserklärung Mit dem Maastrichter Vertrag (1993) haben (europäische) politische Parteien explizit Eingang in das Vertragswerk gefunden. Schon die EGKS sah eine parlamentarische Versammlung vor, deren Abgeordnete sich nach Fraktionen organisierten. Bis zur ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments (EP) 1979 wurden die Abgeordneten aus den nationalen Parlamente in das EP delegiert, eine europäische Parteienstruktur war nicht zwingend erforderlich, die nationale erfüllte die notwendigen Funktionen (v.a. Rekrutierung und Meinungs- und Positionsbildung). Die nationalen „Schwesterparteien“ begannen im Vorfeld zur Europawahl ihre Zusammenarbeit in Hinblick auf das EP zu institutionalisieren. Deshalb sprach man bis zum Maastrichter Vertrag eher von europäischen Parteienzusammenschlüssen als von eigenständigen Parteien: sie bündelten europapolitische Positionen und formulierten Wahlprogramme. Parteienzusammenschlüsse spielten eine wichtige Rolle bei der Herstellung einer europapolitischen Öffentlichkeit, die wiederum Voraussetzung zur Schaffung von Legitimation war. Diese Aufgaben übernehmen heute die (europäischen) politischen Parteien; der Vertrag von Lissabon hat ihre Rolle nochmals gefestigt (Art. 10 und 224 EUV). Zur Entwicklung des heutigen Status von (europäischen) Parteien hat die transnationale Zusammenarbeit der nationalen „Schwesterparteien“ einen wesentlichen Beitrag geleistet. II. Von Parteienzusammenschlüssen zu europäischen Parteien Nachdem die Entscheidung zur Durchführung der Direktwahl zum Europäischen Parlament (EP) gefallen war, gründeten sich die ersten Parteienzusammenschlüsse: Bund der Sozialdemokratischen und Sozialistischen Parteien (1974 ), später umbenannt in „Sozialdemokratische Partei Europas (SPE); Europäische Volkspartei − Föderation der Christlich-Demokratischen Parteien der Europäischen Gemeinschaft (1976), später EVP-ED; Föderation liberaler und demokratischer Parteien der Europäischen Gemeinschaft (1976 ), später umbenannt in: „Europäische Liberale, demokratische und Reform Partei“ (ELDR). 1981 etablierte sich die „Europäische Freie Allianz“, in welcher verschiedene Regionalparteien kooperierten. 1984 gründete sich die „Europäische Koordination der Grünen Parteien“, später umbenannt in: „Europäische Förderation Grüner Parteien“ (EFGP). Nach jeder Europawahl kamen weitere Parteienzusammenschlüsse hinzu – oder lösten sich auch wieder auf. Die Parteienzusammenschlüsse bildeten ein Netzwerk, Informations- und Abstimmungsgremien, die als Plattform für den Austausch zwischen den nationalen Parteipolitikern und ihren europäisch agierenden Kollegen fungierten sowie Bindeglied zu den Fraktionen im EP waren. Sie wiesen zudem intensive personelle und organisatorische Verflechtungen mit den Fraktionen im EP auf. Die ungeregelte selbständige Finanzierung der Parteienzusammenschlüsse und daraus resultierende finanzielle Verquickungen mit den Fraktionen im EP erhöhten über die Jahre den Druck, den Status der (europäischen) Parteien zu klären. Seit dem Maastrichter Vertrag über die Europäische Union sind Regelungen über europäische Parteien in das Vertragswerk aufgenommen worden. 2003 wurden in einem Parteienstatut entsprechende Details geregelt (Definition des Status einer europäischen Partei; strukturelle Fragen, demokratische Prinzipien, Rechtspersönlichkeit, Umgang mit Spendenmitteln etc.). Dieses Europäische Parteien-Statut ist Anfang Februar 2004 in Kraft getreten (Regelungen für die politischen Parteien auf europäischer Ebene). Im Lissabonner Vertrag wurden die Regelungen weiterentwickelt. In Art. 10 EUV wird das Ziel beschrieben: „Politische Parteien auf europäischer Ebene tragen zur Herausbildung eines europäischen politischen Bewusstseins und zum Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger der Union bei.“ Trotzdem ist es nicht so, dass alle im Europäischen Parlament vertretenen Parteien ausschließlich pro-europäische Ideen und Ziele verfolgen. In Art. 224 EUV wird das Verfahren, mit dem die Regelungen über die Parteien ausgestaltet werden sollen, präzisiert: „Der Rat legt gemäß dem Verfahren des Artikels 251 die Regelungen für politische Parteien auf europäischer Ebene und insb. die Vorschriften über ihre Finanzierung fest.“ So wurde mittlerweile die Möglichkeit geschaffen, dass die europäischen Parteien ihnen nahe stehenden Stiftungen gründen konnten (2007), die sie inhaltlich beraten, Studien ausarbeiten und Konferenzen und Seminare durchführen können. In der Europäischen Volkspartei (EVP) sind seit 1993 persönliche (beitragspflichtige) Mitgliedschaften möglich, wobei Voraussetzung ist, dass der Antragsteller auf nationaler Ebene einer EVP-Mitgliedspartei angehört. III. Strukturen Die Parteienzusammenschlüsse verfügen über ähnliche Strukturen wie Parteien: Ein Vorsitzender oder Präsident repräsentiert den Parteienzusammenschluss nach außen und koordiniert die Arbeit nach innen. Präsidium, Arbeitsgruppen und Kommissionen bereiten die Arbeit vor. Im Abstand von ein oder zwei Jahren werden Kongresse als oberstes beschlussfassendes Organ veranstaltet, auf denen Wahlen stattfinden (können) oder Grundsatzbeschlüsse zu politischen Fragestellungen gefasst werden. Ein Parteirat steht als Forum v.a. für die strategische Ausrichtung der Partei zur Verfügung. Politisch wichtig sind die Treffen der Parteispitzen und der Regierungschefs der im EP vertretenen Parteien. Sie bemühen sich im Vorfeld europapolitischer Entscheidungen um gemeinsame Positionen. IV. Kritische Wertung Die europäischen Parteien sind in Arbeitsweise, Funktionen und Struktur nicht mit nationalen Parteien gleichzusetzen, sie sind aber auch nicht nur eine Art Dachorganisation nationaler Parteien. Vielmehr sind sie Abbild der Zwitterrolle der EU zwischen intergouvernemental und supranational-föderalistischer Struktur: Die europäischen Parteien weisen eine im nationalen Kontext nicht übliche, intensive personelle und organisatorische Verflechtung mit den Fraktionen im Europäischen Parlament auf. Europäische Parteien sind auch Sammelbecken für Parteien aus Beitrittsstaaten. Das Interesse der europäischen Parteien liegt auch darin, ihre Macht möglichst weit auszudehnen und über die Parteizusammensetzung auch die Fraktionszusammensetzung und damit -größe im Europäischen Parlament auszubauen. Die Meinungsbildung in der europäischen Partei wird mit den nationalen Parteistrukturen rückgekoppelt, denn dort werden letztlich die Weichen für politische Entscheidungen gestellt. Dies wird besonders dann sehr augenfällig, wenn es um Entscheidungen über strittige Punkte geht, die eine Rückwirkung auf die nationale Politik haben. Die Positionsentwicklung verläuft also eher hierarchisch von der nationalen Parteiebene zur europäischen – die nationalen Parteien verfügen über einen föderalen Aufbau über den die Meinungsbildung von unten nach oben betrieben wird. Die europäischen Parteien fungieren hier eher als Dachorganisationen, die dann die Positionen der nationalen Parteien nur noch bündeln. Natürlich gibt es auch Einflussnahmen in die andere Richtung. Aber Realität ist, dass zahlenmäßig eher wenige Europaabgeordnete einer eingespielten, hierarchisch durchstrukturierten nationalen Parteiorganisation gegenüber stehen. Dem steht nicht entgegen, dass einzelne, machtvolle Europapolitiker ein gewichtiges Wort bei der Formulierung europapolitischer Positionen auf nationaler Parteiebene mitsprechen. Mit dem Ausbau der Rechte und der wachsenden Macht des EP wurden auch die europäischen Parteien wichtiger und für politische Karrieren interessanter. Quelle: Melanie Piepenschneider. In: Bergmann (Hg.), Handlexikon der Europäischen Union. Baden-Baden 2012