Der kranke Kippfensterklemmkater

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Der kranke Kippfensterklemmkater:
Die Untersuchung findet am XX.XX.XXXX in den Gebäuden der Kleintierchirurgischen Veterinärklinik der
Justus-Liebig-Universität-Gießen statt. Bei dem Patienten handelt es sich um einen kastrierten grau-weißgetigerten Europäisch-Kurzhaar-Kater. Besitzer ist Frau X aus Z.
Vorbericht:
Die Katze wurde am vor 4 Tagen von der Halterin im Kippfenster hängend vorgefunden und daraufhin in der
Klink vorgestellt.
Die Katze zeigt sich in der Klinik sehr ruhig, sie kann hinten auf beiden Gliedmaßen nicht stehen und zeigt keine
Korrekturreaktionen. Die Hinterextremitäten sind mittelgradig schmerzhaft, ein mittelkräftiger Puls ist an beiden
Aa.femorales zu palpieren. Die Pfoten sind kalt, die Ballen bläulich, das Abdomen stellt sich palpatorisch weich
dar, die Wirbelsäule ist ohne einen pathologischen Palpationsbefund.
Sofortmaßnahmen: Stationäre Aufnahme, Röntgen Thorax und Abdomen, Wirbelsäule und Stabilisierung des
Allgemeinbefindens. Ein Venenverweilkatheter wird gelegt und die Katze erhält eine Dauertropfinfusion mit
200ml Thomajonin. Ferner erhält sie 50 mg Soludecortin i.v. sowie Vit.B+C.
Die Röntgenaufnahmen im latero-lateralen Strahlengang zeigen einen unauffälligen Befund.
Signalement:
Es handelt sich um einen etwa 3kg schweren grau-weiß-getigerten Europäisch-Kurzhaar-Kater. Das Tier ist
kastriert. Es ist ausgewachsen und hat ein vollständiges Ersatzgebiss. Dem äußeren Erscheinungsbild nach
scheint es sich um ein eher jüngeres Tier im ersten Lebensdrittel zu handeln.
Status Präsens:
Allgemeinuntersuchung: Der Ernährungs- und Pflegezustand ist gut. Der Kater ist aufmerksam und nimmt regen
Anteil an seiner Umgebung. Das Haarkleid ist glatt, glänzend und geschlossen. Der Hautturgor ist erhalten, die
Hautoberflächentemperatur nimmt physiologisch zu den Akren hin ab. Die Schleimhäute sind rosarot, feucht,
glatt, glänzend und ohne Auflagerungen. Die Kapilläre Rückfüllzeit liegt unter zwei Sekunden. Die tastbaren
Lymphknoten sind verschieblich, nicht vergrößert, vermehrt warm oder schmerzhaft. Die Pulsfrequenz liegt bei
108 Schlägen pro Minute, die Atemfrequenz bei 32 Atemzügen pro Minute, die innere Körpertemperatur liegt
bei 38,8°C. Der Femoralispuls ist beidseits relativ kräftig. Auskultatorisch ist der Respirationstrakt unauffällig.
Die Bauchdecke ist weich und nicht schmerzhaft, Peristaltik ist vorhanden. Die Blase ist mgr. gefüllt. Harn- und
Kotabsatz wurde beobachtet und ist physiologisch.
Klinische Untersuchung, Adspektion: Im Stand zeigt er regelmäßig an der rechten Hintergliedmaße und
zeitweilig an der linken Hintergliedmaße ein Überköten. Er hat Schwierigkeiten sich vom Liegen über das Sitzen
in hundesitziger Stellung in die stehende Position zu bringen, schafft dies jedoch ohne fremde Hilfe. In
Bewegung fällt ein anfängliches Überköten an den Hintergliedmaßen auf. Dies verschwindet jedoch nach
einigen Schritten. Es fällt jedoch auf daß der Kater auf dem nassen Fußboden Schwierigkeiten mit der Abduktion
der Hintergliedmaßen hat. Die Schrittlänge ist an den Hinterbeinen verkürzt, beim Vorführen beschreibt er einen
leichten Bogen nach lateral.
Palpation: Palpatorisch sind die Gliedmaßen unauffällig. Das Tier zeigt auch bei eingehender Palpation keine
Schmerzreaktion. Ein Schubladenphänomen ist nicht auslösbar. Der Tibiakompressionstest verläuft ohne
Befund. Es finden sich keine Hinweise auf Knochenfrakturen.
Neurologische Untersuchung: Der Patellarreflex ist auslösbar. Der Zwischenzehenreflextest ist herabgesetzt. Die
Oberflächensensibilität an der Hintergliedmaße ist herabgesetzt. Die taktile Tischkantenprobe ist nicht
physiologisch, das Tier zieht die Hintergliedmaßen nicht nach oben. Der gekreuzte Extensor-Reflexor-Test ist
negativ. Die Unterstützungsreaktion verläuft auch nicht physiologisch; das Tier vermag nur geringe Last
aufzunehmen. Auch bei der Korrekturreaktion an der Hintergliedmaße hat das Tier Schwierigkeiten den Fuß
wieder in seine Ausgangsstellung zurückzuführen. Dies gelingt jedoch mit einiger Anstrengung.
Ergänzende Untersuchungen:
Einen latero-laterale Röntgenaufnahme des Thorax, Abdomens und der Wirbelsäule ist ohne besonderen Befund.
Ergebnisse über hämatologische oder andere Labordiagnostische Untersuchungen liegen nicht vor.
Diagnose:
Anhand des Vorberichtes lässt sich die Diagnose des sogenannten Kippfenster-Syndroms leicht stellen. Das Tier
zeigt die typischen Ausfallssymptome bei entsprechendem Vorbericht.
Therapie:
Zur Therapie gehört eine wirkungsvolle Schockbehandlung. Hierzu sollte ein venöser Zugang zur Verfügung
stehen. Die Patienten erhalten eine körperwarme Ringer-Laktat-Lösung Die Schockdosierung ist 30-50ml/kg
KGW. Da der dringende Verdacht auf Neuropraxien vorliegt empfiehlt sich eine Cortison-Therapie,
beispielsweise mit 50mg Solu-Decortin i.v. Zur Förderung der neuronalen Regeneration ist eine Gabe von Vit.C
und B empfehlenswert. Ferner sollte das Tier vor dem Auskühlen bewahrt und in engmaschigen Zeitabständen
überwacht werden. Es folgt eine gründliche Allgemeine und Spezielle Untersuchung, um Schäden am
cardiovaskulären, Verdauungs- und Harnapparat, Bewegungsapparat und Nervensystem festzustellen und ggf. zu
therapieren. Eine regelmäßige Physiotherapie ist anzustreben. Diese besteht in erster Linie in einer Massage der
Muskulatur der Hintergliedmaßen, die von distal nach proximal in Richtung des venösen Ruckflusses erfolgen
sollte. Die Druckstärke bzw. das Kneten der Muskulatur wird auf die Schmerzreaktion des Tieres abgestimmt.
Dieser Massage folgt eine passive Bewegung der Hintergliedmaßen. Dabei werden zuerst die einzelnen Gelenke
sanft im größtmöglichen Aktionsradius bewegt und anschließend die ganze Gliedmaße gebeugt und gestreckt.
Krankheitsverlauf und Prognose:
Es handelt sich bei dem Kippfenster-Syndrom um eine traumatisch bedingte Erkrankung. Der Krankheitsverlauf
ist dabei von den gesetzten Läsionen abhängig. Der untersuchte Patient spricht auf die gewählte Therapie gut an.
Schon am Tag der Einlieferung vermochte er einige Stunden nach der Initialtherapie wieder Last auf den
Hintergliedmaßen aufzunehmen. Er war weiterhin in der Lage Kot und Harn abzusetzen. Die
Korrekturreaktionen verbesserten sich innerhalb von 5 Tagen deutlich. Auch das Überköten ist stark
zurückgegangen. Der Femoralispuls ist mittlerweile wieder etwas deutlicher zu tasten. Die Prognose ist daher im
vorliegenden Fall recht günstig.
Epikrise:
Neben den Erkrankungen der Wirbelsäule wie Frakturen, Luxationen und Diskopathien sowie der thromboembolischen Aortenstenose gibt es bei der Katze noch eine weitere, wichtige Ursache für eine akute
Nachhandlähmung, das Hängen bleiben im Kippfenster. Schräg gestellt, kann dieses Fenster für die Katze zur
Falle werden. Das Ausmaß der Schäden ist abhängig von der Heftigkeit der Befreiungsversuche, da die Katze
immer tiefer nach unten rutscht und der Körper zwischen Rippenbogen und Becken zusammengedrückt wird.
Dies kann zu direkt traumatischen Schäden der Muskulatur, der Nerven, der inneren Organe und der Wirbelsäule
inklusive Rückenmark führen. Als Zeichen eines „Unteren Motorischen Neurons“ wird eine Paraparese bis –
plegie mit herabgesetzten Spinalen Reflexen der Hintergliedmaßen gesehen. Der Femoralispuls ist meistens
schwach bis fehlend und die betroffenen Gliedmaßen fallen in der Regel durch Dolenz, harte Muskulatur und
Untertemperatur auf. Als zugrundeliegende Pathophysiologie wird eine ungenügende Blutversorgung der
Hintergliedmaßen durch ganzen oder teilweisen Verschluss der terminalen Aorta vermutet. Der entstehende
Sauerstoffmangel in dem betroffenen Gewebe führt zu einer Inhibition der Zellatmung und zu einer Steigerung
der anaeroben Glykolyse, die sich in einem vermehrten Anfall von Laktat äußert und zu einer lokalen Azidose
führt. Die Läsionen der peripheren Nerven bestehen aus einer Kombination von axonaler Degeneration und
segmentaler Demyelinisierung. In der Humanmedizin sind Ischämien oft von sogenannten Parästhesien wie
Kältegefühl, Prickeln, Surren und Kribbeln begleitet. In der Muskulatur werden fokale Nekrosen, Makrophagen
und gelegentlich Infiltrate von mononukleären Zellen gesehen. Die Myalgie wird zusätzlich durch die
Hyperkaliämie und Histaminfreisetzung bewirkt. Frakturen und Luxationen treten nur in vereinzelten Fällen als
Komplikation auf.
Die Kompression des Abdomens führt zu verminderter bis sistierender Perfusion in der Aorta Abdominalis.
Durch die Ischämischen Läsionen der betroffenen Nerven erfolgt eine axonale Degeneration sowie eine
segmentale Demyelinisierung, der Nerv kann seine Funktion nicht mehr erfüllen und es entsteht das klinische
Bild der akuten Nachhandlähmung. Dies lässt sich ein der Elektromyelographischen Untersuchung darstellen.
Die Folgen einer Ischämie sind abhängig vom Ort der Okklusion, der Geschwindigkeit seiner Entstehung, der
Dauer der Minderdurchblutung, der Existenz präformierter Kollateralbahnen, der allgemeinen Kreislaufsituation
und dem Sauerstoffbedürfnis der betroffenen Gewebe.
Nach der Befreiung der Katzen aus dem Kippfenster können eine generalisierte metabolische Azidose, eine
Hyperkaliämie und eine Verminderung des Herzschlagvolumens als Folge der Reperfusion der ischämischen
Gliedmaßen entstehen. Eine in der Regel auffällige Veränderung im Blut ist die massive Erhöhung der beiden
Enzyme Kreatinkinase und Aspartat-Amino-Transferase.
Die Diagnose ergibt sich meist von selbst, da die Katzen im Kippfenster vorgefunden werden. Theoretisch
könnte es aber einer Katze gelingen, sich selber zu befreien (oder sie wird ohne den passenden Vorbericht
vorgestellt). Als Differentialdiagnose gelten dann alle möglichen Ursachen, die eine akute Nachhandlähmung
verursachen. Die wichtigste ist die Aortenthrombose, die bei Katzen meist auf eine Kardiomyopathie
zurückzuführen ist. Häufig sind zusätzliche Symptome wie Herzgeräusch, Herzrhythmusstörungen und Dyspnoe
zu sehen. Zur Diagnosestellung können Thorax-Röntgen, EKG und Ultraschall vom Herzen hilfreich sein.
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