XXX Cand. med. vet. 11. Semester Gießen, den XXXX Krankenbericht Über einen Patienten der Kleintierabteilung der Chirurgischen Veterinärklinik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Das Tier wurde am xxx in der Klinik vorgestellt (Kliniks-Nr. xxx, Röntgen-Nr. xxx). Der/die Besitzer/in ist Herr/Frau X aus Y. Die Untersuchung findet im Rahmen der Tierärztlichen Prüfung am xxx in der Zeit von 09.30 bis 12.00 Uhr statt. 1 Signalement: Bei dem zu untersuchenden Tier handelt es sich um einen 6 Monate alten YorkshireTerrier in rassetypischer Zeichnung mit Namen „Daisy“. Der Hund ist weiblich, wiegt 3 kg und lebt als Familienmitglied im Haushalt seiner Besitzer. Der Hund ist nicht tätowiert und hat keinen Mikrochip. Die Kliniks-Nr. ist xxx und die Röntgen-Nr. xxx. Der/die Besitzer/in ist Herr/Frau X aus Y. Anamnese: Der Besitzer gibt an, der Hund sei am 22.02.2001 von einem Hochbett gefallen und wurde daraufhin dem Haustierarzt vorgestellt. Der erkannte auf den von ihm angefertigten Röntgenbildern keine Fraktur und überwies den Hund in die Chirurgische Veterinärklinik zur weiteren Abklärung und Behandlung. Hier wurde der Hund am 23.02.2001 vorgestellt und es wurden Röntgenbilder angefertigt (Beurteilung der bilder s.u.). Noch am gleichen Tag wurde der Hund operiert. allgemeine klinische Untersuchung: Der Hund steht und belastet alle vier Gliedmaßen, vom Verhalten her ist er überaus munter, er ist wach und bewußtseinsklar, der Ernährungszustand ist gut, der Pflegezustand ist mäßig bis gut und der Hund ist seinem Alter entsprechend entwickelt. Der Puls hat eine Frequenz von 120 pro Minute, er ist gleichmäßig, kräftig, groß und leicht unregelmäßig. Die Atemfrequenz liegt bei ca. 40 pro Minute, wobei der Hund jedoch die meiste Zeit über hechelt. Die Körperinnentemperatur liegt bei 38,9°C. Auffällig ist eine ca. 8 cm lange Naht am rechten Knie. Der Hund erscheint vom Allgemeinbefinden her ungestört. Der vermutliche Sitz der Erkrankung liegt im Bewegungsapparat. spezielle klinische Untersuchung: Haare, Haut, Unterhaut, sichtbare Schleimhäute und Lymphknoten: Der Hund hat am ganzen Körper Schuppen im Fell und in beiden nasalen Augenwinkeln ist schleimiges Sekret. Eine über dem Lid gezogene Hautfalte verstreicht sofort. Die sichtbaren Schleimhäute sind rosarot, feucht, glatt, glänzend und ohne Auflagerungen. Bei den Lymphknoten fällt nur auf, daß der Ln. popliteus hinten rechts etwas größer ist als hinten links. 2 Herz-Kreislauf-System: Die Auskultation des Herzens ergibt eine Frequenz von 120 pro Minute, die Herztöne sind kräftig, leicht unregelmäßig aber abgesetzt und ohne Nebengeräusche. Die kapilläre Rückfüllungszeit liegt unter 2 Sekunden. Atmungsapparat: Die Auskultation der Lunge ist obB. Bei Druck auf den Kehlkopf ist Husten auslösbar und der Hund hustet auch spontan bei Aufregung. Die Rachenmandeln erscheinen nicht vergrößert. Verdauungsapparat, Harn- und Geschlechtsapparat: Kot- und Harnabsatz sind obB. Die Vulva ist leicht kotverschutzt. Bewegungsapparat: Der Hund läuft und springt von selbst und gibt beim normalen Handling keine Schmerzäußerungen von sich. Untersuchung des Tieres im Stand: Alle vier Gliedmaßen fußen auf dem Boden, wobei jedoch die rechte Hintergliedmaße etwas entlastet wird. Hier fußen vorwiegend die Zehen und das Bein ist leicht abduziert. Der Muskeltonus ist an allen Gliedmaßen voll erhalten. Untersuchung des Tieres im Sitzen: Die rechte Hintergliedmaße bleibt beim Sitzen leicht gestreckt und abduziert. Man kann sie jedoch passiv in die physiologische Stellung bringen. Untersuchung des Tieres im Liegen: Die Gliedmaßen sind passiv frei beweglich, nur hinten rechts sind das Tarsal- und das Kniegelenk nicht vollständig zu beugen. Schmerzreize werden an allen Gliedmaßen wahrgenomen. Der Flexorreflex ist hinten rechts nicht deutlich, der Patellarsehnenreflex ist hinten beidseits positiv. Die Oberschenkelmuskulatur ist hinten rechts geschwollen. An der linken Hintergliedmaße läßt sich die Patella manuell nach medial luxieren, und der Hund ist in der Lage, sie selbständig zu reponieren. Untersuchung des Tieres im Laufen: Der Hund benutzt im Schritt alle vier Gliedmaßen, jedoch entlastet er die rechte Hintergliedmaße zeitweise im Trab. Adspektion der Operationswunde: Die Wunde ist nicht unter Verband, sie ist trocken, nicht geschwollen oder gerötet und auch nicht schmerzhaft. Der Hund scheint jedoch Juckreiz zu verspüren. 3 weiterführende Untersuchungen: Röntgenbilder des Haustierarztes vom 22.01.2001: Auf den Röntgenbildern des Haustierarztes fehlen die Beschriftung sowie die Seitenzeichen. Es wurden eine ventrodorsale und eine laterolaterale Aufnahme gemacht. Das Femurkopfgelenk erscheint obB, ein Frakturspalt distal am Femur ist nur schlecht zu beurteilen, es liegt kaum eine Dislokation vor. Röntgenbilder der Chirurgischen Veterinärklinik vom 23.01.2001: Thorax, laterolateral: Die knöcherne Begrenzung ist obB, das Tier ist nicht ganz orthograd gelagert, die Zwerchfellkuppel steht, der Herzschatten umfaßt drei IC, das Herz liegt dem Sternum auf und man sieht eine deutliche bronchuläre Zeichnung der Lunge. rechtes Kniegelenk laterolateral: Die Epiphysenfugen sind noch nicht geschlossen. Es liegt eine Epiphysenfraktur (Epiphysiolyse) mit Beteiligung der Metaphyse vor (Salter-Harris Grad II).Der Femurschaft ist nach craniodistal disloziert. Die Knochenstruktur und die Patella sind obB. rechtes Kniegelenk dorsoventral: Die Epiphysenfugen sind noch nicht geschlossen. Es liegt eine Epiphysenfraktur (Epiphysiolyse) mit Beteiligung der Metaphyse vor (Salter-Harris Grad II). Der Femurschaft ist nach medial disloziert. Röntgenbilder der Chirurgischen Veterinärklinik vom 23.01.2001 post operationem: rechtes Kniegelenk laterolateral und dorsoventral: Die Fragmente wurden mit zwei gekreuzten Kirschnerdrähten sehr gut reponiert, so daß kein Spalt erkennbar ist. Diagnosen: a) Epiphysiolyse mit Beteiligung der Metaphyse (Salter-Harris Grad II) distal am rechten Femur mit Dislokation des Femurschaftes nach cranio-disto-medial. b) Patellaluxation nach medial (Singleton Grad I) an der linken Hintergliedmaße Differentialdiagnosen (zu a)): aufgrund des klinischen Bildes (ohne Röntgen) kämen in Frage: - distale Femurschaftfraktur ohne Beteiligung der Epiphysenfuge - Fraktur der proximalen Tibia (und Fibula) - traumatische Kreuzbandruptur - Patellaluxation 4 Epikrise: Auf den Röntgenbildern ist eine Epiphysiolyse der distalen Femurepiphyse mit Beteiligung der Metaphyse an der rechten Hintergliedmaße zu erkennen. Aufgrund der Röntgenbefunde lassen sich demnach die anderen – vom klinischen Erscheinungsbild in Frage kommenden – Frakturformen sowie eine Patellaluxation ausschließen. Eine Kreuzbandruptur kann so jedoch noch nicht ausgeschlossen werden, weil eine Überprüfung des Schubladenphänomens oder ein Tibiakompressionstest aufgrund der Instabilität der Fraktur nicht aussagekräftig wären. Auch eine Verletzung der Menisken und/oder der Kollateralbänder des Kniegelenkes sind in Betracht zu ziehen. Epiphysenfrakturen können nach dem sogenannten Salter-Harris-Schema klassifiziert werden. Man unterscheidet fünf verschiedene Grade: - Typ I entspricht einer totalen Trennung der Epiphyse in der Epiphysenfuge. - Bei Typ II erfolgt eine Trennung der Epiphyse in der Epiphysenfuge und zusätzlich ist die Metaphyse frakturiert. - Typ III stellt eine partielle Trennung der Epiphyse in der Epiphysenfuge dar, wobei die Epiphyse selbst frakturiert ist. - Bei Typ IV ist ebenfalls nur ein Teil der Epiphyse frakturiert, jedoch ist hier auch die Metaphyse beteiligt. - Typ V ist charakterisiert als Stauchung eines Teils oder der ganzen Epiphysenfuge. Bei Frakturen des distalen Femurs sind Frakturen des Salter-Harris-Typs II häufig. Diese Frakturen treten bei Hunden und Katzen unter 9 Monaten auf, unabhängig von Rasse oder Geschlecht. Sie sind die Folge von Verkehrsunfällen oder Stürzen. Klinisch fällt auf, daß die Tiere die Gliedmaße komplett entlasten, die verletzte Region ist geschwollen und schmerzhaft und häufig sind bei Manipulation Krepitationsgeräusche hörbar. Zur Sicherung der Diagnose werden laterolaterale und dorsoventrale Röntgenbilder angefertigt. Normalerweise erscheint der Femurschaft nach cranio-distal disloziert. Zusätzlich können Schrägaufnahmen und SkylineAufnahmen gemacht werden, um die Gelenkfläche der Trochlea und der FemurCondylen auf Fissuren oder Frakturen zu untersuchen. Eine konservative Frakturtherapie ist nicht möglich, da hierzu beide angrenzenden Gelenke ruhiggestellt werden müßten, was beim Hüftgelenk praktisch nicht möglich ist. Außerdem sind im vorliegenden Fall die Fragmente stark disloziert. Der Hund wird also unter Allgemeinnarkose osteosynthetisch versorgt. Als Narkose schlage ich eine Prämedikation mit 0,02-0,04 mg/kgKM i.m. Acepromazin (Vetranquil ®) zur Sedierung und 0,01-0,02 mg/kgKM i.v. Buprenorphin (Temgesic ®) zur Analgesie vor. Über eine Venenverweilkanüle kann man nach ca. 20 Minuten die Narkose mit 4 mg/kgKM i.v. (Dosierung nach Wirkung) Propofol einleiten und den Hund intubieren. Die Erhaltung erfolgt mittels Inhalationsnarkose mit einem Sauerstoff/Isofluran-Gemisch (Isofluran max. 3%). Da es sich um ein junges Tier handelt, ist darauf zu achten, daß der Flüssigkeitshaushalt unterstützt und eine Hypothermie und Hypoglycämie verhindert werden. Der Hund kann auf der Seite (zu operierendes Bein oben) oder auf dem Rücken gelagert werden. 5 Der OP-Bereich ist zu scheren, zu waschen, zu rasieren und zu desinfizieren. Anschließend wird das Tier mit sterilen Tüchern abgedeckt. Der chirurgische Zugang ist dorsal über dem Kniegelenk, lateral der Patella. Der Schnitt reicht proximal und distal mindestens 4 cm über den palpierten Defekt hinaus. Hat man Haut und Unterhaut durchtrennt, sind die Fascia lata und das gerade Kniescheibenband zu identifizieren. Es folgt eine parapatellare Arthrotomie durch die distale Fascia lata und die Gelenkkapsel. Der Schnitt führt entlang des caudalen Randes des M. vastus lateralis. Meistens liegt die distale Femur-Metaphyse cranial und lateral der Femur-Condylen. Den M. quadriceps mit Patella und geradem Kniescheibenband retrahiert man nach medial. 6 Nach Reposition der Fragmente werden sie mit z.B. zwei Steinmann-Pins bzw. wie im vorliegenden Fall aufgrund der Größe des Tieres mit zwei Kirschner-Drähten fixiert. Hierbei ist anzustreben, einen möglichst guten Kontakt zwischen den Fragmenten zu erzielen, damit eine Kontaktheilung, d.h. eine direkte Bildung von Lamellenknochen, stattfinden kann. Bleibt ein Spalt bestehen, so bildet sich bei der sogenannten Spaltheilung der Lamellenknochen erst über das Zwischenstadium eines Geflechtknochens. Jetzt wird das Kniegelenk auf eventuelle Verletzungen der Kreuzbänder und/oder Menisken hin untersucht. Im vorliegenden Fall lagen keine weiteren Verletzungen vor. Die Gelenkkapsel wird nun mit absorbierbarem Nahtmaterial mittels Einzelheften geschlossen. Die Unterhaut wird fortlaufend mit absorbierbarem Nahtmaterial genäht. Für die äußere Haut kann nicht-resorbierbarer Faden verwendet werden. Die Einzelhefte werden nach ca. zehn Tagen gezogen. Postoperativ muß das Tier am Springen (oder Herunterfallen) gehindert werden. Eine Physiotherapie (an der Leine gehen, vorsichtiges Strecken und Beugen der Gelenke) ist aber wichtig, um eine Muskelatrophie zu verhindern. Es ist darauf zu achten, daß der Hund alle vier Gliedmaßen belastet. Nach vier Wochen erfolgt ein Kontroll-Röntgen. Die Kirschner-Drähte können nach ca. zehn Wochen entfernt werden. Im vorliegenden Fall fiel bei der Inspektion des Kniegelenkes auf, daß die Trochlea sehr flach ausgebildet ist. Der Besitzer ist darauf hinzuweisen, daß dieser Hund zu Patella-Luxationen neigen wird. Es ist zu überlegen, ob man die Kirschner-Drähte in diesem Fall erst nach ca. sechs Monaten entfernt und bei dieser Gelegenheit gleichzeitig eine Operation zur Vermeidung von Patella-Luxationen durchführt. Das ist besonders auch deshalb zu empfehlen, weil bei der klinischen Untersuchung eine Patella-Luxation am linken Knie manuell herbeigeführt werden konnte. Die Patella-Luxationen kann man in die sogenannten Singleton-Grade einteilen: - Bei Singleton Grad I kann der Untersucher die Patella manuell luxieren, und der Patient ist in der Lage, sie selbst zu reponieren. - Bei Grad II kann der Patient die Patella nach manueller Luxation nicht selbständig reponieren, aber dem Untersucher gelingt es. - Grad III ist gekennzeichnet durch das spontane klinische Auftreten einer PatellaLuxation, wobei sie jedoch reponiert werden kann. - Bei Grad IV liegt eine stationäre Patella-Luxation vor, die nicht manuell reponierbar ist. Patella-Luxationen können kongenital oder traumatisch bedingt auftreten, die Patella kann nach medial oder nach lateral (beim Pferd auch nach dorsal) luxieren und es tritt einseitig oder beidseitig auf. Als Ursachen kommen in Frage: - eine Verlagerung der Quadriceps-Gruppe - eine Hypoplasie des medialen Rollkamms - eine Dysplasie der distalen Femurepiphyse oder der Patella - eine Rotationsinstabilität des Kniegelenkes - traumatische Kniegelenkschäden - degenerative Gelenkerkrankungen. 7 Diagnostisch geht man bei den Singleton-Graden I-III so vor, daß eine Hand eine Rotation des Unterschenkels ausführt während die andere Hand auf dem Kniegelenk liegt und ein Herausspringen der Patella aus der Trochlea fühlt. Bei Grad IV gibt ein Röntgenbild mit dorsoventralem Strahlengang Aufschluß. Ziele einer operativen Therapie sind: - die Neutralisation aller auf die Patella wirkenden Kräfte und - eine permanente Position der Patella in der Trochlea femoris bei voller Funktionalität. Im vorliegenden Fall ist aufgrund des OP-Situs bekannt, daß die Trochlea sehr flach angelegt ist. Hier bietet sich also eine operative Vertiefung derselben an. Dazu wird z.B. ein keilförmiges Knochenstück reseziert, der Sulcus zusätzlich vertieft und der Keil wieder eingesetzt. Man kann auch den Gelenkknorpel und Teile vom Knochen mit einem Rongeur abtragen und auf diese Weise den Sulcus vertiefen. Prinzipiell ist auch eine Erhöhung des medialen Rollkammes möglich. Prognose: Für „Daisy“ ist die Prognose als gut zu stellen, weil die Fragmente der Fraktur exakt reponiert werden konnten und vom momentanen klinischen Standpunkt aus nicht mit Komplikationen zu rechnen ist. Gießen, den 26.02.2001 XXXXX 8