Günther Pallaver - Initiative für mehr Demokratie

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Günther Pallaver
Stephan Lausch: Persönlichkeit des Jahres - Personalità dell‘anno
Laudatio, Eurac, 9.6.2010
Die Südtiroler Gesellschaft für Politikwissenschaft/Società di Scienza Politica dell'Alto
Adige/Südtiroler sozietà per scienza pulitica zeichnet jedes Jahr eine Persönlichkeit aus, die in
einem gewissen Zusammenhang mit Südtirol steht und die sich durch besondere Leistungen
im Bereich der Politik hervorgetan hat.
Letztes Jahr haben wir die aus Laas stammende Monika Hauser von MedicaMondiale geehrte,
heuer hat sich der Vorstand der Gesellschaft bei der Nominierung der Persönlichkeit des Jahres
2009 einstimmig für Herrn Stephan Lausch ausgesprochen.
Die Entscheidung war einstimmig, wenngleich sie kontrovers diskutiert wurde. Schon das
weist darauf hin, dass nicht die Person, wohl aber das Thema, nämlich die Demokratie, und als
Differenzierung, die direkte Demokratie, kontrovers ist. Sie ist übrigens seit 2500 Jahren
kontrovers, seitdem Demokratie in Form der direkten Demokratie in Athen eingeführt wurde.
Denn Demokratie ist einem ständigen, in der Regel kontroversen Wandlungsprozess
ausgesetzt, der allerdings immer in eine Richtung weist, nämlich in die Richtung der
Aufhebung von Macht, die definitiv und in ihrem utopischen Kern dann erfolgt ist, wenn
Machtunterworfene und Machtträger ident sind.
Lassen Sie mich dazu eine etwas längere Passage aus der „Politik“ von Aristoteles zitieren:
„... der Umstand, dass alle Ämter von allen gewählt werden, dass alle über jeden herrschen und jeder
wechselweise über alle, dass die Ämter durch das Los bestimmt sind, entweder alle oder nur die, die keiner
Erfahrung und Fertigkeit bedürfen, dass die Ämter von keiner oder doch nur von einer möglichst kleinen
Vermögensklasse abhängen, dass nicht ein und derselbe zweimal ein Amt bekleidet, oder doch nur selten oder
nur wenige Ämter, ausgenommen die, die mit der Kriegführung in Verbindung stehen, dass die Ämter nur
kurzzeitig befristet sind, entweder alle oder nur die, bei denen es angeht, dass alle Richter sind, aus allen
herausgenommen und über alle, oder doch über das Meiste, das Bedeutendste und Entscheidendste, wie etwa
über Rechenschaftslegungen, über die Verfassung und über private Verträge; ferner der Umstand, dass die
Volksversammlung die Entscheidung führt über alles oder zumindest über das Bedeutsamste, kein Amt aber
über irgend etwas oder doch nur über möglichst Geringfügiges entscheide. Von den Ämtern ist aber der Rat
am meisten demokratisch, wo es nicht die leichte Möglichkeit zur Entlohnung aller gibt. Da nimmt man
nämlich auch diesem Amt die Macht. Denn das Volk, das über dieleichte Möglichkeit der Entlohnung
verfügt, zieht alle Entscheidungen an sich (...). Weiterhin ist auch demokratisch der Umstand, dass im
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höchsten Falle alle eine Entlohnung erhalten, die Volksversammlung, die Gerichte und die Ämter, und geht
das nicht, wenigstens die Ämter, die Gerichte, der Rat, die entscheidenden Volksversammlungen oder die
von den Ämtern, di emiteinander speisen müssen ( ... ). Doch bei den Ämtern trifft der Umstand zu, dass
keines von ihnenlebenslang sein soll; falls aber eines aus einer alten Verfassungsänderung übrig ist, dann
muss dessen Macht beschnitten werden, und man muss aus gewählten Beamten durch das Los bestimmte
machen. Das sind also die den Demokratien gemeinsame Erscheinungen.“ (Politik 1317b). Es ist ein etwas langes Zitat, aber es lohnt sich, dieses mit dem Vergrößerungsglas zu lesen.
Kern der Demokratie ist für Aristoteles die Verfassung und die Verfassungswirklichkeit der
mathematischen Gleichheit und der Freiheit – hier finden wir das Revolutionäre in der
attischen Demokratie, nämlich das Prinzip der Gleichheit, die in der Würde des Menschen
gründet, wie sie in der UNO-Menschenrechtscharta verankert ist, - verbunden mit der Freiheit,
wobei beide allerdings in einem ständigen Spannungsverhältnis zueinander leben. Genauso
wie schon die Gleichheit von allem Anfang kontrovers interpretiert und in der sozialen
Wirklichkeit umzusetzen versucht wurde. Die Isonomia Athens, die formale Gleichheit, stand
der Eunomia Spartas, der auch materiellen Gleichheit gegenüber, ein Thema, mit dem sich
nicht erst Marx beschäftigt hat.
Neben der Gleichheit und Freiheit ist für Aristoteles die Souveränität des Demos in Legislative,
Judikative und letztlich auch in der Exekutive das dritte konstitutive Element der Demokratie.
Der Demos, damals eingeschränkt auf die freien, männlichen Bürger Athens, die im weitesten
Sinne unbegrenzte Souveränität des Volkes, das ist das Herausragende der attischen
Demokratie im 5. Jahrhundert vor Christus.
Im Gegensatz zu Athen steht Rom, das nicht von der direkten, sondern in der republikanischen
Zeit, also vor Cäsar, von der indirekten, der repräsentativen Demokratie in besonderer
Ausprägung ihrer Eliten geprägt war. Schon allein an diesem Punkt angelangt können wir
erahnen, dass es nicht nur eine Demokratie gibt, sondern dass es viele gibt, wie etwa die Lehre
von der radikalen Volkssouveränität bei Jean Jacques Rousseau, die liberale Theorie der
Repräsentativdemokratie nach John Stuart Mill, die Lehre der revolutionären Direktdemokratie
bei Karl Marx, die elitische Demokratietheorie von Max Weber, oder die ökonomische Theorie
von Joseph Schumpeter und Antony Downs, die partizipatorische Demokratietheorie, die
kritische, die komplexe -- und wir sind noch lange nicht am Ende angelangt.
Die Einsicht in die soziale Wirklichkeit, verbunden mit der Erkenntnis, dass nicht alles und
nicht permanent direktdemokratisch bestimmt werden kann, hat dazu geführt, dass als
Korrektiv der direkten die indirekte, die repräsentative Demokratie eingeführt worden ist.
Diese repräsentative Demokratie ist, gleich wie letztlich auch die direkte, wiederum einer
Reihe von Kritikpunkten ausgesetzt, und nicht erst seit heute, sondern seit jeher. Denken wir
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etwa an die von Tocqueville geprägte Formel der „Tyrannei der Mehrheit“, das Dilemma der
„Überdehnung der Freiheit“, der Oligarchisierung, das nicht realisierbare Erwartungsniveau,
bis hin zu Fragen der aktiven und passiven Chancengleichheit der Wähler und Wählerinnen in
unserer heutigen Mediendemokratie.
Deshalb soll als Korrektiv der krisenanfälligen repräsentativen Demokratie die direkte
Demokratie wieder stärker berücksichtigt werden. Und in der Tat, der Prozess der
„Demokratisierung der Demokratie“ hat längst begonnen. Er hat in der Zwischenzeit sogar die
Europäische Union erreicht, nachdem durch den Vertrag von Lissabon letzten Jahres im Artikel
11 die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, deren Anzahl mindestens eine Million betragen
und bei denen es sich um Staatsangehörige einer erheblichen Anzahl von Mitgliedsstaaten
handeln muss, die Initiative ergreifen und die Europäische Kommission auffordern können, im
Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach
Ansicht jener Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsaktes der Union bedarf, um die Verträge
umzusetzen. Es handelt sich hier somit um eine „Bürgerinitiative“, die den obersten Stock des
europäischen Mehrebenensystems betrifft.
Im Parterre dieses Mehrebenensystems befindet sich Stephan Lausch. Das soll nicht abwertend
verstanden sein, im Gegenteil, sondern darauf hinwiesen, dass Demokratie auch etwas mit
Nähe der Bürgerinnen und Bürger zu ihrer Umwelt zu tun hat. Man könnte in diesem
Zusammenhang den Slogan der 70er Jahre aus dem letzten Jahrhundert mit dem Aufkommen
der oral history „Grabe, wo Du stehst“, paraphrasieren in: Entscheide, wo du stehst“.
Die Entscheidung, Stephan Lausch heute zu ehren, war, wie gesagt, einstimmig, wurde aber
kontrovers diskutiert. Die Erkenntnis unserer lang andauernden Diskussionen betraf denn
auch
weniger
Fragen
der
politischen
Einordnung
von
direkter
Demokratie,
das
Spannungsverhältnis zwischen direkter und indirekter Demokratie, Fragen der jeweilige
Funktionalität, der praktischen Umsetzung direkter Demokratie, der Gefahren der direkten
Demokratie, die es unzweifelhaft auch gibt, wenn wir etwa an den Cäsarismus bzw.
Bonapartismus denken, oder an die appellativen Pseudo-formen direkter Demokratie in
autoritären bzw totalitären Systemen, oder, auf unsere Realität angewandt, wenn es etwa um
den Gruppenschutz in einer mehrsprachigen Realität geht.
Wir sind somit weniger von Fragen der Demokratie als einem Verfahren ausgegangen, sondern
von Demokratie als einer politischen Kultur, verstanden als einer partizipativen politischen
Kultur. Wir sind also vom Einsatz, vom Engagement für mehr Demokratie ausgegangen,
unabhängig, ob der eine von uns in der direkten Demokratie der Lösung letzten Schluss sieht
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oder diesem Instrument skeptisch bis ablehnend gegenübersteht. Denn, um Willy Brand zu
zitieren, „mehr Demokratie wagen“ bedeutet immer auch ein mehr an Partizipation, und
dadurch ein weniger an Machtunterworfenheit.
„Es ist kein leichter Weg, den Lausch für sich ausgesucht hat. Denn für mehr Demokratie zu
kämpfen, ist ein hartes Brot. Und Stephan Lausch ist kein Volkstribun, der die Massen mit
seinen Reden mobilisiert, sondern eher ein sanfter Verschwörer, der leise und überlegt
spricht.“, hat Karl Hinterwalder in seiner Charakterisierung von Stephan Lausch in der
heurigen Ausgabe von Politika, unserem Jahrbuch, geschrieben.
Stephan Lausch hat nach unserer Ansicht gemeinsam und im Rahmen der Initiative für mehr
Demokratie am Demokratiesierungsprozess der politischen Kultur Südtirols mitgewirkt, einen
seit vielen Jahren öffentlichen Diskurs in Gang gesetzt, wobei Öffentlichkeit bereits in Athen
konstitutiv für Demokratie war, der das „mehr Demokratie wagen“ von einem vielfach
abstrakten Konzept in eine praktische Bahn gelenkt hat.
Demokratie ist grundsätzlich ein positiver Wert, weil er auf dem Prinzip der Gleichheit aller
Menschen beruht. Stephan Lausch hat einen wichtigen Beitrag zur Reflexion über Demokratie
geleistet, für das kritische Bewusstsein, dass Demokratie nicht nur Delegierung von Macht sein
muss, sondern dass Demokratie die direkte Ausübung von Macht sein kann, wenn wir Macht
als eine Treuhandschaft in den Händen der Machtträger und Machtträgerinnen verstehen.
Der öffentliche Diskurs über Demokratie hat nicht nur die direkte Demokratie gestärkt,
sondern auch die repräsentative und ist somit als ein Beitrag für den Prozess der
staatsbürgerlichen bzw. landesbürgerlichen Mündigkeit der Südtiroler Bevölkerung zu
verstehen.
Aus diesen für uns zentralen Gründen haben wir uns für Stephan Lausch als politische
Persönlichkeit des Jahres 2010 ausgesprochen. Unser und mein herzlicher Glückwunsch, lieber
Stephan, soll nicht nur die Anerkennung für die vielen Jahre Deines Einsatzes für mehr
Demokratie sein, sondern ein Ansporn, auch in Zukunft mitzuwirken, dass wir alle „mehr
Demokratie wagen“ mögen. Herzliche Gratulation!
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