Kurt Möller - Hochschule Esslingen

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Vorwort
26. April 2002 – heute, am Tag der Fertigstellung dieser Expertise, erschüttert eine kaum für
möglich gehaltene und in ihrem Ausmaß einzigartige Bluttat die ganze Nation. In Erfurt hat
ein neunzehnjähriger Schüler in einem Amoklauf, bewaffnet mit einer Pumpgun und einer
Pistole, dreizehn seiner Lehrer, eine Schulsekretärin, einen Mitschüler, einen Polizisten und
letztlich sich selbst erschossen. Mehrere MitschülerInnen wurden verletzt. Tatort: das
Gutenberg-Gymnasium, das er selbst bis zu seinem Verweis von der Schule vor ein paar
Monaten besuchte.
Die Konturen der Tat und ihrer Hintergründe sind erst in Ansätzen erkennbar. Der Bedarf
nach Aufklärung ist groß, die Debatte über Gewalt an Schulen erneut entfacht und die Diskussion um Ursachen vehement in Gang gesetzt. Eine Frage aber drängt sich immer stärker
auf: Wäre das Geschehen zu verhindern gewesen?
Der Erfurter Gewaltexzess wirft damit ein makaber-aktuelles Schlaglicht auf das Thema dieser Arbeit, fragt sie doch neben pädagogischen und sozialarbeiterischen Maßnahmen zur Verhinderung und Reduktion von fremdenfeindlichen Einstellungen und extremistischen Orientierungen auch zentral nach Konzepten der Gewaltprävention.
Freilich: Ihr zentraler Fokus ist nicht auf Amok-Gewalttaten ausgerichtet. Stärker thematisiert
sie Konzepte gegen die 'ganz normale' Alltagsgewalt. Sie bezieht sich dabei im Schwerpunkt
auf Jugendliche und an zahlreichen Stellen auch auf Gewalt bzw. Gewaltbekämpfung an
Schulen.
Zu vermuten ist – und beginnt es sich nicht bereits am heutigen Tag abzuzeichnen ? -, dass
die öffentliche Diskussion durch den Erfurter Fall auf 'Nebenkriegsschauplätze' gelockt wird:
Man wird über eine Verschärfung des Waffenrechts räsonieren, eine bessere Kontrolle von
Schießsportvereinen anstreben und einen Ausbau des gesetzlichen Jugendschutzes in Hinsicht
auf mediale Gewaltdarstellungen fordern, denn der Erfurter Täter scheint über Schießsportaktivitäten an die Tatwaffen herangekommen zu sein und in 'Ninja'-Manier in der Realität Vorlagen kopiert zu haben, die ihm Videos und extensives Computerspiel lieferten.
So naheliegend dem so genannten 'gesunden Menschenverstand' solche Überlegungen sein
mögen: Aus erziehungs- und sozialarbeitswissenschaftlicher Sicht sind sie in weiten Teilen
eher unpraktikabel und – bestenfalls – verkürzt: Wie sollen etwa nationale rechtliche Regelungen angesichts einer internationalen Multimedialisierung von Gewalt, gerade auch vermittels des Internet, Wirksamkeit entfalten? Warum werden Millionen andere jugendliche
Schießsportler, Ballerspiel-Begeisterte und Video-Horrorfans nicht zu Tätern? Bekämpft man
hier nicht eher Symptome als Ursachen?
Die hier vorgelegte Expertise betreibt keine Beschwichtigung. Aber sie plädiert dafür, bei der
Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt kurzatmigen Aktionismus zu vermeiden und
kühlen Kopf zu bewahren. Sie zeigt auf, welche Konzepte bislang verfolgt werden, wie ihre
Reichweite einzuschätzen ist, wo erfolgversprechende Ansatzpunkte liegen und was für ihre
Optimierung unverzichtbar ist. Sie macht zugleich deutlich, dass die Probleme letztlich nicht
juristisch und durch staatliche Repression zu lösen sind. Da sie in bestimmten sozialen
Strukturen wurzeln, bleiben sie ohne nachhaltige, langfristige, d.h. von vornherein auf Kontinuität hin angelegte sozialpolitische und (sozial)pädagogische Innovationen unbearbeitet.
Anlasszentrierte Symbolpolitik ist deshab nicht nur das falsche, sondern geradezu ein
gefährliches Rezept.
5
Einleitung
Was tun gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt?
Wer immer auf diese Gretchenfrage der Verteidigung und Sicherung einer rechtsstaatlichliberalen Gesellschaftsordnung nach tragfähigen Antworten sucht, tut gut daran, die Problematik zum einen zunächst genau zu analysieren, bevor u.U. folgenreiche Weichenstellungen
in Hinsicht auf zu beschreitende Bearbeitungswege erfolgen, zum anderen diese Analyse darüber hinaus auch kontinuierlich vorzunehmen, um Problementwicklungen und –verläufe
zeitnah studieren und aus diesem Untersuchungsprozess Konsequenzen ziehen zu können. Im
Mittelpunkt solcher Analysen steht im allgemeinen neben der möglichst detaillierten
Beschreibung der Phänomene die Fahndung nach den Problemursachen. Auf diesem Feld
werden vor allem die Politikwissenschaft, die Soziologie, die Psychologie und die
Erziehungswissenschaft herausgefordert.
Die erziehungswissenschaftliche Forschung sieht sich allerdings (noch) stärker als die
anderen genannten Disziplinen unter Anwendungsdruck, zumal sie bislang kaum durch eine
im
Rahmen
einer
eigenständigen
Disziplin
verortete,
praxisorientierte
sozialarbeitswissenschaftliche Forschung entlastet wird. Sie wird von Seiten der
Öffentlichkeit unausweichlich mit der Erwartung konfrontiert, nicht bei Phänomenographie
und Hintergrundanalyse stehen zu bleiben, sondern darüber hinaus praxisorientierte
Schlussfolgerungen für die Arbeitsbereiche der Pädagogik und der Sozialen Arbeit zu ziehen.
Mehr noch: Dem Kern ihres Aufgabenfelds wird auch die Analyse der pädagogischen und
sozialarbeiterischen Praxis selbst zugewiesen.
Allerdings lässt schon ein oberflächlicher Blick auf die empirischen Forschungsaktivitäten der
Erziehungswissenschaft zum Themenbereich von Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit
und Gewalt deutlich werden, dass dieser zuletzt genannte Funktionsaspekt innerhalb der
letzten 10 bis 15 Jahre augenscheinlich deutlich vernachlässigt wurde. Themenbezogene
erziehungswissenschaftliche Studien wurden meist als Sozialisationsforschung bzw. als eine
Art von Erziehungs- und Bildungssoziologie angelegt. Dies hat zur Folge, dass disziplinäre
Abgrenzungen verschwinden und weitgesteckte Kongruenzflächen mit Forschungsfragen, -inhalten und -anlagen anderer Disziplinen zu Stande kommen. Man muss in dem zuletzt
genannten Umstand keinen prinzipiellen Mangel erblicken. Zusammen mit der o.g. kritischen
Sicht auf eine vereinseitigende, nämlich ursachenanalytische Schwerpunktsetzung der
erziehungswissenschaftlichen Forschung, die im übrigen zudem noch weitgehend Antworten
auf die pädagogisch vermutlich viel weiter führende Fragestellung nach den Bedingungen von
Gewaltfreiheit, nicht fremdenfeindlichem bzw. nicht rechtsextremem, demokratischem
Denken und Handeln oder auch nach Distanz(ierungsfaktoren) von antidemokratischer
Positionierung und positiven Integrationsfaktoren schuldig bleibt, führt er aber doch in Bezug
auf die Anlage dieser Expertise im Kontext der interdisziplinären Kooperation mit den
anderen Expertisen zum Forschungsverbund dazu, eine Fokussierung auf die pädagogische
und sozialarbeiterische Praxis vorzunehmen. Konkret: Bezogen auf die Einleitungsfrage
untersucht die vorliegende Studie das, was in den entsprechenden professionellen
Arbeitsfeldern getan wird, um Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt
entgegenzutreten
bzw.
abzubauen,
Anerkennungszerfall
zu
verhindern
und
Integrationspotenziale zu stärken.
Neben dem damit kurz angerissenen wissenschaftlichen Ausgangspunkt liegt ein
praxisbezogener Ausgangspunkt darin, dass die öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten
über die Phänomene von Rechtsextremismus, Gewalt und Fremdenfeindlichkeit sowie die in
6
ihrem Kontext entwickelten Bearbeitungsperspektiven der praktischen Pädagogik bzw. der
Sozialen Arbeit von je her herausragende Rollen bei der Beeinflussung dieser Problemlagen
zuweisen. Dies gilt nicht nur für den Diskurs über pädagogisch zu verantwortende Ursachen
z.B. in Elternhaus und Schule, sondern auch und vor allem für angestrebte Problemlösungen,
für die Entwicklung von geeigneten Antworten auf Prozesse des Anerkennungszerfalls und
der sozialen Desintegration im Hintergrund der genannten Problematiken sowie für Versuche
einer Stärkung von gesellschaftlichen Integrationspotenzialen.
Im Zuge der aktuellen Diskussionen um Rechtsextremismus und Gewalt sind in den
Bereichen von Pädagogik und Sozialer Arbeit - auch in Reaktion auf solche
Erwartungshaltungen - seit Ende der 80er Jahre verstärkt neue Ansätze entwickelt worden.
Sie haben eine mittlerweile kaum noch zu überblickende Vielfalt von Strategien, Konzepten,
Programmen, Projekten, Maßnahmen, Unterrichtseinheiten und Initiativen produziert. So
erfreulich ihre Fülle sein mag, so stellt sich doch auch die Frage nach der Passgenauigkeit, der
inneren Logik, dem konkreten Nutzen und der jeweiligen Reichweite der Ansätze.
Die grob umrissenen Untersuchungsbereiche dieser Expertise werden daher durch die Fragen
markiert: Wo werden welche pädagogischen und sozialarbeiterischen Ansätze verfolgt?
Inwieweit sind sie auf den aktuellen themenspezifischen wissenschaftlichen Erkenntnisstand
bezogen? Liegen brauchbare und perspektivengenerierende Evaluationen vor oder sind sie
zumindest beabsichtigt oder in Planung? Und: Welche Erkenntnisbedarfe ergeben sich aus der
Sicht und dem Entwicklungsstand der pädagogischen bzw. sozialarbeiterischen Praxis und
wie könnte sie mithin von dem angestrebten Forschungsverbund profitieren?
Das aus den skizzierten Ausgangspunkten abgeleitete Hauptziel der Expertise ist mithin
 die Erstellung einer kritischen Bestandsaufnahme existierender pädagogischer und
sozialarbeiterischer
Ansätze
der
Bearbeitung
von
Rechtsextremismus,
Fremdenfeindlichkeit und Gewalt im Rahmen der Intention der Stärkung von
Integrationspotenzialen.
Teilziele sind
 die Sichtung politischer Programme und staatlich initiierter Aktivitäten, die auf Bundesund Länderebene existieren,
 die Eruierung der arbeitsfeldübergreifend registrierbaren Grundzüge pädagogischer und
sozialarbeiterischer Herangehensweisen an den Problemkomplex,
 die Deskription der wichtigsten professionstypischen Praxiskonzepte, dabei
 die Prüfung dieser konzeptionellen Ansätze im Hinblick auf ihren Bezug zu
grundlegenden und aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie in Hinsicht auf
praxisorientierende Forschungsbedarfe,
 die Erhebung des Stellenwerts und des konkreten Standes der Evaluation der Ansätze
sowie
 die Bewertung der Themen des geplanten Projektverbundes vor dem Hintergrund der o.a.
Analysen.
Wie leicht ersichtlich, sind die zeitlichen und materiellen Rahmenbedingungen für die
Erstellung dieser Expertise nicht geeignet, wissenschaftliche Evaluationen entsprechender
Programme und Handlungsansätze selbst vorzunehmen. Eine quantitativ-repräsentative
Anlage von Befragungen war im zur Verfügung stehenden Zeitraum und bei begrenzten
finanziellen Ressourcen eben so wenig realisierbar wie eine den hohen Ansprüchen
qualitativer Forschung Genüge leistende systematische und längerfristige Erhebungs- und
Auswertungsarbeit.
7
Die Expertise erzielt daher ihren Erkenntnisgewinn auf der Basis einer eigenständigen,
zeitlich kompakten, gründlichen und gut strukturierten Recherche. Sie stützt sich in ihrer
Vorgehensweise schwerpunktmäßig auf:
 die Auswertung themenrelevanter wissenschaftlicher Literatur,
 die Auswertung von verschriftlichten praxisorientierten Strategiediskussionen,
insbesondere aber von Konzept-, Programm-, Projekt-, Maßnahmen- und
Initiativdarstellungen sowie von Bildungs- und Unterrichtseinheiten,
 die Recherche bei ausgewählten Einrichtungen und Initiativen vor Ort und Gespräche mit
ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen,
 den interdisziplinären Austausch und die interdisziplinäre Beratung mit Kolleginnen und
Kollegen aus der Rechtsextremismus-, Gewalt- und Integrationsforschung sowie der
Evaluationsforschung und
 Internet-Recherche.
Sind somit einleitend knapp die Ausgangspunkte, wichtigsten Ziele und zentralen Inhalte der
Expertise sowie die Vorgehensweise bei ihrer Erstellung umrissen, so werden in einem ersten
Kapitel die wichtigsten politischen Programme mit pädagogischer und/oder
sozialarbeiterischer Orientierung erörtert, die von Bund und Ländern aufgelegt wurden und
noch aktuell wirksam sind (1.). Soweit die Länder keine speziellen Programme besitzen,
werden zumindest die Grundzüge der von ihnen mittels politischer Entscheidungen und
Rahmensetzungen geprägten Ausrichtungen von Aktivitäten markiert. Damit wird dem
Umstand Rechnung getragen, dass pädagogische und sozialarbeiterische Maßnahmen und
Projekte in ihrer Ausrichtung ganz erheblich (Förderungs-)Vorgaben der öffentlichen Hand
folgen (müssen) und daher in bedeutendem Maße von diesen mitkonturiert werden. Sie stellen
insofern einen unübersehbar wichtigen Aspekt aus der Praxis heraus kaum oder schwer zu
beeinflussender
politischer
Strukturbedingungen
pädagogischen/sozialarbeiterischen
Handelns dar.
Das zweite Kapitel markiert allgemeine pädagogische und sozialarbeiterische Grundlagen, auf
die sich Aktivitäten der professionellen Bekämpfung von Rechtsextremismus,
Fremdenfeindlichkeit und Gewalt explizit oder (zumeist) implizit beziehen (2.). Es beschreitet
dabei den Weg vom Abstrakten zum Konkreten und bereitet damit die Darlegung und
kritische Diskussion einzelner Konzepte im anschließenden Hauptkapitel vor.
Um basale disziplinäre und professionsbezogene Denk- und Herangehensweisen offen zu
legen, in die die Aktivitäten eingebettet sind, werden zum ersten die fundamentalen
Paradigmen skizziert, auf denen entsprechende Ansätze beruhen (2.1).
Zum zweiten werden die richtungsweisenden Strategien benannt, die mit diesen
Diskurskontexten in Verbindung stehen (2.2).
Zum dritten wird geklärt, in welche konkreten Angebotsformate pädagogische und
sozialarbeiterische Strategien gegossen werden (2.3).
Praktische Pädagogik und Soziale Arbeit erhalten ihre wissenschaftliche Unterfütterung im
wesentlichen durch
die zentralen
Bezugsdisziplinen der
Erziehungs- wie
Sozialarbeitswissenschaft. Beide sind als Handlungswissenschaften konzipiert, so dass das
Theorie-Praxis-Verhältnis zur Klärung ansteht (2.4).
Insofern sich professionelle pädagogische und soziale Praxis einer Bewertung unterziehen
müssen, ist zu klären, was unter einer wissenschaftlichen Standards genügenden Evaluation
zu verstehen ist (2.5).
Nachdem so ein allgemeiner Überblick über die Typen und wichtigsten Bezugspunkte
pädagogischen/sozialarbeiterischen Handelns innerhalb des hier vorrangig interessierenden
Handlungsbereichs verschafft wurde, werden Grenzziehungen vorgenommen, die aus
fachlicher Sicht erforderlich sind (2.6).
8
Kapitel 3 bildet das Zentrum der vorliegenden Arbeit (3.). Hier werden die Konzepte der
pädagogischen und sozialarbeiterischen Bearbeitung von Rechtsextremismus, Gewalt und
Fremdenfeindlichkeit sowie die darin aufscheinenden Absichten der in diesem Kontext
angestrebten Stärkung von Integrationspotenzialen erörtert. Alltagssprachlich formuliert
finden sich hier Antworten auf die Fragebatterie: Was wird von wem, seit wann, wo, für wen,
ggf. mit wem, auf welcher Analysebasis, unter welchen Rahmenbedingungen, mit welcher
Zielsetzung, wie, mit welchem Erfolg und bei welchen Erfolgskriterien und Prüfindikatoren
angeboten? Es wird also vor allem jeweils sowohl – in Erweiterung der bekannten
Konzeptdefinition von Geißler/Hege (1978) - der sinnhafte Zusammenhang von
Ausgangsanalyse, Zielen, Zielgruppen, Inhalten, Methoden und Rahmenbedingungen offen
gelegt und geprüft, als auch – hierbei aktuelleren Überlegungen zu (sozial)pädagogischen/ arbeiterischen Konzeptentwicklungen folgend (vgl. z. B. Deinet 1999, Deinet/Sturzenhecker
1996) – der Gesichtspunkt der Evaluation der Konzepte berücksichtigt. Es soll keine bloße
Addition mehr oder minder zufällig ausgewählter Projekt- und Maßnahmenbeschreibungen
erfolgen. Ebenso wenig soll die Angebotspalette, die Leistungsfähigkeit oder gar ein
Versagen bestimmter Träger ins Licht gerückt werden. Vielmehr wird im Endergebnis eine
Übersicht über allgemeine konzeptionelle Tendenzen im jeweiligen Arbeitsfeld geliefert.
Nicht zuletzt um die Anschlussfähigkeit an die anderen (soziologischen, psychologischen und
politikwissenschaftlichen) Expertisen sicherzustellen, wird insbesondere dabei auch neben
den schon genannten Konzeptionsfaktoren auf die Bearbeitung der Aspekte von
Hintergrundsprozessen für Anerkennungszerfall und Flucht in die Gewalt, sozialräumlichen
Kontextbedingungen, Interaktionsprozessen und Interaktionsdynamiken, biographischen
Komponenten und Verläufen sowie der Bedeutung von Wissen, Information und Bildung
geachtet. Dabei werden auch eventuelle innerdeutsche Ost-West-Differenzen untersucht.
Ein weiteres Kapitel (4.) bezieht die erarbeiteten Erkenntnisse auf den angestrebten
Forschungsverbund. Geklärt wird, inwieweit seine Anlage versprechen kann, bestehende
Forschungslücken aufzuarbeiten und wichtige Forschungsdesiderate anzugehen. Außerdem
werden weiterreichendere Forschungsbedarfe aus der Perspektive der vorgenommenen
Analyse pädagogischer und sozialarbeiterischer Praxis benannt. In der Umsetzung von
Resultaten dieser Expertise wäre zu prüfen, inwieweit sie u.U. durch ergänzende Projekte im
Forschungsverbund selber oder an ihn angelagert aufzuarbeiten sind.
Das Schlusskapitel (5.) liefert eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Argumente und
Erkenntnisse.
Das Literaturverzeichnis (6.) führt nur die im Text verwendeten Schriften, ein weiteres
Verzeichnis (7.) die benutzten Internetadressen an.
Der folgenden Anhang (8.) enthält eine kommentierte Zusammenstellung der interessantesten
Internetadressen zum Thema.1
1
Die Gliederung der Expertise weicht z.T. vom Expertisen-Exposé ab. Dies ist eine Konsequenz aus den
im Verlaufe ihrer Erarbeitung angestellten Recherchen. Vor allem zwei Änderungen wurden erforderlich: Zum
einen zeigte sich, dass die gegenwärtige Projektelandschaft deutlich von politischen Programmen bestimmt wird.
Folge dessen ist, dass ein thematisch entsprechend ausgerichtetes Kapitel (1.) zusätzlich aufgenommen wurde.
Zum anderen erwies sich eine eindeutig abgrenzbare Zuordnung von Praxiskonzepten zu den unterschiedlichen
pädagogischen bzw. sozialarbeiterischen Handlungsfeldern in der ursprünglich angedachten Differenzierung als
kaum möglich und letztlich wenig sinnvoll, weil in jüngster Zeit eine Reihe von Konzepten immer stärker über
ihre angestammten Handlungsfelder hinaus neue Adaptionen finden (z.B. das in Kap. 3.1.2 erörterte BetzavtaKonzept oder das in Kap. 3.1.11 diskutierte Anti-Aggressivitäts-Training) und insgesamt
9
arbeitsfeldübergreifende Ansätze an Bedeutung zunehmen; nicht zuletzt auch deshalb weil die Förderprogramme
auf Kooperation, Vernetzung und Methodenvielfalt Wert legen.
10
1.
Politische Programme mit pädagogischer bzw. sozialarbeiterischer Ausrichtung
Pädagogische und sozialarbeiterische Praxis existieren prinzipiell nicht im luftleeren Raum.
Ganz wesentlich sind ihre Aktivitäten u.a. von den politischen Rahmenbedingungen
abhängig, die ihnen gewährt werden. Entwicklungen in (sozial)pädagogischen/-arbeiterischen
Feldern zeigen sich deshalb - ähnlich wie diejenigen im zivilgesellschaftlichen Bereich –
neben dem Angebot, das von Stiftungen ausgeht, auch im allgemeinen erheblich von den
jeweiligen programmatischen Ausrichtungen und den ihnen folgenden finanziellen
Mittelangeboten und -vergabekriterien der politischen Entscheidungsträger beeinflusst. Dies
betrifft sowohl ihre Inhalte und ihren Umfang als auch ihre zeitliche Struktur, weil
einschlägige Einrichtungen und Initiativen wie ihre Maßnahmen und Projekte im Regelfall
auf die (Mit-)Finanzierung durch öffentliche Gelder angewiesen sind. Insofern müssen auch
die pädagogischen bzw. sozialarbeiterischen Bearbeitungsweisen von Gewalt,
Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit vor diesem Hintergrund betrachtet werden.
Dies gilt umso mehr als in den vergangenen Jahren verschiedene thematisch einschlägige
Sonderprogramme aufgelegt wurden und auch in ihrem Rahmen in jüngerer Zeit deutlich
mehr Gewicht auf Evaluation gelegt wird.
Im folgenden sollen die wichtigsten politischen Vorgaben und Programme zentriert auf die
Bundes- und Länderebene erörtert werden. Da im Rahmen dieser Expertise keine historische
Darstellung beabsichtigt sein kann, beschränken wir uns dabei auf entsprechende aktuelle
Entwicklungen.2
2
Interessant wäre sicher auch eine Sichtung derjenigen Ansätze, die im gesellschaftlichen Raum von
Unternehmen, Gewerkschaften, Kirchen, Stiftungen u.ä. gesellschaftlich relevanten Gruppierungen bzw.
Einrichtungen angeregt oder umgesetzt wurden und werden. Im Rahmen dieser Expertise kann dies nicht
systematisch erfolgen. Beispiele finden sich aber im Umfeld des Beschlusses der Arbeitsgemeinschaft
Christlicher Kirchen zur "Dekade zur Überwindung von Gewalt" (vgl. exemplarisch www.oekumene-ack.de;
www.renovabis.de; www.wcc-coe.org; www.christen-und-juden.de, www.basta-net.de/aktionen/aktionen3.html,
www.paritaet.org/via/kjp-sind.htm), beim Verein "Gesicht zeigen!", der im August 2000 auf Initiative
prominenter PolitikerInnen gegründet wurde und neben Wettbewerben, Kampagnen und Demonstrationen auch
ein sehr informatives und praxisnahes "Handbuch für Zivilcourage" (2001) gemacht hat (vgl. auch
www.gesichtzeigen.de), bei der "Aktion Courage" (vgl. www.aktioncourage.org und deren Aktion "Schule ohne
Rassismus"; vgl. dazu aber auch Kap. 3.1.5), besonders ungewöhnlich bei den Initiativen "Kochen gegen rechts"
(www.howru.de) und "Saufen gegen rechts" (vgl. www.saufengegenrechts.de), der "stern"-Initiative "Mut gegen
rechte Gewalt", die u.a. mit 1 Mio. DM "exit" Deutschland finanziert (vgl. dazu auch Kap. 3.1.15), in
Broschüren wie Arbeiterwohlfahrt 2001, DGB 2000, 2001, Ver.di 2001, EUMC 2001, 80f., in den 2002
herausgegebenen Materialien der IG Bauen – Agrar – Umwelt für den Berufsschulunterricht oder unter
Internetadressen über Gewerkschafts- bzw. Unternehmensinitiativen wie www.fassmichnichtan.de, www.itunternehmen-gegen-r...e, www.naiin.de; vgl. außerdem Muster für Betriebsvereinbarungen in: Gesicht zeigen
2001, 46ff.; vgl. des Weiteren auch die "Migrationspolitischen Handreichungen" des DGB (1998) sowie
Brüggeman/Riehle 2000 zu betrieblichen Strategien.
Neuen 'drive' bekommt die Debatte durch die zur Verwirklichung des Art. 13 des Amsterdamer Vertrages von
1997 verabschiedeten EG-Richtlinien 2000/43 "zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne
Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft" vom 29.06.2000 bzw. 2000/78 "zur Festlegung eines
allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf" vom
27.11.2000 sowie durch das "Aktionsprogramm der Gemeinschaft zur Bekämpfung von Diskriminierungen"
(2001-2006). Die neuen Regelungen auf europäischer Ebene definieren u.a. rassistische und ethnische
Diskriminierungen näher, sehen eine Beweislastumkehrung, Ombudsleute bzw. die Einrichtung von AntiDiskriminierungsstellen in den Mitgliedsstaaten vor und eröffnen die Möglichkeit zu einer Normbereinigung, die
zu prüfen gestattet, inwieweit unterschiedliche Behandlungen von Personen aus Gründen der Staatsangehörigkeit
noch angebracht sind Die Richtlinien müssen bis Juli bzw. Dezember 2003 von den Mitgliedsstaaten in
nationales Recht umgesetzt werden. Die Bundesregierung hat dementsprechend bereits im Dezember 2001 einen
Gesetzentwurf für ein Anti-Diskriminierungsgesetz vorgelegt, das das Verbot von Diskriminierung auch
zivilrechtlich regeln soll. Erste Reaktionen der Anti-Diskriminierungsarbeit begrüßen grundsätzlich die Initiative
zu einem Anti-Diskrimierungsgesetz, halten die im Entwurf vorgesehenen Regelungen aber mit Verweis auf
weitergehende Gesetze in anderen europäischen Ländern für unzureichend. Vor allem wird gefordert, ein
11
1.1
Programme des Bundes
Im Zentrum der politischen Bemühungen der sozialdemokratisch-grünen Bundesregierung zur
Eindämmung bzw. zum Abbau von Gewalt, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und
Rechtsextremismus steht das im Jahre 2001 in Kraft gesetzte Programm "Jugend für Toleranz
und Demokratie – gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus". Sie
antwortete damit auf eine Welle der Rechtsextremismus-Debatte, die aus verschiedenen
Gründen seit Mitte der 90er Jahre bedrohlich auflief. Zu ihnen gehören:
 der wachsende Zulauf Jugendlicher zu rechtsextremen Parteien,
 die Verbreitung von sog. "Kameradschaften",
 die Versuche Rechtsextremer, zunächst im lokalen Umfeld – vorwiegend in
Ostdeutschland - politisch-kulturelle Hegemonie über die Herstellung "national befreiter
Zonen" auszuüben,
 innovative und gleichzeitig schwer kontrollierbare Verbreitungsformen rechtsextremer
Musik und Propaganda über das Internet und
 enorme Wahlerfolge der rechtsextremen DVU bei der sachsen-anhaltinischen
Landtagswahl im April 1998.
Die einschlägige Diskussion schwoll nach ihrem zwischenzeitlichen Abebben durch die
Anschläge im Sommer des Jahres 2000, die neuerliche Rekordmarke von rd. 15.000
Straftaten rechtsextremer Kontur im gleichen Jahr, die nach Verfassungsschutzrecherchen
registrierbare starke Zunahme gewaltbereiter Rechtsextremisten und die auf sie folgende
NPD-Verbots-Diskussion so weit an, dass politische Reaktionen nicht ausbleiben konnten.
Im Gegensatz zu seinem Vorgänger, dem noch von der konservativ-liberalen
Bundesregierung zwischen 1992 und 1996 aufgelegten "Aktionsprogramm gegen Aggression
und Gewalt" (AgAG), das auf die erste Phase der seit Ende der 80er Jahre, verschärft aber
später durch die gewaltsamen Fanaltaten von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen
ausgelösten Debatte reagierte, ist das neue Programm insgesamt nicht nur auf den Osten,
sondern auf ganz Deutschland bezogen. Insofern ist es auch weniger als AgAG mit der
allgemeinen Zielsetzung belastet, nicht-staatliche Jugendhilfestrukturen auf dem Gebiet der in
dieser Hinsicht Anfang der 90er Jahre unverkennbar unterentwickelten ehemaligen DDR
aufzubauen. War das alte Sonderprogramm außerdem noch auf die Problematik von
physischer Gewalt zugeschnitten, und zwar unabhängig davon, ob es sich um politisch
konturierte rechtsextreme oder linksextreme oder sich unpolitisch verstehende Violenz
handelte, so ist das neue Programm spezifischer auf die der Demokratie drohenden 'Gefahr
von rechts' bezogen. Die von ihm entfalteten Aktivitäten können deshalb auch breiter
Mentalitäten, Einstellungen und Haltungen zum Gegenstand machen, die 'unterhalb' der
Aufmerksamkeitsschwelle liegen, die für politische Gewaltsamkeit gilt.
Es geht insgesamt von der Einschätzung aus, dass Extremismus kein bloßes Randproblem der
deutschen Gesellschaft darstellt, bei seiner Bekämpfung daher neben Repression vom Bund
Normbereinigungsverfahren in den verschiedenen Rechtsbereichen zu beginnen, die Aufnahme konkreter
Diskriminierungstatbestände in das Strafrecht vorzunehmen und eine ausreichend starke Sanktionierung
entsprechender Delikte sowie insbesondere die gesetzliche Verankerung und flächendeckende Einrichtung von
Anti-Diskriminierungsstellen, denen auch Verbandsklagekompetenz eingeräumt werden soll, bzw. die
Einrichtung von Stellen mit Ombudsfunktion vorzunehmen (vgl. zu diesem Komplex: Amtsblatt der
Europäischen Gemeinschaft L 180/22-26, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft L 303/16-22; Forum gegen
Rassismus/Nationaler Runder Tisch, Arbeitsgruppe Gleichbehandlung/Nichtdiskriminierung 2001; Netz gegen
Rassismus, für gleiche Rechte 2000, 2001; Stellungnahme der Antidiskriminierungsiniativen aus NRW zum
Gesetzesentwurf zur Verhinderung von Diskriminierungen im Zivilrecht vom 10.12.2001in:
www.nrwgegendiskriminierung.de sowie Kap. 3.1.17).
12
über die Länder bis zu den Kommunen ein integriertes Vorgehen von Wirtschafts-, Sozial-,
Arbeitsmarkt-, Kinder-, Jugend-, Familien-, Bildungs-, Kultur- und Medienpolitik
erforderlich und das Engagement gesellschaftlich relevanter Gruppen zu fördern ist. Dabei
wird explizit eine präventive Jugendarbeit priorisiert und sowohl die politische (offenbar
weniger die pädagogische) Auseinandersetzung mit offensichtlichen Problemgruppen als auch
die Unterstützung zivilen Engagements bei Jugendlichen, die rechtsextremen, antisemitischen
und fremdenfeindlichen Auffassungen fern- und entgegenstehen, intendiert.
Das Programm ergänzt bisherige Fördermöglichkeiten der Prävention von Gewalt und
Rechtsextremismus, die z.B. im Rahmen des Kinder- und Jugendplanes des Bundes,
Projekten der Ausländer- und Aussiedlerintegration, Programmen der Jugendsozialarbeit oder
des Programms "Soziale Stadt" gegeben waren/sind. Es hatte 2001 drei Teile (eingehender
vgl. www.bmfsfj.de/dokumente/Struktur/ix_28765.htm und Xenos 2001), die inzwischen
etwas verändert worden sind:
In einem ersten Programmteil werden unter dem Titel "Xenos" – Leben und Arbeiten in
Vielfalt" bis zum Jahre 2006 Projekte gefördert, die sich gegen Ausgrenzung und
Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft richten und die das
gemeinsame Lernen und Arbeiten von Deutschen und Nicht-Deutschen unterstützen (die
ersten 98 Projekte werden seit kurzem in Kurzbeschreibung auf der Website www.xenos-d.de
vorgestellt). Der Arbeitsmarktbezug der Projekte ist dabei ein Muss. Insbesondere sollen
zivilgesellschaftliche Strukturen und lokale Kooperationen und Partnerschaften gestärkt
werden. Dazu sind Förderschwerpunkte in den folgenden Bereichen vorgesehen:
 "Integrierte lokale Projekte, mobile Beratungsteams, Expertenpools und Kleinprojekte",
 "Qualifizierung von Multiplikatoren und Multiplikatorinnen",
 "Maßnahmen in Schule, Beruf und Betrieb" sowie
 "Information und Sensibilisierung".
Es standen/stehen 2001 25 Mio. DM, danach 25,56 Mio. Euro jährlich aus dem Europäischen
Sozialfonds dafür zur Verfügung. Länder, Kommunen, die Bundesanstalt für Arbeit oder
Träger bzw. TeilnehmerInnen müssen eine Kofinanzierung in gleicher Höhe aufbringen
(Ausnahme Kleinprojekte bis 10.000 Euro). Die technisch-administrative Umsetzung liegt
z.Zt. noch in den Händen des Bonner "Europabüros für Projektbegleitung GmbH" (efp). Ein
Mitarbeiter von efp beziffert die Zahl der Projektanträge, die Evaluationen vorsehen, auf 10%
bis 20%. Ihr Volumen schwankt danach in einer Marge, die im Schwerpunkt zwischen 8.000
einerseits und 30.000 bis 50.000 Euro andererseits liegt. Genauere Kenntnisse liegen nicht
vor. Offiziell aufgrund vergaberechtlicher Unzulässigkeiten in der Vertragsgestaltung
zwischen BMA und efp, die von europäischer Ebene moniert worden waren, hat das BMA
zum 30.06.2002 allerdings alle Verträge mit efp gekündigt (vgl. dazu die Informationen unter
www.xenos-d.de). Das Arbeitsministerium wird nun die Abwicklung selber durchführen.
In Teil 2 waren – einmalig für 2001 in den Kinder- und Jugendplan des Bundes eingestellt
und deshalb als Anschubfinanzierung oder für kurzfristige Projekte gedacht – Gelder für
"Maßnahmen gegen Gewalt und Rechtsextremismus" ausgewiesen worden, die grundsätzlich
nicht als Kofinanzierung für das Xenos-Programm in Frage kamen. Die insgesamt 30 Mio.
DM untergliedern sich in
 15 Mio. DM, die für Politische Bildung nach dem sog. "Königssteiner Schlüssel" an die
Länder verteilt werden,
 5 Mio. DM für die Implementierung lokaler Aktionspläne gegen Gewalt,
Rechtsextremismus und Fremdenhass im Rahmen der Programmplattform "Entwicklung
13


und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten" mit insgesamt 60 geförderten
Jugendämtern,
6 Mio. DM für Maßnahmen der bundeszentralen Träger der Jugendbildung und
4 Mio. DM für die Finanzierung von modellhaften Projekten von bundesweiter
Bedeutung.
Maßnahmebereiche lagen vorrangig in drei Feldern:
 Maßnahmen mit medialer Breitenwirkung,
 Unterstützung der Jugendbildungsarbeit und
 Initiierung von (kommunalem) Engagement.
Nahezu 1600 Projekte konnten unterstützt werden, bei Dominanz von Kleinprojekten mit
weniger als 10.000 DM. Nur eine Handvoll von ihnen hat eine evaluative Begleitung
vorgesehen; Berichte darüber liegen allerdings noch nicht vor. Eine Programmdokumentation
nimmt die Leipziger Arbeitsstelle des Deutschen Jugendinstituts vor. Der Abschlussbericht
wird Ende April 2002 vorliegen. Eine Datenbank (MaReG) mit Kurzbeschreibungen von z.Zt.
rd. 1000 dieser Projekte und good-practice-Beispielen (letztere ab Frühjahr 2002 ausgewähltt)
ist seit Anfang des Jahres 2002 unter www.dji.de (Button 'Projekte gegen Rechts') im Internet
aufzurufen.
Der dritte Teil besteht aus dem Teil-Programm "civitas – initiativ gegen Rechtsextremismus
in den neuen Bundesländern" (2001: 10 Mio. DM). Wie der Name schon sagt, ist es nur auf
die Gebiete der ehemaligen DDR bezogen. Es dient der Bekämpfung von Rechtsextremismus,
Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus durch eine Stärkung der demokratischen Kultur
und die Förderung von Modellprojekten
 zur Beratung, Ausbildung und Unterstützung von Initiativen gegen Rechtsextremismus
(2001: 5 Mio. DM) sowie
 zur Beratung von faktischen oder potenziellen Opfern rechtsextremer Straftaten (2001: 5
Mio. DM).
Das Programm soll zur Stabilisierung und Weiterentwicklung zivilgesellschaftlicher
Strukturen im Gemeinwesen beitragen, weil Demokratisierungsprozesse als von ihnen
abhängig betrachtet werden. Es soll ferner die Professionalisierung von Beratungsstrukturen
vorantreiben.
Die Förderbereiche erstrecken sich auf
 Mobile Beratungsteams (insgesamt sechs mit jeweils zwischen 200.000 und 300.000 DM
p.a. Fördersumme; inhaltlich dazu siehe Kap. 3.1.14),
 die Beratung von Opfern bzw. potenziellen Opfern (acht Stellen, ihre dezentralen
Untergliederungen nicht gerechnet, mit pro Stelle ähnlich hoher Förderung) und
 Hilfen für örtliche Initiativen (jeweils 1.000 bis 50.000 DM für z.Zt. 321, z.T. auch nur
eintägige Projekte) sowie den Aufbau von Vernetzungsstrukturen.
Geförderte Projekte sind mit Angaben zu Namen, Antragstellern, Orten und Datum der
Förderentscheidungen im Internet unter www.jugendstiftung-civitas.de (Button
Förderprojekte) aufzurufen. Anträge können eine Laufzeit bis zu 3 Jahren vorsehen. Mit der
Umsetzung des Programms ist eine Servicestelle betraut, die gemeinsam von der "Stiftung
Demokratische Jugend" und der "Amadeu-Antonio-Stiftung" getragen wird. Sie soll auch
Ergebnisse und Erfahrungen auswerten und dokumentieren. Die beiden Stiftungen
entscheiden unter Hinzuziehung eines Programmbeirats über die Bewilligung von Anträgen.
Eine evaluative wissenschaftliche Begleitung des Programms ist vorgesehen, für 2001
vergeben und mit einem formativ-prozessorientierten Selbstverständnis versehen (vgl.
14
Rommelspacher u.a. 2002). Evaluationen einzelner Maßnahmen sind sehr selten, weil sie
auch kaum beantragt wurden. Es scheint z.Zt. nicht ganz klar zu sein, inwieweit die
Evaluation des Gesamtprogramms auch die Evaluation der einzelnen MBTs,
Opferberatungsstellen und zivilgesellschaftlichen Projekte abzudecken vermag.
Im gesellschaftlichen Raum ergänzt die "AG Netzwerke gegen Rechtsextremismus" die
Stärkung demokratischer Strukturen in den Neuen Bundesländern. In ihr haben sich seit 2000
die "Amadeu-Antonio-Stiftung", das "Anne Frank Zentrum", die Vereine "Gegen Vergessen –
Für Demokratie" e.V., "Miteinander – Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in
Sachsen-Anhalt" e.V. und das "Netzwerk für Demokratie und Courage" e.V. sowie die
"Stiftung Demokratische Jugend" und das "Zentrum Demokratische Kultur"
zusammengeschlossen.
Für das Jahr 2002 ist das Programm "Jugend für Toleranz und Demokratie" verändert worden:
Den ehemaligen Teil 2 ersetzt das Teil-Programm "entimon" (altgriechisch: "Würde",
"Respekt"). Hier werden 10 Mio. Euro zur Verfügung gestellt. Sie konzentrieren sich
ebenfalls auf Maßnahmen der politischen Bildung. Eine wissenschaftliche Begleitung –
weiterhin dokumentarisch und nicht evaluativ angelegt – wird wie beim ehemaligen Teil 2
(2001) von der Leipziger Arbeitsstelle des DJI durchgeführt.
"Civitas" wird wie "Xenos" weitergeführt und auf 10 Mio. Euro aufgestockt werden. Die
Förderschwerpunkte bleiben dieselben. Für Evaluation sollen in 2001 rund 250.000 Euro zur
Verfügung stehen. Eine Ausschreibung dafür ist Ende Februar erfolgt.
Weitere Fördermaßnahmen von Projekten der Rechtsextremismusbekämpfung sind,
abgesehen von dem schon laufenden "Odysseus", ein Programm der EU, das mit einem
Gesamtvolumen von 12 Mio. Euro für die Jahre 1998-2002 Zuschüsse für Aus- und
Fortbildung, Austausch, Studien- und Forschungsarbeiten und Informationsverarbeitung bis
zur Höchstförderungsgrenze von 60% in den Themenbereichen Asyl und Einwanderung in
Aussicht stellt – ebenfalls arbeitsmarktorientiert – von "Equal", der Fortsetzung der von 19941999 gelaufenen Gemeinschaftsinitiativen "ADAPT" und "Beschäftigung", zu erwarten.
Equal ist ein EU-Programm, das die Diskriminierung und Ungleichbehandlung von
Arbeitenden und Arbeitssuchenden bekämpfen will und dabei auf transnationale
Entwicklungspartnerschaften setzt. Für 2000-2006 stehen europaweit 2,847 Mrd. Euro, davon
514,5 Mio. Euro für Deutschland, bereit. Die neun Schwerpunktbereiche sind in vier Paketen
gegliedert: Erhöhung von Beschäftigungsfähigkeit (hier auch explizit: Bekämpfung von
Rassismus
und
Fremdenfeindlichkeit),
Entwicklung
von
Unternehmergeist,
Anpassungsfähigkeit, Chancengleichheit für Frauen und Männer sowie Unterstützung der
Integration von Asylbewerbern (in Deutschland fließen 7% der Gelder in diesen Bereich). Die
Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus wird als Querschnittsaufgabe in allen
Bereichen betrachtet. Als Koordinierungsstelle in Deutschland war ebenfalls die efp
vorgesehen. Auch der auf Equal bezogene Vertrag ist aber zum 30.06.2002 gekündigt
worden. Das Antrags- und Auswahlverfahren läuft noch. Transnationale Vereinbarungen
sollen bis 01.04.2002 vorgelegt werden.
Auf europäischer Ebene gehört außerdem das Aktionsprogramm der Gemeinschaft zur
Bekämpfung von Diskriminierungen zur Palette der Unterstützungsmöglichkeiten für
Antirassismus-Arbeit. Für den Zeitraum von 2001-2006 beträgt das Budget 100 Mio. Euro.
Mit ihm werden 3 Aktionsbereiche bearbeitet: die Analyse und Bewertung von
Diskriminierungen (1.), die Entwicklung von Handlungskompetenzen zur Bekämpfung von
Diskriminierungen (2.) und die Sensibilisierung für den Kampf gegen Diskriminierungen (3.).
15
Im gesellschaftlichen Raum haben sich auf Bundesebene mehrere Initiativen gegründet, die
sich die Bekämpfung von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit zum Ziel gesetzt
haben. Das "Forum gegen Rassismus" bildet seit dem Jahre 2000 den nationalen Runden
Tisch, über den auch andere Länder der EU verfügen. Ein "Bündnis für Demokratie und
Toleranz" hat sich am 23. Mai 2000, dem Verfassungstag, gegründet. Von Regierungsseite
aus angeregt und deshalb anfänglich teilweise als Ausfluss autoritärer Vorstellungen einer
staatlich gelenkten Zivilgesellschaft verdächtigt, gehören ihm mittlerweile über 900 Gruppen
und Einzelpersonen an (vgl. www.buendnis-toleranz.de). Derzeit ausgestattet mit einer
Finanzierung von 1,3 Mio. DM sichtet und sammelt es Vorhaben und Vorschläge, beteiligt
sich an Kampagnen, dokumentiert Beispiele bürgergesellschaftlichen Engagements und
vernetzt, berät resp. unterstützt entsprechende Gruppen. Zuletzt hat es zur Sammlung von
"best-practice"-Modellen aufgerufen und unter 270 Bewerbungen 40 Initiativen mit Preisen
von insgesamt 200.000 DM ausgezeichnet. Zentraler Aktionstag für das Bündnis ist der 23.
Mai, zu dem – bereits am Vortag – gut 300 einschlägig aktive Jugendliche aus ganz
Deutschland eingeladen werden, um sich dort auf Diskussionsforen und kulturell-kreativ mit
dem Thema auseinander zu setzen. In diesem Rahmen wird öffentlichkeitswirksam auch der
Preis des "Botschafters der Toleranz" vergeben. Die Veranstaltung soll der öffentlichen
Propagierung des Verfassungskonsenses dienen. Neuerdings tut das Bündnis kund, dass
allerdings "mindestens genauso wichtig" wie diese "bisherigen Schwerpunkte" "die alltägliche
Kleinarbeit" ist (www.buendnis-toleranz.de/Aufgaben-und-Ziele-.571.8206/.htm, 3).
Mehr als anderen bundeszentralen oder bundesweit tätigen Trägern, auf die hier aus
Platzgründen nicht im einzelnen eingegangen werden kann, fällt durch den Zuschnitt der
Aufgaben auf politische Bildung der pädagogische Umgang mit Rechtsextremismus und
Fremdenfeindlichkeit einerseits der Bundeszentrale für politische Bildung, andererseits
"Gemini", dem Zusammenschluss der Träger politischer Jugendbildung auf Bundesebene zu.
"Gemini" trat bspw. im Herbst 2001 mit Aktionswochen zur "Ermutigung zur Zivilcourage –
gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit" hervor.
Die Bundeszentrale hat nach internen Umstrukturierungen der Organisation 2001 eine
Projektgruppe "Rechtsradikalismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt" eingerichtet. Sie
investierte im Haushaltsjahr 2001 insgesamt 8,8 Mio. DM in a) Darstellungen und Analysen
des Rechtsextremismus (ca. 20% der Summe), b) Unterstützungen von Handlungs- und
Aktionsformen (ca. 50%) und c) Informationsangebote (ca. 30%). Die strategischen
Grundlinien der Planung für 2002 sehen vor, vor allem solche Einzelprojekte zu unterstützen,
die den "Aufstand der jungen Anständigen" direkt befördern, die Veranstaltungen dort zu
platzieren, wo es faktische Berührungen mit rechtsradikalem Denken, Handeln oder mit
entsprechenden Haltungen gibt und insofern innovativ zu wirken, als mit Zielgruppen und
Zielsetzungen operiert wird, die anderenorts nicht berücksichtigt werden. Angezielt ist u.a.
die Unterstützung beim Aufbau Mobiler Beratungsteams in Sachsen, Thüringen und
Mecklenburg-Vorpommern, pädagogische Prävention im Jugendstrafvollzug und die
Durchführung von Jugendkulturprojekten.
Bisherige Erfahrungen mit den Programmen "Xenos" und "Civitas" können sich aufgrund der
kurzen Existenzdauer der Programme noch nicht auf Evaluationen stützen. Bis heute ist eine
Evaluation des "Xenos"-Programms noch nicht vergeben und liegt zu "civitas" nur ein
unveröffentlichter Zwischenbericht sowie seit neuestem der Abschlussbericht zur
Aufbauphase des Programms (vgl. Rommelspacher u.a. 2002) vor.
Ein erster Erkenntnisgewinn ist daher nur auf der Basis einer zeitlich kompakten, explorativen
Recherche zu erzielen. Sie stützt sich in ihrer Vorgehensweise neben der Auswertung
themenrelevanter wissenschaftlicher Literatur und verschriftlichter praxisorientierter
Strategiediskussionen auf Recherchen bei ausgewählten Einrichtungen und Initiativen vor Ort
16
und Gespräche mit ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen sowie den interdisziplinären
Austausch und die interdisziplinäre Beratung mit Kolleginnen und Kollegen aus der
Rechtsextremismus-, Gewalt-, Integrations- und Evaluationsforschung.
Perspektiven von PraktikerInnen auf die beiden Programme beinhalten danach jetzt schon
Kritik am Bundesprogramm. Ihre Stichhaltigkeit kann hier nicht in jeder Hinsicht geklärt
werden; erwähnt werden soll sie aber dennoch, da sie die Stimmungslage zu spiegeln scheint,
die in der Praxis, oder zumindest größeren Teilen davon, herrscht. Sie zu ignorieren, hieße
ihre Bearbeitung zu verunmöglichen.
Bezüglich "Xenos" wird von manchen ExpertInnen bemängelt, dass man seitens der
Bundesregierung hier Etikettenschwindel betreibe, weil der Öffentlichkeit suggeriert werde,
es würden zusätzliche Mittel zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und
Fremdenfeindlichkeit zur Verfügung gestellt. Tatsächlich jedoch liege nur eine neue
thematische Akzentuierung bei der Vergabe von Fördergeldern vor, die seitens der EU
ohnehin zur Verfügung gestellt worden wären. Des weiteren wird die mit der Herkunft der
Mittel verknüpfte inhaltliche Bindung an arbeitsmarktorientierte Projekte als zu eng für eine
breite Erschließung von Zielgruppen wahrgenommen. Die Kritik vermerkt, dass der
unterstellte Zusammenhang von arbeitsmarktbezogener Deprivation und Rechtsextremismus
bzw. Fremdenfeindlichkeit nicht so eindeutig sei wie die Anlage des Programms es unterstelle
(vgl. auch Boehnke/Baier 2001, bes. 45f.). Diese Kritik relativiert sich indes, wenn man die
geförderten Projekte etwas näher in Augenschein nimmt (vgl. www.xenos-d.de): Es findet
sich eine Menge an Maßnahmen, die in Betrieben und auch außerhalb davon mit
Auszubildenden, Facharbeitern und MultiplikatorInnen durchgeführt werden und bei denen
durch die Förderungen bestimmte thematische Akzente im Sinne des Programms gesetzt
werden können, auf die man ohne Sondermittel wohl hätte verzichten müssen.
Moniert wird daneben, dass die Antragsbedingungen für kleinere Träger und Initiativen
schwer zu durchschauen seien und diese deshalb von einem Einstieg in das Programm
abgeschreckt würden (so etwa der Beirat des "Bündnisses für Demokratie und Toleranz" in
einem Beschluss vom 02.04.2001). Die Bewilligungskriterien seien ebenfalls undurchsichtig.
Schließlich wird z.T. auch die – inzwischen ja, wie erwähnt, gekündigte - Abwicklung über
das efp für problematisch gehalten. Das Projektbüro scheint vielen im Verhältnis zu seiner
sichtbaren Leistung als zu groß dimensioniert. In Rede stehende Overhead-Kosten von 10%
der Programmmittel werden als unverhältnismäßig hoch eingeschätzt. Zudem wurde im
Sommer/Herbst 2001 ein Antragsstau beklagt. Im Oktober 2001 lagen in der Tat 1.300
Anträge vor, war aber nicht einmal ein Zwanzigstel von ihnen bearbeitet. Inzwischen (Stand:
25.01.02) sind 117 Xenos-Projekte mit einem Fördervolumen von 32,22 Mio. Euro bewilligt,
weitere 41 Projekte befinden sich im Prüfungsverfahren.
In Hinsicht auf "civitas" liegen zum einen der o.e. Zwischenbericht (vgl. Zwischenbericht
2001) zum anderen der Bereicht der wissenschaftlichen Begleitung über die Aufbauphase von
Juni – Dezember 2001 (vgl. Rommelspacher u.a. 2002) vor. Sie können nicht mehr als eine
grobe Orientierung bieten, weil wegen der kurzen Laufzeit "Prozess-" und "Ergebnisqualität"
noch nicht untersucht und die explizite Evaluationsabsicht der "Wirkungsanalyse und
Erfolgskontrolle" (vgl. ebd., 2) noch nicht umgesetzt werden konnten.
Als Ergebnisse einer Felderkundungsphase mit offenen Gruppengesprächen mit
MitarbeiterInnen von geförderten Projekten in der Mobilen Beratung und bei
Opferberatungsstellen und Fragebogen-Erhebungen bei diesen Projekten vor Ort wird zum
einen positiv die Richtigkeit der Anlage des Programms herausgestellt. Die Stärkung
zivilgesellschaftlicher Strukturen erweist sich nach Einschätzung der interviewten
MitarbeiterInnen als eine sinnvollere Herangehensweise als die Konzentration auf soziale
17
Arbeit mit Problemgruppen. In diesem Bereich liegen auch die meisten Anträge vor (fast 50%
von fast 600; Stand: November 2001). Es zeigt sich, dass die Antragszahl deutlich dort
zunahm, wo Mobile Beratungsteams im Einsatz waren und Initialzündungen für die
Mittelbeantragung sowie professionelle Hilfestellungen bei der formalen Antragstellung
leisten konnten. Sie sind nun – wie auch Opferberatungsstellen - in allen neuen Ländern und
Berlin eingerichtet.
Während Einschätzungen zu lokalen Projekten wegen ihrer zumeist kurzen Laufzeiten und
auf Gund des Einsetzens von Evaluationsbemühungen teilweise erst nach ihrem Abschluss
schwierig zu sein scheinen, werden von den EvaluatorInnen erste Erfolge mit MBTs und
Opferberatungsstellen berichtet. Sie liegen demnach "in erster Linie in einem gestiegenen
Vertrauen der durch Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit betroffenen Menschen in
die Arbeit der Projekte und in positiven Rückmeldungen von verschiedenen
Kooperationspartnern. Sie zeigen sich aber in einer deutlichen Ausweitung der bestehenden
Netzwerke und der Formierung zahlreicher neuer Bündnisse sowie einer kontinuierlich
steigenden Anzahl von Anfragen für Fortbildungen durch die Projekte. Insgesamt konnten die
Mitarbeiter/innen unter den Akteuren und Kooperationspartnern ein wachsendes
Problembewusstsein für den Wert eines zivilgesellschaftlichen Zusammenlebens sowie für
die Gefährdungen eines solchen wahrnehmen. Dieser Erfolg ist nach Einschätzung der
Mitarbeiter/innen nicht zuletzt auf ihre Beratungstätigkeit zurückzuführen. Eine
Wirkungsanalyse im Zuge der Projektevaluation sollte diese Einschätzungen fundieren und
die Entwicklung anhand der damit benannten Erfolgskriterien überprüfen" (ebd., 131f.).
Einerseits wird man in solchen Feststellungen wegen des schwierigen Umfelds, in dem sich
die Projekte bewegen ("anhaltendes bzw. immer weiter anwachsendes Misstrauen in die
demokratische, zivilgesellschaftliche Ordnung" als "vorherrschende Mentalität" in den neuen
Bundesländern (ebd., 28) sowie MBT-feindliche Haltungen bzw. Ignorierungs- und
Verharmlosungstendenzen bei den politischen Entscheidungsträgern (vgl. z.B. ebd. 27f.,
36f.)), positive Signale erblicken können; andererseits sagen sie über konkrete
extremismusreduzierende Effekte noch nichts aus.
Ferner sind laut Zwischenbericht (2001) Probleme zu vermerken. Sie liegen zum ersten darin,
dass viele Anträge qualitativ unzureichend sind. Speziell die Anträge im Bereich
interkultureller Kompetenzförderung "zeugen" "von großer Unerfahrenheit", AusländerInnen
werden hier eher "als Objekte betrachtet" (ebd., 5) und stereotypisiert. Auch aus dem Bereich
von Schule und Schulumfeld kamen "wenig qualitativ wirklich gute Anträge" (ebd., 6). Zum
zweiten führt die Komplexität der über "civitas" geförderten Arbeitsfelder leicht zu
Überforderungen der MitarbeiterInnen. Zum dritten tritt die Schwierigkeit auf, geeignetes
Personal rekrutieren zu können. Folge waren erhebliche Startverzögerungen (vgl. auch
Rommelspacher u.a. 2002, 39, 43). Mit zunehmender Laufzeit zeigt sich zudem ein "großer
Beratungsbedarf" zivilgesellschaftlicher Akteure, den zu befriedigen, die Personalkapazität
der MBTs schon jetzt nicht ausreicht.
Neben diesen Berichtserkenntnissen melden PraktikerInnen Kritik an. Nennenswert erscheint
vor allem der Hinweis, dass das Civitas-Programm eine Handschrift trage, die deutlich
bestimmte, im Umfeld der beteiligten Stiftungen vorhandene institutionelle Praxisinteressen
mit den ihnen inhärenten inhaltlichen Präferenzen durchscheinen lasse. Dazu wird die
tendenzielle Abwendung von der aufsuchenden Sozialen Arbeit mit rechten und
rechtsextremen Jugendlichen gezählt.
Fachkräfte in Leitungspositionen der Praxis vermissen wissenschaftliche Bezüge. Dies könne
dazu führen, dass Praxis isoliert von wissenschaftlichen Debatten und Erkenntnissen relativ
unreflektiert vor sich hin werkele, die einzelnen Maßnahmen ohne wissenschaftliche
Begleitung und Beratung blieben und so ein Theorie-Praxis-Transfer unterbleibe, der
18
angesichts der Innovativität mancher Ansätze (z.B. Aufbau und Aktivierung
zivilgesellschaftlicher Strukturen, Opferberatung) als besonders wichtig zu betrachten sei.
Diese Perspektive erfährt durch die o.e. Bedarfe von MitarbeiterInnen nach theoretischer und
sonstiger Fortbildung Verstärkung.
Manchen ist auch unklar, inwieweit die im allgemeinen übliche personelle Trennung
zwischen Angehörigen des Bewilligungsgremiums und dem Kreis der Antragsteller
durchgehalten wird, scheint es ihnen doch so, als würden Stiftungs- bzw. Beiratsmitglieder
zumindest in entscheidenden Rollen bei Organisationen, die Anträge stellen, mitarbeiten.
Außerdem wird beklagt, dass insgesamt zu wenige Anträge einlaufen. Drei Gründe werden
dafür vermutet: Zum ersten: Die Grundversorgung in den neuen Bundesländern fehlt, so dass
in Einzelprojektförderung wenig Sinn gesehen wird und auch gar nicht in ähnlichem Umfang
wie im Westen Deutschlands die MitarbeiterInnen zur Verfügung stehen, die Anträge
schreiben könnten; zum zweiten: Die Öffentlichkeitsarbeit für "civitas" hätte optimaler laufen
können; zum dritten: Die Motivation, bei "Civitas" Anträge zu stellen, ist z.Zt. abgeflaut, weil
man sich bereits in der Hoffnung auf eine zügige Bearbeitung und rasche Bewilligung von
Xenos-Anträgen enttäuscht sieht.
In Hinsicht auf Teil 2 des Programms "Jugend für Toleranz und Demokratie – gegen
Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus" gibt immerhin der von Ende
November
2001
stammende
unveröffentlichte
Zwischenbericht
an
das
Bundesjugendministerium auf der Basis der Auswertung von Daten aus 45% der geförderten
Projekte schon recht klare Tendenzen zu erkennen. Danach liegt der deutliche Schwerpunkt
der Maßnahmentypen auf Seminaren, Workshops und Workcamps mit Kindern und
Jugendlichen (45%) und Aktionstagen bzw. Projekten mit direkter öffentlicher Wirkung.
(23,4%). Ausschließlich auf die Zielgruppe Kinder sind nur 2,7 %, zur Hälfte
kulturpädagogische Konzepte, gerichtet. Über 80% beziehen aber in irgendeiner Weise
Jugendliche mit ein. Meist handelt es sich um Bildungsmaßnahmen im engeren Sinne. Die
Förderbereiche wurden also mit starker Gewichtung auf der Unterstützung der
Jugendbildungsarbeit abgedeckt. Aktionstage und andere Projekte von öffentlicher
Breitenwirkung nehmen etwa ein Fünftel der Maßnahmenanzahl ein. Lokale Aktionspläne,
eigentlich ebenfalls als ein zentraler Förderungsbereich gedacht, tauchen nur zu 3% auf (vgl.
exemplarisch für Mainz: Wink u.a. 2002). Methodisch dominieren vor dem interkulturellen
und dem Konfliktlösungs-Ansatz mit jeweils gut 19% die bildungs- und kulturorientierten
Ansätze (37,4% bzw. 27,4%). Der geschichtsorientierte Ansatz ist noch bei 11,3% der
Projekte vertreten. Der geschlechtsspezifische Ansatz schneidet mit 3,6 % am schlechtesten
ab, wobei noch zu bedenken ist, das ganze 2 Projekte der Arbeit mit Jungen bzw. jungen
Männern galten. Ähnlich niedrig ist der Anteil geschlechtsreflektierender Ansätze im Bereich
der MultiplikatorInnenschulungen, wo immerhin etwa ein Drittel der Angebote auf Ansätze
zur gewaltfreien Konfliktlösung entfallen. Gezielt auf Haupt- und BerufsschülerInnen
bezogene Projekte waren nur mit 8,8% vertreten. Auch hier steht etwa ein Drittel der
Maßnahmen unter der Überschrift 'gewaltfreie Konfliktlösung'. Wie weit Projekte unmittelbar
mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen arbeiten, wird nicht ersichtlich. Nach Auskunft
von DJI-MitarbeiterInnen der Dokumentationsstelle gibt es sie nicht. Von der Zentrierung des
Programms auf politische Bildung her ist eine solche Arbeit in diesem Rahmen aber auch
nicht unbedingt erwartbar.
Im gesamten Bundesprogramm wird eine Säule vermisst, die der Fortbildung der
ProjektmitarbeiterInnen gewidmet ist, ähnlich wie dies im AgAG-Programm über den
Informations-, Forschungs- und Fortbildungsdienst Jugendgewaltprävention (IFFJ) realisiert
wurde (vgl. auch Heitmann 2002).
19
1.2
Programme und Aktivitäten der Länder
Auf der Ebene der Bundesländer findet sich bei grundsätzlicher Einigkeit über die
Notwendigkeit einer Doppelstrategie aus Repression und sozialarbeiterischen bzw.
bildungsbezogenen Maßnahmen insgesamt eine Vielzahl an teilweise in Umfang und
Schwerpunktsetzung deutlich differierenden Ansätzen und Programmen (vgl. im
exemplarischen Überblick auch: Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer
2001; zweiwochendienst Bildung/Wissenschaft/Forschung 13-14 u. 15/2000; KODEX:
Kommunale Datenbank gegen Gewalt, Extremismus und Fremdenfeindlichkeit unter
www.kommunen-gegen-gewalt.de/DSTGB.asp mit z.Zt. 425 knapp skizzierten
Projektbeispielen; Datenbank des Förderprogramms "Demokratie lernen" mit rd. 1.800
Projekten; Projekte, die für die allgemeine Gewaltprävention, dabei u.a. auch die
Rechtsextremismus- und Fremdenfeindlichkeits-Bekämpfung als vorbildhaft eingeschätzt
werden, finden sich auch unter www.kriminalpraevention.de des Deutschen Forums für
Kriminalprävention zusammengestellt, vgl. auch BKA 2000; eine umfassende
Zusammenstellung einzelner Maßnahmen der Länder wird zur Zeit vom
Bundesinnenministerium vorbereitet und soll noch im Frühjahr der Öffentlichkeit zugänglich
sein).3
Baden-Württemberg
Baden-Württemberg geht zum einen – wie alle anderen Länder und der Bund auch – mit
repressiven Maßnahmen gegen rechtsextremistische Umtriebe vor. Neben einer
vergleichsweise engen Kooperation von Polizei und Verfassungsschutz ist diesbezüglich
insbesondere die seit August betriebene Intensivierung von polizeilichen Maßnahmen wie die
Fortschreibung der "Personenliste rechtsextremistischer Skinheads" erwähnenswert.
Präventive Anstrengungen erstrecken sich auf
 die offene Gefährderansprache polizeibekannter gewaltbereiter Rechtsextremisten,
 die Ansprache potenzieller Szeneeinsteiger und deren Eltern,
 die Schaltung eines Hinweistelefons für Informationen über rechtsextremistische
Aktivitäten,
 eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit und Präventionsanstrengungen in der Kooperation
mit Schulen und im Rahmen der kommunalen Kriminalprävention sowie
 ein beim LKA angesiedeltes Aussteigerprogramm (dazu vgl. näher Kap. 3.1.15).
Wie einem "Gemeinsamen Appell der
Innenministeriums
zur
Intensivierung
Kommunalen Landesverbände und des
von
vernetzten
Maßnahmen
gegen
3
Der Themenstellung der Expertise entsprechend wird hier der Akzent auf die Darstellung von
Initiativen und Programmen gelegt, die unmittelbar und explizit für Pädagogik und Soziale Arbeit bedeutsam
und nachhaltig angelegt sind. Generalpräventive Ansätze der Arbeitsmarkt-, Wohnungs-, Stadtentwicklungs-,
Sozial-, Kinder-, Jugend- und Bildungspolitik werden dabei nicht berücksichtigt; nicht weil ihnen Bedeutsamkeit
und Wirkung abzusprechen wäre, sondern weil sie das ohnehin äußerst komplexe Bild der 'gefahrenen'
Gegenstrategien noch unübersichtlicher gestalten würden. Gleiches gilt für Landesaktivitäten, die im Kontext
von EU-und Bundesprogrammen vorgenommen werden. Es wird dessen ungeachtet hier auch kein Anspruch auf
Vollständigkeit erhoben. Herausgearbeitet werden soll vielmehr der jeweilige Schwerpunkt der
regierungsseitigen Förderungs- und Aktionsinitiativen und – soweit möglich - ihre landesspezifische Kontur.
Repressive Maßnahmen der Sicherheitsbehörden finden nur insoweit Erwähnung als sie landestypische
Gewichtungen
zwischen
pädagogisch-sozialarbeiterischen
und
repressiven
Maßnahmen
oder
Anknüpfungspunkte zwischen beiden Bereichen verdeutlichen.
20
Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus" vom Januar 2001 zu entnehmen ist, werden
Schwerpunkte in der kommunalen Kriminalprävention als Plattform für lokale Projekte in
 der Vernetzung staatlicher Maßnahmen,
 gezielten Ausstiegshilfen und
 im Ausschöpfen der Möglichkeiten bürgerschaftlichen Engagements gesehen.
Für die kommunale Kriminalprävention werden in 2001 und 2002 insgesamt 1,53 Mio. Euro
im Rahmen der "Zukunftsoffensive III – Junge Generation" zur Verfügung gestellt. Damit
werden 46 Projekte in 35 Gemeinden gefördert. Die Finanzierung ist als Anschubfinanzierung
gedacht und soll nachhaltigen, qualitativ hochwertigen, gut vernetzten und übertragbaren
Maßnahmen gelten. Zudem fördert das LKA im gleichen Rahmen in Höhe von 455.000 Euro
pädagogisch orientierte Projekte (z.B. theaterpädagogische Maßnahmen, interaktive
Lernspiele, Kino-Specials). Neben einem im Ländervergleich relativ gut ausgebauten Netz
Mobiler Jugendarbeit, eines Ansatzes, der über Streetwork, Einzelfallhilfe, Gruppen- bzw.
Clubarbeit und Gemeinwesenarbeit gerade auch auf delinquente und delinquenzgefährdete
Jugendliche ausgerichtet ist (vgl. Landesarbeitsgemeinschaft 1997, 2002 und Kap. 3.1.7),
werden weitere Akzente vor allem in zwei Bereichen gesetzt:
 Zum ersten engagiert sich im Bereich der außerschulischen Bildung die Landeszentrale
für politische Bildung neben den für diese Einrichtungen typischen Aktivitäten beim
modellhaften Aufbau eines sog. "Team Z" (Z = Zivilcourage). Dafür standen 2001
300.000 DM und stehen 2002 80.000 Euro zu Verfügung; eine Weiterführung des
Projekts in 2003 steht allerdings in Aussicht. Es handelt sich um ein Team von z.Zt. ca. 25
freien MitarbeiterInnen, das neben der Durchführung eigener Aktionen, Workshops und
Seminare Bildungseinrichtungen und MultiplikatorInnen vor Ort beraten und ggf. schulen
soll. Nach einem absolvierten Basistraining in Streitschlichtung und Konfliktlösung (vgl.
Kap. 3.1.4) im Umfang von 70 Stunden (orientiert am Modell von Kurt Faller) steht das
Team seit Herbst 2001 in 4 Regionalgruppen aufgeteilt für die Praxis (gleichzeitig im
Sinne von training on the job), d.h. konkret für 10 bis 12 Vorhaben, mit dem Ziel zur
Verfügung, Streitschlichtung ab Frühjahr 2002 als Teil der Einrichtungsprogramme zu
installieren. Die Nachfrage überstieg schon zu diesem Zeitpunkt etwa um das Sechsfache
die Möglichkeiten des Team Z. Eine experimentierende Evaluation (qualitativ) hat das
Institut für Erziehungswissenschaften an der Universität Tübingen übernommen.
Ergebnisse liegen angesichts der Zeitplanung des Projekts noch nicht vor, können aber
wohl im Sommer 2002 erwartet werden (vgl. Zwischenbericht Modellprojekt "Team Z").
 Zum anderen wurde gegen Ende des Jahres 2000 ein "Netzwerk gegen Gewalt an
Schulen" gegründet. Mit ihm wir die intensive Zusammenarbeit von gesellschaftlich
relevanten Gruppen, sozialen Einrichtungen, Polizei und Schule angezielt. Insbesondere
die Anwesenheit der Polizei an Schulen soll gestärkt werden und "ein Stück weit
Normalität werden" (Innenminister Schäuble am 19.12.2000). Die Erhöhung der Zahl der
Jugendsachbearbeiter bei der Polizei innerhalb von drei Jahren von 530 auf ca. 900 wird
ebenso in diesem Zusammenhang gesehen wie die vom Landtag im Jahre 2000
bewilligten 6,5 Mio. DM für 91 Sozialarbeiter an Haupt-, Förder- und Beruflichen
Schulen. Als die im engeren Sinne pädagogischen Hauptaufgaben des ansonsten nicht
über eigene Mittel verfügenden Netzwerkes werden die Entwicklung sozialer
Kompetenzen, der Abbau destruktiven Sozialverhaltens bei Schülern und Schülerinnen
sowie die Verhinderung eines Abgleitens in Kriminalität genannt. Die Ziele sollen u.a.
durch die Initiierung von Schulentwicklungskonzepten zur Gewaltprävention umgesetzt
werden. Ein seit September 2000 unter dem Dach des Kultusministeriums angesiedeltes
"Kontaktbüro Gewaltprävention" mit zwei Lehrkräften, die jeweils mit einem halben
Deputat freigestellt sind, koordiniert die Arbeit (zur Projektübersicht vgl.
www.leu.bw.schule.de/allg/gewalt/projekte.html).
21
In Relation zur Summe der vom Land ausgewiesenen Sondermittel investiert die
Landeshauptstadt Stuttgart verhältnismäßig stark in die pädagogische Gewaltbekämpfung
bzw. die Förderung von "Toleranz und Miteinander" bei Jugendlichen. Von Oktober 2001 bis
Oktober 2002 werden einmalig mit rd. 850.000 DM aus dem Fond "Zukunft der Jugend" 40
gewaltpräventive Projekte an Schulen (diese setzen einen Schwerpunkt auf Streitschlichtung
und soziales Lernen und werden voraussichtlich in 2002 weitergefördert) und 24 Projekte der
außerschulischen Jugendarbeit gefördert. (vgl. Landeshauptstadt Stuttgart GRDrs 816/2001;
zu weiteren exemplarischen Projekten der Bildungs- und Sozialarbeit in Baden-Württemberg
vgl. auch Metzger 2001).
Bayern
Das Bundesland Bayern setzt bezüglich der Bekämpfung von Rechtsextremismus in erster
Linie auf staatliche Repression (vgl. auch zum folgenden detaillierter:
www.stmi.bayern.de/infothek/rechtsextrem/massnahmen/htm). Dafür wird eine enge
Zusammenarbeit von Polizei und Verfassungsschutz propagiert. Sie schlägt sich nicht nur in
der Erstellung abgestimmter Lagebilder nieder, sondern führt auch dazu, dass Erkenntnisse
des Verfassungsschutzes, die durch den offensiven Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel
(z.B. Platzierung bzw. Anwerbung von V-Leuten in der rechten Szene) erworben werden,
lückenlos an die Polizei weitergereicht werden, so dass eine starke polizeiliche Präsenz an
Treffpunkten und bei Aktionen wie Veranstaltungen von Rechtsextremen gewährleistet
werden kann. Eine enge Zusammenarbeit mit Behörden, die für die Genehmigung von
Versammlungen zuständig sind, die extensive Nutzung der Möglichkeit von
vereinsrechtlichen Verboten, Unterbindungsgewahrsam, verdeckte und offene polizeiliche
Überwachung
von
Veranstaltungen,
kommunale
Kriminalprävention,
Sicherheitspartnerschaften, der Einsatz von Sicherheitswacht u.ä.m. sollen einen
Verfolgungsdruck aufbauen, der zu einer Verdrängung und Zerschlagung der Szene führt. Im
Ministerratsbeschluss vom 01.08.2000 fordert Bayern darüber hinaus die Ahndung von
Straftaten Heranwachsender nach dem Erwachsenenstrafrecht, die polizeiliche
Videoüberwachung von Straßen und Plätzen und eine Erweiterung des Artikels 10 des
Grundgesetzes dahingehend, dass a) Post- und Telefonüberwachung bei Anhaltspunkten für
schwere Straftaten auch dann ermöglicht wird, wenn eine Einzelperson und nicht eine
terroristische Vereinigung verdächtigt wird und b) die Möglichkeit der Verwertung von
Erkenntnissen aus Post- und Telefonüberwachungen auch für Partei- und Vereinsverbote
explizit klargestellt wird.
Als Initiative im Bereich Migration weist die Internetselbstdarstellung www.bayern.de
ausdrücklich auf die im Juli 2000 verabschiedeten "Eckpunkte zur Steuerung und Begrenzung
der Zuwanderung" hin.
Pädagogische bzw. sozialarbeiterische Bekämpfungsstrategien nehmen sich vergleichsweise
dünn aus, sieht man einmal von den in Bayern platzierten und über den Bayerischen
Landesjugendring mittels des Programms "move now!" verteilten rd. 2,6 Mio. DM des
zweiten Teils des Bundesprogramms "Jugend für Toleranz..." ab. Hierin spiegelt sich die
Auffassung des bayerischen Kultusministeriums wider, Rechtsextremismus sei an Bayerns
Schulen "eine Randerscheinung" (zweiwochendienst 13-14 u. 15/2000, 1).
 Das seit 1993 existierende Gesamtkonzept zur Bekämpfung des politischen Extremismus
sieht thematisch einschlägige Maßnahmen an Schulen und Hochschulen vor, deren
Umfang allerdings schwer ersichtlich ist.
 Daneben werden im Paket "Maßnahmen gegen Rechtsextremismus" (vgl. ebd.)
Gedenkstätten-Besuche – für Gedenkstättenarbeit ist seit 1997 die LzpB zuständig – und
22


Akte der Solidarität mit jüdischen Mitbürgern (Friedhofspflege, Denkmalschutz etc.) in
Höhe von insgesamt mehreren Mio. DM ausgewiesen.
Unter dem Stichwort "Ausländerintegration" wurde im Sommer 1999 eine
interministerielle Arbeitsgruppe einberufen, die sich auch mit fremdenfeindlich
motivierter Gewalt und deren Bekämpfung beschäftigt.
Eine von der Staatsregierung gegründete Stiftung "Bündnis für Kinder – gegen Gewalt"
dient dem Kinderschutz und "verschenkt" jede Woche eine Veranstaltung zur
Gewaltprävention (vgl. www.buendnis-fuer-kinder.de).
Berlin
Die Berliner Maßnahmen gehen größtenteils aus einer Studie hervor, die die im Februar 1994
eingerichtete Landeskommission "Berlin gegen Gewalt" im Sommer 1999 vorlegte (vgl.
www.sensjs.berlin.de ). Sie stellt aufgrund ihrer Recherchen in den Zuständigkeitsbereichen
der Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport, der Senatsverwaltung für Wissenschaft,
Forschung und Kultur, der Senatsverwaltung für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen sowie
der Bezirksämter fest, dass eine Vielfalt von Aktivitäten unternommen wird, aber dennoch
"insbesondere im Ostteil der Stadt Weimarer Verhältnisse drohen" (ebd., 14), selbst wenn
rechtsextreme Einstellungen sich nur in Ausnahmefällen mit registrierter Gewaltsamkeit
verbinden. Man konstatiert – die Antwort auf die Kleine Anfrage Nr. 3697 von 1998
zitierend: "Rechtsextremistische Verhaltensweisen und Symbole sind in diese Teile der
Jugend der Jugendkultur eingedrungen und Teil des Alltagsdiskurses geworden" (ebd., 16).
Daher erscheint es weiterhin "dringend geboten, mit Maßnahmen der präventiven Jugendhilfe,
aber auch im Schulunterricht auf allen Ebenen korrigierend einzugreifen" (ebd., 14). Sie seien
"sehr wesentlich" und "unverzichtbar" (ebd., 17). Bemängelt wird, dass keine systematische
Erfassung, Koordinierung und Abstimmung der Vielzahl von Einzelmaßnahmen erfolgt, so
dass Synergieeffekte nicht zu erzielen sind. Eine Wirksamkeitsüberprüfung erfolge nirgends.
Am 12.09. 2000 hat der Senat ohne konkrete Aussagen hinsichtlich seiner Finanzierung ein
Zehn-Punkte-Programm
gegen
Rechtsextremismus,
Fremdenfeindlichkeit
und
Antisemitismus beschlossen. Danach sollen u.a.
 die Gefährdungen durch das Internet genauer beobachtet und bekämpft,
 Präventionsmaßnahmen auf Dauer gestellt,
 Ansätze der Arbeit mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen intensiviert,
 ressort- und institutionenübergreifende Strategien gefahren und die von der
Landeskommission geforderte Koordinationsstelle "Rechtsextremismus" eingerichtet
werden.
Einzelheiten und ihre Umsetzung sind den Drucksachen 14/700 und 14/1457 zu entnehmen.
2001 wurden zusätzlich 1,5 Mio. DM für Jugendprojekte zur Verfügung gestellt, die auf
Demokratieerziehung, Gewaltprävention und Rechtsextremismusbekämpfung abziel(t)en. Das
so finanzierte "Berliner Aktionsprogramm für Demokratie und Toleranz" (vgl.
www.jugendnetz-berlin.de/respect/index2.htm) bietet in der gemeinsamen Trägerschaft von
Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport, Jugend- und Familienstiftung des Landes
Berlin, Deutscher Kinder- und Jugendstiftung und Stiftung Demokratische Jugend
verschiedene Bausteine an. Sie sehen vor die
 Veranstaltung von Jugendforen mit Jugendlichen aus unterschiedlichen sozialen und
ethnischen Milieus,
 ein thematisch ausgerichtetes Internetportal,
23






Arbeit mit "rechten Kids" (Berliner Mittel als Komplementärmittel für Xenos) und ihre
Evaluation,
Begegnungen und Aktivitäten von Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft (250.000 DM
Berliner Mittel, in gleicher Höhe Bundesmittel),
einen Landeswettbewerb, der die landesweit bedeutsamsten "Best-practice-Beispiele"
prämiert,
Medienseminare für JournalistInnen,
Anti-Aggressionstrainings und Mediationsausbildung im Sportbereich und
Kooperationsprojekte zwischen Schule, Jugendhilfe und Sport (vor allem
Multiplikatorenschulungen und schulische Peer-Mediations-Projekte).
Nach aktueller Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und PDS wird das Programm bis 2006
mit 500.000 Euro per annum weitergeführt.
Brandenburg
Die Regierung des Landes Brandenburg hat am 23.06.1998 ein Handlungskonzept
"Tolerantes Brandenburg" beschlossen. Es ist "kein zusätzlich aufgelegtes Förderprogramm",
sondern beabsichtigt, "Mobilisierung gegen Gewalt, Rechtsextremismus und
Fremdenfeindlichkeit als Schwerpunkt der alltäglichen Arbeit" zu etablieren (Ministerium für
Bildung... 2001d, 6). Im Zentrum steht die bürgergesellschaftliche Unterstützung der
kommunalen demokratischen Gegenöffentlichkeit. Dazu wird das 1997 gegründete
"Aktionsbündnis gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit" als
zivilgesellschaftlicher Partner des Handlungskonzepts mit anfänglich 150.000 DM ab 1999
rd. einer halben Mio. DM jährlich gefördert.
Neben den bundesweit beachteten repressiv ausgerichteten "Mobilen Einsatztrupps gegen
Gewalt und Ausländerfeindlichkeit" (MEGA) der Polizei und Aus- und
Weiterbildungsansätzen zum Zwecke der Sensibilisierung für Diskrimnierungen für die
Polzei im Rahmen von NAPAP (vgl. dazu auch Kap. 3.1.17) erfolgen besondere
Akzentsetzung in sechs pädagogisch bzw. sozialarbeiterisch bedeutsamen Bereichen:
 Mobile Beratungsteams (z.Zt. 1 zentrale Geschäftsstelle und 5 Regionalbüros) in
Trägerschaft der Regionalen Arbeitsstellen für Ausländerfragen, Jugendarbeit und Schule
e.V. dienen der Unterstützung der kommunalen Öffentlichkeit bei der Arbeit "gegen
rechts" und Gewalt. Durch die Zusammenarbeit mit und die Beratung, Vernetzung oder
auch Fortbildung von PolitikerInnen, sozialen und pädagogischen Einrichtungen, Polizei,
zivilgesellschaftlichen Gruppierungen etc. vor Ort soll ein Beitrag zu einer gewalt- und
diskriminierungsfreien Gemeinwesenentwicklung, insbesondere auch zur Entwicklung
kommunaler Integrationsstrukturen für Zuwanderer, geleistet werden. Im Jahre 2001
flossen 2,5 Mio. DM aus Landesmitteln in die mobile Beratung (vgl. eingehender:
Ministerium für Bildung...o.J.; 2001a). Die starke Nachfrage der Teams belegt den großen
Beratungsbedarf der lokalen Akteure.
 Zehn Regionale Arbeitsstellen für Ausländerfragen, Jugendarbeit und Schule mit z.Zt. 55
hauptamtlichen Kräften – eine davon auch als zentrale Geschäftsstelle und
Antidiskriminierungsstelle arbeitend – sollen die Entwicklung von Toleranz und
Solidarität und den Abbau von Fremdenangst (mit)bewirken. Im Vordergrund der Arbeit
stehen interkulturelle Projekte in Schule und Jugendhilfe sowie die Opferberatung.
 Ein "Beratungssystem Schule" ist seit Sommer 1999 gegen die Gewalt an Schulen
gerichtet. In z.Zt. 16 kreisbezogenen, bei den Staatlichen Schulämtern angesiedelten
Beratungsbüros, die aus dem Schulrat, einer koordinierenden Lehrkraft, einem
Schulpsychologen und einem Mitarbeiter der Regionalen Arbeitsstelle für
24



Ausländerfragen, Jugendarbeit und Schule (RAA) bestehen, werden auf Schulen und
Lehrkräfte zielende Koordinations-, Beratungs- und Fortbildungsaufgaben gebündelt (vgl.
eingehender: Ministerium für Bildung... o. J.; 2001b).
Die LAG politisch-kulturelle Bildung Brandenburg bietet "Trainings für Weltoffenheit
und Toleranz" u.a. für Beschäftigte in den Kommunalverwaltungen und Übungsleiter aus
Sportvereinen an.
Ein im März 2000 gegründeter Landespräventionsrat trägt die "Sicherheitsoffensive
Brandenburg" (2001: 500.000 DM). Die Gelder fließen vor allem in Forschung und
Weiterbildung. Z.B. wird der Fernlehrgang "Konzepte der Gewaltprävention" daraus
finanziert.
Überwiegend ehrenamtliche KoordinatorInnen (beim Start im August 2000 130 bei 1.500
brandenburgischen Gemeinden) sollen sicherstellen, dass zentral oder regional geplante
Maßnahmen auch tatsächlich vor Ort "ankommen". Sie sehen sich in der Funktion, "an die
Menschen heranzukommen" und vermögen durchaus einzelne Erfolge vorzuweisen, auch
wenn bislang eine Evaluation ihrer Tätigkeiten ebenso ausbleibt wie die der anderen
Aktivitäten innerhalb des Handlungskonzepts (vgl. Ministerium für Bildung... 2001c).
Die Möglichkeiten einer Evaluation des Handlungskonzeptes werden gegenwärtig diskutiert
(Näheres zum Konzept und ausgewählten Projekten wie "KICK-Brandenburg" – eine
Kooperation von Jugendhilfe und Polizei in mehreren Städten -, "KIT" – Aufbau von
ehrenamtlichen Kriseninterventionsteams durch einen Zusammenschluss mehrer
Jugendverbände des Landes -, das vom Caritasverband getragene Projekt "Boxenstopp" –
Anti-Aggressivitäts- und Coolness-Trainings in Verbindung mit erlebnispädagogischem
"Kartracing" findet sich in den in diesem Abschnitt angegebenen Literaturhinweisen sowie in:
Ministerium für Bildung... 1998 und 1999).
Erwähnenswert ist daneben die im September 2000 mit dem Aachener Friedenspreis
ausgezeichnete "Aktion Noteingang", die von jungen Leuten in Bernau gegründet, inzwischen
auch in anderen Ländern verbreitet wurde und staatliche Institutionen wie Geschäftsbetriebe
mit Erfolg auffordert, durch schwarz-gelbe Aufkleber an den Eingängen zu signalisieren, von
rechtsextremer Gewalt Verfolgten Zuflucht zu bieten (vgl. kurz: www.djb-ev.de/noteingang).4
Bremen
Die Aktivitäten des Landes Bremen gehen zu einem großen Teil aus dem vom Senat Ende des
Jahres 2000 vorgelegten und auf den Zeitraum 1993 – 2000 bezogenen Dritten Bericht über
Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit im Lande Bremen hervor. Auf der Basis einer
Analyse, die explizit auf Prozesse des "Anerkennungszerfalls" (vgl. Dritter Bericht... o. J., 15)
bezug nimmt, wird die Vermittlung von Anerkennung als Leitziel betrachtet. Daraus leiten
sich vier strategische Ziele ab:
 die Vermittlung von Anerkennung in "Bildung und Arbeit" (1.),
 eine Verstärkung der "Werte-Orientierung" (2.),
 die
Vermittlung
positiver
"Lebensperspektiven",
um
"Bindungsund
Orientierungslosigkeit" entgegenzusteuern (3.) und
 die Verbesserung von "Wohnungs- und Wohnumfeldsituationen" (4.).
10 Leitlinien für das operative Handeln sieht sich die Landespolitik verpflichtet (vgl. ebd.,
50ff.):
4
Eine ähnliche Initiative wurde übrigens jüngst bundesweit von Geschäftsleuten gegründet, die
bedrohten Kindern derart ihre Hilfsbereitschaft anzeigen wollen.
25
1. "Unmissverständlich öffentlich Position beziehen"
2. "Jedes Ressort mit seinen Möglichkeiten in die Pflicht nehmen"
3. "Präventive, deeskalative und repressive Techniken einsetzen"
4. "Koordinieren und Vernetzen"
5. "Kooperationen aufbauen"
6. "Ressourcen sichern"
7. "Dialoge in Gang setzen"
8. "Innovative Impulse aufnehmen"
9. "Controlling durchführen"
10. "Kontinuität gewährleisten".
Freilich wird zu Punkt 9 eingeräumt, dass die eingesetzten Instrumente noch
verbesserungsbedürftig sind.
Aus den in dem Bericht aufgeführten Maßnahmenkatalog der Bildungs-, Ausbildungs- und
Arbeitsmarktpolitik, der schulischen und außerschulischen pädagogischen und
sozialarbeiterischen Ansätze, der Wohnungspolitik und der Förderung zivilgesellschaftlicher
Aktivitäten können die folgenden Maßnahmen insofern herausgehoben werden, als sie der
Bekämpfung von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit eine spezifisch bremische
Kontur verleihen:
 Schulen innerhalb von sozialen Brennpunkten werden zusätzliche Lehrerdeputate
zugewiesen, um einen erhöhten "Sozialstrukturbedarf" mittels fachbezogener oder sozialer
Zusatzangebote zu befriedigen;
 Komplementärfinanzierungen von Xenos-Projekten, etwa Unterstützung lokaler
Initiativen, Aufbau von Anlauf- und Vernetzungsstellen zur Bekämpfung von
Fremdenfeindlichkeit und präventive Jugendmedienarbeit in Hinsicht auf rechtsextreme
Gefährdungen durch Internetangebote;
 Verstärkung erfahrungs- und handlungsorientierten Lernens in der Schule;
 Unterstützung von Schulen u.a. in dieser Hinsicht durch das Landesinstitut für Schule und
den dort verorteten Modellversuch "Gewalt in Schule und Gesellschaft – Entwicklung,
Erprobung und Evaluierung von präventiven und deeskalierenden Strategien für den
Unterricht an beruflichen Schulen";
 Landeskoordination des Projektes "Schule ohne Rassismus" der Aktion Courage durch die
Landeszentrale für politische Bildung
 Verstärkung sozialpädagogischer Arbeit schwerpunktmäßig an Hauptschulen;
 Institutionalisierung
der
Antidiskriminierungsarbeit
bei
der
Stelle
der
Ausländerbeauftragten;
 Aufbau von Konfliktschlichtungsprojekten innerhalb und außerhalb von Schulen.
"(V)or allem" wird eine "Verstärkung der präventiven Jugendarbeit" angestrebt, also
erfahrungsorientierter "Arbeit mit sogenannten 'Normaljugendlichen'" und "Arbeit mit
rechtsorientierten Jugendlichen ohne feste Cliquenbildung". Für die "Arbeit mit
rechtsextremen Cliquen" wird seit nunmehr deutlich über einem Jahrzehnt "erfolgreich" das
Konzept der "akzeptierenden Jugendarbeit" (vgl. dazu näher Kap. 3.1.7) eingesetzt (alle Zitate
ebd., 17/18). Im Jahre 2000 flossen 420.000 DM in diese Arbeit. In Vorbereitung (Stand
Frühjahr 2002) befindet sich ein Aktionsprogramm gegen Rechtsextremismus des Senators
für Bildung und Wissenschaft.
Hamburg
26
Der bis zur letzten Neuwahl regierende Senat des Stadtstaats wies der Jugendhilfe
"grundsätzliche Bedeutung" "für die Abwehr von rechtsradikalen und fremdenfeindlichen
Tendenzen" zu (Drucksache 16/5707, hier: 9; vgl. zum folgenden auch Drucksache 16/5001),
wobei angemerkt wird, dass "die Grenzen zwischen Aufklärungs- und
Präventionsmaßnahmen, die sich allgemein gegen Gewalt von Jugendlichen, und solchen, die
sich gegen Gewalt von Jugendlichen mit neonazistischem und rechtsradikalem Hintergrund
richten, fließend sind" (ebd., 4). In diesem Zusammenhang wurde(n)
 in 2001 eine Reihe von in Form und methodischer Anlage z.T. sehr unterschiedlichen
Veranstaltungen durchgeführt, die über das Bundesprogramm "Jugend für Toleranz und
Demokratie" finanziert wurden,
 MultiplikatorInnenschulungen für MitarbeiterInnen der Jugendarbeit organisiert (u.a. auch
"Eine Welt der Vielfalt"; s. Kap. 3.1.2),
 seit 1997 in Kooperation von Jugendinformationszentrum und Polizei die Aktion
"Gemeinsam gegen Angst und Gewalt" (u.a. Erstellung einer Broschüre mit Opfer- und
Zeugentipps) durchgeführt
 vom Landesjugendring alternative Stadt- und Hafenrundfahrten mit dem Schwerpunkt der
NS-Information angeboten.
Unbeschadet des Ausgangspunkts, Unterricht wie Schulleben insgesamt so gestalten zu
müssen, dass die Prävention von Rechtsextremismus als Aufgabe aller Fächer und
Aufgabengebiete erfüllt werden kann und der Unterricht über den Nationalsozialismus fest im
Lehrplan verankert ist, wurden im Bereich von Schule speziell angeboten:
 diverse LehrerInnenfortbildungen zur Förderung der interkulturellen Kompetenz (u.a.
"Eine Welt der Vielfalt" und "Das sind wir"; vgl. dazu Kap. 3.1.2 und 3.1.17 ),
 von den TeilnehmerInnen mehrheitlich positiv beurteilte MultiplikatorInnenschulungen
für Streitschlichterprogramme – pro Schule je zwei Lehrkräfte (insgesamt arbeiten ca. 40
Hamburger Schulen an der Umsetzung des Konzepts),
 Antigewalttrainings und Trainings in Mediation,
 Fortbildungsangebote zur "Förderung der zivilen Konfliktfähigkeit" und Zivilcourage
(durch das Institut für Lehrerfortbildung, IfL, im Umfang von 24 Seminaren à ca. 20
TeilnehmerInnen im Schuljahr 2000/2001),
 ein Innovationsfonds zur Förderung von Schulprojekten, der 15 Schulen Mittel in Höhe
von 152.600 DM für Gewaltprävention zur Verfügung stellte.
 Ferner wurden etwa 70 Polizeibeamte für den gewaltpräventiven Einsatz an Schulen
ausgebildet (wo auch der Landesverfassungsschutz informiert) und wurde die Aktion
gegen Handy-Raub "Ich bin registriert" in Kooperation von Lehrkräften und Polizei
durchgeführt.
 "Soziales Lernen" gilt als fester Bestandteil des Methodentrainings in allen Schulformen.
 Daneben gibt es Sportveranstaltungen an Schulen (Mitternachtsbasketball u.ä.) und
diverse Aktionen unter Titeln wie "Für Demokratie" und "Gegen Rassismus, Ausgrenzung
und Gewalt" u.ä.
 Die Projektagentur "Pro Demokratie" soll die Stärkung demokratischer Strukturen
innerhalb von Schulen als Servicestelle unterstützen.
Die Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung unterstützt daneben Angebote freier
Träger, der LzpB – die daneben ein umfangreiches Angebot zum Rechtsextremismus-Thema
macht -, der VHS – die auch "Anti-Gewalt-Trainings" und "Mediation" anbietet – und der
JVHS (Junge Volkshochschule) zur Förderung der zivilen Konfliktfähigkeit und der
Zivilcourage, Wettbewerbe und Preise wie "Demokratisch handeln", "Jugend debattiert" und
27
den 1998 erstmals ausgeschriebenen "Bertini-Preis" für junge HamburgerInnen mit
Zivilcourage.
Die Behörde für Inneres organisierte Präventivaktionen wie "Jugend" (seit 1997), "Wer nichts
tut, macht mit" (1998) und seit 1996 "Sicherheitspartnerschaften Bürger – Polizei", um
Eigenverantwortung im Quartier zu stärken; das LKA richtete eine Info-Hotline zum Problem
Rechtsextremismus ein.
Im Sportbereich engagieren sich gut 60 Vereine in der sportlichen Sozialarbeit, 23 von ihnen
in der Arbeit mit Aussiedlern. Das Projekt "Integration durch Sport" erweitert den
Personenkreis und zielt speziell auf soziale Brennpunkte.
Hessen
Das Bundesland Hessen hat – wohl auch weil die Belastung zumindest mit entsprechenden
Straftaten im Ländervergleich relativ gering ist – kein Sonderprogramm für
Rechtsextremismus- und Gewaltbekämpfung aufgelegt. Eine landesweite Koordination von
Aktivitäten findet nicht statt. Zwischen 1994 und 1996 lief jedoch ein "Hessisches
Jugendaktionsprogramm gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit", das
über fünf Modellprojekte und 15 weitere kleinere Projekte einige Anstöße liefern konnte, die
in die alltägliche Arbeit übernommen werden konnten (vgl. Hafeneger 1995; Klose u.a.
2000).
Die Präventivaufgaben werden gegenwärtig am ehesten durch den unter Federführung des
Justizministeriums arbeitenden Landespräventionsrat zusammengeführt, der u.a. auch eine
Arbeitsgruppe zum Thema "Gewalt und Minderheiten", früher: "Gewalt gegen Minderheiten",
hat. Die von ihm zuletzt in den Jahren 1998 und 2000 herausgegebenen Reports lassen
erkennen, dass er nicht nur einen jährlichen Landespräventionspreis verleiht und seine
Aufgabe darin sieht, kommunale Präventionsgremien anzuregen und zu unterstützen, sondern
auch in der Entfaltung von Sportaktivitäten (z.B. "Sport mit Aussiedlern"; vgl. auch Kap.
3.1.8), in der Qualifizierung der Übungsleiter (dies waren schon Akzentsetzungen im
jugendaktionsprogramm-geförderten Projekt "Auszeit"; vgl. Curth/Kelm/Mathern 1996;
Klose u.a. 2000) sowie in der mobilen Sozialarbeit besonders wichtige Ansatzpunkte erblickt,
um soziale Integration, insbesondere von sozial Benachteiligten, zu befördern und Gewalt im
öffentlichen Bereich zu begegnen (vgl. Dritter Bericht 1998; Vierter Bericht 2000).
Das Innenministerium beschränkt sich gegenwärtig darauf, die Fußballfanprojekte in
Frankfurt, Offenbach und Darmstadt, gelegentlich kleinere Integrationsprojekte von
Sportvereinen mit Ausländern und Aussiedlern sowie mit 50.000 Euro aktuell das vom
Hessischen Fußballverband ausgehende Projekt "Integration – Toleranz für eine friedliche
WM 2006" zu unterstützen.
Hessische Gewaltpräventionsprojekte sind – wie andere aus den Bundesländern BadenWürttemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, NRW und Sachsen – am "Netzwerk
Verantwortungsübernahme und Gewaltprävention" beteiligt. Einzelbeschreibungen von
Projekten mit insgesamt großer inhaltlicher und methodischer Spannbreite sind z.B. unter
www.verantwortung.de im Internet abzurufen.
Das Hessische Institut für Lehrerfortbildung in Frankfurt setzt den Schwerpunkt der
Gewaltprävention einerseits auf Mediation und Konfliktschlichtung. Im Programm
"Mediation und Schulprogramm" wurden seit 1997 bislang, orientiert an dem von Kurt Faller
ausgearbeiteten Modell (vgl. auch Kap. 3.1.4), 165 Schulen in entsprechende Projekte
einbezogen. Ziel ist die Ausbildung von Schüler-Streitschlichtern und die Integration der
damit vermittelten Konfliktlösungskompetenzen in das jeweilige Schulprogramm, um eine
nachhaltige schulische Konfliktkultur zu entwickeln. Ein zweiter, damit verknüpfter
28
Schwerpunkt betrifft die Entwicklung von demokratischer Schulqualität. Geplant ist z.Zt., in
das BLK-Modell "Demokratie lernen" (vgl. Kap. 3.1.5) mit 18 allgemeinbildenden und 6
beruflichen Schulen 'einzusteigen'. Weitere gewaltpräventive Projekte arbeiten mit dem
Olweus-Programm (zwischen 1996 und 1999 an 5 Schulen umgesetzt; vgl. auch Kap. 3.1.5),
oder
mit
anderen
Schwerpunktsetzungen,
z.B.
theaterpädagogischen
und
geschlechtsbezogenen.
Im Bereich der Jugendhilfe beschränkt man sich im wesentlichen auf die Umsetzung des
Bundesprogramms "Jugend für Demokratie und Toleranz". Interessant ist in diesem
Zusammenhang ein Schulkooperations-Projekt des Frankfurter Anne Frank Hauses, in dem in
Reaktion auf die öffentliche Debatte vom Sommer 2000 und die an die Jugendbildungsstätte
gerichtete Aufforderung, verstärkt tätig zu werden, auf die modernisierten
Erscheinungsformen des Rechtsextremismus weniger durch historische Bildung (vgl. Kap.
3.1.1) als u.a. durch Aufgreifen lebensweltorientierter Themen der Jugendlichen und
Zivilcourage-Trainings (vgl. Kap. 3.1.6) mit Schülern und Schülerinnen geantwortet wird
(vgl. auch Sachbericht 2001).
Das Kinderbüro Frankfurt bietet in Zusammenarbeit mit dem Jugendbeauftragten der
Frankfurter Polizei für SchülerInnen der Sekundarstufe I, schwerpunktmäßig für Jungen, ein
Coolness-Training an, das seit einigen Jahren auch in die Elternarbeit sowie die
Erzieherinnen- und
Lehrerfortbildung eingeht. Es handelt sich um ein
Gewaltvermeidungstraining, das auf einem genauen Erkennen von Gewaltsituationen und
ihren Eskalationsbedingungen aufbaut (vgl. auch Kap. 3.1.11).
Mecklenburg-Vorpommern
Im Nachgang zum Erlass des Innenministeriums zur Bekämpfung des Rechtsextremismus
vom Juni 1999, der u.a. die Einrichtung der MAEX-Gruppen (Mobile Aufklärung
Extremismus) in den 5 Polizeidirektionen des Landes vorsah, beschloss die Regierung des
Landes im Mai 2000 ein 7-Punkte-Programm zum repressiven und präventiven Kampf gegen
Rechtsextremismus. Darin wird "unnachsichtige Härte" für rechtsextremistische Gewalttäter
ebenso gefordert wie die Befähigung von Jugendlichen, "verführerische rechtsextremistische
Parolen zu durchschauen und sich von ihnen zu distanzieren". Im präventiven Bereich werden
insbesondere Schule, Jugendarbeit und bürgergesellschaftliche Initiativen in die Pflicht
genommen bzw. ermuntert (vgl. Punkte 5., 6. und 7.).
Neben repressiven Maßnahmen unter dem Motto "Keine Toleranz für Intoleranz" ist
erwähnenswert:
 Die Polizeiliche Kriminalprävention (ProPK) bietet ein Extra-Projekt "Bürger und Polizei
gemeinsam gegen Rechtsextremismus" an, wo Informationen (u.a. Verhaltenstipps, Tipps
für Eltern, Hinweise auf die "Aktion-tu-was") und Präventionsprojekte abrufbar sind.
 Ein schon 1994 gegründeter "Landesrat für Kriminalitätsvorbeugung", der über eigene
Haushaltsmittel (2002 und 2003 je 295.100 Euro Landesgelder) zur Förderung von
Präventionsprojekten verfügt (näherer Informationen: www.kriminalpraevention-mv.de),
hat eine Arbeitsgruppe "Extremismus" eingerichtet, die eine "kritische Integration"
rechtsextremistisch orientierter Jugendlicher empfiehlt.
 Ein
Handlungsrahmen
"Demokratie
und
Toleranz"
(vgl.
www.mvregierung.de/im/pages/demokratie.htm) sieht u.a. im einzelnen vor:
 die Verstärkung bürgergesellschaftlichen Engagements in Hinsicht auf Zivilcourage
und eine entsprechende Förderung von Projekten durch die LzpB im Rahmen des
Sonderprogramms "Pro Zivilcourage gegen Gewalt", mit dem im Jahre 2000 und 2001
bei einer Ausstattung von jährlich 300.000 DM je etwa 60-70 Veranstaltungen
(vergleichsweise stark historisch-aufklärend akzentuiert), u.a. auch die
29




Gründungskonferenz für "Netzwerke für Demokratie und Toleranz in M.-V."
durchgeführt wurden;
im Bereich von Schule neben thematischer Akzentuierung des Schulunterrichts und
der LehrerInnenfortbildung, Gewaltprävention auf dem Schulhof, der Empfehlung das
in Sassnitz geltende Springerstiefelverbot (vgl. (www.kultus-mv.de) zu übernehmen,
Sport gegen Gewalt, Vernetzung von Jugendhilfe und Schule sowie Ausbildung von
jugendlichen Streitschlichtern der Einsatz von sozialpädagogisch geschultem Personal
an den beruflichen und allgemeinbildenden Schulen des Landes. Bis zum Jahresende
2002 soll im Rahmen der im August 1999 gegründeten Landesinitiative Jugend- und
Schulsozialarbeit eine Zahl von 1000 Beschäftigungsverhältnissen erreicht werden;
in der Jugendarbeit die verstärkte Unterstützung von "Projekten und Initiativen, die
sich der Gewaltprävention und der Bekämpfung des Rechtsextremismus widmen"
sowie die Aufforderung an die Jugendarbeit, das Konzept der "kritischen Integration"
zu "prüfen und auszufüllen";
die Verstärkung der Bemühungen um einen Abbau der Jugendarbeitslosigkeit, nicht
zuletzt über das "Bündnis für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit";
die Prüfung, inwieweit die von den Unternehmen gestartete "Initiative der Wirtschaft
gegen Gewalt und Extremismus" "nicht Bestandteil der Präventionsförderung im
Bereich Rechtsextremismusbekämpfungen werden kann" und die damit eingebrachten
Mittel entsprechend verausgabt werden können.
Niedersachsen
Die Aktivitäten des Landes Niedersachsens gehen im Überblick aus einer "Zusammenstellung
der seit August 2000 eingeleiteten Maßnahmen und Projekte zur Bekämpfung des
Rechtsextremismus"
vom
September
2001
hervor
(vgl.
www.niedersachsen.de/pdf/zusammenstellungPraevention.pdf), die eine Umsetzung der
Landtagsentschließung "Für Demokratie und Menschenrechte – Gegen Gewalt und
Fremdenhass" (LT-Dr. 14/1845) beinhaltet. Daraus und aus weiteren Recherchen lässt sich
u.a. ersehen:
Das Innenministerium fördert neben den von ihm zu verantworteten repressiven Maßnahmen
– ausgehend von der Einschätzung, dass Rechtsextremismus „kein gesellschaftliches
Randphänomen“ darstellt (vgl. www.niedersachen.de/MI_Integration.htm) – verstärkt
präventive Ansätze. Dazu gehört u.a.:
 die Ansprache von erkannten Rechtsextremisten,
 die „GoSports“-Aktion mit 40 Veranstaltungen im Jahr, die „Sport als Mittel gegen
wachsende Gewaltbereitschaft in der Jugend“ (vgl. ebd.) einsetzt,
 das Projekt „Sport mit Aussiedlern“, das vom Landessportbund durchgeführt wird,
 die Schaltung einer polizeilichen Hotline für die Meldung rechtsextremer Straftaten,
 die Initiierung und Unterstützung des Landespräventionsrates mit seiner seit Frühjahr
2001 eingerichteten Kommission "Prävention rechter Gewalt" sowie
 das Schließen von „Sicherheitspartnerschaften“ zwischen Polizei, Justiz, Bau- und
Gesundheitsämtern, Sozial- und Jugendbehörden, Schulen, Kirchen, Vereinen,
Unternehmen und Nachbarschaften (lt. Runderlass des MI vom 24.07.1998).
Die Justiz hat ein Präventionsprogramm "Gewalt – nein!" aufgelegt, das gezielt die
sozialarbeiterische Kompetenz von GerichtshelferInnen bei der einzelfallorientierten
Aufarbeitung von Gewalttaten und ihre Mitarbeit in örtlichen Netzwerken nutzen will.
30
Schulische Prävention von Gewalt und Rechtsextremismus wird von Seiten des
niedersächsischen Kultusministeriums insbesondere durch Maßnahmen verfolgt wie (vgl.
Drucksache 14/2262)
 die Aufstockung des Angebots von Lehrerfortbildungskursen zur Thematik,
 eine verstärkte Berücksichtigung der Thematik bei der Überarbeitung der
Rahmenrichtlinien,
 die Erarbeitung von Handreichungen und Unterrichtsmaterialien vor allem durch das MK,
die Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung und das Niedersächsische
Lehrerfortbildungsinstitut,
 seit 1992 die Auslobung des Schülerfriedenspreises,
 die Ausbildung von MediatorInnen als MultiplikatorInnen für den Schuleinsatz und die
von Schülern und Schülerinnen als Konfliktlotsen (letztere nach Stand von Februar 2001
in 8 Städten und einem Landkreis),
 die
Ausbildung
von
fast
2
Dutzend
LehrerInnen
an
der
FH
Nordostniedersachen/Universität Lüneburg zu Präventionsfachkräften,
 die Förderung der Kooperation von Schulen mit Einrichtungen und Vereinen des
Gemeinwesens,
 den Einbezug von 30 niedersächsischen Schulen des Sek.I- und Sek.II-Bereiches in das
bundesfinanzierte Projekt „Soziale Schulqualität und Devianz“ (Kooperationspartner IFK
und IBBW; vgl. Kap. 3) und das Einbringen der Ergebnisse in Fernlehrgänge im Rahmen
der schulinternen Lehrerfortbildung (SCHILF),
 weitere Projekte (z.B. „Betzavta“, PIT, KIK und Anti-Gewalt-Trainings; vgl. inhaltlich
dazu die entsprechenden Unterkapitel von Kap. 3.1) sowie Foren an einzelnen Schulen,
oft in Kooperation von Schule und Jugendhilfe.
Das Finanzierungsvolumen dafür lässt sich nicht angeben, weil entsprechende Mittel nicht
themenspezifisch ausgewiesen werden.
Das Ministerium für Arbeit, Frauen und Soziales
 fördert mit 4,8 Mio. DM, davon 1 Mio. DM EU-Mittel, das Präventions- und
Integrationsprogramm (PRINT), mit dem an 47 Standorten seit Mai 2001 Projekte der
Integration zugewanderter Kinder und Jugendlicher und des Abbaus von
Fremdenfeindlichkeit aufgebaut werden,
 leistet Informations- und Aufklärungsarbeit (u.a. bei NLI-Trainingskursen nach dem
Konzept "Eine Welt der Vielfalt" für Schüler und Schülerinnen; vgl. inhaltlich dazu Kap.
3.1.2),
 nimmt
Koordinationsaufgaben
des
"Niedersächsischen
Bündnisses
gegen
Ausländerfeindlichkeit und für Interkulturelle Verständigung" wahr,
 fördert Aktivitäten der Landesinitiative "Jugend in Niedersachsen für Demokratie,
Menschenrechte und Toleranz" (2000 in Höhe von 1,37 Mio. DM; Einzelheiten vgl.
www.niedersachsen.de/pdf/zusammenstellungPraevention.pdf).
Die Landeszentrale für politische Bildung
 veranstaltete in den Jahren 2000 und 2001 28 Tagungen, Konferenzen, Seminare u.ä. zum
Themenbereich „Gewalt und Rechtsextremismus“,
 organisierte eine Tour des „widu-Theaters“ mit einer „Aufführung gegen rechtsradikale
Gewalt“ (Titel des Stücks: „Angst im Kopf“) in 48 Orten des Landes bei durchschnittlich
200 Schülern und Schülerinnen als ZuschauerInnen (vgl. inhaltlich zu
theterpädagogischen Projekten Kap. 3.1.9),
31


hat die Landeskoordination der Aktion „Schule ohne Rassismus“ inne (vgl. dazu Kap.
3.1.5), die bis Ende des Jahres 2001 etwa ein Dutzend Schulen des Landes entsprechend
auszeichnete; weitere 50-60 befinden sich im Bewerbungsverfahren
unterstützt neben der einrichtungsüblichen Herausgabe von thematischen Publikationen
und der Erstellung eines Teamer- und ReferentInnenverzeichnisses auch Initiativen und
Einrichtungen vor Ort im Rahmen des landesweiten „Aktionsbündnisses gegen Rechts“
mit 1,1 Mio. DM jährlich (2001-2003) bei einer Kofinanzierung durch Eigen- bzw. andere
Drittmittel von etwa einer weiteren Mio. DM. Damit konnten 2001 136 Projekte eines
breiten methodischen Spektrums (von historischen Projekten über Theaterprojekte und
Workshops bis hin zu Medienprojekten) finanziert werden, wobei der "Ansturm der
Antragsteller" "überraschte" (ebd., 13) und "ohne weiteres" eine weitere Mio. an
Fördergeldern hätte verausgabt werden können.
Nordrhein-Westfalen
Das Bundesland NRW bündelt seine Aktivitäten der Bekämpfung von Rechtsextremismus,
Fremdenfeindlichkeit und Gewalt in einem gegen Ende des Jahres 2000 vorgelegten
"Aktionsprogramm gegen Rechtsextremismus". Anknüpfend an eine Situationsanalyse, die
explizit
"Desintegration",
"(i)ndividuelle
Verunsicherung
und
Zukunftsängste,
Perspektivlosigkeit, das Gefühl sozialer Isolation und Anerkennungsdefizite" als "Nährboden"
für Anfälligkeit ausmacht (vgl. Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfallen 2000, 19 bzw.
6), werden Schwerpunkte in folgenden Bereichen gesetzt (ebd., 10):
 "Beobachtung der Szene, kriminalpräventive Maßnahmen, Schutz gefährdeter Personen
und Objekte, Strafverfolgung
 Aufklärung, Information und Multiplikatorenschulung
 Jugend-, Bildungs- und Familienpolitik
 soziale Integration und interkulturelle Verständigung
 Ursachenforschung
 Vernetzung von Projekten und Initiativen unterschiedlicher Träger".
In den hier vorrangig interessierenden Bereichen der Bildung, der Verhinderung sozialer
Ausgrenzung und der Förderung interkultureller Verständigung und des Wissenstransfers sind
als konturverleihend hervorzuheben:
 die Orientierung der Lehrerfortbildung weniger an Fachlehrer-Schulung denn an ganzen
Kollegien
oder
Teilgruppen
von
ihnen
und
die
Mitwirkung
von
Verfassungsschutzmitarbeitern dabei,
 die Fortführung der Vorhaben einer Öffnung der Schule zum Gemeinwesen,
 die Vernetzung der Aktivitäten von Polizei, Schule und Jugendhilfe, etwa in Form von
"Vertrauenspartnerschaften",
 die Unterstützung des Programms "Schule ohne Rassismus", das einen Schwerpunkt in
NRW hat,
 die Umsetzung des 1996 zwischen Regierung, Wirtschaft, Gewerkschaften,
Arbeitsverwaltung und Kommunen geschlossenen "Ausbildungskonsens NordrheinWestfalen" und die Landesinitiative "Jugend in Arbeit",
 die Förderung gezielter Projekte der Gewaltprävention bei Trägern der Jugendhilfe mit ca.
4 Mio. DM pro Jahr,
 die Einrichtung freiwilliger Schulsportgemeinschaften in "Stadtteilen mit besonderem
Erneuerungsbedarf", andernorts "soziale Brennpunkte" genannt,
 die Förderung von 27 RAAs, die Förderung eines "Landeszentrums für Zuwanderung" mit
13 MitarbeiterInnen als Transferstelle zwischen Wissenschaft, Praxis und Politik und die
32




Förderung des "Informations- und Dokumentationszentrums Ausländerfeindlichkeit"
(IDA-NRW),
der beabsichtigte Ausbau der Antidiskriminierungsarbeit auf der Basis der bei neun
Modellprojekten gesammelten Erfahrungen,
die Förderung von bürgerschaftlichen Gemeinschaftsprojekten in städtischen
Lebensräumen, für die zwischen 2001 und 2004 10 Mio. DM vorgesehen sind,
die Förderung von interkultureller Erziehung im Elementarbereich (5 Modellprojekte) und
interkultureller Weiterbildung bei kleinen und mittleren Unternehmen im Rahmen des
BLK-Modellversuchs "Lebenslanges Lernen",
die Unterstützung des "Arbeitskreises der Ruhrgebietsstädte", durch den Aktivitäten der
Jugendämter koordiniert werden.
Besondere bundesweite Aufmerksamkeit hat NRW durch die im September 2000 von der
Landesregierung beschlossene Sofortmaßnahme erregt, den Kommunen des Landes
insgesamt rd. 21,1 Mio. DM und den Kreisen je 100.000 DM für Projekte und Maßnahmen
gegen Rechtsextremismus und Gewalt und für Toleranz und Respekt zur Verfügung zu
stellen. Damit konnte eine Vielzahl von Aktivitäten angeregt und finanziert werden. Eine
Übersicht steht erst dann zur Verfügung, nachdem am 30.03. 2002 die Verwendungsberichte
vorgelegt wurden und eine anschließende Sichtung erfolgt ist (vgl. aber schon:
www.NRWGegenRechts.de und als Überblick über Arbeitsschwerpunkte antirassistischer
und interkultureller Projekte in NRW: Informations- und Dokumentationsstelle 2000).
Ähnlich wie z.B. in Brandenburg werden die staatlichen Initiativen von einem Partner
begleitet, der eine bürgergesellschaftliche Vereinigung, genauer: eine Vernetzung von ca. 300
Organisationen, Unternehmen, Schulen und Vereinen, darstellt. Im Falle NRWs ist dies das
im August 2000 durch den Ministerpräsidenten aus der Taufe gehobene "Bündnis für
Toleranz und Zivilcourage – gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit" (vgl.
www.nrw.de/zivilcourage). Bei der Staatskanzlei ist eine Stabsstelle dafür eingerichtet
worden.
Rheinland-Pfalz
Die Landesregierung von Rheinland-Pfalz hat im August 2000 Sofortmaßnahmen gegen
Rechtsextremismus beschlossen. Sie umfassen neben repressiv ausgelegten Initiativen,
Einmal-Aktionen, Aufrufen (vgl. z.B. www.mainzer-appell.de) und die Gründung des
bürgergesellschaftlich orientierten "Aktionsbündnisses gegen Rechtsextremismus und
Gewalt" u.a.:
 die Gründung eines landesweiten Kriminalitätspräventionsrats, der die Aktivitäten der
z.Zt. 71 kriminalpräventiven Räte inhaltlich bereichern und bündeln soll,
 die Bekämpfung rechtsextremer Milieus unter Fußballzuschauern, u.a. mittels der FritzWalter-Stiftung,
 die Einrichtung einer ressortübergreifenden Arbeitsgruppe zur Koordinierung der
Zusammenarbeit gegen Rechtsextremismus und Internetkriminalität.
Hinzu kommen in Rheinland-Pfalz kriminalpräventive Maßnahmen der Polizei. Sie liegen
insbesondere in:
 der Erarbeitung spezieller Module gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit
für die Präventionsprojekte "Prävention im Team" (PIT) (vgl. näher dazu: Pädagogisches
Zentrum 2000; vgl. Kap. 3.1.5) und "Erlebnis, Aktion, Spaß und Information" (EASI),
 dem Aufbau "Kommunaler Bündnisse gegen rechts",
 der Zivilcourage-Kampagne "Wer nichts tut, macht mit" und in der
 Kooperation von Polizei und Schule.
33
Maßnahmen des Ministeriums für Kultur, Jugend, Familie und Frauen, die mit
Landesjugendplanmitteln durchgeführt werden, zielen vor allem auf:
 Schulsozialarbeit an Hauptschulen in sozialen Brennpunkten (18 Kräfte landesweit),
 Jugendberufshelfer, die in 3 Kreisen ausgestiegene Jugendliche an den Arbeitsmarkt
heranführen,
 Beratungs- und Integrationsdienste bzw. –projekte in 9 Städten und Gemeinden für
benachteiligte junge Menschen und Migranten.
Das Bildungsministerium sieht die schulische Bearbeitung von Gewalt und Extremismus als
unterrichtliche, schulbezogene und therapeutische Aufgabe. Es unterstützt u.a.
 seit 1989 einen ressortübergreifenden Arbeitskreis zur Bekämpfung von
Rechtsextremismus,
 Fachtagungen, Seminare, Publikationen (u.a. eine Reflexionshilfe zur "Entwicklung
schulischer
Anerkennungsverhältnisse";
vgl.
Bertram/Helsper/Idel
2000),
Lehrerfortbildungen und Schulprojekte (u.a. seit 1992 das Projekt "Wer, wenn nicht
wir?"; vgl. www.werwenn.de, seit 1994 die Aktion "Sport und Spiel statt Gewalt auf dem
Schulhof" an fast 300 Schulen; vgl. Ministerium für Bildung, Wissenschaft und
Weiterbildung 2000; seit 1998/99 das Programm zur Primärprävention "PROPP", das sich
an die Klassenstufen 5 und 7 richtet und pro Schuljahr innerhalb von 40 Schulstunden in
gegenwärtig rd. 150 Schulen ein Trainingsprogramm zur Stärkung von Selbst- und
Sozialkompetenz wie der Konfliktbewältigung bietet; seit 2000 die Aktion
"Menschenrechte leben – Menschenpflichten annehmen"),
 die derzeit laufende Revision von Lehrplänen in Hinsicht auf eine stärkere Integration des
interkulturellen Aspekts wie der Gewaltprävention und eine Projektgruppe "Interkulturelle
Bildung – Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit", die am "Institut für schulische
Fortbildung und schulpsychologische Beratung" (IFB) Handlungskonzepte erarbeiten soll,
und
 Streitschlichterprogramme in z.Zt. etwa 50 Schulen.
Die Landesbeauftragte für Ausländerfragen brachte einschlägige Broschüren auf den Markt
und förderte u.a. 36 Projekte im Umfang von 120.000 DM schwerpunktmäßig zum Thema
"Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit".
Die Landeszentrale für politische Bildung zeichnet u.a. für das bundesweit breit beachtete
MultiplikatorInnenpaket
"Nein
–
Fremdenfeindlichkeit,
Gewalt,
Rassismus,
Rechtsextremismus" (vgl. Literaturverzeichnis) und die Publikation "Nicht wegschauen –
eingreifen" verantwortlich. Bemerkenswert ist, dass laut einem Bericht über 1999 und 2000
durchgeführte Modellseminare zum Thema "Für Freiheit – ohne Rechtsextremismus" mit
SchülerInnen berufsbildender Schulen, die vorgenommene "Reduzierung des kognitiven
Lernens zu Gunsten einer handlungsorientierten Vorgehensweise" sich als "richtig erwiesen"
hat, "positive Resonanz" von den Schulen und von SchülerInnen kam und der Einbezug von
Schulsozialarbeitern als "unbedingt" wünschenswert erachtet wird. (vgl. Bericht...2000, hier:
9, 10).
In der Landeshauptstadt Mainz existiert seit neuestem ein lokaler Aktionsplan "Jugend für
Toleranz und Demokratie", der nach momentanem Stand allerdings erst in einer kleinen,
abgeschlossenen lokalen Analyse besteht, die die Voraussetzung für die Schaffung einer
Netzwerkstruktur und konkreter Maßnahmen klären helfen will (vgl. Wink u.a. 2002).
Saarland
34
Neben repressiven Maßnahmen der Sicherheitsbehörden, dem wie in jedem anderen
Bundesland existierenden Aussteigertelefon (vgl. Kap. 3.1.15), den gängigen
Thematisierungen der Thematik Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit im
Unterricht der Schulen und Einzelaktionen und –veranstaltungen ist in Bezug auf das
Saarland erwähnenswert:
 Am 23.08.2000 haben der Landtag und die Landesregierung eine parteiübergreifende
Kampagne "Gegen Extremismus – Für ein tolerantes Saarland" beschlossen.
 Eine landesweite Initiative "Gegen Rassismus – Für ein tolerantes Saarland" hat sich am
27.11.2000 gegründet und fungiert als "Runder Tisch".
 Mit Erlass vom 02.01.01 wurde die Bestellung eines Landesbeauftragten für pädagogische
Prävention beim Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft veranlasst, der
Bildungs- und Erziehungseinrichtungen u.a. auch bei ihrer Anti-Rassismusarbeit
unterstützen soll.
 Das Innen- und Sportministerium
 propagiert kommunale und interregionale Kriminalprävention und
 einen Saarländischen Präventionspreis,
 fordert die Polizeibehörden auf – wie an einigen ausgewählten Schulen bereits erfolgt
– an Modellprojekten mitzuwirken, die Gewaltprävention mit erlebnisorientiertem
Schwerpunkt (vgl. Kap. 3.1.8), Coolness- und Zivilcourage-Training (vgl. Kap. 3.1.11
und 3.1.6) oder MultiplikatorInnen-Schulung zum Inhalt haben,
 startet gemeinsam mit dem Bildungsministerium die Initiative "Sport und Prävention",
die im März 2001 zur Gründung des Vereins "wir im Verein mit dir" e.V. führte, der
in Kooperation mit Vereinen, die Jugendarbeit leisten, Multifunktionsplätze gerade in
sozialen Brennpunkten einrichtet, speziell Grundschulkinder mit Sportvereinen
bekannt macht und umfangreiche Fortbildungen für BetreuerInnen anbietet (vgl. auch
inhaltlich dazu Kap. 3.1.8.).
Sachsen
Wird im Bereich repressiver Maßnahmen neben den Aktivitäten des Landesamtes für
Verfassungsschutz der "Kern des Bekämpfungskonzepts" (Drucksache 3/2461-2, 2; vgl. diese
Drucksache auch zum folgenden) in der schon 1991 gebildeten Sonderkommission
Rechtsextremismus (Soko Rex) des Landeskriminalamtes gesehen und eine Mischform von
Repression und Prävention den polizeilichen "Skin-Zügen" und den seit 1997 im Einsatz
befindlichen Mobilen Einsatz- und Fahndungsgruppen (MEFG) zugeschrieben, die mit
durchschnittlich 30 Beamten pro Abend bzw. Nacht gezielt an Treffpunkten der
rechtsextremistischen Szene und möglicherweise von ihr rekrutierbarer Jugendlicher Präsenz
zeigen und dort offensiv Kontrollen vornehmen, so sollen die Sicherheitsbehörden eher
präventive Wirkung entfalten durch vor allem:
 400 Polizeibeamte und weitere Verfassungsschutzmitarbeiter, die in Kinder- und
Jugendeinrichtungen sowie Schulen Informationsveranstaltungen abhalten und als
Ansprechpartner fungieren,
 Projekte "Sport und Gewalt",
 die Teilnahme am Bund-Länder Projekt "Fairständnis",
 die Ausschreibung des polizeilichen Präventionspreises "Ideen wanted. Jugend gegen
Gewalt",
 die im Innenministerium eingerichtete "Koordinierungsstelle Prävention" und die z.Zt. in
über 60 Kommunen existierenden kriminalpräventiven Gremien.
Im Bereich von Pädagogik und Sozialer Arbeit
35



laufen im Rahmen der allgemeinen Jugend- und Bildungsarbeit ohne Sonderfinanzierung
zahlreiche Veranstaltungen zu Gewalt- und Rechtsextremismusprävention bzw. zum
Thema Fremdenfeindlichkeit (z.B. auch bei der sächsischen LzpB),
setzt(e) das sächsische Sozialministerium ohne landesseitige Kofinanzierung das TeilProgramm "Maßnahmen gegen Gewalt und Rechtsextremismus" des Bundes-Programms
"Jugend für Toleranz..." mit ca. 837.000 DM um (Einzelheiten s. Drucksache 3/3571-2,
vor allem Anlage 1 u. 2),
läuft als themenspezifisches Landesprogramm von 2001 bis 2002 das auf Antrag der CDU
beschlossene "Landesmodellprojekt" "Sächsische Jugend für Demokratie" mit 750.000
DM an zur Verfügung stehenden Mitteln. Mit ihm ist die Deutsche Kinder- und
Jugendstiftung betraut.
"Ein weiterer Großteil der für Maßnahmen gegen Rechtsextremismus ausgegebenen
Haushaltsmittel" ist lt. Sächsischer Staatsregierung "nicht konkret bezifferbar, da diese über
polizeiliche Strukturen, wie Sonderkommission Rechtsextremismus, Mobile Einsatz- und
Fahndungsgruppen, Fortbildungsmaßnahmen und Einsatz von Bediensteten mit
Präventionsaufgaben realisiert werden und damit nicht konkret ausgewiesen werden"
(Drucksache 3/4867-2, 3).
Das sächsische "Netzwerk für Demokratie und Courage" ist ein Verein, der – auf der Basis
eines Vorläuferprojekts, das bereits 1998 startete – seit dem Jahr 2000 aktiv ist und zu etwa
2/3 über Xenos, zu 1/3 über die Mitglieder (gewerkschaftliche und kirchliche Initiativen,
Jugendverbände und aktive Einzelpersonen) finanziert wird. Er engagiert sich unter dem
Motto "Jugend für Jugend" für themenspezifische Projekttage, vor allem in Schulen, baut
z.Zt. und demnächst weiterhin sein Angebot aber auch vermehrt in den Bereichen von
Bildung und Qualifizierung, Beteiligungsprojekte in lokaler Partnerschaft, Beratung von
Initiativen und Projekten, interregionale und internationale Arbeit auch über Sachsen hinaus
in anderen Bundesländern (bisher schon Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg,
Thüringen, wo sich ein ähnlicher Verein "Netzwerk für Demokratie - Courage zeigen"
gegründet hat) aus (vgl. auch www.d-a-s-h.org/Dossier/Dossier3/3_05.shtml).
Sachsen-Anhalt
Die Rechtsextremismus-Bekämpfung hat in Sachsen-Anhalt nach dem guten Abschneiden der
DVU (12,9%) bei der Landtagswahl 1998 eine gesteigerte Bedeutung erhalten.
1999 hat die kürzlich abgewählte Landesregierung das "Handlungskonzept für ein
demokratisches, weltoffenes Sachsen-Anhalt" verabschiedet (vgl. Staatskanzlei 1999). Eine
Stabsstelle in der Staatskanzlei koordiniert die Arbeiten. Im Zentrum steht die Unterstützung
zivilgesellschaftlichen Engagements zur Stärkung der Demokratie und die Integration
ausländischer Mitbürger und Minderheiten. Das Handlungskonzept soll eine Verbindung
bisheriger Programme der Landesregierung innerhalb der Jugend-, Bildungs- und
Integrationsarbeit sowie der Kriminalitätsbekämpfung mit neuen Initiativen darstellen. Es
enthält 10 Punkte, als deren Ausflüsse besonders die folgenden Arbeitszusammenhänge
erwähnenswert erscheinen:
 Ein zivilgesellschaftlich angelegtes "Netzwerk Demokratie und Toleranz in SachsenAnhalt" soll die staatlicherseits angeregten Initiativen in der Bevölkerung verankern
helfen und sie mit ihr abstimmen lassen. Der Stärkung zivilgesellschaftlicher Kräfte und
Strukturen dienen seit 1999 durchgeführte, zuletzt allerdings kaum noch tagende regionale
Runde Tische. Die Landesförderung für den Aufbau und die Stabilisierung
zivilgesellschaftlicher Strukturen betrug 1999 1,2 Mio., 2000 1,7 Mio. und 2001 2,0 Mio.
DM zur Förderung des im Mai 1999 gegründeten Vereins "Miteinander e.V. – Netzwerk
36



für Demokratie und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt" (vgl. auch www.miteinanderev.de). Für 2002 ist dieselbe Summe wie für 2001 zugesagt. "Miteinander"
(Geschäftsstelle in Magdeburg) übernimmt landesweite Vernetzungsaufgaben und bietet
in z.Zt. vier Regionalen Zentren (Gardelegen, Aschersleben, Roßlau, Weißenfels)
Serviceangebote, vor allem in Hinsicht auf Beratung und Fortbildung für lokale
zivilgesellschaftliche Kräfte und initiiert sie dort, wo sie sich bislang kaum entfaltet
haben, etwa im ländlichen Raum. Zu den Aufgaben gehören auch die ursprünglich im
Handlungskonzept den Mobilen Unterstützungsteams (MUT) zugedachten Angebote für
Kommunen, Institutionen, Unternehmen und NGOs, die den Umgang mit
Rechtsextremismus, Gewalt und ihren Tätern in den lokalen Strukturen verbessern helfen.
Sie gehen zu mindestens ¾ in Kooperationsprojekte mit sozialen und pädagogischen
Einrichtungen ein, bei denen neben finanzieller Unterstützung überwiegend auch eine
inhaltliche Zusammenarbeit zu Stande kommt. Insofern wirken die "Miteinander"MitarbeiterInnen einerseits ähnlich wie die der Mobilen Beratungsteams, bleiben aber
nicht wie diese externe BeraterInnen und begleiten auch nicht kommunale Prozesse über
den Zeitraum von mehreren Wochen hinweg.
Neben der Einrichtung eines Dokumentations- und Informationszentrums, das u.a. vor
allem einrichtungsbezogene Fortbildungsangebote für Fachkräfte und MultiplikatorInnen
organisiert und für sie auch konkrete Handreichungen und Beratungen bei der Umsetzung
von Projekten bereithält, betreibt "Miteinander" auch die Beratung von Opfern
(rechtsextremer) Gewalt. Zur Zeit sind mobile Opferberatungsstellen, in ihrer Mehrzahl in
Trägerschaft von "Miteinander", in Gardelegen, Dessau (hier in Trägerschaft des
Multikulturellen Zentrums), Halle, Halberstadt, Magdeburg und Weißenfels eingerichtet,
wobei in Halle und Halberstadt – hier befindet sich auch eine Zentrale Anlaufstelle für
AsylbewerberInnen – nur an einem Tag pro Woche Beratung in anderen sozialen
Einrichtungen angeboten wird. Zur finanziellen Unterstützung von Opfern verfügt
"Miteinander" über einen spendenfinanzierten Opferfonds.
Im Bereich der Jugendarbeit hat
 das Feststellenprogramm, das mit dem Ziel verfolgt wird, personelle Kontinuität in
den Jugendeinrichtungen zu sichern,
 der Ausbau von Schulsozialarbeit (p.a. 4 Mio. DM) und
 das Fortbildungsangebot des Landesjugendamtes ("Umgang mit rechtsorientierten
Jugendlichen und Fremdenfeindlichkeit") neben weiteren Einzelveranstaltungen der
Behörde
herausgehobene Bedeutung, auch wenn die beiden erstgenannten Förderbereiche eher
allgemein strukturschaffende und nicht themenspezifisch ausgelegte Funktionen haben
und unklar ist, ob und wie die beabsichtigte Überführung der Kosten in kommunale
Verantwortung erfolgen kann.
Im Bereich der Kriminalprävention sind u.a. zu nennen:
 die Gründung eines Landespräventionsrats am 06.09.1999 mit einer seit 2001
eingesetzten Arbeitsgruppe zu Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit, in der
allerdings mehr ministerielle Vertreter als NGOs sitzen,
 die bereits seit 1994 bestehende landesweite "Koordinierungs- und Ermittlungsgruppe
Rechts" (KEG-R),
 eine LKA-Hotline für Hinweise aus der Bevölkerung,
 eine spezielle Jugendberatung bei den Jugendkommissariaten der Polizei,
 diverse Anti-Gewaltprojekte, z.B. im Sportbereich,
 die Einleitung des Landes-Aussteigerprogramms durch aufsuchende Gespräche mit
gewaltbereiten Rechtsextremisten.
37




Der 1999 und 2000 zu verzeichnende Rückgang rechtsextremistischer Gewalt-Straftaten
im Lande wird von den Verantwortlichen im Zusammenhang mit diesen Anstrengungen
gesehen.
Innerhalb des Schulbereichs wird gesteigerter Wert auf soziales Lernen, Partizipation und
dabei handlungsorientierte und fächerübergreifende Ansätze gelegt sowie die
interkulturelle Bildung und Begegnung verstärkt. Eine Reihe von Projekten thematisiert
Demokratie und Toleranz und die Aufarbeitung der NS-Zeit. Die Lehrerfortbildung wird
entsprechend ausgerichtet. Ein seit 1997 jährlich ausgelobter "Schülerfriedenspreis" soll
einschlägiges Engagement prämieren.
Die Förderung der Eine-Welt-Häuser in Magdeburg und Halle, des multikulturellen
Zentrums in Dessau und der Interkulturellen Projektkoordination Halle (IKAP) als
zentralen Integrationseinrichtungen in den drei großen Städten soll Basisstrukturen für die
Integrationsarbeit schaffen.
Ein "Bündnis für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit" – analog dem bundesweiten "Bündnis
für Arbeit" zusammengesetzt – betreibt – u.a. im Rahmen von Xenos – die Stärkung des
internationalen Austausches im Rahmen der Berufsausbildung. Besondere
landesspezifische Bedeutung erhält diese Initiative für mehr Weltoffenheit und Toleranz
auch dadurch, dass in den vergangenen Jahren 170 ausländische Unternehmen 30.000
Arbeitsplätze geschaffen haben, aber nur 5.400 Ausländer und Ausländerinnen im
Bundesland leben.
Im Bereich der außerschulischen politischen Bildung bietet die LzpB von Sachsen-Anhalt
diverse Seminare, Workshops und Publikationen sowie ein "Theaterprojekt gegen Rechts"
mit dem Hannoveraner Klecks-Theater an, das im Herbst 2001 in 12 Schulen des Landes
von je etwa 100-120 Schülerinnen gesehen wurde (vgl. zu theaterpädagogischen Projekten
inhaltlich auch Kap. 3.1.9).
Als Kofinanzierung von Xenos hat das Land im Jahre 2001 1,2 Mio. DM zur Verfügung
gestellt, die allerdings wegen des späten Projektestarts nicht mehr abgerufen werden konnten.
In den kommenden Jahren sollen voraussichtlich 3,5 Mio. DM eingebracht werden.
Schleswig-Holstein
Neben repressiven Maßnahmen als erstem strategischen Feld (wie Einrichtung von
Sonderdezernaten bei
Staatsanwaltschaften,
Einsetzung spezieller polizeilicher
Ermittlungsgruppen) versucht das Land auf der Grundlage einer Analyse, die die Ursachen
von Rechtsextremismus u.a. explizit dem "Verlust von Anerkennung, sozialen Sicherheiten
und sozialem Zusammenhalt" (vgl. Drucksache 15/493, 48) zuschreibt, Wirkung zu erzielen
auf zwei weiteren strategischen Feldern, nämlich durch Präventionsarbeit und die (Weiter-)
Entwicklung einer demokratischen Öffentlichkeit. Dazu zählt vor allem:
 die Teilnahme an den Kampagnen "Fairständnis" und "Gesicht zeigen",
 die Gründung eines zivilgesellschaftlich verankerten "Gesellschaftlichen Bündnisses
gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus" auf Anregung der
Ministerpräsidentin im vergangenen Herbst,
 die Einrichtung eines Landesrats zur Kriminalitätsverhütung mit einem Schwerpunkt auf
Rechtsextremismusbekämpfung,
 den Beginn der Erarbeitung eines umfangreichen Integrationskonzeptes für MigrantInnen,
das im Frühjahr 2002 vorliegen soll,
 die Schaltung eines Bürgertelefons zum Thema Rechtsextremismus,
 Schwerpunktsetzungen
 in der (politischen) Erwachsenenbildung (v.a. über den Landesverband der VHSn,
Bildungsstätten und die LzpB), zielgruppenspezifisch insbesondere bei Kursen zum
38

nachträglichen Erwerb des Hauptschulabschlusses und bzgl. der Kooperation der
Einrichtungen mit Kriminalpräventiven Räten (weiteres dazu ebd., 49ff.),
in der Jugendarbeit und –bildung durch diverse Projekte der politischen
Jugendbildung, Streetwork (z.B. in Rendsburg), Kooperation von Jugendhilfe und
Schule, interkulturelle und internationale Ansätze, Anti-Aggressionstrainings,
Partizipationsprojekte (vgl. inhaltlich zu diesen Akzenten die Unterkapitel von Kap.
3.1).
Von Juni 2000 bis März 2001 wurde eine Bestandsaufnahme der im Lande durchgeführten
allgemein gewaltpräventiven Maßnahmen in Pädagogik und Sozialer Arbeit vorgenommen.
Sie ergibt zusammen mit weiteren Planungen der Landesregierung:
 die von den Befragten Jugendpflegern, Jugendringen etc. gesehene Notwendigkeit,
Gewaltprävention vernetzt und langfristig anzulegen und Schwerpunkte in
Kindertagesstätten und bei der Bekämpfung von Rechtsextremismus zu setzen. Dazu kann
dienen,
 die
Etablierung
von
nachhaltig
wirksamen
Konfliktlotsenund
Streitschlichtungsprogrammen an Ende 2000 mehr als 60 Schulen (mit dem Selbstattest,
hierbei mit anderen Ländern gemeinsam eine Vorreiterrolle zu spielen; vgl. ebd.),
 die Dokumentation des seit 1994 bis 1998 an 61 Schulen durchgeführten OlweusGewaltpräventionsprogramms und die Möglichkeit, dies weiterzuführen,
 die Weiterführung der seit 1997 betriebenen Revision der Lehrpläne in Hinsicht auf eine
verstärkte Auseinandersetzung mit den Themen "Gewalt", "Fremdenfeindlichkeit" und
"Rechtsextremismus" (ein Fünftel der Schulen setzt sich bislang im Rahmen von
Projekttagen mit den Thematiken auseinander; vgl. ebd. 60f.),
 Schwerpunktsetzung in Schulen auf interkulturelle Bildung; u.a. gemeinsam mit dem
Anne-Frank-Haus Umsetzung des Konzepts "Das sind wir" und seit 1997 Umsetzung von
PIT (s. Kap. 3.1.5) im Sek.I-Bereich, modifiziert in Grundschulen,
 eine Intensivierung von Elternarbeit,
 die Verbreiterung der Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe,
 die seit 1995 angegangene Öffnung von Schule zu schulbezogenen Netzwerken, die auch
Freizeitpädagogik und außerschulische Bildung und Beratung beinhalten, um einer
Fokussierung auf Problemgruppen entgegenzuwirken und breit präventive Ansätze der
Etablierung eines demokratieförderlichen Schulklimas zu 'fahren',
 Beteiligung an "Schule ohne Rassismus",
 der Ausbau thematisch einschlägiger Fortbildungsangebote im "Landesinstitut SchleswigHolstein für Praxis und Theorie der Schule",
 die kooperative Arbeit von lokalen Kriminalpräventiven Räten und Runden Tischen als
Planungs- und Koordinationsgruppen vor Ort,
 das
Aktionsprogramm
"Kinderfreundliches
Schleswig-Holstein"
und
das
Präventionsprogramm "Schleswig-Holstein – Kinder stark machen".
Thüringen
Ein Thüringer Handlungskonzept, das etwa dem von Brandenburg oder Sachsen-Anhalt
gleichen würde, existiert nicht. Eine Erklärung des Innenministers in der 25. Plenarsitzung
des Thüringer Landtags über die "Bekämpfung von Extremismus und politisch motivierter
Gewalt" lässt aber die Konturen der Thüringer Politik erkennen. Danach hat angeblich das
repressive Vorgehen der Polizei (seit März 2000 Konzept EBK) zu einer deutlichen
Verunsicherung der Szene geführt. Dessen ungeachtet wird eine ressortübergreifende
39
Zusammenarbeit propagiert, um auch stärker präventiv angelegte Maßnahmen zur Geltung
kommen lassen zu können:
 Das Justizministerium hat schon 1995 eine Initiative gegen Extremismus und
Fremdenfeindlichkeit ins Leben gerufen. Mit dem Kultusministerium gemeinsam wird der
rechtskundliche Unterricht in den Schulen intensiviert. Die Jugendstation in Gera soll
durch zügige Reaktion auf Straftaten Jugendlicher u.a. auch mit zur Verhinderung der
Ausbreitung von rechtsextremen Straftaten beitragen.
 Das Kultusministerium räumt sozialem Lernen, Demokratieerziehung und der
Auseinandersetzung mit Fremdenfeindlichkeit, Gewalt und Rechtsextremismus durch eine
entsprechende Lehrplangestaltung Raum ein (zur inhaltlichen Bedeutung vgl. Kap. 3.1.3
und 3.1.5).
 Die Landeszentrale entfaltet thematisch einschlägige Veranstaltungen im
außerschulischen Bereich.
 Die Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora betreiben historische Aufklärung
(vgl. inhaltlich dazu Kap. 3.1.1).
 Das Innenministerium beteiligt sich u.a. seit 1992 an der von den Innenministern von
Bund und Ländern 1992 gestarteten Kampagne "Fairständnis" und hat ab August 2000
eine Beratungs-, Informations- und "Koordinierungsstelle für Gewaltprävention" mit 13
MitarbeiterInnen aus unterschiedlichen Ministerien eingerichtet, die auch ein Info-Telefon
betreibt und einen mobilen Beratungsdienst offeriert (vgl. www.gemeinsam-gegengewalt.de).
 Jährlich ca. 70 interkulturelle Projekte werden durch die Ausländerbeauftragte seit 1993
gefördert.
 Das Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit sorgt für die thematisch
zugespitzte Fortbildung von MitarbeiterInnen in der Jugendhilfe und unterstützt
Bestrebungen der Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule.
Die Stadt Jena hat ein eigenes "Stadtprogramm gegen Fremdenfeindlichkeit,
Rechtsextremismus, Antisemitismus und Intoleranz" durch den Runden Tisch der Stadt am
27.06.2001 beschlossen. In ihm werden stadtbezogen wünschenswerte Maßnahmen
beschrieben. Außerdem wird eine kommunale Koordinierungsstelle entsprechender
Aktivitäten gefordert.
1.3
Fazit
Von der Anzahl der einbezogenen Projekte her bislang am umfassendsten für die Evaluation
(sozial)pädagogisch ausgerichteter politischer Programme gegen Gewalt und Extremismus bei
Jugendlichen ist der Endbericht über das AgAG-Programm. Dabei handelt es sich um die
Auswertung des von der Bundesregierung aufgelegten Programms, das von 1992-1996 rd.
140 Projekte im Osten Deutschlands einschloss (vgl. Böhnisch u.a. 1996). Allerdings geht sie
schwerpunktmäßig auf die infrastrukturellen Effekte des Programms ein. Direkte "AntiGewalt-Effekte" werden nur sehr grob beschrieben: Man meint zwar eine "deeskalierende
Wirkung" feststellen zu können und konstatiert die Wichtigkeit der Projekte als "Kontrastund Differenzprogramm zu extremen Gruppierungen und ihrer Magnetwirkung", vermag
diese aber nicht auf die Wirksamkeit bestimmter pädagogischer Strategien zurückzuführen,
sondern verweist – etwas nebulös – auf die Wirkung der "Projektdynamik selbst" (ebd., 196;
vgl. auch Hafeneger 1995, 506).
40
Für eine Gesamteinschätzung und -bewertung der neueren Bundes-Programme ist es noch zu
früh, vor allem deshalb, weil sie erst seit kurzem laufen und Evaluationen weder für das
gesamte Programm, noch für seine Teile oder einzelne seiner Maßnahmen vorliegen.
Gleichwohl wird seine Anlage bereits an manchen Stellen als unglücklich bzw.
optimierungsbedürftig betrachtet. Dies betrifft, abgesehen von prinzipiellen Bedenken
bezüglich der Befristung der Förderzeiträume (vgl. Heitmann 2002; Kohlstruck 2002),
vorrangig zwei Bereiche:
Zum einen erscheint der Wissenschafts-Praxis-Zusammenhang zu wenig berücksichtigt. Der
Stellenwert von Evaluation wird anscheinend (zu) niedrig angesiedelt. Dies gilt vor allem in
Hinsicht auf die Auswertung von Erfahrungen mit einzelnen Maßnahmen. Nur ein geringer
Teil der insgesamt geförderten Maßnahmen sieht überhaupt Evaluation vor. Bei den
Evaluationen der Programme bestehen offenbar – sehen wir dabei von den eben nicht
evaluativen, sondern schlicht dokumentarischen Arbeiten des DJI ab – nicht unerhebliche
Startprobleme. Absehbar ist, dass sie die Aussagekraft der Evaluationen in Mitleidenschaft
ziehen, weil eine systematische Einbindung in die Planung bzw. eine stringent verfolgte
Prozessbegleitung von Anfang an nicht mehr möglich ist. Damit muss von vornherein eine
wie auch immer im einzelnen methodisch durchführbare 'Vermessung' der Ausgangssituation
unterbleiben und wird die Auswahl an denkbaren Methoden der Evaluation deutlich
eingeschränkt.
Zum anderen fehlt dem Programm ein Erfahrungsaustausch- und Fortbildungsstandbein, mit
dem sowohl das Problem der Weiterqualifizierung von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen
sowie der Kooperation der Projekte miteinander als auch das der Anbindung ihrer
Praxiserfahrungen an wissenschaftliche Diskurse angegangen werden könnte (vgl. auch
Heitmann 2002). Dabei ist nicht nur an Qualifizierungsdefizite in ostdeutschen Teams zu
denken, sondern auch zu berücksichtigen, dass im Xenos-Programm Träger aus dem Bereich
der Arbeitsmarktqualifizierung vertreten sind, deren MitarbeiterInnen im allgemeinen nicht
auf den reflektierten pädagogischen Umgang mit Rechtsextremismus, Antisemitismus,
Fremdenfeindlichkeit und Gewalt spezialisiert sind. Unbeschadet dessen wirkt sich das
weitreichende Fehlen von Austausch- und Fortbildungsstrukturen insbesondere bei "Civitas"
absehbar negativ aus, zumal hier neuartige Ansätze mit komplexen Anforderungsstrukturen
angegangen
werden
und
die
MitarbeiterInnen
jetzt
schon
"umfassende
Weiterbildungsmöglichkeiten sowie Supervision" "fordern" (Rommelspacher u.a. 2002, 63,
vgl. auch ebd., 58). Sie sehen in ihrer großen Mehrheit die Notwendigkeit zur Aneignung
theoretischer (75% der MitarbeiterInnen) und methodischer (53%, bei den MBTs sogar 67%
der MitarbeiterInnen) Kompetenzen (vgl. ebd., 67f.).
Unterstellt man die Absicht der Geldgeber, mit dem Programm – zumal in Ostdeutschland auch strukturbildende Funktionen erfüllen zu wollen, wie dies mit dem AgAG-Programm z.T.
gelungen ist, so ist der Umstand mangelnden Flankenschutzes durch Vernetzungs-,
Kooperations- und Fortbildungsgelegenheiten auch in dieser Hinsicht als Hindernis zu
betrachten. Dies ist um so unverständlicher, als man im AgAG-Programm – substanziiert in
den
Aktivitäten
des
"Informations-,
Forschungsund
Fortbildungsdienstes
Jugendgewaltprävention" (IFFJ) – keine schlechten Erfahrungen gemacht hat.
Die Kompensation beider Schwachstellen wäre jeweils mit der Etablierung von
programmbegleitenden Diskurskontexten und ihrer Verzahnung sowohl untereinander als
auch mit den Debatten politischer Entscheidungsträger und allgemeiner Sozialer Arbeit
anzugehen.
Darüber hinaus zeichnet sich ab, dass im Vergleich zu AgAG durch die Ausrichtung des
Programms eher Zielgruppen erreicht werden, die nicht selber als Problemträger auftreten.
Insbesondere im Programmteil Civitas, aber auch jetzt schon absehbar in Teil 2, dem stark auf
41
politische Bildung orientierten Segment, werden junge Leute, die als besonders schwierig
gelten, kaum erreicht. Arbeit mit rechtsextrem Orientierten und rechtsextrem unmittelbar
Gefährdeten gerät zugunsten der Stärkung von zivilgesellschaftlichen Strukturen und
Opferhilfe ins Hintertreffen. Hier lauert die Gefahr, dass eher die Selbstbestätigung der
Demokraten und die "Aufklärung der Aufgeklärten" betrieben wird als konkrete Arbeit mit
Problemgruppen. Soziale Arbeit in und mit rechten Szenen wird nach dieser Einschätzung
voreilig verkannt, als Zeichen falsch verstandener Akzeptanz gewertet und pauschal als
'Glatzenpflege auf Staatskosten' diskreditiert. Wo sie beharrlich betrieben wird, wird dann von
Bedenkenträgern das missverständliche Etikett der "akzeptierenden Jugendarbeit" aufgeklebt
und die Arbeit damit als programminkompatibel markiert. In diesem Fall wird dann flugs das
angebliche "Scheitern" der Arbeit mit faktischen und potenziellen Tätern konstatiert, bevor
man sich überhaupt näher mit der Praxis aufsuchender Arbeit in rechts orientierten
Jugendszenen befasst hat. Manche befürchten schon einen Rückfall in eine Pädagogik der
Ausgrenzung und die Politik des Abschreibens dieser Jugendlichen, wie sie noch bis in die
Anfänge der 90er Jahre betrieben wurden. Es erhebt sich dann die Frage, wie ohne
Kontaktaufbau und Beziehungsarbeit Re-Integration überhaupt noch bewerkstelligt werden
kann. Es gilt sich zu vergewissern: "Veränderung – ein Zentralbegriff der Pädagogik –
braucht als Basis eine wertschätzende Beziehung. Diese Haltung nimmt die Person als solche
an, aber nicht das Geschehene oder die begangene Tat" (Heitmann 2002, 150). Wurde die
Täterlastigkeit von AgAG mit dem neuen Programm, insbesondere mit Civitas, vielleicht
durch Opferlastigkeit ersetzt und damit 'das Kind mit dem Bade ausgeschüttet'?
Bezüglich der Inhalte, der Anlage und des Umfangs von Landes-Programmen und –
Aktivitäten ist insgesamt festzuhalten:
Ungeachtet der Diskussion um Sonderprogramme lassen sich, auch wenn einzelne Strategien
noch sehr konventionell zugeschnitten sein mögen (vgl. z.B. die NPD-Verbotsdiskussion oder
die Versuche einer Intensivierung der historischen Bildung über den Nationalsozialismus zur
Bearbeitung des modernisierten Rechtsextremismus) - in der Summe bilanzierend –
bestimmte Neuausrichtungen der Gewalt- und Rechtsextremismus-Bekämpfung registrieren.
Dies betrifft das Vorgehen von Sicherheitsbehörden, aber auch von Pädagogik und Sozialer
Arbeit.
Von staatlichen Stellen werden inzwischen neben repressiven Maßnahmen überall verstärkt
auch präventive Maßnahmen 'gefahren' und meist über ressortübergreifende Arbeitsgruppen
und/oder Koordinierungsstellen aufeinander abgestimmt. Die Sicherheitsbehörden haben ihre
diesbezüglichen Angebote in den letzten Jahren deutlich ausgebaut. Sie sind über ihre
Vertreter vermehrt in Schulen präsent und arbeiten auch zunehmend mit der Öffentlichkeit
und Sozialer Arbeit insgesamt, im besonderen aber mit der Jugendhilfe zusammen. Diese
Kooperation betrifft vor allem die Teilnahme an Informationsveranstaltungen, Runden
Tischen, Kriminalpräventiven Räten und – vor allem bezüglich der Polizei – zusätzlich an
Aktionen, die im Kontext von Gewaltprävention stehen wie Sportturniere u.ä.
Themen- und problemfokussierte Inhalte der Pädagogik und Sozialen Arbeit streuen – wie
erwähnt und im einzelnen oben dargestellt – breit, lassen aber dennoch gewisse
Schwerpunktsetzungen erkennen. Sie betreffen vor allem die folgenden Punkte:
 Innerhalb von Schule werden seit den letzten 1 bis 2 Jahren deutlich vermehrt Programme
und Konzepte verfolgt, die
 eine Revision der Lehrpläne in Hinsicht auf eine stärkere Berücksichtigung der
Themenfelder Rechtsextremismus, Minderheiten- und speziell Fremdenfeindlichkeit
sowie Gewalt und Gewaltfreiheit generell vornehmen,
42





allgemein soziales Lernen fördern und personale Kopetenzen stärken wollen (vgl. zu
entsprechenden Konzepten Kap. 3.1.3),
insbesondere aber konstruktive Konfliktlösung, Streitschlichtung und Mediation im
Zentrum haben (vgl. 3.1.4),
die Öffnung der Schule zum Gemeinwesen, aber auch für Polizei und
Verfassungsschutz betreiben und/oder
Demokratie-Lernen auf die eine oder andere Weise (z.B. "Demokratie Lernen",
"Schule ohne Rassismus"; vgl. inhaltlich Kap. 3.1.5) propagieren und umsetzen.
Im außerschulischen Bereich sind schwerpunktmäßig Ansätze zu konstatieren, die
 einschlägige thematische Akzentsetzungen in den Angeboten der Jugend-, BildungsKultur- und Sozialarbeit, insbesondere auch in der MultiplikatorInnenfortbildung (vor
allem von Lehrpersonen und Fachkräften der Sozialen Arbeit, hier insbesondere der
Jugendarbeit, weniger noch der Sport- und sonstigen Vereinsfunktionäre) vornehmen,
 über die Ausschreibung von Wettbewerben, Kampagnen und Preisen Anstöße geben
wollen (vgl. dazu Kap. 3.1.13),
 eine grundsätzliche Verbesserung der Kooperationsbeziehungen zwischen Schule und
Jugendhilfe intendieren,
 die dauerhaft angelegte gemeinwesenorientierte Vernetzung von Gruppen der
Zivilgesellschaft, politischen Verantwortungsträgern, sozialen Einrichtungen und
Ordnungs- bzw. Sicherheitsbehörden bzw. der jeweiligen Elemente dieser
Gruppierungen untereinander anstreben (vgl. dazu Kap. 3.1.14),
 regionale bzw. mobile Beratung für die lokalen Akteure anbieten (vgl. ebd.),
 interkulturelle Angebote ausbauen und z.T. auch eine Institutionalisierung der
Antidiskriminierungsarbeit realisieren (vgl. dazu Kap. 3.1.17).
Die im Osten Deutschlands verschärft zu Tage tretende Problemlage rechtsextremer
Gewaltsamkeit wird hier offensichtlich
 – jedenfalls in den Ländern mit SPD-geführten Regierungen – wohl aufgrund der
besonderen geschichtlichen und aktuellen Ausgangslage deutlicher noch als im Westen
damit gekontert, dauerhaft tragfähige zivilgesellschaftliche Strukturen zu etablieren, die
nicht zuletzt auch die Funktion übernehmen können, eine Gegenöffentlichkeit als Antwort
auf die Bestrebungen von Rechtsextremen zur Erkämpfung "national befreiter Zonen"
herstellen zu können,
 damit zusammenhängend viel systematischer als im Westen mit Hilfe der Etablierung von
mobilen Beratungsteams angegangen,
 auch als Herausforderung für die Entwicklung von Ansätzen der Gewöhnung an
gewaltfreies interkulturelles Zusammenleben begriffen,
 noch stärker als im Westen Deutschlands mit historischer Aufklärung über den
Nationalsozialismus zu beheben versucht, vermutlich deshalb, weil hier
Informationslücken aufzuarbeiten sind, die durch die Verengung der diesbezüglichen
politischen Bildung zu DDR-Zeiten entstanden sind
 und – mit wesentlicher Hilfe von Civitas – flächendeckend mittels Opferberatung
bearbeitet (vgl. auch Kap. 3.1.16).
Es drängt sich der Eindruck auf, dass SPD-geführte Landesregierungen eher dazu neigen, die
Aktivitäten in themenspezifischen Aktionsprogrammen oder Handlungskonzepten zu
bündeln. Ihnen werden dann im bürgergesellschaftlichen Raum i.d.R. von Regierungsseite aus
angeregte Kooperationspartner in Gestalt von "Bündnissen" o.ä. zur Seite gestellt. Schon
daran wird deutlich, dass dem Problem selbst und präventiven Ansätzen sowie der Schaffung
43
demokratischer (Gegen-)Öffentlichkeit im besonderen ein hoher Rang eingeräumt wird.
Unionsgeführte Regierungen gewichten demgegenüber zumeist repressive Maßnahmen der
Polizei und des Verfassungsschutzes stärker und sehen Prävention einerseits zwar als eine zu
verstärkende Aufgabe der Sicherheitsbehörden, andererseits aber augenscheinlich im
allgemeinen als nicht so bedeutsam, dass außerhalb des Regelangebots von Schule und
Jugendhilfe weitergehende spezielle Maßnahmenförderungen als dringend notwendig erachtet
würden. Sieht die Opposition in einer solchen Politik im Regelfall unverzeihliche
Unterlassungssünden, so werden z.T. entsprechende Aktionsprogramme vom politischen
Gegner ausdrücklich mit dem "Aktionismus"-Verdacht belegt (vgl. z.B. Thüringer Landtag
2000, 1688).
Genaue Angaben über die in den öffentlichen Haushalten jeweils für die Rechtsextremismus-,
Fremdenfeindlichkeits- und Gewaltbekämpfung eingesetzten Mittel lassen sich nicht machen.
Wo keine Sonderprogramme aufgelegt werden, wird darauf verwiesen, dass entsprechende
Aktivitäten innerhalb der Regelförderung – etwa auch durch gezielte thematische
Schwerpunktsetzungen – entfaltet werden. Sie sind deshalb in ihrem finanziellen Umfang
nicht exakt zu beziffern. Eine solche Politik sieht sich durch das Argument gestützt, Gewaltund Rechtsextremismus-Bekämpfung als Querschnitts- und Daueraufgabe betrachten zu
müssen und deshalb kurzfristige Aktionsprogramme für Augenwischerei zu halten. Wo
Sondergelder fließen, werden zwar mehr oder weniger deutliche politische Signale gesetzt. Es
ist damit aber nicht gesagt, dass nicht auch in der laufenden pädagogischen und
sozialarbeiterischen Arbeit thematisch einschlägige Angebote gemacht werden oder Gelder
womöglich nur 'umgetopft' werden, indem sie in der Regelversorgung gestrichen und unter
dem Rubrum "Rechtsextremismus- und Gewaltbekämpfung" o.ä. ausgewiesen werden.
Solcher "Verprojektierung" sind bei ungesicherter kontinuierlicher Förderung der allgemeinen
Jugendarbeit kontraproduktive Effekte zuzuschreiben (vgl. Kohlstruck 2002). Mindestens in
einem Teil der Praxis gilt es als offenes Geheimnis, im Kampf um öffentliche Gelder
Adressaten der Arbeit 'antragslyrisch' geradezu als tatsächliche oder potenzielle Gewalttäter
stigmatisieren zu müssen, um die Regelversorgung zu retten. Z.T. verbirgt sich hinter
Sonderprogrammen auch – wie schon bei AgAG – die Absicht, Regelförderung über sie in
Gang zu setzen bzw. aufrecht zu erhalten. Insider vermuten, dass in den neuen Ländern bis zu
2/3 der allgemeinen Jugendarbeit über thematisch spezifizierte Sonderprogramme gefördert
werden.
Evaluationen der Bundes-Programme sind – wie erwähnt – vorgesehen bzw. in Auftrag
gegeben, aber noch nicht abgeschlossen oder wenigstens bis hin zu Zwischenergebnissen
vorangetrieben.
Evaluationen der Landes-Programme, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen könnten,
werden zwar in manchen Fällen erwogen (etwa in Brandenburg), liegen aber gegenwärtig
nicht vor. Für einzelne Maßnahmen existieren sie nur in Ausnahmefällen (vgl. dazu näher
Kap. 3.1).
Ähnlich sieht im übrigen auch der Stand der Evaluation von kommunalen Projekten aus. Zwar
sind die Städte und Gemeinden stolz darauf, in 1.800 Gemeinden und Städten
kommunalpräventive Räte vorweisen, jedes Jahr insgesamt, also nicht nur zur Gewalt- und
Rechtsextremismusbekämpfung, gut 10 Mrd. DM für den Bereich der Jugendhilfe ausgeben
und 1 Mrd. DM für die Förderung von Sportvereinen ausweisen zu können, was jedoch
letztlich dabei 'herauskommt', bleibt im allgemeinen unausgewertet.
Gleiches gilt für Deutschland im strengen Sinne auch hinsichtlich verstärkter Polizeipräsenz
in der Öffentlichkeit. Allerdings lassen amerikanische Studien ihre Effektivität erkennen (vgl.
Sherman 1993)
44
Aufgrund dieser Ausgangslage lässt sich über erzielte Wirkungen kaum Schlüssiges aussagen.
Unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten höchst fraglich ist deshalb auch der nicht selten in
Reden von PolitikerInnen auftauchende Hinweis auf eine Verbindung des jeweils verfolgten
oder auch unterlassenen Konzepts mit Effekten der Reduktion, der Stabilisierung oder der
Zunahme von rechtsextrem und fremdenfeindlich motivierten Taten oder Wahlergebnissen.
Solche argumentativen Verknüpfungen sehen über die Vielzahl von denkbaren Einflüssen
hinweg, die für das eine oder das andere verantwortlich zeichnen können. Außerdem haben
sie im Regelfall nicht die unterhalb registrierter Straftaten bzw. Stimmenprozente liegenden
politischen Haltungen und Einstellungen im Blick, die als Vorfeld und Resonanzraum für
einschlägige Handlungen aufzufassen sind. Schon diese wenigen Problemanzeigen machen
deutlich, wie schwierig die Anlage von Evaluationen politischer Programme ist und mit
welchen Problemen die Befriedigung des Interesses an Wirkungsanalysen und
Erfolgskontrollen zu kämpfen hat (vgl. dazu auch Kap. 2.5).
Dennoch führt kein Weg an der Erhöhung des Stellenwerts von Evaluation vorbei, um die
Qualität der Leistungen, ihre Zielorientierungen, Durchführungsweisen, Ergebnisse und
Wirkungen systematisch überprüfen zu können. Schließlich müssten daran Geldgeber
einerseits wie Träger und Mitarbeiterschaft andererseits gleichermaßen Interesse haben. Bei
den einen mag dabei die Intention dominieren, rationale finanzielle und konzeptionelle
Steuerungsprozesse vornehmen zu können. Bei den anderen mag das formative Anliegen an
Optimierung überwiegen. Trotz solch verschiedener und z.T. gegensätzlicher Erwartungen
wird sich weder die Öffentliche Hand noch die Sozialarbeit resp. die Pädagogik leisten
können, mit jener Unbekümmertheit, ja teilweisen Willkürlichkeit Strategien und Konzepte zu
verfolgen, wie sie bisher üblich ist. Droht erstere ansonsten an Kostendruck, Effizienz und
Ausgabendisziplin zu scheitern, so stehen die Zweitgenannten am Abgrund der
Delegitimation. Um der Arbitrarität von sog. 'Ansätzen' entgegenzusteuern, stellt sich z.B. aus
Sicht von Förderungspolitik konkret die Frage, ob es nicht sinnvoll wäre, Programme von
vornherein so anzulegen, dass zumindest bei längerfristig laufenden Maßnahmen
grundsätzlich bei Antragstellung und –bewilligung von einer Sicherstellung von Evaluation in
geeigneter Form ausgegangen werden kann. Hierzu wäre dann prinzipiell ein bestimmter
Prozentsatz der Förderungssumme vorzusehen.
Könnte so Maßnahmenevaluation stärker gesichert und verbreitert werden, so wäre noch
genereller zu prüfen, inwieweit zum einen der Vermutung von Irrationalität und zum anderen
der zumindest festzustellenden Intransparenz von Entscheidungen über Programmstrukturen
entgegengearbeitet werden könnte. Hier böten sich Meta-Analysen an, die die Bedingungen,
unter denen Programme etabliert werden, also den Konstruktions- und
Implementationsprozess von Programmen, zu untersuchen hätten. Das Interesse von
Förderpolitik an solchen Studien müsste in dem Maße wachsen wie sie den an sie gerichteten
Vorwurf, letztlich nur dem 'muddling through'-Prinzip zu folgen, als ungerechtfertigt
empfindet und aktiv die Herstellung von Transparenz betreiben will.
Ein Handlungsbedarf ergibt sich aus politischer Sicht aber spätestens dann, wenn etwa im
Diskussionszusammenhang des Bundesprogramms "Jugend für Toleranz und Demokratie",
aber auch in der Debatte um Sonderprogramme der Länder, unterstellt wird, die Randlage der
Evaluation innerhalb dieser Programme sei Beleg dafür, dass ein wirkliches
Evaluationsinteresse auf Seiten der Politik gar nicht bestehe, weil man sich im Grunde mit
Symbolpolitik zufrieden gebe. Danach geht es PolitikerInnen nur darum, möglichst
medienwirksam irgendein Handeln als Reaktion auf akute Problemlagen vorweisen zu
können, ohne sich um seine Problemadäquatheit ernsthaft zu scheren. Schlussfolgeorientierte,
also ohne politischen Entscheidungsdruck agierende wissenschaftliche Evaluation (vgl.
Wottawa/Thierau 1990) wäre nicht zuletzt auch dazu geeignet, diesem Vorwurf den Wind aus
den Segeln zu nehmen.
45
2.
Pädagogische und sozialarbeiterische Grundlagen
Sämtliche Konzepte pädagogischer und sozialarbeiterischer Praxis stehen zwangsläufig in
einem disziplinären und professionellen Diskurszusammenhang, der auf sie selbst
Auswirkungen zeitigt. Ihn in seiner gesamten Bandbreite nachzuzeichnen, ist hier ebenso
wenig die wesentliche Aufgabe wie seine theoretischen Verästelungen und historischen
Bezüge im einzelnen aufzuzeigen. Vielmehr erscheint eine Selektion bestimmter Aspekte
hinreichend, die in unserem Falle nach dem Kriterium der Praxisrelevanz vorgenommen wird.
Im Hinblick auf Kampagnen, Wettbewerbe, Projekte, Initiativen, Bildungs- bzw.
Unterrichtseinheiten und sonstigen Maßnahmen im Themenbereich Rechtsextremismus,
Fremdenfeindlichkeit und Gewalt zeigen sich insbesondere Einflüsse, die aus
paradigmatischen Überlegungen (2.1), damit in Verbindung stehenden strategischen
Ausrichtungen (2.2) und gestaltgebenden Formaten (2.3) erwachsen. Hinzu kommen
Überlegungen aus der Debatte um den Theorie-Praxis-Transfer (2.4). Daneben wirkt
zunehmend die Diskussion um Evaluation und Qualitätsentwicklung prägend (2.5).
Schließlich werden Professionsverständnisse wirksam, die zu Grenzziehungen in Hinsicht auf
die prinzipielle Reichweite von Pädagogik und Sozialer Arbeit führen (2.6). In der vom
Kernthema dieser Arbeit gebotenen Kürze sind diese Punkte im folgenden deshalb knapp zu
erörtern.
2.1
Paradigmen
Praktische Pädagogik und Soziale Arbeit werden von fundamentalen Paradigmen
mitgesteuert, die disziplinär verhandelt und professionell wirksam werden. Beide
Professionen stützen sich auf zentrale Bezugswissenschaften: die Pädagogik im Kern auf die
Erziehungswissenschaft, die Soziale Arbeit entweder auf die freilich noch im Prozess eines
disziplinären Selbstfindungsprozesses befindliche Sozialarbeitswissenschaft (vgl. Puhl 1996;
Bango 2001) oder dort, wo ihr der Rang einer eigenständigen Disziplin noch nicht
zugesprochen wird, ebenfalls auf die Erziehungswissenschaft; dies trotz ihrer breiteren
Fundierung durch multidisziplinäre Sichtweisen, die im wesentlichen auch soziologische,
psychologische, politologische und rechtswissenschaftliche Erkenntnisse einbeziehen,.
Forschen wir dessen ungeachtet in den einschlägigen Debatten dieser Disziplinen nach
solchen paradigmatischen Denk- und Herangehensweisen, die Implikationen u.a. gerade für
den von uns untersuchten themenspezifischen Problem- und Praxisbereich beinhalten, so
stoßen wir auf zwei, sich in ihren Ausläufern teilweise auch innerhalb der jeweils anderen
Disziplin wiederfindende Diskurse:
 innerhalb der Erziehungswissenschaft auf die Kontroverse über den Stellenwert von
"Wissen" und "Erfahrung", genauer: von "Wissensvermittlung" auf der einen und
"Erfahrungslernen",
"Aneignung"
und
Lernen
als
selbstgesteuerte
Wirklichkeitskonstruktion auf der anderen Seite,
 innerhalb der Sozialarbeitswissenschaft – hier gedacht einschließlich einer
erziehungswissenschaftlich grundierten wissenschaftlichen Sozialpädagogik – auf die
Debatte um die Ablösung des "Hilfediskurses" durch den "Gestaltungsdiskurs" (vgl. z.B.
Niemeyer 1999, mit Bezug auf die Unterstützung bürgerschaftlichen Engagements durch
Soziale Arbeit auch Möller 2002a).
Die zwischen diesen Polen angesiedelten Spannungsfelder drücken auch den pädagogischen
und sozialarbeiterischen Anstrengungen zur Behebung der zerstörerischen sozialen und
46
politischen Folgen von Desintegrationsprozessen sowie den Bemühungen zur Stärkung von
Integrationspotenzialen ihren Stempel auf.
Zentraler Gegenstand der Erziehungswissenschaft ist unstrittig das Lernen bzw. die
Vermittlung von Lernstoff und/oder von Methoden und Techniken des Lernens selbst. Wer
immer sein Subjekt sein mag – etwa ein Individuum, eine Gruppe oder eine Organisation -:
Lernen bringt eine Veränderung der Ausgangslage mit sich: je nach der von ihm berührten
Ebene z.B. eine Veränderung der Kognitionen, eine Veränderung des Fühlens, eine
Veränderung von Verhalten und/oder eine Veränderung von Strukturen (vgl. auch:
Berlin/Marsh 1993). Wenn auch der Erwerb von Wissen als zentrales Steuerungsmedium von
Lernprozessen verstanden werden kann (vgl. z.B. Geißler 1995), so wird doch zunehmend
gerade in Bezug auf Verhalten und Strukturgestaltung in Zweifel gezogen, dass allein der
Aufbau von neuen kognitiven Wissensbeständen Veränderung mit sich bringt. Im Bereich der
interkulturellen Bildungsarbeit markiert schon die Arbeit von Harison und Hopkins (1967) die
Abkehr von einem seminaristischen Universitätsmodell des Lernens. Aktuell weist explizit
u.a. mit Bezug auf Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus etwa Nunner-Winkler (vgl.
z.B. kurz zusammenfassend 2001) für den Bereich moralischen Lernens auf die
Unabhängigkeit der kognitiven Dimension moralischen Wissens von der motivationalen
Dimension moralischen Wollens hin.
Die damit erforderliche Überwindung des Wissensvermittlungsparadigmas entspricht einem
in Deutschland verstärkt seit den 70er Jahren innerhalb der Bildungsarbeit propagierten
Erfahrungsansatz (Negt, Belardi u.a.), der propagiert, an konkreten TeilnehmerInnenErfahrungen mit gesellschaftlichen Konflikten anzusetzen, um über exemplarisches Lernen
zur Erkenntnis gesamtgesellschaftlicher Strukturen zu gelangen. Der Gedanke wird seit den
80er Jahren zunehmend aneignungstheoretisch weiterverfolgt und konkretisiert (vgl. z.B.
Kade 1989, 1999; Schäffter 1995; für die Jugendarbeit zuletzt: Deinet 1999) und mündet im
vergangenen Jahrzehnt in konstruktivistische Vorstellungen (vgl. v.a. Arnold 1993;
Arnold/Siebert 1995; kurz auch: Siebert 1996). Die Pointe liegt in der letztgenannten Fassung
darin, Lernen als "Wirklichkeitskonstruktion, Weltanschauung, Erzeugung eines Weltbilds"
(Siebert 1999, 24) zu verstehen, das traditionelle Verständnis von "Wissen" hingegen – in
seiner Wahrheit beanspruchenden, "affirmativen und bestätigenden Funktion" und sofern es
nicht als "kognitive Operation, als Kompetenz des Subjekts" (ebd., 112) verstanden wird – als
das genaue "Gegenteil" dazu (ebd., 22). Das konstruktivistische Konzept will explizit die
"Konstruktionsperspektive" gegenüber der "Vermittlungsperspektive" ("Wissensbestände
werden Wissensanwendern vermittelt"; ebd., 112) stärken (ebd., 35), denn "Mitteilen lassen
sich Informationen, nicht aber Bedeutungen" (ebd.). Letztere nämlich stehen im Mittelpunkt,
weil nicht das gelernt wird, was doziert wird, sondern das, was Bedeutung für die Lernenden
hat. Der Konstruktivismus stellt insofern einen Beitrag zu einem Paradigmenwechsel dar: "zu
einer Wende von einer normativen zu einer interpretativen Weltanschauung" (ebd., 15). Er
bestärkt damit die Teilnehmer- und Subjektorientierung sowie die Selbststeuerungsrelevanz
der Bildungsarbeit und ihre Biographizität. Didaktisch folgt daraus, die alte
"Belehrungsdidaktik" durch eine "Ermöglichungsdidaktik" zu ersetzen (vgl. auch Arnold
1993). Da allerdings durchaus die Gefahr gesehen wird, durch diesen "autodidactic turn" das
"en-passant-Lernen" überzubetonen und die Bedeutung von Professionalität,, Didaktik und
Institutionalisierung für nachhaltige Lernprozesse zu vernachlässigen, plädiert Arnold seit
Ende der 90er Jahre für einen künftigen "facilitative turn", zu dem neben mehr aufsuchenden
Bildungsstrategien vor allem auch verstärkte Aufmerksamkeitszuwendungen zu
methodischen Qualifizierungen für Selbsterschließungskompetenzen einerseits und
pädagogische Überlegungen zur Strukturierung von Lernarrangements andererseits gehören
(vgl. Arnold 1999).
47
Innerhalb der Sozialarbeitswissenschaft wird im Zuge historischer Selbstvergewisserung als
vorherrschende Denk- und Herangehensweise der Sozialen Arbeit das Paradigma der "Hilfe"
ausgemacht (vgl. z.B. Niemeyer u.a. 1997; Niemeyer 1994, 1999; Wendt 1995; Gängler 1995;
Engelke 1999). Seit den Anfängen der Profession in der Armen- und Jugendfürsorge sowie
der Wohlfahrtspflege (vgl. im Überblick dazu z.B. Schilling 1997), für die frühen Vertreter
der "Fürsorgewissenschaft" (vgl. z.B. Klumker 1918; Scherpner 1962; Polligkeit u.a. 1929)
und für das noch immer nachwirkende Berufsbild des "professionellen Altruisten" (Dewe u.a.
2001, 55ff.) war die persönliche Hilfe – dabei vielfach als "Urkategorie des menschlichen
Handelns" (Scherpner 1962, 122) verstanden – der zentrale Begriff der berufspraktischen und
disziplinären Gegenstandsbestimmung. Zwar wird seit den 70er Jahren des zwanzigsten
Jahrhundert
im
Zusammenhang
mit
der
Thematisierung
gesellschaftlicher
Herrschaftsverhältnisse und ihrer Interessen "Kontrolle" als Gegenpart im Doppelmandat
Sozialer Arbeit ins Spiel gebracht (vgl. Hollstein 1973; zusammenfassend: Müller 2001) und
eine offensive Sozialpädagogik gefordert (vgl. Giesecke 1973), bleibt aber die Hilfe-Thematik
weiterhin noch bestimmend (vgl. Bango 2001).
In jüngerer Zeit wird in wachsendem Maße in Zweifel gezogen, ob das
Professionsverständnis und die Aufgabenfelder Sozialer Arbeit gegenwärtig noch durch das
"Hilfe"-Paradigma adäquat markiert werden können. Die Kritik macht sich u.a. an der
Diagnose veralteter Rollenverständnisse der berufsmäßigen Akteure Sozialer Arbeit,
verkrusteter Strukturen ihrer Institutionen, problemzentrierter Engführungen ihrer Theorien
und tendenzieller Entmündigung ihrer AdressatInnen sowie der Beobachtung einer
sukzessiven Ausweitung ihrer Arbeitsfelder und AdressatInnen sowie damit
zusammenhängend einer Herausforderung zur Um- bzw. Neuorientierung ihrer
Arbeitsprinzipien fest. Nicht nur dass im Zuge der seit den 80er Jahren erstarkenden neuen
Selbsthilfebewegung fürsorgerische und altruistisch motivierte berufliche Selbstdefinitionen,
die sich letztlich auf das Ethos der Hilfsbereitschaft als existentieller menschlicher
Grundhaltung berufen, auf dem Rückzug befindlich sind, aber ebenfalls der
sozialingenieurhafte Habitus des administrativ eingebundenen Expertokraten im
Zusammenhang der Kritik an lebensweltfremdem Interventionismus an leitbildgebender
Akzeptanz einbüßt (vgl. Dewe u.a. 2001): Je stärker theoretische Fassungen den KernGegenstand Sozialer Arbeit als Dienstleistung begreifen (vgl. BMFSJ 1994), vor allem aber
den Subjektstatus der AdressatInnen hervorheben, und je deutlicher Sozialpädagogik als eine
"Pädagogik des Sozialen" (vgl. Natorp 1899 a,b; Niemeyer 1999) bzw. Soziale Arbeit als eine
Arbeit am Sozialen verstanden und gesellschaftstheoretisch und/oder bildungstheoretisch
begründet wird (vgl. z.B. Graf 1996), desto mehr verliert das "Hilfe"-Paradigma an
Bedeutung (vgl. Gängler 1995; Niemeyer/Schröer/Böhnisch 1997). Die Kritik an
Klientelisierung, De-Autonomisierung, Entrechtung, Bevormundung, fürsorglicher
Belagerung, Verwaltung ja gar Instrumentalisierung der Adressaten Sozialer Arbeit zu
Zwecken der Identitäts- und Existenzsicherung sowohl professioneller Helfer als auch ihrer
Institutionen birgt Tendenzen der Abkehr vom klassischen Helfer-Klient-Verhältnis in sich.
Der Bedeutungszuwachs von Prävention gegenüber Intervention lässt professionelle
Funktionen des Einschreitens und der Kontrolle in den Hintergrund treten und fordert neue,
etwa solche der sozialen Planung, des sozialen Managements und der Vernetzung – nicht
allein der sozialen Einrichtungen, sondern auch der AdressatInnen untereinander und der
AdressatInnen mit den sozialen Einrichtungen – heraus. Entsprechend steigt der Stellenwert
von Arbeitsprinzipien wie Ressourcenorientierung, Empowerment, Gemeinwesenorientierung
sowie Netzwerk- und Milieuarbeit. Neue und im Ausbau befindliche Arbeitsfelder wie die
Förderung bürgerschaftlichen Engagements, die Unterstützung politischer Partizipation
(bspw. von Kindern und Jugendlichen oder auch von weiteren Gruppierungen mittels
48
Agenda-21-Prozessen) oder die soziale Kulturarbeit stellen ein Professionsverständnis in
Frage, das in der Nachfolge von Gertrud Bäumer (vgl. Bäumer 1929) Soziale Arbeit als
Ausfallbürge für versagende oder nicht existente Primär- und Sekundärsozialisation versteht
und sich damit wesentlich über die Zielgruppen der Benachteiligten und das Vorhandensein
von Problemfällen definiert.
Was Zeitpunkt, Breite und Zielgruppenbezug pädagogischer und sozialarbeiterischer
Maßnahmen betrifft, sind interventive von präventiven Ansätzen zu unterscheiden. Während
erstere solche Formen von Eingriffsverhalten umfassen, die eine bereits eingetretene
Problem- oder Konfliktsituation fachlich erforderlich erscheinen lassen, gewinnt der
Präventionsgedanke seine Attraktivität durch die in ihm niedergelegte Intention, rechtzeitig,
d.h. bevor Problemlagen sich manifestieren, tätig zu werden. Prävention hat sich als
Strukturmaxime von Jugendhilfe beschleunigt im Gefolge des Achten Jugendberichts
(BMJFFG 1990) und zunehmend generell gerade innerhalb der letzten Dekade auch im
Zusammenhang mit Überlegungen zu einer Effektivierung der Kriminalitäts- und
Gewaltbekämpfung durchgesetzt (vgl. auch die in Kap. 1 skizzierten Programme).
Der Begriff wird vor allem in Hinsicht auf Vorbeugestadien und Bezugsebenen
binnendifferenziert.
Im Hinblick auf ersteres werden primäre, sekundäre und tertiäre Prävention unterschieden.
Primäre Prävention beinhaltet Maßnahmen, die dazu dienen, Lebensverhältnisse zu schaffen,
in denen zwar nicht unbedingt Konfliktfreiheit herrscht, in denen aber Mechanismen zur
Verfügung stehen und Kompetenzen erworben werden können, um Konflikte angemessen zu
lösen (vgl. z.B. Schmälzle 1993). Es geht um die Verhinderung der Entstehung von
Risikokonstellationen ganz allgemein, noch nicht bezogen auf eine gefährdete Gruppe oder
Person (vgl. Lösel 1982). Dabei wird davon ausgegangen, dass Maßnahmen, die die
Gestaltung von lebenswerten Verhältnissen anzielen, nicht allein bezogen auf ein bestimmtes
Problem wirken, sondern genereller unerwünscht abweichendem und sog. sozial auffälligem
Verhalten vorbeugen (vgl. z.B. Grüner/Hilt 1998).
Sekundäre Prävention betrifft "Hilfe in Situationen, die erfahrungsgemäß belastend sind und
sich zu Krisen auswachsen können" (BMJFFG 1990, 85). Man hat also eine Risikosituation
für eine Gruppe oder Person bereits festgestellt und setzt an der Bearbeitung bzw. an der
Abwendung dieses Risikos an. Der Achte Jugendbereicht führt hier die "Maßnahmen der
Beratung, der vorbeugenden Unterstützung, vor allem aber auch gezielte Hilfen zur
Erschließung von Ressourcen und Beziehungen zu Selbsthilfeinitiativen" (ebd.) an.
Anknüpfungspunkte tertiärer Prävention sind konkrete Problemlagen von Personen oder
Gruppen. Sie werden mit dem Ziel der Verhinderung eines möglichen Rückfalls oder
anderweitiger zukünftiger Normverstöße angegangen. Die Aufgaben erstrecken sich auf
nachsorgende Betreuung, Resozialisierung und gezielte Erziehungsmaßnahmen (vgl. auch
Böllert 1996).
Bezugsebenen von Prävention können Personen(gruppen) einerseits und Strukturen
andererseits sein. Geht es im Falle des ersteren um die Entwicklung von
Handlungskompetenzen, die sozial inakzeptable Verhaltensweisen vermeiden sollen, so
versucht strukturbezogene Prävention, äußere Faktoren von Lebensumständen so zu
konstellieren, dass Auslöser, Anlässe und Gelegenheiten zu unerwünschtem Verhalten in
Schach gehalten werden (vgl. ebd.).
Der Präventionsgedanke sieht sich aus verschiedenen Gründen Kritik ausgesetzt. Vor allem
fünf Gründe werden diskutiert:
49
Erstens ist fraglich, ob sich nicht unter dem Deckmantel eines weit gefassten PräventionsBegriffs auch solche Maßnahmen verbergen können, die auf repressive Strategien (Beispiel:
Unterbringung von gewalttätigen Jugendlichen in geschlossenen Heimen) setzen. Der für
Bildung, Erziehung und Soziale Arbeit fundamentale Gedanke individueller und sozialer
Unterstützung könnte so ad absurdum geführt werden.
Zweitens setzt das Interesse an sekundärer Prävention voraus, bestimmte Personen oder
Gruppen als Risikofälle betrachten zu müssen. Eine solche Kategorisierung beschwört die
Gefahr der Etikettierung und Stigmatisierung herauf. Sie würde dann Labelingprozesse
auslösen oder verstärken, von denen man weiß, dass sie sich kontraproduktiv zu tragfähigen
Problemlösungen verhalten.
Drittens ist eine Kolonialisierung der Lebenswelt zu befürchten, die dazu führen könnte, dass
unter der Legitimation von Prävention Eingriffe in Lebensumstände von Subjekten
durchgeführt werden, ohne dass diese von den Subjekten gewollt und mitgetragen werden. So
gesehen stützt der Präventions-Impetus eine pseudo-fachliche Perspektive, die vermeint, ohne
ein Klienten-Mandat auskommen zu können.
Viertens birgt der inflationäre Gebrauch von Prävention als zentraler Legitimations-Vokabel
pädagogischer und Sozialer Arbeit das Risiko eine Subsumierung professioneller
Anstrengungen unter dieses Paradigma. Der Eigensinn von Leitideen wie
Persönlichkeitsentfaltung, Bildung, Kreativitätsentwicklung u.ä.m. wird dadurch unterhöhlt
und zu Gunsten von Defizit- und Defensivorientierung geopfert. Darauf bezogene Angebote
geraten unter Rechtfertigungs- und Finanzierungsdruck und werden dazu gedrängt, ihr
Überleben dadurch zu sichern, dass sie sich in den Dienst von Prävention stellen.
Fünftens bleibt ungeklärt, wie Präventionswirkungen zu evaluieren sind (vgl. auch
Lindner/Freund 2001).
Nichtsdestotrotz: Alles in allem befindet sich die Präventions-Idee in einem kräftigen
Aufwind, gerade auch bezüglich der Bekämpfung von Rechtextremismus,
Fremdenfeindlichkeit und Gewalt sowie der Verhinderung von sozialer Desintegration. Der
Bedeutungszuwachs hängt auch damit zusammen, dass ein moralisierendes Intervenieren, die
Ausgrenzung von Problemträgern aus pädagogischen Sphären (z.B. die bis in die Anfänge der
90er Jahre hinein betriebene Deklaration von Jugendhäusern als "nazifreie Zonen") und
Versuche der informationistischen Aufklärung "Rechter" erfahrungsorientierten Ansätzen
gewichen sind. Befördernd wirkt auch, dass ein reaktionistisches Hilfe-Verständnis Sozialer
Arbeit zunehmend von Unterstützungsvorstellungen abgelöst wird, die auf weitgehend
selbstgesteuerte Gestaltungsprozesse aktiver Subjekte vertrauen, in denen die Konstruktion
des Sozialen offensiv und nicht zuletzt über zivilgesellschaftliches Engagement betrieben
wird.
2.2
Strategien
Im Rahmen der oben knapp skizzierten paradigmatischen Spannungsfelder sind nicht nur
Aufweichungen überkommener Leitideen und Tendenzen zu ihrer Neubestimmung zu
registrieren. Vielmehr zeitigen die auf dieser Ebene zu verzeichnenden fachdiskursiven
Entwicklungen ihre Folgen auch für die Gestalt der grundlegenden strategischen Ziele, mit
denen professionelle Arbeit betrieben wird.
2.2.1 Wissensvermittlung und
ihr Bezug zu
Information, Aufklärung,
Bewusstmachung, argumentativer Überzeugung und kognitiv-moralischer
Reflexion
50
Solange Bildung sich darauf konzentriert, Kognitionen zu ändern, liegt es nahe, eben dies
mittels Informationsangeboten zu versuchen. Soweit dabei pädagogisch vorausgesetzt wird,
Sachverhalte aus dem Bereich der Unkenntnis oder gar des Unbewussten hervorheben und sie
erhellen zu müssen, erhalten diese Angebote den normativen Impetus der Aufklärung bzw.
der Bewusstmachung. Insbesondere bei politischen und politisch relevanten Sachverhalten,
wie sie im Umfeld von Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rechtsextremismus zu
finden sind, lassen sich unter diesen Voraussetzungen die Strategien der argumentativen
Überzeugung und der moralischen Stabilisierung resp. moralischen Korrektur und unter
Umständen auch Verbindungen von beidem favorisieren.
Wo innerhalb entsprechender Settings auf argumentative Überzeugung abgehoben wird,
verfolgt man das strategische Ziel, Denkinhalte und Denkweisen, die pädagogisch für
unangemessen gehalten werden, durch angemessenere zu ersetzen. Meist stillschweigend
wird dabei vorausgesetzt, dass solche Einstellungsänderung auch in gleicher Richtung
verhaltensbeeinflussend wirkt. Der Fundus, aus dem die Argumente bezogen werden, kann
die Historie, die Gegenwart oder die Zukunft sein.
Hinter dem Historisieren steht die Auffassung, dass derjenige, der die Geschichte kennt, seine
Schlussfolgerungen aus ihr für die Gegenwart zieht und zwar so, dass er motiviert wird,
danach zu trachten, Beiträge dazu zu liefern, dass Entwicklungen, die sich historisch als
problematisch erwiesen haben, vermieden werden können. Werden aktuelle Entwicklungen
ins Zentrum gerückt, werden in erster Linie darauf bezogene wissenschaftliche und
statistische Daten bemüht, Selbstpositionierungen von für die AdressatInnen
vertrauenswürdigen Personen eingebracht oder Pro-/Kontra-Diskussionen geführt, die mit
handlungsrelevantem Effekt neue Kenntnisse vermitteln, Argumentationslogik schulen und
neue Einsichten produzieren sollen. Wenn Zukünftiges zum Thema gemacht wird, steht im
allgemeinen das Ziel dahinter, das Subjekt zu motivieren, aktuelle Einstellungs- und
Verhaltensweisen auf ihre Tauglichkeit für das weitere Leben hin zu überprüfen.
Die Strategie der Anregung von kognitiv-moralischer Reflexion zielt darauf ab, einer
utilitaristischen Verwendung neu gewonnener Kenntnisse andere Kriterien entgegenzusetzen.
Indem mit Werten wie dem Recht auf Gleichbehandlung, Fürsorgeverpflichtungen,
Gerechtigkeit und Solidarität bekannt gemacht und ggf. exemplarisch auf positiv zu
bewertende Formen ihrer Umsetzung in der Realität hingewiesen wird, wird intendiert, sie zu
plausibilisieren, "einsichtsfähig" zu machen und damit ihre Internalisierung zu ermöglichen.
2.2.2 Erfahrungslernen und sein Bezug zur Vermittlung funktionaler Äquivalente,
ganzheitlichen Settings und Qualifizierung personaler und sozialer Kompetenzen
Angebote des Erfahrungslernens gehen davon aus, dass rein kognitiver Wissenserwerb
Verhaltens- und Strukturveränderungen nicht zu erzielen vermag. Unterstellt wird, dass es
Erfahrungen und nicht bzw. nicht primär und entscheidend ideologische Überzeugungen sind,
die zu den als problematisch erachteten Orientierungen und Verhaltensweisen führen. Dabei
lässt sich auf den Befund der Einstellungsforschung verweisen, der besagt, dass die
Wirkungen von Einstellungen einer Person auf ihr Handeln eher schwach ausfallen und nicht
stärker eingeschätzt werden können als umgekehrt die Wirkungen von Handlungen auf
Einstellungen (vgl. schon LaPiere 1934 und Wicker 1969; aktuell und speziell zu
antidemokratischen und rechtsextremen Potenzialen auch Bromba/Edelstein 2001, 51 f.).
Deshalb wird die Strategie verfolgt, solche pädagogischen und sozialarbeiterischen Settings
aufzubauen und vorzuhalten, die im Stande sind, gleichsam Erfahrungen durch Erfahrungen
zu ersetzen. Es wird angenommen, dass die Motivationen, die zu Gewalt und
51
undemokratischen Haltungen verleiten, nicht durch Bedürfnisse nach Aggression oder gar
Triebe, Interessen an der Unterwerfung und Ausgrenzung anderer Personen und ähnliche
Handlungsanreize zu Stande kommen, sondern entsprechende Verhaltensweisen als
ungelenke Befriedigungsformen von Bedürfnissen aufzufassen sind, die im Kontext der
Versuche von Lebensbewältigung bzw. Realitätskontrolle zu deuten sind. Eine Pädagogik
bzw. Sozialarbeit der funktionalen Äquivalente zielt deshalb an, die Funktionen, die das als
problematisch erachtete Verhalten für das Subjekt erfüllen soll, in gleichwertiger Weise
anderweitigen, nunmehr nicht oder wenigstens weniger individuell und sozial schädigenden
Befriedigungsqualitäten zuzuführen (vgl. auch Böhnisch 1994, 1997, Möller 1999a).
Im Bereich von Erziehung und Bildung wird daher ein Arrangement angestrebt, das
"ganzheitlich" orientiert ist, d.h. das die Subjekte gleichermaßen kognitiv wie emotional und
konativ anspricht. Dementsprechend wird aktives Agieren in den Mittelpunkt gerückt und
auch eine körperlich-sinnliche Erfahrung zu vermitteln gesucht. Entweder geschieht dies in
nahezu experimenteller Weise innerhalb von pädagogischen "Laboratorien" in Gestalt von
Trainings und aktionsorientierten Bildungseinheiten von meist mehr oder weniger
kurzzeitpädagogischem Charakter oder es werden längerfristig angelegte alltagseingebundene
Projekte verfolgt, die unmittelbar die Vorteile von gewaltfreier Konfliktlösung und von
Demokratie erlebbar zu machen beabsichtigen. In jedem Fall wird intendiert,
Reflexionsprozesse in Gang zu setzen bzw. zu stützen, die nicht allein kognitiv basiert sind.
Sie sind darauf gerichtet, personale und soziale Kompetenzen zu entwickeln, von denen
angenommen wird, dass sie Schutzfaktoren gegenüber unsozialem und undemokratischen
Orientierungen bilden. Zu nennen sind insbesondere Fähigkeiten zu Perspektivenwechsel,
Empathie, Rollendistanz, Verantwortungsübernahme, verbaler Konfliktregelung sowie
Frustrations-, Ambiguitäts- und Ambivalenztoleranz.
Wo über Erziehung und Bildung im engeren Sinne hinaus Sozialisation professionell zu
gestalten gesucht wird, werden zum einen über einen längeren Zeitraum hinweg auf der
Ebene individueller Qualifizierung und gruppenbezogener Arbeit kontinuierliche
Anstrengungen unternommen, eine Demokratie und Gewaltfreiheit zuträgliche reflexiv
organisierte und durch die Anwendung der o. g. Kompetenzen befruchtete Eigenregie von
Sozialisationsprozessen zu ermöglichen bzw. zu unterstützen und dehnen sich zum anderen
Pädagogik und soziale Arbeit, die Grenzen ihres traditionellen Zuschnitts sprengend, in den
Bereich von strukturellen Maßnahmen aus.
Der erstgenannte Typus zielt über eine häufig aufsuchende, alltagseingebundene Begleitung
auf die Qualifizierung der lebensweltlich gewachsenen Interaktionszusammenhänge und
Gruppen zu einem so weit wie möglich gefährdungsfreien Erfahrungskontext. Eine
sukzessive Ablösung der Adressaten, die sich in ihrem Tempo und Ausmaß an dem Umfang
von (wieder)gewonnener Lebensbewältigung bzw. Realitätskontrolle orientiert, soll
Klientelisierung vorbeugen und Autonomisierungsprozesse fördern.
Im zweiten Fall werden entweder in unmittelbarer Zusammenarbeit mit AngebotsnutzerInnen
und durch diese selbst Verbesserungen der strukturellen Lebensbedingungen angestrebt oder
erweitert sich der Bezug auf die jeweilige Zielgruppe bzw. den Adressaten-, Besucher- oder
Teilnehmerkreis um Strategien, die auch abseits von direktem Klientenkontakt in
Zusammenarbeit mit Politik, Verwaltung, Ordnungskräften, sozialen und pädagogischen
Einrichtungen sowie verwandten Professionen Verbesserungen des Sozialisationskontextes zu
erzielen suchen. Auf dieser Ebene wird Erfahrungslernen über Gestaltungsprozesse
angesteuert (vgl. dazu näher Kap. 2.2.4).
2.2.3 Helfen als opfer- und täterbezogene personale Zuwendung
52
Das Paradigma der Hilfe zieht im Schwerpunkt eine personenbezogene Strategie nach sich;
dies in einem doppelten Sinne:
Zum einen verstehen die professionellen Helfer ihre eigenen Offerten mehr als personales
Angebot denn als sachliche Leistung. In ihm spielen die Echtheit und Authentizität des
Helfers wie diejenige der Begegnung von Mensch zu Mensch entscheidende Rollen (vgl. auch
Scherpner 1962; Dewe u.a. 2001). Man setzt vorrangig auf persönliche Zuwendung und
Beziehungsarbeit. Ziel ist dann zunächst ein möglichst unproblematischer Kontaktaufbau zu
Viktimisierten bzw. Viktimisierungs-Gefährdeten und zu Problemträgern. Die allmähliche
Etablierung
eines
informell-lebensweltlichen
Interaktionsformen
ähnlichen
Vertrauensverhältnisses wird angestrebt.
Zum anderen betrifft der personale Bezug auch die Adressatenorientierung: Entweder stehen
diejenigen, die als Problemverursacher betrachtet werden, oder die unter den Problemen
Leidenden im Mittelpunkt der Arbeit. Erst in zweiter Linie sind es die Sachverhalte, die diese
Menschen (mit)konstituieren, die von Interesse sind.
Die im Regelfall an erster Stelle stehende Opferperspektive begründet sich hier in einer
ethischen Verpflichtung. Sie reklamiert die Notwendigkeit der Umsetzung basaler Werte der
menschlichen Gesellschaft für sich und strebt in erster Linie die Linderung von
Ausgeliefertsein, Verletzung, Verängstigung und Not an. Insoweit wird sie eher defensiv
wirksam und agiert meist ex post. Präventive Ansätze des Opferschutzes versuchen die
Beschränkung auf Reaktionismus zu überwinden, indem sie bekannte Gefahrensituationen für
potenzielle Opfer zu entschärfen, gewaltfreie Gegenwehr anzutrainieren und längerfristig eine
Kultur der Solidarisierung und des Helfens zu etablieren trachten. Im erstgenannten Fall
werden z.B. öffentliche Kontrollmechanismen (re)aktiviert, Überwachungskräfte eingesetzt
oder Fluchträume zur Verfügung gestellt, im zweiten Fall Verfahren der De-Eskalation und
der gewaltfreien Konfliktlösung geschult, im dritten Fall Lernprozesse in Gang gesetzt, die
sich sowohl auf die ethisch-moralische Motivation und einen Zugewinn an Mut als auch auf
die Vermittlung von innovativen Ideen und Techniken der strukturellen Gefahrenabwehr oder
–reduktion erstrecken.
Die Zielsetzung der opferorientierten Hilfe-Strategie findet ihre Grenze mindestens darin,
dass sie zwar bei breiter Anlage noch Anlässe und Gelegenheiten der Viktimisierung zu
beeinflussen vermag, nicht jedoch auf deren eigentliche Ursachen einwirken kann.
Täterorientierte Strategien versuchen dieses Manko zu kompensieren, indem sie realen oder
potenziellen Tätern Hilfen anbieten. Sie zielen primär, sekundär oder tertiär präventiv auf eine
Stabilisierung und Kompetenzerweiterung der Persönlichkeit, auf die Entlastung des
Lebensumfelds von tatauslösenden Faktoren und ggf. auf Resozialisierung. Vordergründig
konzentriert sich die sozialarbeiterische Tätigkeit auf das (Wieder-)Einfädeln in einen
strukturierten Alltagsablauf sowie in das Schul-, Ausbildungs- und/oder Arbeitssystem, das
Finden adäquaten Wohnraums, die Reduktion familiärer und weiterer interpersonaler
Konflikte, den Aufbau neuer Kontakte mit neuartigen Interaktionsqualitäten, die Regelung
von Schulden, die Hilfe bei Auseinandersetzungen mit der Polizei und gerichtlichen
Verfügungen sowie die Entstigmatisierung als Gewalttäter, Krimineller, Delinquent oder
Devianter. Dahinter steht die Auffassung, dass eine "Normalisierung" der Lebensführung und
des Lebenskontextes letztlich auch zu einer Normalisierung von Orientierungen und
Verhalten führt. Des weiteren wird darauf abgehoben, individuell und ggf. auch milieu- und
cliquenbezogen Kompetenzentwicklungsprozesse in Gang zu setzen, die die Fähigkeit zu
pluralen Situationsdeutungen verbessern, die Attraktivität von Provokationsverhalten
verringern, den gespürten Zwang zur Reaktanz abbauen und, zumal in kritischen Situationen,
ein erweitertes Handlungsrepertoire entfalten helfen. Teilweise wird aber auch
spezifizierender die Annahme unterlegt, dass soziale Desintegration und der Verlust von
53
sozial akzeptierten Anerkennungsmedien vermieden und bekämpft sowie soziale Integration
und neue Anerkennung über partikularistische Bezüge hinaus eröffnet werden muss.
Die Zielsetzung der täterorientierten Hilfe-Strategie sieht sich allerdings mit dem Argument
konfrontiert, den öffentlichen oder den vom Opfer gehegten Interessen an Sanktion und
Sühne entgegenzulaufen, deshalb ethisch-moralisch zweifelhaft zu sein, UnterstützungsRessourcen ungerecht zu verteilen, womöglich sogar kontraproduktiv zu wirken und so
unerwünschtes Verhalten zu stützen, zumal ein angenommenes Helfersyndrom gegenseitige
Abhängigkeiten verstärke und u.U. Identifikationen und Koalitionen mit dem Klientel
Vorschub leiste. Wo eben dies diagnostiziert wird, geraten professionelle Helfer in die Rollen
von Kollaborateuren.
2.2.4 Gestaltungsinteressen in ihrem Bezug auf die Strategien infrastruktureller
Arbeit, politischer Einmischung, Sozialraumorientierung, Milieubildung,
Netzwerkarbeit und Partizipationsförderung
Strategische Zielsetzungen von Pädagogik und Sozialer Arbeit, die in das Paradigma der
Gestaltung eingebunden sind, richten sich vor allem auf die Entdeckung neuer wie die
Mobilisierung bisher ungenutzter Ressourcen. Dabei kann es sich um sachliche oder
personale Ressourcen handeln. In jedem Fall weitet sich das überkommene Verständnis
pädagogischer und sozialer Berufstätigkeiten als unmittelbar personenbezogene
Dienstleistung auf infrastrukturelle Aufgaben aus.
Dahinter steht der Gedanke, dass Problem- und Konfliktkonstellationen nicht erschöpfend
mittels individueller und gruppenbezogener Veränderungen beseitigt werden können, sondern
strukturelle Ursachen der Symptomatiken angegangen werden müssen. So weit pädagogische
und soziale Arbeit sich nicht nur in Defensivrollen von Problementsorgerinnen ergehen,
reklamieren sie offensiv auch ihre Zuständigkeit für prinzipielle Aufgaben der Gestaltung des
Sozialen, ohne dass akut drängende Problemanlässe offen zu Tage getreten sein müssen.
Ihrem Mandat wird dann auch das Recht, ja die Verpflichtung zu politischer Einmischung
zugesprochen (Mielenz 1983). Vor allem anomietheoretische Deutungen von (politischer und
unpolitischer) Gewalt legen diese Strategie nahe. Danach nämlich kann Gewalt als ein
Anpassungsverhalten an anomische Strukturen gedeutet werden, die durch die
vorherrschenden gesellschaftlichen und institutionellen Weichenstellungen ständig produziert
und reproduziert werden: Auflösungen von regulativ wirkenden Zweck-Mittel-Verhältnissen,
so dass Situationen der Normlosigkeit entstehen, in denen vorweisbarer und in Besitz,
Prestige und Konsumvermehrung gemessener Erfolg die Mittel seines Erreichens in die
Unbedeutsamkeit verdrängt. Prozesse der Planung und Gestaltung des Gemeinwesens, der in
diesem Rahmen notwendigen kooperativen Vernetzung mit sozialen bzw. pädagogischen
Einrichtungen, staatlichen Institutionen und Gruppierungen der Zivilgesellschaft sowie die
Beratung und das Coaching insbesondere kommunaler politischer Entscheidungsträger und
sonstiger Akteure zielen darauf ab, primär- oder sekundärpräventiv äußere
Lebensbedingungen zu konstituieren, die möglichst weitreichend gewalt- und
extremismusprotektive Sozialisationserfahrungen ermöglichen. Der Vermeidung sozialer
Desintegration und Diskriminierung von Minderheiten sowie der Erzielung und Stärkung
sozialer Integrations- und Anerkennungspotenziale wird hierbei im allgemeinen eine hohe
Bedeutung beigemessen, angesichts des Diskriminierungs- und Desintegrationspotenzials im
Kontext von Migrationserfahrungen insbesondere in Bereichen multi- und interkultureller
Arbeit.
Nicht nur, aber gerade in Bezug auf Kinder und Jugendliche wird dabei eine sozialräumliche
Perspektive verfolgt. Sie reagiert auf die moderne Monofunktionalisierung und
Durchstrukturierung von Raum mit dem Versuch, Räume zu sichern. Sie sollen
54
Aneignungsformen gestatten, in denen die Entwicklung motorischer Fähigkeiten, die
Veränderung von Situationen und die Erweiterung von Handlungs(spiel)räumen möglich
bleibt (vgl. Deinet 1999). Bezugspunkt des Handelns ist in der Regel der unmittelbare
Nahraum der AdressatInnen, ihr Stadtteil, das Dorf, das Quartier, der Straßenzug, der
Häuserblock etc.. Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt werden aus dieser Sichtweise
auch wesentlich auf ungestillte räumliche Aneignungsbedürfnisse zurückgeführt. Das
Verschwinden von Natur aus dem öffentlichen Raum durch Urbanisierung, das
Zurückdrängen von Bewegungsflächen durch ausufernde Bau- und Verkehrsprojekte, die
Verdichtung der Wohnbebauung bei mangelhafter sozialer Infrastruktur u.ä. Prozesse mehr
beschneiden danach die Chancen auf freie Entfaltung und produzieren eine subtile Form von
neuer sozialer Kontrolle, ja Enge. Dem so geschaffenen Druck scheint durch Raumgewinne
zu entraten sein, die durch expansives Verhalten und die territoriale Ausgrenzung sog.
Fremder zu erzielen sind. Dem Gefühl der Beengung scheint dadurch entgegengetreten
werden zu können, dass regelrechte Befreiungsschläge geführt werden, die auch als
körperliche Entgrenzung erlebbar sind. Eine sozialverträgliche, wenn nicht sogar eine dem
Sozialen förderliche Raumgestaltung muss auf der (sozial)pädagogischen Skala der
Relevanzen so gesehen einen vorderen Rang einnehmen.
Der Ansatz der "Milieubildung" (vgl. Böhnisch 1994, 1997, 1998, Seifert 1998) spezifiziert
die sozialräumliche Perspektive noch einmal, indem er diejenigen sozialen NahraumElemente in den Fokus rückt, die durch sozio-emotionale Gegenseitigkeitsstrukturen
gekennzeichnet sind. Er macht sich ihre Qualifizierung zu eigen. Damit will er die per
Individualisierung wegbrechenden traditionellen Milieufunktionen, soweit sie für ein
sozialverträgliches Leben unverzichtbar erscheinen, wie z.B. sozialer Rückhalt und
Geborgenheit, in modifizierten Formen durch neu geschaffene, den Modernisierungen des
Lebens angemessene Gegenseitigkeitsbeziehungen von sozio-emotionaler Qualität erhalten.
Der Aufbau von Netzwerken kann als ergänzende Strategie begriffen werden (so bei
Böhnisch 1994, 1997): Damit Milieubildung nicht die Tendenz zur Abkapselung von Milieus
unterstützt oder sogar regressive Milieus stabilisiert, erhalten diese eine Öffnung durch den
Netzwerkanschluss. Mit ihr wird die Erwartung verbunden, die Milieuangehörigen auch mit
nicht milieuspezifischen Werten, Normen und Interaktionsweisen in Kontakt zu bringen und
darüber eine Horizonterweiterung zu bewerkstelligen, die die Integration in nicht
partikularistische gesellschaftliche Bezüge erleichtert. Bindungsmittel sind hier die Interessen
der einzelnen und nicht mehr die emotionale Kohäsion.
Inakzeptable soziale Abweichung bis hin zu Gewaltsamkeit wird vor dem Hintergrund des
Gestaltungs-Paradigmas auch als Folge verweigerter Mitsprache und Mitbestimmung
gedeutet: Wer auf legalem bzw. legitimem Wege kein Gehör findet, nicht zur Erfüllung seiner
Interessen und Bedürfnisse gelangen kann und gleichzeitig den Rückzug der Erwartungen
nicht zu betreiben gedenkt, mag dazu tendieren, illegale und illegitime Mittel einzusetzen.
Solche Defizite sollen deshalb durch das Einräumen von mehr Teilhabe und Beteiligung
verringert werden. Chancen auf die öffentliche Artikulation von Ansprüchen zu vergrößern,
Teilnahmemöglichkeiten an gesellschaftlichen Diskursen zu verbreitern und Kanäle
politischer Mitwirkung und –entscheidung zu erweitern bzw. neu zu eröffnen, sind daher
vornehmliche Ziele eine partizipationsorientierten pädagogischen und Sozialen Arbeit. Sie hat
somit System- und Sozialintegration gleichermaßen im Blick und scheut sich nicht vor
Mobilisierung und Aktivierung von Engagement.
55
Die Grenzen einer an Gestaltungsinteressen festgemachten strategischen Ausrichtung
pädagogischer und sozialer Arbeit scheinen gegenwärtig an einem für sie noch unzureichend
entwickelten beruflichen Selbstverständnis und an einem in seinem Schlepptau noch
schmalen, relativ unausgefeilten fachlichen Handlungsrepertoire, spätestens jedoch dort auf,
wo sich politische Entscheidungen fachlicher Argumentation verschließen und auf autonome
Zuständigkeiten berufen.
Insgesamt sind die strategischen Zielsetzungen bei Trägern und Umsetzungspersonal zwar mit
vagen Vorstellungen von einem zu erreichenden Idealzustand verbunden. Unterhalb weit
ausgreifender Globalziele wie "Schaffung gewaltfreier Verhältnisse", "Demokratisierung der
Gesellschaft", "friedliches Zusammenleben der Völker und Kulturen" u.ä.m. werden – anders
als dies in der Wirtschaft Usus ist – Visionen für einen absehbaren Zeitraum von vielleicht 10
bis 15 Jahren aber nicht konkretisiert, so dass mit festgelegten Zeitperspektiven und
Indikatoren verbundene Strategieüberprüfungen bislang nicht üblich sind und Prozesse der
Um- oder Neuorientierung zäh verlaufen.
2.3
Formate
Paradigmatische Grundorientierungen und strategische Ausrichtungen führen im Verein mit
politischen Vorgaben, organisatorischen Rahmenbedingungen, dem Reservoir an personellen
Ressourcen und Kompetenzen sowie Trägertraditionen zu bestimmten Schwerpunktsetzungen
hinsichtlich der Formate der pädagogischen und/oder sozialarbeiterischen Angebote. Formate
stellen komplexe Vermittlungs- und Erfahrungskontexte dar, die auf jeweils bestimmte Weise
Orientierung und Handlungskompetenz verschaffende Tätigkeiten wie Analysieren,
Reflektieren und den Erwerb bzw. die Entwicklung von Wissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten
gewichten. Die Spezifik, in der sie Lernen als Veränderung von Kognitionen, Emotionen,
Handlungsweisen und Strukturen ermöglichen, setzt der konkreten Konzeptentwicklung einen
operativen Rahmen, der damit auch erhebliche Implikationen für Inhalte, Design, Dauer, Orte,
Methodik, Didaktik, Arbeitsprinzipien etc. in sich birgt (vgl. Kap. 3).
Die in dem uns interessierenden Themenfeld eingesetzten Formate lassen sich innerhalb eines
Feldes platzieren, das sich in einem Achteck zwischen den Eckpunkten von Unterrichtung,
Begegnung, Training, personaler Unterstützung, Einzelansprache, (Re-)Produktion,
Recherche und Strukturverbesserung aufspannt. Einzelne Konzepte weisen zwar bezogen auf
diese Formate zumeist bestimmte Schwerpunktsetzungen auf, suchen zum Teil aber auch ihre
Überlappungsgebiete für sich zu nutzen.
Formate der Unterrichtung haben ihre Heimat im Paradigma der Wissensvermittlung. Sie
favorisieren dabei einen bestimmten Typus: den des Herantragens kognitiv verarbeitbarer
Informationen. Idealtypisch liegt eine weitreichende Fremdsteuerung der Lernenden durch die
pädagogische Kraft vor. Die Informationsgegenstände werden durch sie ausgewählt.
Methodisch dominiert die direkte Instruktion. Die Aneignung des vorgegebenen Lernstoffs
steht im Mittelpunkt. Erzielte Wissenszuwächse erstrecken sich auf Informationsbestände von
allgemeiner, vergleichsweise abstrakter Bedeutung. Theoretisches Begreifen prägt den
Lernprozess, unmittelbare Erfahrung bleibt ausgeblendet (vgl. dazu auch die
Charakterisierung von "Bildungsformaten" bei Leenen 2001). Formate der Unterrichtung
bewähren sich dort, wo es um kompakte, effiziente und – jedenfalls kurzfristig – effektive
Informationsweitergabe über Sachverhalte geht. Die Erzeugung von Handlungsmotivation im
Sinne einer Nutzung dieser Informationen für eigenen Zwecke dürfte als eher schwach
eingestuft werden können.
56
Formate der Begegnung stehen diesem Ansatz deutlich gegenüber (vgl. ebd.). Sie sind
innerhalb des Bildungsbereichs dem Paradigma des Erfahrungslernens zuzuordnen. Hier
begnügt sich die Fachkraft zunächst damit, Plattformen zu schaffen, auf denen Teilnehmer
und Teilnehmerinnen miteinander in Kontakt kommen und sich austauschen können.
Vorrangig ist der Gedanke des Voneinanderlernens. Entsprechend solcher
Teilnehmerorientierung steuern sich die Lernenden eher selbst. Statt Instruktion steht
entdeckendes Lernen auf dem Plan. Zentrale inhaltliche Relevanzen werden nicht von einem
von außen eingebrachten Lernstoff vorgegeben. Sie erschließen sich vielmehr prozesshaft
durch die gruppendynamisch hergestellte intersubjektive Verschränkung der einzelnen
subjektiven Bedeutungen. Wissen kommt als konkretes Struktur- und Handlungswissen von
größtenteils unmittelbarer Interaktionsrelevanz zum Zuge. Sein Fundus ist die unmittelbare
Erfahrung. Angenommen wird, dass der durch die Orientierung an Teilnehmerrelevanzen
gegebene (potenzielle) Lebensweltbezug solches Lernen mit deutlich mehr
Verhaltenswirksamkeit ausstattet als dies bei Formaten der Unterrichtung der Fall ist.
Formate der Begegnung könnten aber auch dort erblickt werden, wo im Rahmen eines
modernen Hilfe-Paradigmas Sozialer Arbeit lebensweltliche Systeme der Unterstützung oder
des selbstgeregelten Interessenausgleichs aufgebaut und abgesichert werden.
Sie liegen auch vor, wenn im Rahmen des Gestaltungs-Paradigmas Vernetzungen von
AdressatInnen zu Stande kommen, ohne dass gegenseitige Unterstützung das Hauptmotiv der
Begegnung abgibt wie bspw. bei der Förderung bürgerschaftlichen Engagements.
In beiden Fällen zieht sich die Fachkraft auf die Rolle einer Beraterin, Moderatorin und ggf.
Konfliktmanagerin zurück. Soziale Strukturbildungen bauen sich in gruppendynamischen
Prozessen auf, die der Selbststeuerung der an ihnen Beteiligten unterliegen
Trainingsformate vermitteln zwischen Begegnungs- und Unterrichtungsformaten (ähnlich
auch Leenen 2001). Die Aufgabe der pädagogischen Fachkraft liegt hierbei im wesentlichen
darin, durch bestimmte methodische Vorgaben, die sie im allgemeinen in einen
Gruppenkontext einbringt, eine Situation zu schaffen, in der dann zunächst Raum für
kompaktes, intensives, ganzheitlich angelegtes und sensibilisierendes Erfahrungslernen
entsteht. Es entsteht eine laborähnliche Situation, die zumeist ein reales Alltagsgeschehen
simuliert. Die Teilnehmenden sind darin als Handelnde gefragt. Unter Umständen werden sie
unter Rechtfertigungsdruck gesetzt. Austausch und Auseinandersetzung in der Gruppe der
TeilnehmerInnen dienen der Bereicherung der jeweils individuell gemachten Erfahrungen,
ihrer allmählichen Einordnung und Strukturierung. Dies wird verstärkt durch – je nach
Training – mehr oder weniger starke Gesprächslenkungen und theoretische Inputs seitens der
Leitungsperson. Fragen des Transfers der gemachten Erfahrungen in den Alltag spielen eine
große Rolle.
Formate der personenbezogenen Unterstützung haben ihren Gravitationspunkt im Paradigma
der Hilfe. Zu unterscheiden sind die beiden Typen der Alltagshilfe und des therapeutischen
bzw. therapeutisch orientierten Settings.
Alltagshilfe legitimiert sich durch eine objektiv gegebene, fast immer aber auch subjektiv
geäußerte Bedürftigkeit der Subjekte. Sie findet im lebensweltlichen Kontext der
AdressatInnen statt und erfordert im allgemeinen eine längerfristige Begleitung, da sie –
soweit nicht nur Formalien zu regeln sind, und dies ist der Normalfall – ein
Vertrauensverhältnis zwischen Fachkraft und "Klient" voraussetzt. Personale Unterstützung
kann als Einzelfallhilfe wie als Gruppenarbeit stattfinden. Im Verlaufe ihrer Verstetigung
eröffnen sich Gelegenheiten zu Gesprächen über Grundorientierungen, innere Haltungen,
Einstellungen und Meinungen. Sie werden entweder zu argumentativ geführten Diskussionen
über Inhalte genutzt oder auch als Anknüpfungspunkte für die Entdeckung nicht
problembelasteter Vorlieben und Interessen verstanden, über die dann neue Zugänge zum
57
Subjekt und neue Chancen interaktiver Anbindung im Sinne von Netzwerkarbeit ergriffen
werden können. Zudem sind an diesen Stellen Diskursformen bekannt zu machen, die
Bedürfnis- und Interessenartikulation, soziale Bindungswünsche und den Ausgleich
gegensätzlicher Auffassungen auf lebensgeschichtlich neuartige Weise positiv erlebbar
machen. In dem Maße wie peer-support professionelle Hilfe zu ersetzen vermag, löst sich das
Leitbild des klassischen Hilfe-Paradigmas auf und wird seine Idealtypik durch so entstehende
Begegnungsformate verwischt, die eher dem Gestaltungs-Paradigma und der Priorisierung
von Erfahrungslernen folgen.
Therapeutische bzw. therapieähnliche Formate beziehen sich innerhalb des uns
interessierenden Themenbereichs im wesentlichen auf den Abbau von Aggressivität. In einem
zeitlich und räumlich vordefinierten Rahmen werden unter Einsatz spezieller Methoden und
gesteuert von der pädagogischen Fachkraft in bestimmten Folgen Schritte unternommen, die
darauf zielen, Verhaltensbereitschaften und das tatsächliche individuelle Verhalten zu
verändern. Außerdem sind, allerdings noch kaum ausgebaute Opferbegleitungen zu erwähnen.
Formate der Einzelansprache beziehen sich auf Angebote, die das Subjekt individuell ohne
Gruppenkontext nutzen kann, um neue Informationen zu erhalten ("Wissensvermittlung")
oder auch neue Erfahrungen zu machen ("Erfahrungslernen"). Es handelt sich um
verschiedene Formen schriftlicher Publikationen (Bücher, Zeitungsartikel, Broschüren etc.)
sowie um vorwiegend visuelle (Plakate, Flyer), auditive (Hörfunk, Musikstücke) und audiovisuelle Produkte (Filme, Internetangebote). Dem gemäß werden zwar Inhalte vorgegeben,
bleibt der Aneignungsprozess selbst aber im Gegensatz zu einer gruppengebundenen Kulturund Medienpädagogik unsicher und im Falle seiner Realisation unstrukturiert. Eine
Ergebniskontrolle erscheint schwierig.
Rechercheformate liegen in Projekten vor, bei denen die TeilnehmerInnen ausgewählte
Sachverhalte dadurch in Erfahrung zu bringen suchen, dass sie eigene
'Forschungs'anstrengungen unternehmen, bei denen sie gleichermaßen kognitiv wie emotional
und
konativ
gefordert
sind.
Geschichtswerkstätten,
Spurensuche-Projekte,
Passantenbefragungen, Archivbesuche, Umfragen mit Mikrofon und Kamera etc. räumen
Aktivierung, Mobilisierung, Handlungsorientierung und (im allgemeinen) alltagseingelagerter
Eigenerfahrung Vorrang ein. Selten richten sich diese Formate an einzelne (z.B. bei manchen
Wettbewerben), meist werden sie an Gruppen adressiert. Inhalte werden nur grob vereinbart.
Sie differenzieren sich im Prozess des Recherchierens aus. Angebote dieses Typs erhalten
erfahrungsgemäß ihre Attraktivität vor allem bei Kindern und Jugendlichen oft durch die
Struktur des Formats selbst und/oder die eingesetzten Medien. Von hoher motivationaler und
inhaltlicher Bedeutung ist aber – für AnbieterInnen wie für TeilnehmerInnen – im Regelfall
auch die Publikation der Rechercheresultate für eine wie auch immer im einzelnen geartete
Öffentlichkeit.
Eine Produktorientierung kennzeichnet (darüber hinaus) Formate, die auf die Herstellung
oder Wiederherstellung von Objekten oder die Produktion von spezifischen Kompetenzen
zielen.
Gegenständliche (Re-)Produktionsformate betreffen gruppenbezogene Aktivitäten, die sich
auf die (Wieder-)Herstellung von Dingen und Präsentationsobjekten konzentrieren. Das
Spektrum reicht von der Renovation von Wohnungen über die Herstellung von
Verkaufsobjekten und die Produktion von Medien bis hin zur Aufführung z.B. von Theaterund Musikstücken. Im Mittelpunkt steht immer eine gemeinsame 'Arbeit', die im wesentlichen
nicht als abstrakte Lernarbeit, sondern als Produktion begriffen wird. AnbieterInnen dient sie
als Vehikel der Heranführung an ein bestimmtes Thema, der handlungsorientierten und
ganzheitlichen Auseinandersetzung damit und oft auch der Herstellung von Öffentlichkeit für
58
das Thema über das zu erstellende Produkt. Auch hier werden Inhalte fast immer nur grob
vorgegeben und differenziert sich im Verlaufe des Herstellungsprozesses eine konkrete
Herangehensweise weitgehend selbstgesteuert durch die TeilnehmerInnen aus.
Eine zweite Variante hat mit spezifischen Absichten die Qualifizierung der Teilnehmenden
zum Ziel. Im Gegensatz zu einem Lernen, das auf die Entwicklung allgemeiner Kompetenzen
(z.B. soziales Lernen, verbale Konfliktfähigkeit u.ä.) fokussiert, soll hier ein Fähigkeitslevel
erreicht werden, das die Lernenden nach Durchlaufen entsprechender Maßnahmen am Ende
in Stand setzt, konkrete Aufgaben zu übernehmen (z.B. Jugendliche als
AusstellungsführerInnen oder schulische Streitschlichter). Die Orientierung am Endprodukt
'Qualifikation' fordert eine vergleichsweise hohe Verbindlichkeit ein und baut deshalb auf
anderen Formaten auf.
Formate der Strukturverbesserung streben die Optimierung von Rahmenbedingungen
lebensweltlicher Erfahrung an.
Sie beziehen in einer bestimmten Variante die in den betreffenden Strukturen lebenden
Subjekte partizipatorisch ein. Für die Umsetzung von Gestaltungsinteressen im Alltag
schaffen sie Spiel- und Aktionsräume und bieten dafür Beratung, (Weiter- und Fort-)Bildung,
Moderationskompetenzen u.ä. an.
In einer anderen Variante arbeiten sie über weite Strecken weniger direkt mit den
Gruppierungen, denen die angestrebten Verbesserungen in erster Linie zugute kommen
sollen. Vielmehr bilden sie Kooperationszusammenhänge von VertreterInnen öffentlich
agierender, insbesondere sozialer und pädagogischer Einrichtungen und gesellschaftlich
relevanter Gruppierungen. Im Sinne des Gestaltungs-Paradigmas wird hier entweder
beschränkt auf multiprofessionelle Zusammenarbeit oder in Verbindung von professionellen
Kräften und BürgerInnen bspw. mittels Fach- und Stadtteilkonferenzen oder Runder Tische
planerisch und organisatorisch für gewaltfreie Rahmenbedingungen des Zusammenlebens
Sorge getragen. Ihren Schwerpunkt haben diese Formate im lokalen und sublokalen Bereich.
Sie werden als Ergänzungen zu anderen Formaten betrachtet, weshalb die Personen, die sie
tragen, nahezu alle auch mit anderen Formaten befasst sind, ja diese meist als ihr
Kerngeschäft begreifen.
Formate setzen sich in bestimmte Maßnahmendesigns wie Unterrichtsstunden, Informationsund Diskussionsveranstaltungen, Kurse, Kursreihen, Seminare, Workshops, aufsuchende
Arbeit, Beratung, Qualifizierung, Fortbildungen, Kongresse, Aktionstage, Projekttage,
Labors, (Stadtteil-)Feste, Bewegungs-, Sport- und Spielangebote, Begegnungsreisen,
Workcamps, Medien-, Kultur- und sonstige Projekte, Publikationen, Ausstellungen, Foren,
Aktionsplanung und Vernetzungsaufbau um. Sie legen die äußere Form fest, die vor allem die
zeitlichen, räumlichen und sozialen Rahmenbedingungen bestimmt.
2.4
Theorie-Praxis-Verhältnis
Pädagogik und Soziale Arbeit stellen Praxisfelder dar, die sich bestimmter Weise zu ihren
Bezugswissenschaften Erziehungswissenschaft und Sozialarbeitswissenschaft verhalten.
Wenn – wie beabsichtigt – Praxis, hier Praxiskonzepte des Umgangs mit Rechtsextremismus,
Fremdenfeindlichkeit und Gewalt, auf ihre Bezüge zu wissenschaftlichen bzw. theoretischen
Erkenntnissen untersucht werden soll, erhebt sich die Frage, wie das Verhältnis von Theorie
und Praxis grundsätzlich begriffen werden kann. Wir thematisieren damit eine
Problemstellung, die man im Osten Deutschlands zu DDR-Zeiten – auch wohl aus
ideologischen Gründen – schlicht anwendungsoptimistisch mit der Hypostasierung der
Handlungskette Praxis-Theorie-Praxis gelöst zu haben glaubte, zu der dagegen im Westen
59
Deutschlands seit den 70er Jahren ausgedehnte Debatten geführt werden. Ohne sie auch nur
annähernd vollständig hier nachzeichnen zu wollen, sei festgehalten:
Nachdem mindestens bis zum Beginn der siebziger Jahre ein Anwendungsoptimismus
vorherrschte, der von der Überlegenheit wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion gegenüber
anderen Formen des Wissenserwerbs ausging und ihr dem gemäß die Funktion einer
Anleitung für die Praxis zuschrieb, verbreitete sich in der Folgezeit eher ein
"Anwendungspessimismus". Er stützte sich auf die Beobachtung, dass die Fülle
sozialwissenschaftlichen Wissens, die man in den 70er und 80er Jahren produziert hatte,
kaum verwertet wurde, wobei Gründe dafür sowohl in der bloßen Instrumentalisierung von
Wissenschaft für Legitimationszwecke von Politik als auch im Zuge der
Verwendungsforschung (vgl. v.a. Beck/Bonß 1989) vermehrt in der qualitativen Differenz
von Wissenschaft und Praxis gesehen wurden. Sie liegt vor allem darin, dass Wissenschaft
handlungsentlastet ist und sich außerhalb praktischer Entscheidungszwänge ansiedeln kann.
Mehr als die einzelne konkrete Situation interessieren sie Regelhaftigkeiten bzw.
Generalisierungen und Abstraktionen. Inzwischen zeichnet sich auch gerade aufgrund der
Resultate der Verwendungsforschung eine "realistische Wende" ab. Sie betont die
Andersartigkeit und eben nicht die qualitative Hierarchisierung wissenschaftlichen und
anderweitigen Wissens und betont, dass der Transfer wissenschaftlichen Wissens in die Praxis
nicht als "maschinell-technische" "Anwendung" nach dem Kinderlied-Motto "die
Wissenschaft hat festgestellt..., drum..." erfolgt. Vielmehr entwickeln sich durch "örtlich,
zeitlich und sozial versetzte Interpretationsprozesse" von PraktikerInnen gefiltert, über einen
längeren Zeitraum hinweg und in zahlreichen Instanzen Verwendungsweisen, die "ein aktives
Mit- und Neuproduzieren" von Erkenntnissen beinhalten (alle Zitate ebd.). Die autonome
Rolle der Praxis in diesem Prozess wird gestärkt durch die weiterhin zunehmende
Verwissenschaftlichung öffentlich geführter Diskurse und alltäglicher Deutungen.
Die mediale Verbreitung von empirischen Forschungsergebnissen und theoretischwissenschaftlichen
Deutungen
besitzt
dabei
allerdings
eine
beachtenswerte
Vermittlungsfunktion (vgl. Schetsche 1996). Sie steuert nicht unwesentlich Selektion und
Aufmerksamkeit für wissenschaftliche Produkte. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ihr
Nachrichtenwert von diversen Faktoren abhängt, die den Informationsgehalt selbst und die
Umsetzung der Information betreffen. Zu den wichtigsten gehört ein für MedienvertreterInnen
erkennbarer Bezug auf aktuelle Diskurse, die Prominenz von Akteuren, der Konfliktgehalt der
Information, der Grad der Thematisierung eines Normenbruchs und z.T. die geographische
Nähe des geschilderten Vorgangs. Präsentationsformen wie Personalisierung, Dramatisierung,
Emotionalisierung, Moralisierung o.ä. schaffen jeweils spezifische Rezeptionsbedingungen.
Von ihnen ist nicht nur der Alltagsmensch betroffen; auch die Fachpraxis zeigt sich
gekennzeichnet durch die zunehmend mediale Vermittlung der Szientifizierung
institutioneller Entscheidungen und beruflichen Handelns. Deshalb erhöht sich nicht nur der
Stellenwert
von
Agenda
des
Alltagsdiskurses
für
sozialwissenschaftliche
Themenzuwendungen. Es werden vor allem auch Rückkoppelungen von Praxis-Deutungen in
die wissenschaftliche Sphäre relevanter, ja Inhalte und teilweise auch methodische
Aufarbeitungen von wissenschaftlichen Themenstellungen werden stärker auch von PraxisInteressen lenkbar.
Die Rolle wissenschaftlicher Aufarbeitungen liegt dennoch darin, ohne Anwendungsdruck
Wissen zu produzieren, das für praktische Verwendungen zur Verfügung gestellt werden
kann. Sie erfüllt sie hauptsächlich dadurch, dass sie in kritischer Distanz zur Praxis detaillierte
Beschreibungen und deutende Reformulierungen von Sachverhalten liefert und/oder
Methoden und Instrumente für die Selbstbeobachtung der Praxis entwickelt.
60
2.5
Evaluation
Pädagogik und Soziale Arbeit selbst und ihre Geldgeber im besonderen sind daran
interessiert, die Qualität ihrer Leistungen, Zielorientierungen und Wirkungen zu überprüfen,
um sie fortentwickeln zu können. Evaluation steht unter diesem Leitziel. Was meint
Evaluation genauer, auf welche Objekte kann sie sich beziehen, welche Methoden nutzt sie,
welche Standards sind einzuhalten und wie ist ihr Entwicklungsstand in Deutschland
einzuschätzen?
Man versteht unter Evaluation nicht nur die schlichte Festsetzung des Wertes einer Sache,
eines Prozesses oder eines Programms (vgl. Suchman 1967; Scriven 1980), sondern im
wissenschaftlichen Bereich "eine systematische, auf vorliegenden oder neu erhobenen Daten
beruhende Beschreibung und Bewertung von Gegenständen der sozialen Wirklichkeit"
(Beywl/Schepp-Winter 2000, 17), die dem aktuellen Stand wissenschaftlicher
Forschungsmethoden und –techniken angepasst ist (vgl. auch Wottawa/Thierau 1990). Der
wissenschaftliche Charakter von Evaluation erschließt sich darüber hinaus durch den
Umstand, schlussfolgeorientiert angelegt zu sein, d.h. Arbeitsschritte und Ergebnisse nach
wissenschaftsinternen Kriterien vorzunehmen bzw. vorzulegen und sich nicht den
exmanenten Interessen entscheidungsorientierter Auftraggeber zu unterwerfen (vgl.
Cronbach/Suppes 1969). Im Unterschied zu anderen fachlichen Formen des Feedbacks wie
Supervision, Praxisberatung und Organisationsberatung, insbesondere aber im Gegensatz zu
Rückmeldeformen wie Presseberichten u.ä. vermeidet sie Verzerrungen durch eine
unsystematische oder ausschließlich aus dem praxisimmanenten Blickwinkel von Evaluierten
getroffene Auswahl von Aspekten sowie durch Kurzfristigkeit bzw. unsystematische
Zeitintervalle. Evaluation gilt in diesem Sinne im allgemeinen als eine Variante von
Praxisforschung. Als Begleitforschung wäre sie dann zu verstehen, wenn sie in
Längsschnittanlage auf die Untersuchung von Prozessen fokussierte.
Sieht man einmal von solchen Nutzungserwartungen von Auftraggebern ab, die auf die
Erhöhung von Kontrolldruck, die Delegation von Entscheidungsverantwortung und die
Durchsetzung ohnehin geplanter Vorhaben gerichtet sind, kann Evaluation sinnvoll als
Planungs-, Implementierungs-, Organisations- und Entscheidungshilfe eingesetzt werden.
Grundsätzlich hat sich eine Unterscheidung zwischen einem "formativen" Evaluationstypus
(auch "prozessorientierte" Evaluation oder "Programm-" bzw. "Gestaltungsevaluation"
benannt) oder einem "summativen", "bilanzierenden" Evaluationstypus (auch als
"produktorientierte" Evaluation oder "Ergebnisevaluation" bezeichnet) eingebürgert (vgl.
auch v. Spiegel 1993). Das Interesse formativer Evaluation ist auf die Schaffung von
Optimierungsgrundlagen für den Evaluationsgegenstand gerichtet (vgl. z.B. auch Schrödter
2002). In Hinsicht auf Maßnahmen und Maßnahmenbündel steht hier entweder die Frage
adäquater Planung, geschickter Implementierung oder optimaler Organisation im
Vordergrund. Summativ-bilanzierende Evaluation soll demgegenüber vorrangig der
Entscheidung über Fortführung, Beendigung, Ausweitung oder Rückbau und ggf. der
Auswahl zwischen alternativen Wegen der Zielerreichung dienlich sein (zu weiteren
Differenzierungen
von
Evaluationsschwerpunkten
nach
Rahmenbedingungen,
Zielorientierungen, Zeitperspektiven, Nutzenüberlegungen, Bearbeitungsformen und Formen
der Meta-Evaluation vgl. kurz Wottawa/Thierau 1990, 27ff.).
Gegenstände von Evaluierung können u.a. politische und pädagogische Programme, also
Maßnahmenbündel, Einzelmaßnahmen, Personal und Teilnehmer, Organisationen und ihre
61
Strukturen, Produkte, Umgebungsfaktoren, Methoden und Techniken, Tätigkeitsstile und
Evaluationen selbst (mittels Meta-Evaluation) sein. Entsprechend differieren ihre jeweilige
Komplexität, ihre Schwerpunktsetzungen und Binnendifferenzierungen.
Fragestellungen von Evaluationen können prinzipiell auf Strukturen, Prozesse und Ergebnisse
(aber auch – wie von Maja Heiner vorgeschlagen – auf Konzepte und Inputs) ausgerichtet
sein (vgl. Donabadian 1982). Auftraggeber sind im Vergleich dieser Fragerichtungen meist
stärker als die in bestimmten Maßnahmen und Programmen beschäftigten MitarbeiterInnen
selbst an den Ergebnissen interessiert. Was indes unter einem "Ergebnis" zu verstehen ist,
muss differenziert geklärt werden. Abgesehen von der gerade Mittelgeber bewegenden Frage
nach der Effizienz der mit seiner Erzielung verbundenen Arbeiten ist bei geplanten
Evaluationen zu bestimmen, ob es mehr um Zielerreichungs- oder mehr um
Wirkungskontrolle gehen soll. Steht das Interesse an Erkenntnissen über den "Output" oder
eher das an Erkenntnissen über den "Outcome" im Zentrum? Die Frage lässt sich noch weiter
differenzieren: Reichen statistische Daten über Nutzerzahlen, sozio-demographische
Zusammensetzungen der Nutzergruppierungen, Nutzungszeitpunkte, Nutzungsdauern usw.?
Ist darüber hinaus auch die Akzeptanz einer Maßnahme bzw. eines Programms bei den
NutzerInnen von Interesse? Soll nach ihrer Zufriedenheit gefragt werden? Lässt sich
diesbezüglich auf die Einschätzung der Programm- bzw. MaßnahmemitarbeiterInnen
vertrauen? Oder sollen tatsächliche Lernerfolge erfasst werden? Wenn ja, sind sie als
Wissenszuwachs messbar? Zeigen sie sich in der Änderung vormaliger Einstellungen und der
Gewinnung von neuen Überzeugungen? Lassen sie sich als Verhaltensveränderungen
erfassen? Falls ja: Sind diese Verhaltensveränderungen auch außerhalb des Maßnahmen- bzw.
Programmsettings im Alltag vorhanden? Wie nachhaltig sind sie? Führen darüber hinaus
Maßnahmen bzw. Programme auch zu grundlegenden, überindividuellen, etwa
organisationalen Umstrukturierungen?
Termini wie "Erfolgskontrolle", "Effizienzüberprüfung" "Ergebnisprüfung" oder
"Wirkungsanalysen" sind mithin nicht mit Evaluation identisch, sondern nur
(unterschiedliche) Aspekte evaluativer Studien. Dementsprechend macht es auch Sinn einen
Evaluationsbericht als u. U. Wirkungsanalysen vornehmenden, outcomeorientierten "Bericht
über
Evaluationszweck,
Fragestellungen,
Datenerhebung,
Ergebnisse
und
Schlussfolgerungen" von einer Dokumentation als "Aufzeichnung programmstatistischer
Daten" und "durchgeführter Aktivitäten" und einem Sachbericht als "Verwendungsnachweis"
für den Zuwendungsgeber zu unterscheiden (Beywl/Schepp-Winter 2000, 95).
Methodische Zugriffe lassen sich in klassischen und alternativen Designs auffinden (vgl. v.
Spiegel 1993). Sie beeinflussen z.T. erheblich die Aussagekraft von Ergebnissen.
Zu den klassischen, an einem positivistischen Wissenschaftsverständnis orientierten Ansätzen
zählen experimentelle und quasi-experimentelle Strategien sowie nicht-experimentelle
Verfahren und komparative Programmevaluationen. Experimentelle Strategien operieren mit
der Gegenüberstellung von Versuchs- und Kontrollgruppe(n). Während man die
Experimentalgruppe einem "treatment" aussetzt, bleibt die Kontrollgruppe ohne Behandlung.
Indem nun anhand von Messungen entlang vorher festgesetzter Kriterien
Differenzbestimmungen zwischen den Gruppierungen vorgenommen werden, sollen
möglichst signifikante Effekte des treatments herausgearbeitet werden.
Eine quasi-experimentelle Versuchsanordnung bietet sich an, wenn das Evaluationsobjekt nur
ex post untersucht werden kann. Man überprüft mit Hilfe statistischer Auswertungsverfahren
gezielt Alternativhypothesen und bildet Vergleichsgruppen, beim mathching-Verfahren etwa
aus "statistischen Zwillingen", also aus Personen, die in Hinsicht auf bestimmte relevante
Merkmale der Untersuchungsgruppe gleichen.
62
Zu nicht-experimentellen Verfahren gehören Vorher-Nachher-Vergleiche oder post-factumMessungen bei verschiedenen Gruppen. Der Verzicht auf Kontroll- und Vergleichsgruppen
lässt Kausalitätstests nach positivistischer Manier nicht möglich erscheinen, so dass sie eher
zu heuristischen Zwecken eingesetzt werden. Komparative Evaluationen von
Einzelmaßnahmen oder Maßnahmenbündeln werden dadurch angegangen gesucht, dass
Träger mit gleicher Aufgaben- und Zielstellung bei der Ausführung ihrer Programme
miteinander in Hinsicht auf differierende Effekte oder Effektstärken verglichen werden.
Die genannten Ansätze ziehen neben den bekannten unerwünschten Effekten von Tests (z.B.
Hawthorne-Effekt oder Pretest-Sensitivierung) eine lange Reihe von Schwierigkeiten nach
sich: Aus berufsethischen Gründen erscheint es Fachkräften pädagogischer und sozialer
Arbeit kaum oder gar nicht vertretbar, einer bestimmten Gruppe, die dann als Kontrollgruppe
einer experimentellen Anlage in Frage käme, eine von ihnen von vornherein als sinnvoll
erachtete Behandlung oder Maßnahme vorzuenthalten. Eine Zufallsauswahl im strengen
Sinne erscheint praktisch unmöglich, weil innerhalb der Sozialen und zumindest auch der
außerschulischen pädagogischen Arbeit Teilnahme oder Nichtteilnahme erfahrungsgemäß oft
von schwer zu kontrollierenden Motivationen (etwa Sympathiebeziehungen) abhängen. Bei
manchen Programmen, zumal bei persuasiven der Informations- und Überzeugungsarbeit,
erscheint eine quantifizierende Messung von Effekten zur Feststellung ihres jeweiligen
Nutzens wenig sinnvoll oder doch zumindest eine erhebliche Verengung von
Nutzenvorstellungen vorauszusetzen. Das Konstanthalten fachlichen Handelns über einen
längeren Zeitraum, eben den Untersuchungszeitraum hinweg, ist kaum zu bewerkstelligen;
dies auch deshalb, weil die Kompetenz einer Fachkraft in diesen Feldern – im Regelfall auch
von ihr selbst – darin gesehen wird, ihr Handeln situationsadäquat zu variieren. Fraglich
bleibt, ob die jeweiligen Kontroll- und Vergleichsgruppen tatsächlich für einen Vergleich
taugen oder ob sie sich nicht vielleicht durch unsichtbare Merkmale (z.B. Motive,
Grundhaltungen) so unterscheiden, dass diese sich in nicht kontrollierbarer Weise auf die
Versuchsanordnung auswirken. Bei vergleichenden Programmevaluationen kommt die
Schwierigkeit hinzu, dass trotz halbwegs übereinstimmender Ziel- und Aufgabenstellung von
Trägern theoretische Vorstellungen, Problemdefinitionen, Kompetenzen des Personals,
Tätigkeitsstile, Rahmenbedingungen und andere Faktoren so unterschiedlich sein können,
dass der Versuch signifikanter Dimensionierung der zu prüfenden Variablen unterlaufen zu
werden droht. Letztlich unbeantwortet bleibt auch, wie die gesellschaftlichen Einflüsse im
allgemeinen und die des unmittelbarer Umfelds im besonderen auf Versuchsteilnehmer
längerfristig angelegter Untersuchungsreihen zu kontrollieren sind und ob experimentell
festzustellende Wirkungen sich auch in realen Lebenskontexten zeigen würden.
Im Rahmen einer dem handlungstheoretischen Paradigma folgenden "interpretativen",
"qualitativen" oder besser: "rekonstruktiven" Sozialforschung (vgl. dazu z.B. Bohnsack 1999;
Kromrey 1994; Böttger 1996; Hitzler/Honer 1997) wird deshalb ein anderer Ansatzpunkt
gewählt. Mindestens sechs Prinzipien charakterisieren ihn: Eine Offenheit gegenüber den
Eigenarten
der
ProbandInnenden,
den
Untersuchungsgegenständen,
den
Untersuchungssituationen, und den Untersuchungsmethoden impliziert erstens ein
exploratives, Hypothesen generierendes (statt testendes) Verfahren. Zweitens wird der
Forschungsprozess als Interaktionsprozess zwischen ForscherInnen und Erforschten angelegt.
Sein Ziel ist die Erstellung von Konstruktionen zweiter Ordnung, also von Rekonstruktionen
der Konstruktionen erster Ordnung der von ihnen Beforschten. Drittens sind auch die zu
untersuchenden Phänomene in ihrer Prozesshaftigkeit und Historizität einzufangen. Zum
vierten wird analytische Reflexivität eingefordert, also ein Verhalten, das das Vorverständnis
und seine jeweiligen Fortschritte im Forschungsprozess jeweils ausweist und auf das
Gegenstandsverständnis bzw. auf das in weiteren Phasen jeweils erweiterte
Gegenstandsverständnis bezieht. Fünftes schließlich wird Respekt für den Einzelfall und seine
63
idiographischen Konturen reklamiert. Zum sechsten gilt die Auflage, Verfahrensschritte und –
regeln weitmöglichst zu explizieren, um Transparenz über den Prozess des
Erkenntnisgewinns herzustellen.
Die klassischen Gütekriterien von Forschung wie Repräsentativität, Validität, Reliabilität,
Objektivität und Verallgemeinerbarkeit werden hier entweder fallen gelassen oder gänzlich
modifiziert (vgl. Flick 1987). Mit dem Einsatz qualitativer Methoden geht z.B. der Verzicht
auf quantitative Repräsentativität einher. Validität wird anders, nämlich über ökologische,
kommunikative, argumentative, kumulative und praxisorientierte Validierung herzustellen
versucht (vgl. etwa Lamnek 1995, 152ff.), Reliabilität wird als "Stimmigkeit" begriffen (vgl.
Bogumil/Immerfall 1985). Objektivität wird als Fiktion betrachtet und durch die Verknüpfung
der Gütekriterien des Bezugs auf die subjektiven Relevanzen der untersuchten Subjekte, der
Gegenstandsangemessenheit der Methode, der Anwendbarkeit der Forschungsresultate und in
erster Linie der Herstellung eines intersubjektiven Konsenses ersetzt.
Diesen Grundausrichtungen entsprechend werden Verfahren verfolgt, die die Beforschten und
ihre Deutungen direkt in die Evaluationsarbeit einbeziehen, also die Rollentrennung zwischen
ForscherInnen und Forschungsobjekten (tendenziell) aufheben. So interessiert man sich z.B.
in der Sozialarbeitsforschung auch für die Sinnzuweisungen und Bedeutungszuschreibungen
von "KlientInnen" und setzt mit Bezug auf Fachkräfte auf Monitoring-Verfahren. Sie dienen
freilich der Reflexion und in deren Folge der reflektierten Planung, Durchführung und
Auswertung der eigenen Tätigkeiten, nicht aber Absichten, die mit bilanzierend-summativen
Evaluationen verbunden sind.
Zwar werden noch oft qualitative und quantitative Ansätze gegeneinandergestellt, insgesamt
aber löst sich die Tendenz zu Absetzung und Konfrontierung immer mehr auf und wird eine
Verbindung quantitativer und qualitativer Methodik als aussichtsreich betrachtet.
Evaluation wird von den Evaluierten selbst bzw. von denjenigen, die für ein
Evaluationsobjekt (z.B. eine Organisation oder ein Programm) Verantwortung tragen, oftmals
als eine heikle Angelegenheit betrachtet. Sie wird dann als Kontrolle, Überprüfung, externe
Bewertung, ja z.T. sogar als eine Art Betriebsspionage wahrgenommen, die u.U. zu
Kompetenzabsprache, Versetzung, Degradierung oder gar Entlassung führen kann, in jedem
Fall aber droht, Handlungsspielräume und Autonomiegrenzen zu beschneiden. Die
amerikanische Evaluationsforschung – repräsentiert durch das "Joint Commitee on Standards
for Educational Evaluation" und die "American Evaluation Association" – hat nicht zuletzt
aus diesem Grund normativ gefasste Leitprinzipien und berufsethische Standards formuliert,
die Bedingungen für die Systematik, die Professionalität, die Aufrichtigkeit/Integrität von
Untersuchungen, die Verantwortung für das Gemeinwohl und die Einhaltung menschlichen
Respekts gegenüber Evaluationsbeteiligten (als "Prinzipien") sowie für die Nützlichkeit,
Durchführbarkeit, Korrektheit und Genauigkeit (als "Standards") von Evaluationsforschung
festlegen (vgl. JCS 1994; AEA 1995; deutsch: Sanders/Beywl 1999).
Während sozialwissenschaftliche Evaluation in den USA eine lange Tradition besitzt, soweit
ausgebaut ist, dass Diskussionen über ihre disziplinäre Eigenständigkeit geführt werden und
mehrere Berufsverbände für EvaluatorInnen existieren, kann ihr Entwicklungsstand in
Deutschland nur als dürftig bezeichnet werden.
Waren in den Vereinigten Staaten von Amerika bereits gegen Ende der zweiten Dekade des
20. Jahrhunderts – bezeichnenderweise im Bildungswesen – erste Evaluationsbemühungen
auf wissenschaftlicher Grundlage in Gang gekommen und verbreiteten sich diese Ansätze
dort in den 30er Jahren, so bezogen sie sich nach dem Kriege vor allem auf das Marketing
sowie die Wahl- und Medienforschung, dehnten sie sich aber in den 60er Jahren verstärkt auf
die Untersuchung sozial-politischer Reformprogramme aus und erlebten seit den 70er Jahren
64
– anfänglich eher aufgrund von Reformeuphorie, später mehr unter dem Druck von "zerobased-budgeting" (Freeman/Solomon 1984, 138) – einen regelrechten Boom und gelten als
die sozialwissenschaftliche Wachstumsbranche schlechthin, einerseits in Hinsicht auf die
Untersuchung von Sozialexperimenten, andererseits in Hinsicht auf modernes
Verwaltungsmonitoring (vgl. auch Rossi 1984; kurz: v. Spiegel 1993, 29ff.).
In Deutschland hingegen wurde sozialwissenschaftliche Evaluation bis zu den siebziger
Jahren kaum genutzt. Im Anschluss an Hellstern und Wollmann (1984) lassen sich bis Mitte
der achtziger Jahre, wo nach den Schätzungen der Autoren immerhin doch 15-20% der
gesamten
sozialwissenschaftlichen
Studien
Evaluationsprojekte
waren,
fünf
Entwicklungslinien festmachen, von denen vor allem die erste für die Bereiche pädagogischer
und sozialer Arbeit wichtig ist. Anfänge von Evaluation als Versuch systematischen Lernens
sind hierzulande danach in den späten sechziger und im Übergang in die siebziger Jahre zu
registrieren. Die sozialdemokratisch geprägte Reformpolitik wollte über wissenschaftliche
Begleitung modellhafte Erziehungs- und Bildungsprogramme auf ihre Qualität prüfen, um
wissenschaftlich basierte Entscheidungen über ihre verbreiterte Einführung treffen zu können.
Evaluation wurde primär als Instrument rationaler politischer Steuerung begriffen. Da indes
schon bis Mitte der 70er Jahre der verwertbare Ertrag der anfänglich noch stark positivistisch
angelegten, auf die Kontrolle von Versuchen zentrierten Forschung eher bescheiden ausfiel,
konnten sich Ansätze entwickeln, die einerseits versprachen, dem politischen Interesse an
rascher Implementation von unmittelbar anwendungsrelevanten Innovationen stärker genügen
zu können und die andererseits wissenschaftsintern von den Attraktivitätsgewinnen
handlungstheoretischer Traditionen profitieren konnten: Eine aktionsorientierte
Handlungsforschung trat mit der Intention auf den Plan, statt distanzierte Produktbewertung
anzustellen, praxisverpflichtet und engagiert für eine gelingende Implementation von
reformerischen Vorhaben einzutreten. Für den vormaligen Verdacht sozial-technologischer
Indienstnahme handelt(e) sich diese Richtung allerdings das Monitum ein, die grundsätzlich
unterschiedlichen Aufgaben und Rationalitäten von Wissenschaft und Praxis zu ignorieren
und damit die spezifische Qualität wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion preiszugeben.
Eine zweite zeitgleich verlaufende Entwicklungslinie konturiert Evaluation als eine Art von
Rückmeldeschleife für die Herstellung und Sicherung eines möglichst sachadäquaten
Regierungs- und Verwaltungsapparats. Im Vordergrund stehen hier also Interessen der (Re)Organisation regierungspolitischen bzw. staatlichen Handelns. Ab Mitte der 70er Jahre
rückte zum dritten vermehrt Evaluation als ein Mittel der nutzenorientierten Steuerung von
öffentlichen Finanzen und in diesem Zusammenhang der Kostenreduzierung in den Blick.
Seitdem seit den achtziger Jahren immer deutlicher wird, dass die Grenzen des Sozialstaates
nicht nur fiskalische sind, sondern die Normalisierung von Lebensführung mittels staatlich
gewährter Hilfen auch kulturell-normativ befragt und verschärft eine Aufblähung von
sozialen Hilfeeinrichtungen zu lebensweltfernen "Wohlstandskonzernen" kritisiert wird, wird
viertens Evaluation vermehrt auch mit Zwecken des Abbaus von "Bürokratismus" und
angeblicher Überregulierung belegt. Fünftes schließlich verbindet sich nach
Hellstern/Wollmann (1984) mit Evaluationsarbeiten die Erwartung, planerische
Fehlentscheidungen vermeiden und über regelmäßige Berichterstattung über die Bewährung
neu geschaffener gesetzlicher Grundlagen die Kontrollfunktionen politischer
Entscheidungsträger stärken zu können.
Im Verlaufe der 90er Jahre, verstärkt in ihrer zweiten Hälfte, gewinnt Evaluationspraxis in
den Bereichen von Erziehung und Bildung im Umfeld der Debatte um Qualitätsmanagement,
also um Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung (vgl. Heiner 1996 a, 20), an Bedeutung.
Insbesondere in der Kinder- und Jugendhilfe wird mit Nachdruck – z.B. durch die
"Qualitätsinitiative" der Bundesregierung – Leistungs-, Ziel- und Wirkungsorientierung auf
den Prüfstand gestellt (vgl. die Heftreihe "Qs", die seit Mitte der 90er Jahre vom BMFSFJ
65
herausgegeben wird sowie Heiner 1998). Diskussionen um Neuere Steuerungsmodelle, Total
Quality Management und die DIN ISO 9000 rufen zwar nicht unerhebliche
Widerstandsreaktionen auf den Plan und lösen wegen der Prägung solcher Modell durch
fachfremde Interessen an Verwaltungsvereinfachung und aufgrund der ökonomistischen
Ausrichtung privatwirtschaftlicher Entlehnungen (vgl. z.B. Pollit/Bouckaert 1995;
Engel/Flösser/Gensink 1996) Abwehrhaltungen aus (vgl. auch die Kritik der Kommunalen
Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung an DIN ISO–Normen in KGSt 6/1995, 45:
"Überbetonung des Qualitätsnachweises bei Vernachlässigung der Qualität selbst"), fordern
aber andererseits doch die Entwicklung fachlich adäquater Alternativen heraus. Dabei spielen
formative Ansprüche, qualitative Methoden und Selbstevaluation herausragende Rollen (vgl.
v. Spiegel 1993; Heiner 1996, 1998). Gleichwohl hat sich bis heute Evaluation längst noch
nicht als integraler Bestandteil der Konzeptentwicklung, geschweige denn der Praxis,
durchgesetzt.
Selbst wenn man registrieren kann, dass im Zuge des Anlaufens der Xenos- und CivitasProjekte der Stellenwert von Evaluation gerade auch für die in dieser Expertise speziell
fokussierten Arbeitsbereiche in allerjüngster Zeit enorm im Anwachsen begriffen ist, so ist
doch – soviel an dieser Stelle als Vorblick auf Kap. 3 – der Einschätzung von Wagner/van
Dick und Christ (2001) zuzustimmen, die besagt: "Evaluationsstudien zur Überprüfung der
Wirksamkeit von Maßnahmen gegen fremdenfeindliche/antisemitische Einstellungen und
Gewalthandlungen sind selten" (ebd., 324), ja "(s)elbst unter Rückgriff auf die internationale
Literatur ist die Zahl qualitativ hochwertiger Evaluationsstudien" sogar "sehr gering" (ebd.,
272). Hinzu kommt das Manko: "Viele Studien stammen aus den Vereinigten Staaten von
Amerika, ihre Übertragbarkeit auf deutsche Verhältnisse ist wegen der sehr unterschiedlichen
Verhältnisse und Lebensbedingungen von ethnischen Gruppen in beiden Ländern schwierig"
(ebd., 324).
2.6
Professionsimmanente Grenzen
Staatliche Reaktionen auf den Konnex von Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und
Gewalt lassen sich in Anlehnung an Husbands (2002) grob in drei Typen klassifizieren, die
jeweils auf spezifische Zielgruppen gerichtet sind:
1. Primär auf Kontrolle setzende Strategien vertrauen in erster Linie auf die Durchsetzung
legislativer und exekutiver Vorschriften und die Sanktionierung von Abweichungen
davon. Ggf. werden sie durch eine von VertreterInnen der legalen Politik geäußerte
Ächtung der Problemträger und das Gewährenlassen von oder Aufrufen zu öffentlichen
Gegendemonstrationen ergänzt. Sie zielen auf organisierte und nicht-organisierte
Straftäter, politische Parteien und sonstige Zusammenschlüsse der extremen Rechten, sind
also auf Symptomträger bezogen.
2. Reaktionen, die vorrangig Sozialpolitik in Anspruch nehmen, versuchen über ein makroökonomisches Management sowie über eine entsprechend orientierte regionale und
kommunale Politik Veränderungen zu bewirken. Sie intendieren eine Veränderung der
Verursachungskontexte der Symptome. Dementsprechend sind ihre Bemühungen auf
Wähler undemokratischer Parteien und Listen, Sympathisanten von solchen
Vereinigungen und Menschen ausgerichtet, die deren programmatische Inhalte teilen,
ohne deshalb unbedingt als Wähler oder Sympathisanten in Erscheinung zu treten.
66
3. Erziehung und Bildung in den Mittelpunkt stellende Antworten setzen Schwerpunkte auf
sozialarbeiterisch flankierte Aussteigerprogramme für Gewalttäter und Kader, auf soziale
Hilfen für rechtsextrem Orientierte, Fremdenfeinde und Gewaltakzeptierende, die sich
unterhalb der Schwelle organisierter Aktivisten befinden, auf die Herstellung einer
demokratischen (Gegen-)Öffentlichkeit und die Zerstörung der Reputation rechtsextremer
Organisationen in Teilen der Bevölkerung sowie auf breit angelegte inner- und
außerschulische Strategien, die ein von Multikulturalität und Gewaltfreiheit geprägtes
Zusammenleben stützen und so die Attraktivität rechtsextremer und gewaltorientierter
Angebote bei potenziell Ansprechbaren abzubauen versprechen.
Die Kategorisierung ruft in Erinnerung, dass die pädagogisch-sozialarbeiterische
Herangehensweise nur eine unter mehreren gesellschaftspolitisch bedeutsamen
Reaktionsformen ist. Sie bringt bestimmte Chancen mit sich, bleibt aber auch in ihrer
Reichweite begrenzt.
Der in den vergangenen 10-15 Jahren geführte Fachdiskurs über professionstypische Grenzen
von pädagogischen und sozialarbeiterischen Aktivitäten gegen die Gemengelage von Gewalt,
Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus lässt – so unterschiedlich einzelne Ansätze im
einzelnen auch ausfallen mögen – einen Konsens erkennen, der in Punkten zusammengefasst
werden kann, die Gefahren einer Fehlausrichtung oder Überschätzung markieren (vgl. Möller
1994, 1996):
1. Pädagogisierungsgefahr:
Pädagogik und Soziale Arbeit können und dürfen nicht als Ausfallbürgen für
Untätigkeiten oder Fehler der Politik herhalten. Rechtsextremismus und
Fremdenfeindlichkeit sind zuvörderst politisch und sozio-ökonomisch induzierte
Probleme, die nicht allein pädagogisch-sozialarbeiterisch zu lösen sind. Strukturelle
Defizite sind nur sehr begrenzt über Anstrengungen von pädagogischer und Sozialer
Arbeit zu beheben, selbst wenn sie infrastrukturelle Arbeit zu ihren Aufgaben zählen.
2. Delegitimationsgefahr :
Ebenso wenig wie im allgemeinen organisierte Rechtsextreme pädagogisch beeinflusst
werden können, sind kurzfristige Erfolge beim Abbau langfristig sozialisatorisch
erworbener Gewaltakzeptanzen und tiefsitzender Ideologien innerhalb ihres Unterstützerund Sympathisantenkreises erreichbar. Der Aufbau integrationsförderlicher 'innerer'
Haltungen bei Personen und Gruppen und 'äußerer' Lebenskonstellationen von 'Strukturen'
ist ein zeitaufwendiges Unterfangen, weil Sozialisation per definitionem prozesshaft als
stetig neu zu unternehmende wechselseitige Auseinandersetzung des aktiven Subjekts mit
seiner Umwelt verläuft. Im Wettbewerb um schrumpfende Finanzierungsmittel für
Jugend- bzw. Sozialarbeit und Erwachsenenbildung sollten potenzielle Träger von
Maßnahmen rasche und dabei andauernde Wirkungen nicht suggerieren, zumal dann,
wenn über die Form der Nachweise keine Klarheit hergestellt ist.
3. Gefahr der Stigmatisierung der jungen Generation:
Es ist zu beobachten, dass die öffentlichen und leider auch fachlichen Debatten um
Gewalt und Rechtsextremismus ganz überwiegend als Debatten um "Jugendgewalt" und
um das Thema "Jugend und Rechtsextremismus" geführt werden. Damit gerät die
Diskussion in eine gefährliche Schieflage. Zwar ist die Gewaltbelastung der jungen
Generation und ihr überproportionaler Anteil an der Zahl rechtsextremer Straftäter nicht
zu leugnen. Ein differenzierter Blick gibt jedoch leicht zu erkennen, dass es primär die
jungen Erwachsenen zwischen 18 und 24 Jahren sind, die rechtsextremen Parteien zu
67
Wahlerfolgen verhelfen und das Gros der rechtsextremen Straftäter stellen. Im Hinblick
auf nationalistische, antisemitische und fremdenfeindliche Einstellungen zeigt sich eine
vergleichsweise höhere Anfälligkeit älterer Menschen (vgl. Stöss 1999; Ahlheim/Heger
2000; Terwey 2000; Stolz 2000). Soziale Arbeit und Pädagogik "gegen rechts" erschöpfen
sich deshalb nicht in Jugendarbeit und Schulaktivitäten.
4. Marginalisierungsgefahr:
Nicht nur rechtsextrem auffällige Randgruppen Jugendlicher sind als Zielgruppen
pädagogischer und sozialarbeiterischer Aktivitäten zu betrachten. Sie stellen nur die
Spitze eines Eisbergs an Elementen von rechtsextremen und fremdenfeindlichen
Haltungen dar. Die breite Akzeptanz von Bestandteilen antidemokratischer Auffassungen,
insbesondere die Verbreitung von Ungleichheitsvorstellungen, bildet das Vorfeld und den
gesellschaftlichen Resonanzraum und somit einen wesentlichen Stabilisierungsfaktor.
Deshalb müssen auch die "Stinos" (die augenscheinlich "Stinknormalen") über die
allgemeine Jugendarbeit, die Schulen und zivilgesellschaftliche Initiativen erreicht
werden.
5. Reaktionismusgefahr:
Interventionistisches Reagieren auf akute Problemlagen ersetzt keine langfristig angelegte
Prävention. Die Bemühungen von Pädagogik und Sozialer Arbeit müssen dauerhaft in ein
Netz koordinierter Initiativen von Instanzen wie Familienerziehung, institutionelle
Kinderbetreuung, Nachbarschaftshilfe, Jugendschutz, Schule und Schulsozialarbeit,
Erwachsenenbildung,
Gemeinwesenarbeit
sowie
kommunalpolitische
und
zivilgesellschaftliche Initiativen eingebunden werden. Sie bedürfen darüber hinaus
politischer und ökonomischer Flankierung.
6. Depolitisierungsgefahr:
Die Probleme im Kontext von Rechtsextremismus, Minderheitendiskriminierung,
Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit eignen sich nicht dazu, als Unterpunkte unter die
allgemeine "Gewalt"-Debatte subsumiert zu werden. Sie drohen dadurch als
Sozialisations-Schwierigkeiten tendenziell normalisiert und ihrer politischen Konturen
entkleidet zu werden.
2.7
Fazit
Pädagogische und sozialarbeiterische Praxiskonzepte stehen im Kontext allgemeiner, d.h.
nicht unbedingt themen- und problemspezifischer, disziplinärer und professioneller
Denkmuster und Diskurse. Ihr Kennzeichen ist nicht das Fehlen von richtungsweisenden
Utopien, wohl aber ein Mangel an konkretisierbaren Visionen, aus denen sich strategische
und operative Zielsetzungen ableiten und in konkrete Handlungsschritte umsetzen ließen.
Allerdings zeichnen sich durchaus Bewegungen in den grundlegenden Paradigmen ab. Sie
geben Ersetzungen oder zumindest Erweiterungen traditioneller Orientierungen zu erkennen.
Registrierbar ist der Bedeutungsgewinn von Erfahrungslernen gegenüber Wissensvermittlung
und von Gestaltungsperspektiven gegenüber dem Hilfe-Ethos.
Entsprechend verschieben sich die Schwerpunkte der dominierenden Strategien. Während
Strategien der Informierung, Aufklärung, Bewusstmachung, argumentativer Überzeugung und
der Erzielung kognitiv-moralischer Reflexion ebenso wie die am Hilfe-Ethos ankoppelnde
Strategie der persönlichen Zuwendung auf dem Rückzug befindlich sind, verbuchen
Strategien der Vermittlung funktionaler Äquivalente für Problemverhalten, ganzheitliche
Settings und Qualifizierungsbestrebungen personaler und sozialer Kompetenzen
68
Attraktivitätszuwächse und werden zur Durchsetzung von Gestaltungsinteressen
infrastruktureller Arbeit, politischer Einmischung, Sozialraumorientierung, Milieubildung,
Netzwerkarbeit und Partizipationsförderung vermehrt Chancen zugesprochen. In der Folge
erhalten die disziplinär favorisierten Formen der Herstellung von Vermittlungs- und
Erfahrungskomplexen spezifische Prägungen. Im Achteck von Unterrichtung. Begegnung,
personenbezogener
Unterstützung,
Einzelansprache,
Training,
Recherche,
Produktorientierung und Strukturverbesserung gelten zunehmend vor allem solche Formate
als fortschrittlich, die lebensweltnah, sozialräumlich und ressourcenorientiert agieren,
ganzheitlich-integrierend
verschiedene
Persönlichkeitsfacetten
ansprechen,
Selbststeuerungspotenziale des Lernens ermöglichen und nutzen, gebrauchswertschaffend
wirken und strukturelle Umsteuerungen beinhalten. Nachhaltigkeit gilt als entscheidendes
Qualitätskriterium. Vernetztes Vorgehen erscheint daher als conditio sine qua non.
Das Verhältnis von Theorie und Praxis ist vielfach noch unklar. Dessen ungeachtet ist davon
auszugehen, dass es sich um Sphären handelt, in denen unterschiedliche Rationalitäten gelten.
Ein wesentlicher Unterschied liegt darin, dass Wissenschaft im Gegensatz zur Praxis keinem
Handlungs- und Entscheidungsdruck ausgesetzt ist. In dieser relativen Distanz zu
Praxisproblemen kann die Gefahr eines Rückzugs in den Elfenbeinturm wissenschaftlicher
Forschung erblickt werden. Sie versetzt aber auch in die Lage, Praxisprobleme aus einem
exmanenten Blickwinkel zu verfolgen und Deutungen produzieren zu können, die den
unmittelbar in der Praxis Gefangenen so nicht zugänglich sind. So betrachtet kommt
Wissenschaft die Funktion zu, den Interpretationshorizont von PraktikerInnen zu erweitern
und darüber hinaus die aufgrund ihrer Beobachtungstätigkeit entwickelten Methodiken in
adäquater Modifizierung für die Selbstbeobachtung der Praxis zur Verfügung zu stellen. Dies
impliziert andererseits, sich als scientific community auch durch jene Interpretamente und
(Selbst-)Re-flexionsformen bereichern zu lassen, die nur den unmittelbar in Praxis
involvierten zugänglich sind und sie als Anregungen aus der Kommunikationsgemeinschaft
der Praxis zu integrieren.
Der Stand der pädagogischen und sozialarbeiterischen Evaluationsforschung ist von den
verbreiteten Unsicherheiten im Verhältnis von Wissenschaft und Praxis gekennzeichnet. Das
weitflächige Fehlen von Evaluationsforschung und die riesigen weißen Flecken im Bestand
des Wissens über erzielte Leistungen, Zielerreichungen und Wirkungen sind auch als ihr
Ausfluss zu verstehen. Immerhin zeichnet sich verstärkt seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre
und noch deutlicher im Zuge der in Kap. 1 dargestellten politischen Programme ein
steigendes Interesse an Evaluation ab. Freilich fällt dieses wenig homogen aus. Bedarfe nach
formativ-optimierenden Unterstützungsleistungen stehen solche nach bilanzierendsummativen Klarstellungen entgegen.
Stellen sich schon aus dieser Sicht hoch bedeutsame Fragen nach den Graden und damit auch
den Grenzen der Beeinflussbarkeit von Menschen und Strukturen, so stößt die intendierte
(wie die nicht-intendierte) Veränderung, die das Lernen von Individuen und Organisationen
per definitionem mit sich bringt, auch auf professionsimmanente Grenzen. Sie werden nicht
nur durch Fehldeutungen von zu bearbeitenden Problemen, sondern auch durch interne und
externe Fehleinschätzungen der professionellen Funktion und der Reichweite der von ihr
erzielbaren Veränderungen, aber auch durch solche professionellen Selbstverständnisse
gezogen, die den infrastrukturellen und politischen Aspekt pädagogischer und Sozialer Arbeit
unterbelichten oder gar ganz ausblenden.
3.
Pädagogische und sozialarbeiterische Praxiskonzepte
Der Versuch einer Bestandsaufnahme von Praxiskonzepten wirft eine Reihe von Fragen auf.
Von ihnen sind vier besonders vordringlich: Zum ersten erhebt sich die Frage, wie – wenn
69
schon keine Vollerhebung möglich ist – eine Auswahl erfolgen kann, die zwar nicht den
Anspruch auf Repräsentativität im quantitativen Sinne erheben kann, aber doch die
Grundgesamtheit in ihrer Typik widerzuspiegeln vermag. Zum zweiten stellt sich das
Problem, wo die thematischen Grenzen gezogen werden sollen, mit denen
berücksichtigungswerte von zu vernachlässigenden Ansätzen getrennt werden. Zum dritten ist
die Schwierigkeit ihrer sinnvollen Kategorisierung zu lösen. Zum vierten ist zu bestimmen,
unter welchen Gesichtspunkten ihre Durchmusterung zu erfolgen hat.
Der erstgenannte Punkt ist aus der qualitativen Forschung wohlbekannt. Zumeist wird ihm
mit der Strategie des "theoretical sampling" begegnet (vgl. Glaser/Strauss 1967); d.h.: gezielt
werden solche Fälle ausgewählt, die unter theoretischen Gesichtspunkten von besonderem
Interesse sind und bspw. geeignet erscheinen, Theorien zu konterkarieren bzw. zu
modifizieren. In Bezug auf unser Vorhaben macht diese Strategie keinen Sinn. Wir gehen
eine Lösung stattdessen dadurch an, eine möglichst breit angelegte, wenn auch erheblich
zeitraubende Recherche bei z.B. Ministerien, Landesjugendämtern, Bildungseinrichtungen
etc. sowie im Internet, kontinuierliche Rückversicherungen über das sukzessive entstehende
Gesamtbild bei Kollegen und Kolleginnen aus Wissenschaft und Praxis sowie eine Such- und
nunmehr auch Präsentationsstrategie zugrunde zu legen, die konzeptionelle Elemente (z.B.
Inhalte, Evaluationsaspekte) gegenüber trägerorientierten Darstellungen oder länder- bzw.
regionenspezifischen Verteilungen priorisiert. Damit wird der Versuch gemacht, über schon
vorhandene, sammelsuriumsartige Zusammenstellungen hinauszukommen (wie z.B. BKA
2000, aber auch andere) und deutlicher inhaltliche Konturen und Bewährungsgrade von
Ansätzen erkennbar werden zu lassen. Aktualitätsbezug wird dabei gegenüber detaillierter
Nachzeichnung historischer Entwicklungen pädagogischer und sozialarbeiterischer
Traditionen Vorrang eingeräumt.
Das Problem der thematischen Grenzziehung ist im Hinblick auf den von uns fokussierten
Themenbereich von hoher Bedeutung. Fakt ist, dass sich in praxi keine klaren
Unterscheidungen zwischen etwa sogenannten Anti-Gewalt-, Anti-Rassismus- und AntiRechtsextremismus-Projekten treffen lassen (siehe auch Kap. 1). Der Umstand nur ungefährer
Gegenstandsbestimmung gebiert nicht selten die Schwierigkeit, Konzepte nicht wirklich
zielgenau auslegen zu können und deshalb beispielsweise im Zielkatalog Einstellungs- von
Verhaltensveränderung nicht scheiden zu können. Ähnlich ungenau bleibt dann, an welcher
Stelle und in welchem Stadium des Auf- oder Abbauprozesses von rechtsextremer,
fremdenfeindlicher und/oder gewalthaltiger Orientierung Konzepte zu intervenieren
beabsichtigen. Deshalb sind definitorische Abklärungen zentraler Begrifflichkeiten wie der
genannten und zusätzlich noch von Termini wie Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus,
Ethnozentrismus, Nationalismus, Rassismus, Xenophobie, Faschismus etc. und die
Bestimmung ihres Verhältnisses zueinander eigentlich unerlässlich (vgl. zu aktuellen
entsprechenden definitorischen Ansätzen z.B. Boehnke/Baier 2001 Herrmann 2001;
Neugebauer 2001; Möller 2001b). Schließlich hängt auch der Wert einer Evaluierung davon
ab, dass Programmziele exakt benannt und ihnen zugeordnete Erfolgsindikatoren festgelegt
werden. Auf der anderen Seite scheint eine gewisse Unschärfe auch Sinn zu machen, weil
Gewaltakzeptanz, auch in unspezifischer Form – diesbezüglich insbesondere bei jüngeren
Jugendlichen (vgl. Möller 2000a) – ein wesentlicher Bestandteil von Rechtsextremismus ist,
ihre Bearbeitung insofern auch als Beitrag zur Rechtsextremismus-Bekämpfung begriffen
werden kann. Ähnlich verhält es sich bei Konzepten, die sich darauf konzentrieren,
fremdenfeindlichen Einstellungen zu begegnen. Letztere bilden bekanntlich einerseits den
Kern der Ungleichheitsvorstellungen des modernisierten Rechtsextremismus, enthalten
andererseits aber auch mehr oder minder deutlich verschiedene Formen der Gewaltakzeptanz
(bspw. autoritär-nationalisierende Ausgrenzungsforderungen, die als systemisch-strukturelle
70
Gewalt deutbar sind), zumindest aber Vorformen von Gewaltakzeptanz mit fließenden
Übergängen zu eben dieser. Die Problematik thematischer Eingrenzung des
Untersuchungsgegenstands vergrößert sich noch, wenn der Blick zudem auf Konzepte
ausgedehnt wird, die sehr allgemein beanspruchen, interventiv oder präventiv Syndromen
sozialer Desintegration und Folgeproblemen verweigerter Anerkennung durch
Integrationsofferten und durch die Vermittlung von Chancen zu Anerkennungserwerb
begegnen zu wollen. In dieser Hinsicht beschränkt sich unsere Analyse und damit auch die in
diesem Kapitel erfolgende Darlegung auf solche Ansätze, die Integrations- und
Anerkennungsangebote vor dem Hintergrund der Problematik von Gewalt,
Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit platzieren.
Das Kategorisierungsproblem wird dadurch verringert, dass darauf verzichtet wird, eine von
der Selbstbezeichnung bzw. –einordnung der Konzepte grundsätzlich abweichende, ihnen
gegenüber äußerliche Typisierung stringent bspw. entlang paradigmatischer Anbindungen
und strategischer Zielsetzungen oder auch inhaltlicher, methodischer oder
handlungsfeldbezogener Kriterien vorzunehmen. Wir orientieren uns im weiteren an
Arbeitsfeld-, Konzept- und Methodenbezeichnungen, die disziplinär und professionstypisch
gängig sind und insofern konsensfähig sein dürften. Dabei muss in Kauf genommen werden,
dass die Abgrenzungen der Konzepte untereinander nicht immer gänzlich trennscharf
ausfallen und auch nicht jeweils auf der selben Ebene erfolgen. Verschiedene Ansätze setzen
verschiedene konzeptionelle Schwerpunkte; dies derart, dass sie dem jeweiligen Ansatz eine
spezifische Kontur verleihen. So beziehen sich unsere Kategorisierungen sowohl auf Ansätze,
die auf spezifische Inhalte fokussieren (z.B. historische Bildung, Streitschlichtung, soziales
Lernen), ihre Angebote auf bestimmte Zielgruppen ausrichten (Mitglieder der rechten Szene
in der Aufsuchenden Arbeit, Aussteigerprogramme, Opferberatung), ihr Selbstverständnis aus
der Zentrierung auf den Einsatz von i. w. S. bestimmten Methoden beziehen (Sport, Kultur,
elektronische Medien etc.) als auch auf solche, die ein bestimmtes Arbeitsfeld in den
Mittelpunkt rücken (z.B. schulumfassende Programme) oder nur ein spezifisches Format oder
Design (Wettbewerbe, Trainings, Unterrichtseinheiten etc.) als Ankerpunkt wählen. Dieser
Umstand kann indes nur aus einer überspitzten akademischen Perspektive heraus bemängelt
werden, bildet er doch die Praxis viel adäquater ab, als ein exmanent erstelltes begriffliches
'Schubkastensystem' dies könnte. Denn zum einen greift der pädagogische Praktiker/die
Praktikerin faktisch nicht (immer) aufgrund analytischer Vorüberlegungen, bewusster
paradigmatischer Orientierungen oder langfristiger strategischer Planungen zu dem einen oder
anderen Konzept. Er/sie lässt sich vielmehr oft von pragmatischen Motiven wie
Fördervorgaben, arbeitsfeldspezifischen Bedingungen, zeitlichen, finanziellen und räumlichen
Ressourcen, Vorkenntnissen, eigenen Kompetenzen und eigenem methodischen Zutrauen
oder äußeren Anlässen leiten. Zum anderen sind Überschneidungen von Ansätzen von jeher
Gang und Gäbe und werden konzept- und arbeitsfeldübergreifende Kooperationen,
Methodenmischungen und Vernetzungen zum Aufbau eines möglichst breitbandigen,
einzelne Elemente verzahnenden Ansetzens geradezu gesucht. Das Ordnungsprinzip wird
auch durch bislang schon vorhandene Kategorisierungsversuche von Maßnahmen bzw.
Konzepten des pädagogischen und sozialarbeiterischen Umgangs mit Rechtsextremismus,
Fremdenfeindlichkeit und Gewalt gestützt. So gehen Möller (1996), Schubarth (2001; stark
angelehnt an die allerdings inzwischen veraltete Zuordnung von Möller 1996), Beutel u.a.
(2001, vgl. v. a. 8f.) und auch die KollegInnen des DJI Leipzig bei der Erstellung der
Datenbank MaReG (s.o.) ähnlich vor, auch wenn die MaReG-Klassifizierungen selbst aus
unserer Sicht nicht ganz zureichend sind; dies u.a. deshalb, weil die dort benutzten Begriffe
"Art der Maßnahme" bzw. "Methodischer Ansatz" entweder zu unspezifisch sind ("Art" in
welcher Hinsicht?) oder sie Konzepte bzw. "Ansätze" wie Erlebnispädagogik oder
geschlechtsreflektierende Arbeit als bloße "Methoden" erscheinen lassen und zudem bei ihnen
71
– wahrscheinlich wohl auch der Beschränkung auf Maßnahmen von Teil 2 des Programms
"Jugend für Toleranz und Demokartie" geschuldet – der für die Arbeit mit rechtsextrem
orientiertem Klientel so wichtige Bereich der aufsuchenden Arbeit gar nicht vorkommt.
Die Gesichtspunkte der Analyse sind am besten nach den Bestandteilen auszurichten, denen
pädagogische und sozialarbeiterische Konzepte zugewiesen werden. Pädagogische und
sozialarbeiterische Konzepte können in Anlehnung an Geissler/Hege (1978) als der sinnhafte
Zusammenhänge von Zielen, Inhalten, Methoden und ggf. noch Verfahren und Techniken
begriffen werden. Als weitere wichtige Faktoren kommen die Analyse der
Ausgangsbedingungen, die Rahmenbedingungen sowie die Zielgruppen- bzw.
Adressatenorientierung hinzu. Von Interesse sind in unserem Zusammenhang zusätzlich
äußere Aspekte wie die Maßnahmendesigns, die Trägerschaften, die Kooperationskontexte
und die Handlungsfelder, in denen agiert wird. Einem zeitgemäßen Verständnis von
Konzeptionsentwicklung entsprechend muss darüber hinaus der Evaluation von Konzepten
besondere Beachtung geschenkt werden.
Die folgende Erörterung durchforstet deshalb die aufgeführten Konzepte jeweils unter diesen
Aspekten. Ihre schlichte Deskription wird dabei ergänzt durch eine kritische Reflexion ihrer
Problemadäquanz und ihres Evaluationsgrades. Die Sichtung orientiert sich diesbezüglich vor
allem an drei forschungsbezogenen Aspekten:
Zum ersten wird untersucht, ob und ggf. inwieweit das jeweilige Konzept auf
wissenschaftlich-theoretische Erkenntnisse über die Ursachen der bearbeiteten Problematik
sowie über Distanz(ierungs)faktoren explizit oder implizit Bezug nimmt und/oder ob es
pädagogische Theorien verarbeitet bzw. sich an sie anschlussfähig zeigt.
Zum zweiten wird geprüft, ob und ggf. inwieweit wissenschaftlich produzierte empirische
Erkenntnisse wahrgenommen und zur Grundlage gemacht werden.
Zum dritten wird eruiert, ob und inwieweit Evaluationswissen berücksichtigt wird, sei es, dass
die Resultate oder Methoden von Evaluationen anderer Konzepte in irgendeiner Weise – etwa
modifiziert – in die jeweilige Konzeptentwicklung eingehen, sei es dass eigene
Evaluationsanstrengungen unternommen werden oder gar bereits entsprechende (Zwischen)Ergebnisse vorgelegt werden können.
3.1
Vorherrschende Konzepte und ihr Bezug auf vorliegende Forschungsergebnisse
Vor dem im Voranstehenden gezeichneten Hintergrund lassen sich – ohne
Fortbildungskonzepte, die wir, dem Rahmen dieser Arbeit geschuldet, außer Betrachtung
lassen – insgesamt 17 Praxiskonzepte ausmachen, die die gegenwärtigen pädagogischen und
sozialarbeiterischen Anstrengungen in dem hier fokussierten Problembereich charakterisieren
(vgl. auch zu z.T. schön älteren Ansätzen zu entsprechenden Überblicken: Herdegen 1992;
Lukas u.a. 1993; Außerschulische Bildung 2/1993; Vahsen u. Mitarb. 1994; Möller 1996;
Möller/Schiele 1996; Schubarth 2001; Metzger 2001). Es handelt sich um
 historische Bildung (1),
 Unterrichts-, Seminar- und Trainingseinheiten zur Demokratie- und Toleranzerziehung
(2),
 Konzepte der Schulung personaler Kompetenzen und des allgemeinem sozialen Lernens
(3),
 Mediation und Streitschlichtung (4),
 schulumfassende Programme (5),
 Maßnahmen zur Deeskalation und Entwicklung von Zivilcourage (6),
 aufsuchende Arbeit in recht(sextrem)en Szenen und Cliquen (7),
72

körper- und bewegungsorientierte Konzepte von Erlebnis-, Abenteuer- und
Sportpädagogik (8),
 kultur- und medienpädagogische Konzepte (9),
 geschlechtsreflektierende Ansätze (10),
 gewalttherapeutische Ansätze (11),
 Partizipationsförderung (12),
 Kampagnen, Wettbewerbe und Aktionen (13),
 Anstrengungen zur Vernetzung und Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen (14),
 Aussteigerprogramme (15),
 Opferberatung (16) sowie
 Soziale Arbeit mit MigrantInnen, interkulturelle Ansätze und Antidiskriminierungsarbeit
(17).5
Im folgenden werden sie unter den oben beschriebenen Aspekten dargelegt und diskutiert.6
3.1.1 Historische Bildung
Das Konzept "Historische Bildung" bildet einen Kategorisierungstypus, dessen
Gravitationszentrum inhaltsbezogen definiert ist. Es handelt sich mithin um eine Form
pädagogischer Arbeit, die dem Lerngegenstand herausgehobene Bedeutung zollt und durch
ihn seinen Prägestempel aufgedrückt bekommt. Dementsprechend wurzelt es ursprünglich im
Paradigma der Wissensvermittlung und verfolgt informatorische und aufklärerische
Strategien, in denen Bewusstmachung und historisch-moralische Reflexion von
hervorragender Bedeutung sind. Freilich versucht es schon seit längerem, in jüngerer Zeit
aber verstärkt, auch Erfahrungslernen Geltung zu verschaffen und ganzheitliche Settings für
seine Zwecke zu nutzen. Das für die dem Wissensvermittlungsparadigma verhaftete, 'alte'
historische Bildung charakteristische Format der Unterrichtung wird damit zunehmend von
dem der Begegnung (mit Zeitzeugen z.B.), der Recherche (Spurensuche-Projekte,
Geschichtswerkstätten z.B.) und teilweise auch der Produktion (z.B. Beteiligung an der
Erhaltung von Gedenkstätten) verdrängt.
In Bezug auf die Bearbeitung von Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Rechtsextremismus
und die im Kontext dieses Komplexes verortete politisch motivierte oder zumindest so
getönte Gewalt dominieren zwei inhaltliche Differenzierungen:
 die historische Aufklärung über den europäischen Faschismus, insbesondere aber den
Nationalsozialismus in Deutschland und die von ihm ausgegangenen Gräuel zum einen
und
 die Rekonstruktion moderner Migrationsschübe, vor allem die der sog.
'Gastarbeiter'zuwanderung und des Asylbewerber'zustroms' nach Deutschland zum
anderen.
5
Wir diskutieren hier zum einen nur solche Konzepte ausführlicher, die gegenwärtig aktuell und gängig
sind. Deshalb werden bspw. Arbeits- und Wohnprojekte, wie sie im Nachgang der 'Wende' der Ostberliner
Sozialdiakon Heinisch mit Ausstiegswilligen betrieb, nicht berücksichtigt (vgl. dazu aber Heinisch/Thiel 1996).
Zum anderen bleibt die Erörterung auf Konzepte und konkrete Handlungsansätze beschränkt, die spezifisch auf
eine Reduktion von Gewaltsamkeit und minoritätenfeindlichen bzw. rechtsextremen Orientierungen zielen.
Deshalb wird auch nicht gesondert auf allgemeine Entwicklungen wie z.B. den Ausbau von ganzen
Arbeitsfeldern wie Schulsozialarbeit, der neben anderen Erwartungen auch die Hoffnung auf gewalt- und
extremismusreduzierende Effekte entgegengebracht wird, eingegangen.
6
Die Reihung der Konzepte gibt keine Verbreitungsgrade, Wertigkeiten oder historisch-chronologischen
Abfolgen wieder.
73
Zu den am stärksten dem etablierten nachkriegsdeutschen Antifaschismus verhafteten
Konzepten sind jene Maßnahmen zu zählen, die nach wie vor die pädagogische
Auseinandersetzung mit dem historischen Faschismus, insbesondere mit dem
Nationalsozialismus in Deutschland, ins Zentrum rücken. Das zentrale Argument heißt hier
im Zusammenhang mit der Bekämpfung aktueller Phänomene: Im Rechtsextremismus
unserer Tage wirkt die 'Last der Vergangenheit' nach. Wenn aber politisch-kulturelle
Traditionsbezüge und organisatorische wie personelle Kontinuitäten über Generationen
hinweg ihren Einfluss entfalten, müssen genau sie von vornherein verunmöglicht oder
abgebaut werden, um "dem Faschismus das Wasser ab(zu)graben" (Hafeneger u.a. 1981).
Dabei geht es pädagogisch nicht (mehr) nur darum, verdrängte Fakten der deutschen
Geschichte ans Licht zu zerren und in das Bewusstsein zu heben, ein lückenhaftes
Geschichtsbild mit Informationen und neuen Wissensbeständen aufzufüllen,
Verbindungslinien bis in die Gegenwart offen zu legen und/oder Reflektionen anzuregen, die
in politisch-moralische Empörung gegenüber der NS-Politik und ihren Akteuren münden
können. Deutlicher als früher wird in jüngerer Zeit auch die Frage gestellt: Wie hätte ich mich
damals verhalten? Mit anderen Worten: Zivilcourage wird zum Thema gemacht (vgl. z.B.
Steil/Panke 2001; auch: Zwaka 2002).
Sind damit die grundlegenden Ziele beschrieben, so sind die Zielgruppen zumeist
jugendlichen Alters. Mehrheitlich handelt es sich um Schulklassen, die im Rahmen des
Unterrichts – lt. Lehrplänen häufig im 8ten und 9ten Schuljahr – mit der Problematik
konfrontiert werden. Ansätze im außerschulischen Bereich nehmen sich demgegenüber
zahlenmäßig eher bescheiden aus. Dies hängt wohl damit zusammen, dass Motivation zur
Teilnahme an politischer Bildung sich, zumal bei jungen Leuten, nur wenig über das Interesse
an Inhalten aufbaut. Sozial benachteiligte, unmittelbar rechtsextrem Gefährdete oder gar
rechtsextreme Jugendliche zählen nur in Ausnahmefällen zu den Adressaten (vgl. dazu Behn
u.a. 1995; Richter/Wagner 1996; Nickolai 1996a, b; ver.di publik 01/2002).
Die Inhalte konzentrieren sich auf die Vernichtungspolitik der 'Nazis'. Andere Bereiche der
nationalsozialistischen Politik, der Alltag im Nationalsozialismus oder die jüdischen
Kulturtraditionen werden noch wenig aufgearbeitet, auch wenn das Interesse an und die
Zuwendungen zu solchen Themen steigen. Nachdem im Westen Deutschlands die
nationalsozialistische Vernichtungspolitik vor allem auf den an den Juden begangenen
Genozid fokussierte und zu DDR-Zeiten der Nationalsozialismus vor allem als Versuch der
Ausmerzung seiner politischen Gegner, insbesondere der Kommunisten thematisiert wurde
(vgl. Heinemann/Schubarth 1992), wird der pädagogische Blick heute zusätzlich auch
zunehmend anderen verfolgten gesellschaftlichen Gruppierungen (Sinti und Roma,
Homosexuellen, Behinderten u.a.m.) zugewandt.
Soweit sich historische Bildung methodisch nicht auf kognitivistisch verkürzte politische
Informierung, distanziert-seminaristische Aufarbeitungen und politisch-moralische Belehrung
beschränkt (vgl. Tiedemann 1996), baut sie auf das Wecken emotionaler Betroffenheit und
eigenes aktives Handeln der TeilnehmerInnen. Solche Ansätze finden sich am ehesten im
außerschulischen Bereich in der Trägerschaft von Einrichtungen der politischen Bildung,
wenig im schulischen Unterrichtsalltag (wo sie jedoch auch rasch an die strukturellen
Grenzen des Unterrichtungsformats stoßen; vgl. Meseth/Proske 2002), dort i.d.R. allenfalls
bei schulischen Sonderprojekten (Gedenkstättenbesuche, die schulische Richtlinien schon z.T.
seit Ende der 70er Jahre empfehlen), bei denen dann vielfach auch mit außerschulischen
Einrichtungen und Initiativen kooperiert wird (vgl. etwa Kandzora 1995 und die Beispiele
von "best practice" in Beutel u.a. 2001, 35-43 außerdem als guten Überblick www.lernen-ausder-geschichte.de; Brinkmann 2000; einen umfassenden Überblick über die deutschen
Gedenkstätten bieten die beiden Bände Puvogel/Stankowski 1995 und Endlich u.a. 1999):
74
 Über Besuche ehemaliger Konzentrationslager und praktische Gedenkstättenarbeit (vgl.
Ehmann u.a. 1995), z.B. im Design von teils mit internationaler Teilnehmerschaft
besetzten Workcamps (vgl. auch Wittmeier 1997), soll eine politisch-historische
Aufklärung erfolgen, existentielle Betroffenheit von nationalsozialistischen Gräueln
erzeugt, ein Gefühl und die Praxis der historischen Verantwortung wachgehalten und die
Reflexion aktueller politischer Entwicklung auf historischem Hintergrund initiiert werden
(vgl. Maier 1998). Einige Ansätze gehen in konkrete Arbeit über wie z.B. die Initiative von
Gruppen der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau, Apotheken in den
Herkunftsstädten ehemaliger Zwangsarbeiter (Minsk, Witebsk, Brest) einzurichten (vgl.
auch die Aktivitäten von "Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V." z.B. www.gegenvergessen.de oder Gegen Vergessen Nr. 30/2001)
 In Projekten der "Spurensuche" arbeiten (Jugend-)Gruppen werkstattähnlich die konkrete
lokale oder regionale NS-(Alltags-)Geschichte mittels eigener Nachforschungen auf. Oralhistory-Interviews mit Zeitzeugen, die Sichtung von Archiven, Fotos und Akten u.ä.m.
setzen eine ganzheitliche Aktionsorientierung dem abstrakten Stofflernen und –diskutieren
im Rahmen der klassischen politischen Bildung entgegen (vgl. z.B. Landesjugendring
Niedersachsen 1997; Heidötting-Shah/Kather 2002; auch www.spurensucheonline.de/projekte und die Projekte der Hauptpreisträger des Victor-Klemperer-Preises
2001).
 Lesungen, Theateraufführungen mit historischen Bezügen und Ausstellungen, die
professionell gemacht sind oder auch im Sinne einer produktorientierten Formatierung des
pädagogischen Angebots aus "Spurensuche"-Projekten resultieren können, präsentieren
Geschichte in anschaulicher Form. Sie suchen nicht allein abstrakt zu informieren, sondern
auch – wie die gegenwärtig durch Deutschland und Österreich tourende WehrmachtsAusstellung – die Verantwortung für das Gestern bei nachwachsenden Generationen wach
zu halten.
Als besonders innovative "good practice" präsentiert sich die deutschsprachige Version der
internationalen Wanderausstellung des Anne Frank Hauses, Amsterdam "Anne Frank –
eine Geschichte für heute". Das vom Berliner Anne Frank Zentrum für Deutschland
betreute Projekt hat das Ziel, über die persönliche Geschichte Anne Franks Interesse an der
NS-Zeit zu wecken, aber auch – weitgesteckter – "über Parallelitäten zwischen Gestern
und Heute nachzudenken" und "für eine gerechtere Gesellschaft aktiv zu werden" (so der
Prospekt der Ausstellung). Im Rahmen einer Dialog-Didaktik wird Wert auf das Gespräch
zwischen BesucherInnen und Begleitpersonen gelegt. Das Prinzip "Jugendliche für
Jugendliche" sieht dabei auch vor, dass durch ein begleitendes Seminarprogramm speziell
vorbereitete Jugendliche als AusstellungsführerInnen auftreten können (vgl. insgesamt
auch www.annefrank.de; ähnlich auch die Begleitangebote im Nürnberger
Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände; vgl. Prölß-Kammerer 2002).
 Eine nicht mehr überschaubare Vielzahl an elektronischen und Print-Publikationen,
ebenfalls als Produkte von Rechercheprojekten denkbar, meist aber professionell
hergestellt, vertieft historisches Wissen (so auch bspw. als Begleitmaterial zum Anne
Frank Ausstellungsprojekt; vgl. die CD-ROM "Anne Frank Haus – ein Haus mit einer
Geschichte"). Die Produkte mögen als Ergebnis eines handlungsorientierten Projekts eine
weitere Beschäftigung mit historischen Themen anregen. Als Internet-Angebote verstehen
sie sich auch als Konterpart zu Adressen, die Jugendliche auf nationalsozialistische bzw.
anderweitig fremdenfeindliche, rassistische und/oder gewaltverherrlichende websites
sowie zu mit historischen Reminiszenzen operierenden Computerspielen locken wollen
(vgl. z.B. die CD-ROM "Dunkle Schatten" des BMI oder das bannerformatierte
"ploppattack" auf der Seite von "blick nach rechts"; www.bnr.de)
 In einigen Städten werden alternative Stadtrundfahrten – in Hamburg, wo eine
entsprechende Aktivität schon seit fast 25 Jahren vom Landesjugendring ausgeht und
75
mittlerweile etwa 100.000 TeilnehmerInnen gefunden hat bspw. auch als Hafenrundfahrten
– angeboten, die mit Stätten der nationalsozialistischen Herrschaft bekannt machen und
insbesondere Verfolgung und Widerstand thematisieren. Auch hier besteht nicht zuletzt die
Absicht "auch präventiv zu wirken" (so als Bespiel für viele: Arlt o.J., 9; weitere Infos: [email protected]).
 Die "Projektwerkstatt Erinnerungskultur" wagt sich – anscheinend bei großer Resonanz
unter SchülerInnen – experimentell daran, Humorpädagogik gegen rechte Ideologien
einzusetzen, um "emotionale Zugänge gerade auch zu diesem Thema" zu nutzen. Es geht
darum, "die Ideologie der Nazis zu entblättern, ohne den Nationalsozialismus zu
verniedlichen" und damit den Rat des britischen Historikers Ian Kershaw zu verfolgen, die
Deutschen sollten mehr über Hitler lachen, denn: "Wer wird sich einer Ideologie
verschreiben, über die gelacht wird" (Neue Westfälische 01./02.11.2001).
Kritiker am geschichtsorientierten Ansatz monieren die von ihm unterstellte Bruchlosigkeit
faschistischer Überlieferung und die Tauglichkeit historischer Analogieschlüsse. Sie
diagnostizieren stattdessen eher Modernisierungen rechtsextremen Denkens und Handelns,
z.B. in Richtung auf Ethnopluralismus, die Konstruktion neuer Gegnerschaften (Migranten),
das Verlegen auf systemisch-strukturelle Gewalt, die Ablösung von Eroberungs- durch
Verteidigungs-Mentalitäten, neue Organisationsformen u.ä.m. (vgl. Möller 1989, 1993).
Zudem bemängeln sie die kognitivistischen Verengungen, unter denen vor allem der
schulische Geschichtsunterricht immer noch leidet und bezweifeln, dass unter diesen
Bedingungen nachhaltige und verhaltenswirksame Haltungen entstehen können. Ferner
erscheint manchen von ihnen fraglich, ob rechts(extrem) Orientierte nach verschultem
Unterricht oder auch schulisch mehr oder weniger 'erzwungenen' Gedenkstättenbesuchen im
Klassenverband nicht eher kontraproduktive Wirkungen an den Tag legen und geschichtliches
Wissen überhaupt, gleich über welche Periode, vor aktuellen politischen Fehlern zu schützen
vermag.
Was also ist vom historischen Ansatz des NS-Aufklärung, was von den Bedenken seiner
Kritiker zu halten? Prüfen wir, wo theoretische Anbindungen gegeben sind, empirische
Erkenntnisse Klärungen herbeiführen können und Evaluationsergebnisse vorliegen:
Soweit jenseits von alltagstheoretischen Hypothesen über Kontinuitätsbezüge von
Minderheitenfeindlichkeiten heute einerseits und faschistischer Ideologie in ihren historischen
Ausformungen und machtpolitischen Niederschlägen andererseits wissenschaftlichtheoretische Anknüpfungen vorgenommen werden, nehmen sie – wenigstens punktuell – auf
die klassische Autoritarismusforschung bzw. ihre Nachfolgelinien Bezug (vgl. vor allem
Adorno 1968, 1969, 1973).
Danach sind autoritäre, ethnozentrische, antisemitische und faschistische Orientierungen eines
Individuums in individuellen "Charakterstrukturen" verankert, die sich als "autoritäres
Syndrom" begreifen lassen und die eine Disposition – nicht die Zwangsläufigkeit – zur
Ausprägung entsprechender Haltungen in sich tragen (vgl. näher ebd., 45f). Die
Herausbildung dieses Charakters wird auf frühkindliche Sozialisationserfahrungen
zurückgeführt. Im Mittelpunkt steht das Misslingen einer stabilen Über-Ich- bzw.
Gewissensbildung: Die Aggressivität des Kindes gegenüber dem Vater wird nicht in einem
stabilen und zugleich flexiblen Über-Ich aufgehoben. Es bildet sich keine autonome
moralische Instanz heraus, so dass die Person zu einem externalisierten Über-Ich Zuflucht
nimmt, das klare Orientierung über eine rigide Schwarz-weiß-Moral zu versprechen scheint.
Je stärker gesellschaftliche Auffassungen und Autoritäten, die als Mehrheitsmeinungen bzw.
legitime Meinungsführer dechiffriert werden, z.B. autoritäre Aggression zu betonen scheinen,
um so entgrenzter kann die Feindseligkeit gegenüber ihren Zielgruppen ausfallen, wird von
der autoritären Persönlichkeit doch eine hohe Konformitätsverpflichtung ihnen gegenüber
76
empfunden. Psychologistischer Verengung vorbeugend, aber dennoch nicht die Zentrierung
auf individuelle Merkmale aufgebend, wird in soziologischer, kapitalismuskritischer
Perspektive, vor allem in der mit Horkheimer veröffentlichten und zeitlich parallel
entstandenen "Dialektik der Aufklärung" als sozio-ökonomischer Hintergrund autoritärer
"Anfälligkeiten" eine "kollektive Ich-Schwäche" diagnostiziert, die im Zeitalter der "großen
Konzerne" über eine Ersetzung des Gewissens durch "Verbände" und das "Schema der
Massenkultur", durch "Gremien und Stars" (vgl. Clemenz 1998, 142) zustande kommt.
Die Kritik an dem Ansatz (vgl. im Überblick, aber genauer: Möller 2000a sowie
Boehnke/Baier 2001, 56-63) bringt in Anschlag,
 dass eher eine dogmatische Geisteshaltung als charakterliche Strukturen für die
Übernahme ethnozentrischer und rechtsextremer Einstellungen verantwortlich zu sein
scheinen (vgl. Rokeach 1960),
 dass situative Faktoren, etwa Regierungsverhalten und ökonomische Krisen einen großen
Einfluss haben können (vgl. Wacker 1979; Oesterreich 1993, 1996, 1997, 1998;
Ottomeyer 1997) und
 dass die Langzeitwirkung frühkindlicher Erfahrungen, die das Autoritarismuskonzept
unterstellt, eher unwahrscheinlich ist. Nach Altemeyers schon etwas ältern empirischen
Befunden (vgl. 1988) besteht allenfalls ein sehr schwacher Zusammenhang zwischen
elterlichen Erziehungsstilen und rechtsextremen Einstellungen. Neuere Studien aus
psychoanalytischer Sicht nehmen (vgl. z.B. Streek-Fischer 1992; König 1998) stärker die
Sozialisationsfolgen lebensbiographisch weniger weit zurückliegender Phasen
jugendlicher Rechtsextremer in den Blick. Hingewiesen wird dann auf die Auswirkungen
des Versagens weiterer Erziehungspersonen und auf Prozesse schulischen Scheiterns als
"punktuellen Beschädigungen der Subjektivität" (König 1998, 202). Angenommen wird,
dass die Gleichaltrigengruppe unter Aufgabe des Entwicklungsinteresses an
"Eigenständigkeit" "Elternersatzfunktionen" (Streek-Fischer 1992, 756) übernimmt und
nun familiale Konflikte auf der Straße reinszeniert und schulische Ohnmachterfahrungen
durch Stärke- und Machtdemonstrationen kompensiert werden sollen.
 Einige Autoren machen darauf aufmerksam, dass im Zuge eines sich abzeichnenden
"Wertewandels" und sich liberalisierender Erziehungspraktiken die Familienstrukturen
sich innerhalb der letzten Jahre erheblich gewandelt haben und der klassische bürgerliche
Sozialcharakter als Modell erodiert (vgl. z.B. Paul 1979; Dubiel 1988). Das Muster der
autoritären Unterwerfung und der Verpflichtung auf konventionelle Konformitätszwänge
scheint auf dem Rückzug zu sein, das Muster autoritärer Aggression demgegenüber an
Rang zu gewinnen (vgl. z.B. auch Hopf u.a. 1995; Rieker 1997).
So wie die empirische Validierung der psycho-analytisch inspirierten Theoreme höchst
defizitär ist (vgl. Boehnke/Baier 2001), so ist auf der Basis empirischer Vermessungen der
gegenwärtigen Rechtsextremismus- und Minderheitenfeindlichkeits-Problematik zweifelhaft,
ob die bei ihren personalen Auslösern zu Grunde liegenden Einstellungen und
Verhaltensweisen tatsächlich im wesentlichen Ideologien beinhalten, die faschistischem bzw.
nationalsozialistischem Gedankengut entspringen.
Zwar sind nationalsozialistische Anleihen im gedanklichen, verbalen und symbolischen
Repertoire wie im Auftreten rechtsextremer Parteien, Organisationen und "Kameradschaften",
verschärft innerhalb des neo-nationalsozialistischen Sektors des von ihnen gebildeten
Spektrums, unübersehbar, jedoch stellen diese Vereinigungen nur die Spitze eines Eisbergs an
antidemokratischen Gefährdungen von rechts dar. Dies gilt selbst dann, wenn man neben
ihren Mitgliedern auch noch ihre Wähler berücksichtigt (vgl. SINUS 1981; Stöss 1993;
Niedermayer/Stöss 1998; Stöss 2000). Hinzu kommt, dass die modernisierte Neue Rechte,
77
trotz aller geschichtsrevisionistischen Einsprengsel, z.T. ausdrücklich das "Heil ohne Hitler"
sucht.
Noch deutlicher indes wird die Absetzung vom Verdacht, nationalsozialistische Ideen
verfolgen zu wollen, dort unternommen, wo rechtsextreme und fremdenfeindliche Haltungen
im Umfang am deutlichsten zum Ausdruck gelangen: in der unorganisierten Szene und ihrem
Sympathisantenumfeld, in dem bekanntlich gerade Jugendliche und junge Erwachsene stark
vertreten sind. Dabei muss – abgesehen davon, dass einer derartige Strategie dem
lebenslagen- und bedürfnisorientierten Ansatz moderner (Sozial)pädagogik diametral
entgegensteht – im allgemeinen nicht unterstellt werden, dass es sich hierbei um einen
geschickten Schachzug handelt, der die eigentlichen Motive und Absichten nur verstellen soll.
Denn die Empirie von Rechtsextremismus und Minderheitenfeindlichkeit in heutiger Gestalt
zeigt u.a. deutlich:
 Antisemitische Einstellungen sind zwar nicht restlos verschwunden, jedoch haben sie sich
im Vergleich der Generationen bei den Jüngeren deutlich reduziert. Sie dominieren nicht
mehr in Legitimationszusammenhängen von Ausgrenzungspostulaten gegenüber
Minoritäten. Zudem haben sie sich qualitativ verändert: Weitaus weniger wird
Antisemitismus heute von rassistischen und religiös motivierten Ressentiments bestimmt.
Sie sind zugunsten eines "sekundären Antisemitismus" in den Hintergrund getreten, der
sich aus der kritischen Sicht auf einen angeblich zu stark selbstbezichtigenden und
dadurch unnötig Kosten verursachenden Umgang mit der nationalsozialistischen
Vergangenheit Deutschlands ergibt (vgl. Bergmann 2001). Auch die Straftatenstatistik
macht unmissverständlich klar, dass der kriminelle und gewaltsame Rechtsextremismus
meist nicht antisemitisch, sondern zu mindestens zwei Dritteln fremdenfeindlich motiviert
ist (vgl. Verfassungsschutzberichte 1991 ff.).
 Eine Bewunderung nationalsozialistischer Führungspersönlichkeiten ist nur bei kleinen
Minderheiten vorhanden.
 Der Auffassung, der Nationalsozialismus sei im Grunde eine gute Idee gewesen, die nur
schlecht ausgeführt worden sei, wurde nie weniger zugestimmt als heute (vgl. von Borries
2002).
 Fremdenfeindlichkeit heute hat sicherlich brutale und menschenverachtende
Dimensionen, sie begrenzt sich dennoch weit überwiegend darauf, eine rigorose
Zuwanderungsbegrenzung und ggf. die radikale Ausweisung von Ausländern zu fordern
(vgl. Bergmann 2001).
Hier liegen bemerkenswerte Unterschiede zur NS-Zeit und zur NS-Ideologie.
Judenfeindlichkeit im Nationalsozialismus war die gezielte Ausrottung zunächst inländischer
Rechtstitelbesitzer. Sie wurde staatlich propagiert und auf brutalste Weise durchgeführt.
Fremdenfeindlichkeit heute hingegen trifft zuvörderst Menschen, die – rechtlich betrachtet –
keine Inländer sind; sie wird von ihren Trägern in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit nicht
mit Vernichtungs-, sondern mit räumlichen und sozialen Ausgrenzungsforderungen versehen;
so sehr man sich auch veranlasst sehen mag, von 'links' den Jahrzehnte alten Vorwurf einer
'Blindheit des Staates auf dem rechten Auge' weiter aufrecht erhalten zu müssen, einen
faktisch produzierten bzw. stillschweigend hingenommenen 'strukturellen Rassismus' zu
brandmarken und/oder in vereinzelten Aussagen von Funktionsträgern rechtsextreme
Anklänge auszumachen: Eine der NS-Politik auch nur in Ansätzen vergleichbare,
unverhohlene Propagierung von Fremdenfeindlichkeit und sonstigen rechtsextremen
Positionen wird man staatlichen Stellen nicht nachweisen können. (Nicht nur) insofern ist die
sog. 'Ausländerfeindlichkeit' heute etwas strukturell anderes als es der Juden- und sonstige
Minoritätenhass des Nationalsozialismus war.
78
Schon deshalb sind Analogieschlüsse zwischen nationalsozialistischer Verfolgungspolitik und
gegenwärtigen Phänomenen von Minderheitenabneigung und –ausgrenzung schlechterdings
nicht möglich. Wer pädagogisch auf sie vertraut, setzt auf falsche Pferd.
In eklatantem Gegensatz zu dem hohen Stellenwert, den historische Bildung und speziell
Gedenkstättenpädagogik im öffentlichen Bewusstsein und erfahrungsgemäß insbesondere für
Lehrpersonen und PolitikerInnen in Hinsicht auf Erinnerungsarbeit, Aufklärung über den
Nationalsozialismus, politisch-moralisches Lernen und auch die Bekämpfung des
Rechtsextremismus genießt (vgl. auch Müller 1996, 8, Ehmann 2000; Morsch 2001), liegen
Evaluationserkenntnisse kaum vor.
Eine seit längerem angekündigte Bestandsaufnahme (von Thomas Leithäuser und Rolf Vogt)
über den pädagogischen Umgang mit den Themen "Nationalsozialismus" und "Holocaust" im
Unterricht ist wegen Finanzierungsschwierigkeiten noch nicht begonnen worden.
BesucherInnenforschungen bei Gedenkstätten, die über statistische Zählungen hinausreichen,
liegen z.Zt. nur für Dachau (vgl. Fröhlich/Zebisch 2000) und Sachsenhausen (vgl. Müller
1996, auch Morsch 2001) vor. Die Dachauer Studie erfasste mittels standardisiertem
Fragebogen innerhalb von jeweils 2 Wochen im August/September und September/Oktober
1999 in zwei Wellen 1.551 von insgesamt 21.650 in diesen Zeiträumen gezählten Besuchern.
Die aufgrund methodischer Probleme bei der Erfassung nicht repräsentative Untersuchung
(z.B. Fragebögen nur auf deutsch und englisch vorliegend, trotz zahlreicher BesucherInnen
aus anderen Sprachräumen; insgesamt 54% ausländische BesucherInnen) zielte im
wesentlichen darauf ab, auf der Basis der Erhebungen Vorschläge für die beabsichtigte
Neukonzeption der Gedenkstätte zu machen. Entsprechend ist sie neben der Erhebung soziodemographischer Daten eher an Bewertungen der Bestandteile der GedenkstättenInfrastruktur (Texte, Fotos, Einsatz elektronischer Medien bis hin zu Parkmöglichkeiten,
Busverbindungen etc.) interessiert. Sie stellt ein überproportional junges Publikum mit einem
Durchschnittsalter von 15 Jahren fest, das weniger als die Älteren mit der Erwartung kommt,
historisches Wissen zu erwerben als eine "emotionale Orientierung" zu erfahren. Zu 86%
handelt es sich um ErstbesucherInnen. Man bleibt im Schnitt 130 Minuten und gibt zu 82%
an, der Besuch habe sich gelohnt. Die Datensammlung verbleibt insgesamt auf einem Niveau,
das über Wirkungen des Besuchs auf das politische Bewusstsein keine Aussagen gestattet.
Die in Sachsenhausen Mitte der 90er Jahre durchgeführte, für die Gedenkstätte als
repräsentativ geltende Studie mit knapp 800 BesucherInnen erhob ebenfalls "harte"
(demographische Struktur, Aufenthaltsdauer usw.) und "weiche" Daten (Einschätzungen der
BesucherInnen), geht aber im Hinblick auf die Interpretation von Wirkung(sbedingung)en
weiter. Besonders bemerkenswert in Hinsicht auf erstgenannte facts erscheint, dass das
Publikum zwar – wie in Dachau - überproportional jung ist – sicher auch hier wegen
zahlreicher Besuche, die im Klassenverband erfolgen -, BesucherInnen mit formal niedrigen
Schulabschlüssen und Angehörige aus der Arbeiterschicht aber nur wenig vertreten sind.
Insofern scheinen gerade diejenigen Gruppierungen, die sich für den Rechtsextremismus
unserer Tage besonders anfällig zeigen, nur schwer erreicht werden zu können (vgl. auch
Ehmann 2000, bes. 183). Auffällig ist zum zweiten, dass im Bereich der abgefragten
subjektiven Einschätzungen kaum Kritik geäußert wird; dies obwohl selbst nach Ansicht von
Gedenkstätten-MitarbeiterInnen – nicht nur in Sachsenhausen – eine solche z.B. gegenüber
den meist noch sehr konventionell aufgemachten Ausstellungspräsentationen durchaus
angebracht wäre. Die geäußerte Zufriedenheit wird auf einen "moralischen Druck"
zurückgeführt, der einen "Rückgriff auf scheinbar erwünschte Antworten" produziert, ja
geradezu als "'Kritikverbot'" erlebt wird (ebd., 8; vgl. auch Dammer/Stein 1995).
Ergebnisevaluationen, die den Befragungszeitpunkt unmittelbar im Anschluss an den
Gedenkstättenbesuch platzieren, sollten daher skeptisch betrachtet werden. Sie scheinen eher
zu Positivfärbungen zu verleiten, weil angenommen werden kann, "daß es der längeren
79
Reflexion bedarf, um zu einer Kritik zu kommen" (ebd., 9) bzw. um tatsächliche Wirkungen
halbwegs valide erheben zu können. Revisionen der zumeist deduktiven Gedenkstätten- und
Ausstellungsdidaktik sind nach den Sachsenhausener Evaluationen des Besucherverhaltens in
den letzten 5 Jahren unerlässlich, will man das Konzept des offenen Lernorts wirksam für
eine Besuchergeneration umsetzen, die zwar die Authentizität der Stätte emotional erfahren
will, sich dafür aber nur im Durchschnitt zwei Stunden Zeit nimmt, viele der gebotenen
Informationen daher nur flüchtig wahrnehmen kann und nur in Ausnahmefällen zu
Wiederholungsbesuchen neigt (6% bis 12%; vgl. Fröhlich/Zebisch 2000, bei Gedenkstätten,
etwa 25% bei anderen Open-air-Museen; noch seltener - nämlich zu 1 %, - um sich mit
Spezialfragen und Detailausstellungen zu befassen; vgl. Morsch 2001). Reformierungen
müssen dabei zugleich aufpassen, nicht einer "Hollywoodisierung" des Gedenkstättenbesuchs
im Sinne einer massenkulturellen Verwendung für unterhaltenden "thrill" Vorschub zu
leisten.
Auch noch eher tentative Wirkungsstudien zur NS-Gedenkstättenarbeit stimmen eher
skeptisch, zumindest hinsichtlich der Annahme direkter extremismusreduzierender Effekte
bei jungen Leuten.
Mag man die ernüchternden Ergebnisse der von Oktober bis Dezember 1989 durchgeführten
Buchenwald-Studie mit 350 Schülern und Schülerinnen aus achten Klassen – vier Wochen
nach dem Besuch "ein spürbarer Rückgang des Interesses der Schüler an Fragen zur Zeit des
Faschismus", ein "leicht angestiegenes Akzeptanzpotenzial für faschistische
Ideologiefragmente", doppelt soviel Änderungen in Richtung auf Zustimmung (bei 30%) wie
in Richtung auf Ablehnung (15%) der Aussage "Der Faschismus hatte auch seine guten
Seiten", "kaum Wirkungen bei Desinteressierten" und z.T. auch zu Sensibilisierung und
Betroffenheitserzeugung "gegenteilige Effekte" (vgl. dazu: Schubarth 1990) – noch auf die
Problematik der DDR-spezifischen NS-Aufarbeitung oder die Wirren der Wendezeit
zurückführen, so konstatieren jedoch auch Fischer und Anton (1992) bei ihren 40
Explorationen von Gedenkstättenbesuchen thüringischer und hessischer SchülerInnen in
Breitenau, Hadamar und Buchenwald: "Es ist davon auszugehen, dass – wenn überhaupt – nur
selten direkte, monokausale Zusammenhänge zwischen Einstellungsveränderungen und dem
Besuch einer Gedenkstätte feststellbar sind" (ebd., 10). Schon im Vorwort von Schacht und
Siegel, den Leitern der Landeszentralen für politische Bildung von Hessen und Thüringen,
heißt es: "Die Jugendlichen heute haben eine sehr große biographische Distanz zu den
Verbrechen des Nationalsozialismus. Der Besuch einer Gedenkstätte bewirkt deshalb noch
nicht automatisch Lernprozesse, die gegen entsprechende politische Einstellungsmuster
immunisieren." Zwar wird registriert, dass "Mädchen mit größerer emotionaler Betroffenheit"
reagieren, Jungen es dagegen schwer fällt, ja es ihnen in der Besuchergruppe unmöglich ist,
ihre demonstrative Coolness abzulegen, insgesamt aber "läßt" die "emotionale Irritation"
"sehr schnell nach" (ebd., 109). "Die Erfahrungen bleiben nur kurz an der Oberfläche" (ebd.,
116); "Augenblicksbetroffenheit" wird erzeugt. Die Jugendlichen selbst äußern sich skeptisch
über die Abschreckungsfunktion des Besuchs im Hinblick auf rechtsextreme Anfälligkeiten.
"Die Gedenkstätten dienen den Befragten als Vergewisserung des eigenen Standpunktes"
(ebd., 125), eine Feststellung, die im Hinblick auf Besuche mit rechtsextrem orientierten
Jugendlichen geradezu erschrecken muss (vgl. auch Welzer 2001).
Damit ist keineswegs ausgesagt, dass historische Bildung generell sinnlos ist. Die Kenntnis
des historischen Nationalsozialismus ist für die Entwicklung von Geschichtsbewusstsein
unverzichtbar. Verantwortung – nicht Schuld -, die aus der Geschichte auch den
Nachgeborenen erwächst, kann kaum anders wachgehalten werden. Unter – u.a. auch
empirisch erst noch über diesbezügliche Evaluationen zu prüfenden – (vor allem auch
methodisch-didaktischen) Umständen (z.B. der Wahrnehmungs-, Perspektivenwechsel-,
80
Empathie- und Diskursschulung; vgl. als gute Anregung dazu Kößler 2000; zu Quellenarbeit,
perspektivischem Schreiben, Gedenkbuch, Multimedia auch Behrens/Reichling 2002;
insgesamt zur Diskussion um neue Ansätze auch zusammenfassend: Bildung und
Wissenschaft 1/2001) mag auch bei TeilnehmerInnen entsprechender Bildungsprozesse eine
Wertschätzung demokratischer Verhältnisse und eine Haltung der Zivilcourage aufgebaut und
stabilisiert werden. Wenn sich auch deren Nachhaltigkeit erst noch zu erweisen haben wird:
Zu vermuten ist, dass dies am ehesten dann gelingt, wenn ein erfahrungs- und
handlungsorientiertes Setting aufgebaut wird, in dem TeilnehmerInnen sich auch emotional
und konativ angesprochen fühlen. Historische Bildung über den Faschismus sollte jedoch
nicht mit dem Anspruch überfrachtet werden, entscheidend den modernisierten
Rechtsextremismus zurückdrängen zu können oder gar den Königsweg demokratischer
Stabilisierung zu bahnen (vgl. auch Ehmann 2000; Fröhlich/Zebisch 2000; Miteinander
e.V./Zentrum für Antisemitismusforschung 2001). Dies gilt um so stärker, als angesichts der
Multikulturalisierung der Gesellschaft und insbesondere von Schulklassen pädagogisch
schwierige Herausforderungen zu bewältigen sind, die in Instrumentalisierungsgefahren von
Geschichte "für je unterschiedliche Formen von Identitätspolitik im Kampf um Macht und
Anerkennung" und im "Wettstreit um das Monopol auf den Opferstatus" zwischen
einheimischen Deutschen und Angehörigen von Migrantenfamilien gründen (vgl. illustrativ
und exemplarisch Fechler 2000, hier: 225).
Wenden wir uns nun dem zweiten Typus historischer Bildung in dem von und bearbeiteten
Themenumfeld zu: der Aufarbeitung der neueren Migrationsgeschichte.
Hierzu liegen weit weniger Ansätze vor. In ihrer Mehrheit scheint sich die Thematisierung der
historischen Aspekte der Ausländerbeschäftigung und –einwanderung in Deutschland noch
dem Wissensvermittlungsparadigma verpflichtet zu fühlen, sich dem gemäß auf
Unterrichtungsformate zu stützen und auf kognitive Information zu beschränken.
Handlungsfeld ist dann im wesentlichen der Schulunterricht mit den ihm eigenen didaktischen
und methodischen Gewohnheiten und Grenzen. Sie werden selbst dann kaum gesprengt, wenn
Lehrkräfte auf Unterrichtsmaterial zurückgreifen, das über das Standard-Lehrbuch für die
jeweilige Klassenstufe hinausgeht. Didaktische Hefte und andere Vorlagen zur historischpolitischen Bildung sind nach wie vor – wie PraktikerInnen oft formulieren – 'arg
kopfbestimmt' und wenig geeignet, die Schüler und Schülerinnen 'dort abzuholen, wo sie
stehen'. Unmittelbarer Lebensweltbezug fällt in den gängigen Produkten dieses Genres fast
durchgehend unter 'Fehlanzeige'.
Im außerschulischen Bereich finden sich nicht mehr als vereinzelte Versuche, ganzheitlicher
an die Thematik heranzugehen. Erwähnenswert, weil innovativ und vielversprechend
erscheint
 in Hamburg die in Kooperation mit SchulpraktikerInnen betriebene Entwicklung von
alternativen Hafenrundfahrten für Kinder und Jugendliche ab etwa 10 Jahren zu Themen
wie "Bananen und Schokolade", "Hamburg und die Dritte Welt" und "Migration und
Rassismus" beim "Werkstatt3Bildungswerk",
 in Nürnberg die aus der Offenen Jugendarbeit erwachsene und seit 1993 umgesetzte Idee
der politischen Wanderung, bei der u.a. Wanderungen zum Thema "Einwanderer in
Mittelfranken" unternommen und in einem "Ein-Wander-Führer" dokumentiert wurden
(vgl. Eismann u.a. 1997),
 in Krefeld die durch das Jugendamt veranstalteten "Weltreisen durch die Stadt", bei denen
Kinder, Jugendliche und Familien das Zuhause verschiedener deutscher und ausländischer
Familien kennenlernen und mit ihnen Kontakte knüpfen können (vgl. Informations- und
Dokumentationsstelle 2000).
81
Historische Aufarbeitungen der jüngeren Migrationsgeschichte können für sich in Rechnung
stellen, dass sie empirisch nachweisbar auf den Kernbereich des heutigen Rechtsextremismus
und der ihn begleitenden und umgebenden politischen Ausgrenzungsforderungen gegenüber
Minoritäten, die Fremdenfeindlichkeit nämlich, zielen (vgl. Verfassungsschutzberichte 1991
ff.). Die Fragen, die generell an die Bedeutsamkeit geschichtlichen Wissens und
geschichtlichen Bewusstseins für die politische Orientierung des/der Einzelnen in der
Gegenwart gestellt werden können, betreffen indes auch diesen Ansatz:
Bringt mehr historisches Wissen mehr Orientierungs- und Handlungssicherheit? Kann
historisches Bewusstsein die Sinnfälligkeit demokratischer Regelungen verdeutlichen?
Führen historische Kenntnisse über Minderheiten zu mehr Anerkennung, Toleranz und ggf.
zusätzlich Solidarität mit ihnen? Können u.U. nur flüchtige Kontakte zu einzelnen
MigrantInnen generelle Vorbehalte aufbrechen? Oder muss nicht eher davon ausgegangen
werden, dass sie politisch ebenso wenig folgenreich bleiben, wie die Akzeptanz des
persönlich bekannten, einzelnen "guten Juden" durch manche durchaus nationalsozialistisch
geprägte Deutsche in der Hitler-Zeit?
Die Fragenliste ließe sich mühelos weiterführen. Ihre Fortsetzung kann hier aber unterbleiben,
denn Antworten werden erst dann vorliegen, wenn Evaluationen entsprechender Konzepte
unternommen worden sind. Dies ist bislang nicht der Fall.
3.1.2 Unterrichts-, Seminar- und Trainingseinheiten ("Bausteine") zur Demokratieund Toleranzerziehung
An Unterrichts-, Seminar- und Trainingseinheiten gegen Rechtsextremismus und Gewalt und
zur Demokratie- und Toleranzerziehung herrscht wahrlich kein Mangel. In den letzten 10, 12
Jahren hat es eine regelrechte Inflation bei der Produktion und Verbreitung entsprechender
Hefte, Loseblattsammlungen und Bücher gegeben. Obwohl also quantitative Defizite in dieser
Hinsicht nicht bestehen, stellt sich dennoch die Frage, welches qualitative Gesamtbild sich
ergibt und wie problemangemessen die einzelnen Ansätze eigentlich sind. Sehen wir uns im
folgenden einzelne Konzepte etwas genauer an, und zwar solche, die aktuell in der
praktischen Arbeit als besonders wichtig eingeschätzt werden und entsprechend verbreitet
sind! Sie bewegen sich in einem Spannungsfeld, das von dem Viereck mit den
schlagwortartig zu bezeichnenden Winkeln 'argumentative Überzeugung', 'spielerische
Erfahrung' 'interkulturelle bzw. antirassistische Trainings' und 'lebensweltliche Gestaltung'
gebildet wird.
Eine erste Gruppierung von Konzepten vertraut im wesentlichen auf die
Durchsetzungsfähigkeit des besseren Arguments. Deshalb sind die kognitiven Anforderungen,
die sie stellen, vergleichsweise hoch (vgl. etwa die für allem für den Schulgebrauch
konzipierten didaktischen Hefte des Wochenschau-Verlags "Deutschland von rechts", 1994,
"Jugend und Gewalt", 1993 und 1997 sowie "Rassismus und Antisemitismus", 1999; ferner,
teils schon im Titel programmatisch ihre argumentative Grundorientierung ausweisend:
Kultusministerium NRW 1990; Heitmeyer 1991; Jäger 1992, 1993; Ahlheim/Heger/Kuchinke
1993; Arbeitsgemeinschaft 1994; Tiedemann 1996; Arbeitsgemeinschaft o.J.; Ahlheim/Heger
1999; Büttner 1999; Hufer 2000; Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz 2000;
Benz 2001; Lanig 2001; Osborg 2001 sowie www.linksruck.de/litera/agr und
www.nefkom.net/loester/fakten1.htm). Der eine (noch größere) Teil von ihnen hängt eher
noch der Information über wissenschaftliche Erkenntnisse, der Auswertung statistischer
Daten, der Analyse von Texten, der Deutung von Schaubildern und Diagrammen, der
Diskussion von Pro- und Contra-Thesen und ähnlichen methodisch-didaktischen Verfahren an
82
und bleibt damit noch weitgehend dem Paradigma der Wissensvermittlung verbunden wie
dem Format der Unterrichtung verhaftet. US-amerikanische Studien weisen solchen
Versuchen zwar gewisse Kurzzeit-Effekte der Reduktion von Vorurteilen nach (vgl.
Stephan/Stephan 1984; McGregor 1993, Aboud/Fenwick 1999). Offen bleibt allerdings, als
wie anhaltend sie sich erweisen. Ein anderer (kleinerer) Teil operiert mit Trainingsformaten.
Sie üben argumentative Schlagfertigkeit im Beobachten, Analysieren und Nachspielen von
konkreten Situationen der Konfrontation mit antidemokratischen Parolen ein (besonders
deutlich und gegenwärtig stark nachgefragt z. B. im Training von Hufer 2000). Während der
erste Typus die Frage unbeantwortet lässt, wie ein Umschlag von Wissen in Handeln
erfolgen, also das Problem des Alltagstransfers gelöst werden soll, bietet das Trainingsformat
immerhin eine alltagsnahe Laborsituation, dessen Schonraumcharakter für die Erprobung
lebensweltlich brauchbarer Anwendungen des Gelernten genutzt werden kann (zu
Evaluationen dieses Formats vgl. weiter unten).
Weniger argumentativ als spielerisch ist ein anderer Typus von Bildungseinheiten angelegt.
Er besteht aus meist kleinen Übungen, von oft 20 bis 60 Minuten Dauer, in denen
Emotionales, Phantasie, Kreativität und Kommunikatives im Vordergrund stehen (vgl.
exemplarisch die sehr anwendungsbezogenen Handreichungen: Posselt/Schumacher 1993;
Spiele 1996). Damit bildet er den Gegenpol zu vornehmlich kognitive Leistungen
voraussetzenden und einfordernden Einheiten. Er vermag damit zwar weniger Wissen zu
vermitteln, dafür aber eher die 'ganze' Persönlichkeit der TeilnehmerInnen anzusprechen.
Zudem erweist sich die Anlage als Vorteil bei der Zielgruppenerschließung. Menschen
niedrigerer schulischer Formalqualifikation, sprachlich weniger Gewandte und jüngere
AdressatInnen (einschließlich Kinder) sind so leichter zu interessieren. Freilich lässt die
offene Form pädagogische Ergebnisse weniger vorausplanen, bleibt die thematische
Aufarbeitung wenig systematisch und können Reflexionsprozesse zwar angeleitet, aber nicht
pädagogisch gesteuert und durchstrukturiert werden. Das hier dominierende Format der
Begegnung setzt zwangsläufig im Gegensatz zu Unterrichtungsformaten auf die Autonomie
der AdressatInnen für die Eigensteuerung des Prozesses, den sie durchlaufen, und macht
deshalb auch den Output von ihr abhängig.
Das Paket von zur Zeit 3 Konzepten, das die Bertelsmann-Stiftung in Kooperation mit dem
Centrum für angewandte Politikforschung (CAP) im Rahmen des Stiftungsprojekts
"Erziehung zu Demokratie und Toleranz" anbietet, pendelt zwischen den Polen von
kognitiver Wissensvermittlung und 'ganzheitlich-spielerischem' Erfahrungslernen. Es handelt
sich um "Betzavta", "Eine Welt der Vielfalt" und "Achtung (+) Toleranz".
Der den 3 Konzepten gemeinsame Ansatz besteht darin, auf das ganzheitliche Individuum in
seinem alltäglichen Umgang mit Menschen zu fokussieren, Demokratie als Lebensform
erfahrbar werden zu lassen und dies in der konkreten Seminarsituation zu erproben. Fünf
Ziele stehen im Vordergrund: Die Pluralität von Werten und Überzeugungen soll als Gewinn
erfahrbar werden (1). Die Anerkennung des prinzipiell gleichen Rechts auf Entfaltung für alle
Menschen soll bewirkt werden (2). Konflikte sollen als Chance zur Erweiterung des eigenen
Handlungsrepertoires erlebt werden können (3). Toleranz soll praktisch erfahren werden (4).
Partnerschaftliche Kommunikation soll eingeübt werden (5).
"Betzavta" (deutsch: "gemeinsam" oder "miteinander") ist ein vom israelischen Adam-Institut
adaptiertes Konzept, das, dort bereits ab 1986 entwickelt, seit 1997 in Deutschland als
nachträglich zu ergänzendes "Praxishandbuch für die politische Bildung" in Loseblattform
vorliegt (vgl. Miteinander 1997). Seine Absicht liegt darin, einen Beitrag zur
Demokratieerziehung dadurch zu leisten, dass die TeilnehmerInnen in Stand gesetzt werden,
gesellschaftliche Verhältnisse von kultureller Heterogenität – wie sie ja für Israel mit seinen
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ethnisch verschiedenen Einwanderern und der arabischen Bevölkerung, aber auch zunehmend
für das faktische Einwanderungsland Deutschland typisch sind – positiv so zu bearbeiten,
dass allen Menschen das gleiche Recht auf Freiheit zugestanden wird. Konkret geht es
inhaltlich um demokratische Prinzipien, das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit,
Grundrechte, Gleichheit vor dem Gesetz und Wege demokratischer Entscheidungsfindung.
Die Didaktik folgt einer Tradition des jüdischen Lernens: dem zunächst polarisierenden
Disput. Sie sieht spielerische Übungen vor, in denen TeilnehmerInnen in einem ersten Schritt
mit der eigenen Ablehnung von Gleichberechtigung konfrontiert werden, in einem zweiten
Schritt feststellen, dass Gleichberechtigung von ihnen nur dann als nützlich erkannt wird,
wenn sie eigenen Interessen dient und in einem dritten Schritt die Anerkennung von
Gleichberechtigung als generellem Prinzip, das unabhängig von dem Fakt, ob es eigenen
Interessen nützt oder nicht, Geltung beanspruchen kann, erlernen sollen. Einer
Konfliktsituation mit verschiedenen Handlungsalternativen ausgesetzt, soll der Konflikt in ein
Dilemma, also in die Begegnung mit sich widersprechenden eigenen Interessen und
Bedürfnissen, transformiert werden, um schließlich Lösungskonzepte zu erarbeiten, die von
demokratischen Prinzipien getragen werden.
Das Konzept bzw. bestimmte seiner Teile, eignet/eigenen sich für eine gruppenbezogene
Bildungsarbeit mit Kindern (ab acht Jahren), Jugendlichen und Erwachsenen in
außerschulischen und – seit 1999 entsprechend ausgebaut – auch schulischen
Handlungsfeldern. Mehr als 1000 MultiplikatorInnen sind mittlerweile mittels relativ kurzer
Seminarbesuche als Betzavta-TrainerInnen ausgebildet. Wie viele von ihnen das Programm
aber tatsächlich anwenden ist nicht bekannt. Mehr als rd. ein Viertel der Ausgebildeten dürfte
es z.Zt. schätzungsweise nicht sein.
Eine Auswertung des Konzepts liegt gegenwärtig nur durch diejenigen Erfahrungen vor, die
die Trainer und Trainerinnen, die an der Implementierung des Programms beteiligt waren, in
Testseminaren mit mehreren hundert TeilnehmerInnen gesammelt haben und die in die im
Praxishandbuch abgedruckten Empfehlungen für seine Anwendung eingeflossen sind. Eine
gründlichere Evaluation, allerdings beschränkt auf die Befragung von MultiplikatorInnen,
wird zur Zeit an der PH Freiburg unternommen. Ergebnisse sind frühestens im Herbst 2002
zu erwarten.
PraktikerInnen, die mit dem Konzept arbeiten, wissen gleichwohl jetzt schon um seine
Grenzen. Sie liegen vor allem in zwei Punkten: Zum ersten eignet sich das Konzept wegen
seiner relativ hohen Anforderungen an das Sprachverständnis seiner Adressaten nur
eingeschränkt für den Einsatz in multi- oder interkultureller Arbeit. Zum zweiten wird es als
relativ kopflastig eingeschätzt.
Dem begegnet das neuere, ebenfalls in kopierfreundlicher Aktenheftung – und auch als CDROM – vorliegende Konzept "Achtung (+) Toleranz" (Ulrich 2000), das ähnliche Ziele
verfolgt und didaktisch auch darauf aufbaut, in der Realität nachempfundenen
Konfliktsituationen tolerantes Handeln und partnerschaftliche Kommunikation zu erlernen,
bei Themenschwerpunkten auf Toleranz, Demokratie, Vorurteile und Zivilcourage jedoch
deutlicher auf dem Prinzip des ganzheitlichen Lernens basiert und explizit bausteinemäßig
"Kopfübungen" mit Erlebnis- und Erfahrungsorientierung verbindet (vgl. auch die
Selbsteinschätzung ebd., Anhang). Ob seine Teile jedoch tatsächlich (wie ebd., 22, Fn. 13
behauptet) "sicher" "für die Arbeit mit radikalen und gewaltbereiten Jugendlichen" tauglich
sind und sich "gerade zum Einsatz mit Zielgruppen, die ablehnende Positionen zu
Demokratie, Toleranz und Menschenrechten vertreten" eignen, darf bezweifelt werden; dies
zumindest solange, bis eine noch eher tentative interne Evaluation der Testphase
weitergeführt worden ist und dabei auch die o.g. Zielgruppen einbezogen hat.
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In gleicher äußerer Aufmachung präsentiert sich "Eine Welt der Vielfalt" (vgl. Bertelsmann
Stiftung 1998). Es handelt sich hierbei um eine Adaption eines Trainingsprogramms des "A
World of Difference-Institute" der US-amerikanischen Anti-Defamation League in der
Adaption für den Schulunterricht in der Primarstufe und der Sekundarstufe I. Im Mittelpunkt
steht interkulturelles Lernen. In fünf handlungs- und erfahrungsorientiert angelegten
Lektionen sollen Schüler und Schülerinnen u.a. über Medien wie malen, Collagen erstellen,
Masken basteln, Gedichte schreiben, Interviews durchführen usw. sich selbst als Individuen
schätzen und Selbstwertgefühl entwickeln (1), Ähnlichkeiten und Unterschiede bei Menschen
über segregationsvermeidende, kooperative Arbeitsformen erkennen (2), kulturelle Vielfalt
kennen (3), "das Wesen von Klischees, Vorurteilen und Diskriminierung und deren
Auswirkungen auf Individuen und Gruppen verstehen" (ebd., 14) (4) und
Bekämpfungsstrategien entwickeln (5) lernen. Neu dabei ist und gleichzeitig dem Interesse an
möglichst lebensweltnahem Agieren folgt, dass Ortswechsel heraus aus dem Schulgebäude
und hinein in das Gemeinwesen empfohlen werden und die Zusammenarbeit mit den Eltern
gesucht wird. Dies entspricht im übrigen – allerdings noch sehr tentativ – dem theoretischen
Ausgangspunkt des Konzepts, wonach Diskriminierung nicht nur dem individuellen Interesse
an der Sicherung von Macht und Einfluss für die eigene Person folgt, sondern auch Ausfluss
institutioneller Faktoren ist und deshalb individuelle Veränderung mit der Veränderung
institutioneller Kontexte zu verbinden ist (vgl. Pettigrew 1986; Sausjord 1997; Wilpert 2001).
Wie bei den anderen beiden Konzepten finden auch hier MultiplikatorInnenschulungen statt:
Ein begleitendes Fortbildungsangebot für Lehrpersonen wird an den Fortbildungsinstituten
der meisten Bundesländer angeboten.
Ähnlich wie bei den anderen Bertelsmann/CAP-Konzepten wurden Auswertungen von
Testseminaren durchgeführt, deren Ergebnisse in das Praxishandbuch eingegangen sind.
Weitere Evaluation ist zur Zeit im Gange. Das Konzept dazu ist noch in Entwicklung und
wird erstmals im Herbst 2002 fachöffentlich vorgestellt werden. Ein internationales Netzwerk
für Evaluation erarbeitet zur Zeit einen Workshop, der NGO-VertreterInnen in Stand setzen
soll, Selbstevaluationen durchzuführen. Weitere Anstöße durch die Bertelsmannstiftung sind
durch ein noch im Aufbau befindliches Referat zu Fragen des Umgangs mit
Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit zu erwarten (zur Anlage der Evaluation der
Bertelsmann-Projekte im Bereich der Toleranz- und Demokratieerziehung vgl. ganz kurz im
Überblick auch: Ketterle 2001). Amerikanische Langzeitevaluationen laufen noch;
europäische Evaluationen eines 2-3jährigen "A Class of Difference"-Projekts mit 12stündigen
Workshops für Lehrpersonen – diese sind auf europäischer Ebene bislang noch eher
Zielgruppe als SchülerInnen – an 30 Schulen in Belgien, Frankreich, Italien und den
Niederlanden zeigen immerhin, dass ¾ der Lehrpersonen ihre persönliche Einstellung durch
die Teilnahme berührt sehen und aus ihm konkrete Anregungen und Übungen für den
Unterricht mitnehmen können.
Den theoretischen Hintergrund der Bertelsmann/CAP-Handreichungen bildet ein
Toleranzkonzept (vgl. Feldmann/Henschel/Ulrich 2000). Es versteht Toleranz als eine
"Maxime für die individuelle und ethisch motivierte Entscheidung, einen Konflikt aus
Einsicht in die prinzipielle Gleichberechtigung des anderen auszuhalten oder gewaltfrei zu
regeln" (ebd., 14). Geübte Toleranz setzt also einen Konflikt voraus, bleibt gewaltlos und
basiert auf der Anerkennung von Gleichberechtigung. Das erstgenannte Kriterium beugt der
Kritik am Toleranzbegriff vor, er schließe auch Haltungen der Gleichgültigkeit mit ein. Das
letztgenannte Kriterium vermag zwischen einem Konflikt(er)dulden zu unterscheiden, das auf
Nutzen- und Risikoabwägung beruht und deshalb nur scheinbare Toleranz darstellt, und
einem Konfliktaushalten, das auf Einsicht und prinzipieller Anerkennung des gleichen Recht
auf freie Entfaltung fußt. Gilt Gewaltanwendung auf der einen Seite des Toleranzbegriffs als
Inbegriff von Intoleranz so geht Toleranz auf der anderen Seite in "Solidarität, Nächstenliebe
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oder Zivilcourage" erst dann über, wenn ein "Bedürfnis nach Ausgleich von Ungerechtigkeit",
"Barmherzigkeit" oder der "Schutz eigener und fremder Rechte" inauguriert ist. Individuelle
Toleranzkompetenz baut dem gemäß neben Toleranzwissen auf spezifischen Fähigkeiten auf:
"Dialog- und Kommunikationskompetenz, die Fähigkeit, sich in den Standpunkt eines
anderen zu versetzen, die Fähigkeit, Modelle konstruktiver und demokratischer
Konfliktregelungen anzuwenden" (ebd., 25). Als Konsequenz für eine Umsetzungsstrategie
dieser Überlegungen in die politische Bildung ergibt sich ein Vier-Schritte-Modell: die
Bewusstmachung eigener Deutungs- und Handlungsmuster (1.), das Infragestellen dieser
Muster (2.), das Angebot von Alternativen (3) und die Konstruktion neuer Deutungs- und
Konfliktlösungsmuster (4) (vgl. ebd., 32).
Auch wenn – wie erwähnt – Evaluationen nur in Ansätzen vorliegen, kann aus
erziehungswissenschaftlich-theoretischer Sicht der Ansatz als vielversprechend eingestuft
werden: Er weist theoretische Fundamentierung auf, gewichtet die Bedeutung von
Identitätserfahrung - u.a. Selbstwertgefühl, Perspektivenwechsel und kommunikativer
Kompetenz - hoch (zur Bedeutsamkeit dieser Aspekte vgl. z.B. Frey/Haußer 1987; Pate 1988;
Schwind/Baumann u.a. 1990; Fend 1994; Hopf u.a. 1995; Schmidtchen 1997; Olweus 1997;
Petermann u.a. 1997; Dann 1997; Mansel/Hurrelmann 1998; Schubarth 2000), setzt
zunehmend auf Handlungsorientierung und Erfahrungslernen, spricht neben kognitiven
vermehrt auch emotionale und konative Orientierungsaspekte an, bietet methodische Vielfalt
und zeigt Ansätze, die Fesseln traditioneller Formatierungen (schulischer 45-Minuten-Takt
des Unterrichts, Lernen ausschließlich im Schulgebäude) durch mehr zeitliche und räumliche
Flexibilisierung, Schülerorientierung und Öffnung zum Gemeinwesen abzustreifen.
Allerdings bleiben die Konzepte noch insoweit klassischer Bildungsarbeit verhaftet, als ein
Übergang in unmittelbare Gestaltungs-Aktion im allgemeinen unterbleibt. Eine
Nachhaltigkeit von Lerneffekten ist daher nicht ohne weiteres anzunehmen.
Das Angebot auf dem 'Markt' von "antirassistischen" und "interkulturellen" Trainings ist
inzwischen so schwer übersehbar, dass IDA, die bundeszentrale Servicestelle für
Antirassismusarbeit, sich schon im vergangenen Jahr veranlasst sah, den Durchblick "durch
den Dschungel von Trainings" mittels einer "Checkliste" für OrganisatorInnen zu
gewährleisten (abgedruckt auch in: Landeszentrum 2001, 89-93). Im folgenden geht es
deshalb nicht darum, diese Trainingslandschaft vollständig zu vermessen.7 Stattdessen werden
anhand besonders verbreiteter Trainings die Kernpunkte herausgearbeitet, die sie
kennzeichnen.8
Die Ziele der Trainings ähneln sich stark, auch wenn die einen (vorerst) mehr ethnischkulturelle Differenzen, die anderen wie auch immer geartete Kongruenzen und Konvergenzen
verschiedener Menschengruppen betonen. Im Zentrum des Zielkatalogs steht das Bestreben,
kulturelle Pluralität als gesellschaftliche Bereicherung erleben und sich selber in
interkulturellen Bezügen adäquat einbringen zu lernen. Die Trainings sollen – so betrachtet –
ein gewaltfreies, gleichberechtigtes und verständigungsorientiertes multi- bzw.
interkulturelles Zusammenleben ermöglichen.
7
Dieser Beschränkung in der Darstellung fällt eine ausführlichere Beschäftigung mit anderen
interessanten Konzepten zum Opfer (für die Vielzahl der im Angebot befindlichen Konzepte stehen
Bezeichnungen wie Information Trainings, Cultural Awareness Trainings, Cross-cultural-orientation Programs,
Cross-cultural Sensivity Trainings, Cultural communication trainings, Race-relation Trainings, Race Awarenesse
Trainings, Equality Trainings, Organizational Change Trainings, Multicultural Trainings, Anti-Racism Trainings
und Diversity Trainings; vgl. auch Führing 2000).
8
Hier ist auch nicht der geeignete Rahmen, die Diskussion über die Vor- und Nachteile von als
'antirassistisch', 'multikulturell', 'interkulturell' oder gar 'antikulturrassistisch' betitelten Ansätzen aufzunehmen
(vgl. dazu im kurzen Überblick Attia 2000).
86
Von den Zielgruppen her sind mindestens drei Gruppen zu unterscheiden:
Trainings, die sich vornehmlich an Angehörige der ethnisch-kulturellen Mehrheit richten,
versuchen diese 'anti-rassistisch' zu schulen. D.h. sie werden für implizite und offene
Stereotypisierungen, Abwertungen und Diskriminierungen sensibilisiert, die von der eigenen
Person und ihrem sozialen Umfeld oder auch von Institutionen ausgehen (vgl. z.B. Bund
gegen ethnische Diskriminierung 2002, siehe auch Kap.3.1.17). Auf der Basis einer
Gerechtigkeits- und Fürsorgemoral sollen darüber hinaus Handlungsstrategien zum Abbau
des sich darin ausdrückenden Anerkennungvorenthalts entwickelt werden. Eine bestimmte auf
das interkulturelle Management ausgerichtete Variante richtet sich vornehmlich an
Führungskräfte von Organisationen und Institutionen. Es gibt jedoch auch Ansätze von peereducation für Schüler und Schülerinnen (vgl. Heigl 1996).
Trainings, die vornehmlich oder auch ethnisch-kulturell gemischte Gruppen ansprechen,
stellen die Begegnung, die gegenseitige Information und den Austausch von Erfahrungen und
Deutungsmustern in den Mittelpunkt. Gelegentlich münden sie auch in kooperative Projekte
ein.
Primär an Minoritäten gerichtete Trainings versuchen, z.T. angelehnt an Vorbilder des
Schwarzen-Bewusstseins-Trainings aus USA (vgl. Osei 2001), das Bewusstsein für den Wert
der eigenen ethnischen, nationalen und kulturellen Wurzeln zu wecken und/oder wach zu
halten und verstehen sich mehr als andere teilweise ausdrücklich als Empowerment-Ansatz
(vgl. Chouhan 1999).
Mindestens fünf methodisch-didaktische Grundmodelle interkultureller Trainings lassen sich
ausmachen (vgl. Flechsig 2000, der vier benennt und Grosch/Gross/Leenen 2000, die sogar
auf 10 kommen, wobei der im folgenden an fünfter Stelle genannte Typ nicht einmal
mitgerechnet ist). Sie unterscheiden sich u.a. im Grad der Strukturierung der Lernsituation,
ihrer räumlichen Ansiedelung, ihrer zeitlichen Perspektivik und ihrer Alltagsnähe:
Ein erstes Modell setzt auf die Fallmethode. Die TeilnehmerInnen erhalten eine
Fallbeschreibung, bilden und bewerten dazu Hypothesen und erstellen eine vorläufige
Beurteilung.
Das zweite Modell besteht aus Wahrnehmungs-, Selbsteinschätzungs- und
Interaktionsübungen.
Das dritte Modell basiert auf Simulationen. Einzelpersonen oder Gruppen werden dabei in
eine Situation versetzt, die für die Begegnung von Angehörigen verschiedener Kulturen
typisch ist und einen Konflikt bereithält, der zu lösen ist. Sie spielen entlang vorbereiteter
kultureller Skripte Rollen und werten anschließend ihre Spielerfahrungen aus.
Eine vierte Version öffnet das Trainingsformat hin zu Rechercheformaten. Es werden anhand
von vorher entwickelten Leitfäden Erkundungen von Kulturen – im Regelfall im Inland –
unternommen, dokumentiert und anschließend im Plenum diskutiert.
Der fünfte Typ von Trainings beinhaltet inter- und transkulturelle Lernprojekte. Sie sind im
Vergleich zu anderen komplexer angelegt. In internationalem Zuschnitt werden ausländische
Kooperationspartner gesucht, mit denen man gemeinsam ein Projekt durchführt und
auswertet.
Der
Trainingscharakter
wird
hierbei
mit
Begegnungsund
Strukturgestaltungsformaten aufgefüllt.
Am verbreitetsten dürften z.Zt. hierzulande Trainings sein, in denen methodisch Übungen,
biographische Reflexionen, Kleingruppenarbeit, Rollenspiele und simulative Settings im
Vordergrund stehen.
Besonders en vogue ist gegenwärtig in Deutschland das eyetoeye-Training. Es handelt sich
um ein vor rund 30 Jahren erstmals in USA durch Jane Elliott entwickeltes Programm. Nach
der Ermordung von Martin Luther King sah sie sich damals als Lehrerin an einer Schule in
87
Iowa mit der Aufgabe konfrontiert, die Tat ihren ausschließlich weißen, christlichen Schülern
und Schülerinnen zu erklären. Getreu dem indianischen Motto "Großer Geist, bewahre mich
davor, je einen anderen Menschen zu verurteilen, bevor ich nicht eine Meile in seinen
Mokassins gelaufen bin" entschied sie sich dazu, ihren Schülern und Schülerinnen durch ein
bestimmtes pädagogisches Setting die Erfahrung zu vermitteln, wie diejenigen sich fühlen,
die im damaligen US-Amerika nicht weiß und nicht christlich sozialisiert waren. Sie teilte
ihre Klasse in "Braunäugige" und "Blauäugige" ein. Die Blauäugigen wurden so behandelt,
wie Nicht-Weiße und Nicht-Christen traditionellerweise oft in der abendländischen und
amerikanischen Gesellschaft behandelt werden. Auf sie wurden – ohne mit ihnen sonderlich
aggressiv umzugehen – alle negativen Eigenschaften, die Dunkelhäutigen und MigrantInnen
zugeschrieben werden, projiziert: Unterlegenheit, Dummheit, Unsicherheit u.ä.m. Während
die Braunäugigen vorher informiert und freundlich behandelt wurden, erhielten die
Blauäugigen klare und strikte Anweisungen, bestimmte Aufgaben zu erfüllen (z.B.
zugewiesene Plätze einzunehmen, Intelligenztests zu absolvieren), wobei die unzureichende
Lösung dieser Aufgabe mit herabsetzenden Kommentaren ("Die Blauäugigen sind eben zu
dumm, um....") belegt wurden. Das Ergebnis dieses, in der Nachfolge der Ursprungsversion
bis heute vielfach angewendeten eintägigen Trainings: Die "Blauäugigen" fühlen sich nach
kurzer Zeit tatsächlich so wie sie behandelt werden und machen entsprechend viele Fehler.
Die erlebte Herabsetzung nagt an ihrem Selbstbewusstsein, was sie wiederum demotiviert,
störrisch und lernunwillig macht. Sie bestätigen mit ihrem Verhalten letztlich die Vorurteile,
die ihnen entgegengebracht werden (vgl. Schlicher, J./Günther, R./Schütze, D./Thiele, K.
1998, das kurze Beispiel bei Koch 2001 und www.eyetoeye.org).
Das Ziel besteht darin, zu zeigen, dass Verhalten gelernt wird und entsprechend auch wieder
verlernt werden kann. Der Ansatz will jahrhundertealte Konditionierungen und pauschale
Diskriminierungsstrukturen verdeutlichen.
Das Training für 15 bis 30 Personen wird seit 1996 auch in Deutschland in
Bildungseinrichtungen wie Schulen und Volkshochschulen, Verwaltungsstellen, sozialen
Organisationen und Vereinigungen sowie Unternehmen durchgeführt, im Regelfall eintägig.
Die Angebote werden seit Juli 1997 von "eyetoeye" (i2i) in Marburg und Jena koordiniert.
Der Verein hatte bis November 2001 TrainerInnen für 250 Trainings und mehr als 50
Präsentationen vermittelt. Insgesamt nahmen an diesen Veranstaltungen mehr als 10.000
Menschen zwischen 16 und 65 Jahren teil.
Die Kritik bemängelt einen Missbrauch von Macht durch die TrainerInnen, der entweder dazu
führt, dass das autoritäre Verhalten des/der AnleiterIn sich verselbständigt und gerade
kontraproduktive Effekte hervorruft, oder bewirkt, dass letztlich eher Betroffenheitsgesten
und Gefühle der Hilflosigkeit resultieren als ernsthafte Auseinandersetzung mit sich selbst
und Selbstanfragen an das eigene Alltagsverhalten. Sie vermerkt, dass die vom Training
aufgebaute Täter-Opfer-Dichotomie unrealistisch ist, weil Angehörige benachteiligter
Gruppen selbst oft Bestandteile vorherrschender Ideologien übernehmen und so
"Mittäterschaft" möglich wird. Sie empfindet eine Starrheit des Konzepts, die sich auch darin
ausdrückt, dass die realen Erfahrungen von Teilnehmenden, etwa die Erfahrungen deutscher
Jugendlicher, in ihrem Freizeitalltag eher von Migrantenjugendlichen dominiert zu werden als
umgekehrt sie dominieren zu können, dadurch ausgeblendet werden, dass die Autochthonen
schematisch jeweils als TäterInnen, die Allochthonen als Opfer konzipiert werden. Nach
dieser Ansicht wird so die Wirkmächtigkeit von Widerständen geleugnet. Schließlich hält sie
die Entwicklung von Handlungsperspektiven und Alltagstransfers für unterbelichtet. Sie
plädiert stattdessen für Ansätze, die das Empowerment von Machtlosen betreiben, Rassismus
multiperspektivisch thematisieren und dabei dialogische Methoden nutzen (vgl.
Lang/Leiprecht 2000).
88
So plausibel diese Kritik zunächst klingen mag: Amerikanische Evaluationen des Konzepts
unterstreichen seine Effektivität (vgl. Breckheimer/Nelson 1976; Byrnes/Kiger 1992). Sie
sind aber nicht ohne weiteres auf europäische Verhältnisse übertragbar, u.a. deshalb weil in
Amerika Hautfarben eine andere Rolle spielen als hier oder auch die Bedeutung des Islam
eine andere ist als beispielsweise in Deutschland und auch weil die Trainings (deshalb)
landesspezifisch modifiziert werden müssen.
Deutsche Evaluationen sind gegenwärtig in Arbeit, aber noch nicht abgeschlossen und
publiziert. Das Pädagogische Zentrum in Aachen (Frau Aden) wertet gegenwärtig 10
Trainings mit verschiedenen Zielgruppen (ca. 200 Personen) primär quantitativ aus. Es
werden sowohl Erwachsene, die meist aus eigenem Antrieb kommen, als auch Jugendliche,
die das Training im Rahmen des Schulunterrichts absolvieren, einbezogen. Erhebungen
wurden in verschiedenen Trainingsphasen, zu Beginn des Trainings, an seinem unmittelbaren
Ende und 4-6 Wochen nach Trainingsabschluss, vorgenommen. Erste Ergebnisse zeigen: Es
wird bei den Teilnehmenden ein hoher Grad an emotionaler Reaktion freigesetzt. Das
Training erleichtert es offenbar, eigene Unterdrückungserfahrungen offen zu thematisieren.
Alle TeilnehmerInnen nehmen nach Abschluss des Trainings das Thema "Diskriminierung"
ernster als früher. Allerdings: Der konfrontative Ansatz stößt in Deutschland auf Widerstände.
Generell muss sich das Training die Frage gefallen lassen, ob es nicht in dem von ihm
verwendeten methodischen Ansatz veraltet ist. Zudem treten Transferprobleme zu Tage, weil
USA-Rassenprobleme andere Konfliktlagen mit sich bringen als dies die europäische
Fremdenfeindlichkeit tut. Letztlich ist auch die Nachhaltigkeit der mit dem Training
verbundenen Lernprozesse fraglich. Es zeichnet sich ab, dass sich eher solche Personen mit
dem Thema weiter beschäftigen, die schon vorher dafür sensibilisiert waren, wogegen
diejenigen, die sich nur kurz damit konfrontiert fühlen, es eher als ein Muss-Thema auffassen
und froh sind, wenn die Zwangsbeschäftigung mit ihm, die das Training auferlegt, vorbei ist.
Hierbei handelt es sich vor allem um Jugendliche. In jedem Fall sollten Qualitäts-Standards
entwickelt werden, entlang derer die Ausbildung von TrainerInnen erfolgt. Dies erscheint
wegen der starken persönlichen Betroffenheit, die das Training meist erzeugt, und der
pädagogischen Notwendigkeit, mit ihr aufmerksam und konstruktiv umzugehen,
unverzichtbar.
Eine zweite, explizit formative Evaluation qualitativer Art wird – basierend auf
Auswertungen, die der Oevermannschen objektiven Hermeneutik folgen - gerade im Rahmen
eines Dissertationsvorhabens an der Universität Bielefeld vorgenommen. (Zwischen)Ergebnisse gibt es erst in Ansätzen (vgl. Schrödter 2002).
Das US-amerikanische NCBI (National Coalition Building Institute) bietet ein schon seit
Mitte der 80er Jahre entwickeltes "Peer Training" an, das dem Schätzenlernen von Diversität
gewidmet ist (vgl. kurz Brown/Mazza 2000). Es begründet seine einzelnen Methoden jeweils
theoretisch. Sechs Punkte sind in dieser Hinsicht charakteristisch: Ausgehend von der
Erkenntnis, dass Menschen zu Kategorisierungen und Verallgemeinerungen neigen, um
Komplexität zu reduzieren, werden Teilnehmende zunächst aufgefordert, in
Paarkonstellationen spontane Assoziationen zu verschiedenen ethnischen, nationalen,
kulturellen, geschlechtsspezifischen, altersspezifischen oder regionalen Gruppierungen in
unzensierter Weise zu benennen und so zu entdecken, dass niemand gegen
Pauschalisierungen gefeit ist (1.). Da Stereotypisierungen auch dadurch aufrecht erhalten
werden, dass die von ihnen Belegten diese internalisieren und so Solidarisierungen innerhalb
der eigenen Gruppierung untergraben werden können, sollen diese – wiederum in
Paarkonstellationen und zwar durch wechselseitige spielerische Projektion der der eigenen
Gruppe gegenüber empfundenen Vorurteile auf das Gegenüber – benannt und dadurch in
ihrem unterdrückerischen Charakter offen gelegt werden (2.). In zwei weiteren Schritt werden
die eigenen Diskriminierungserfahrungen der Teilnehmenden zum Gegenstand gemacht (3.
89
und 4.). Dahinter steht die Erkenntnis, dass Menschen selbst benachteiligt worden sein
müssen, bevor sie andere diskriminieren und dass diese Ungerechtigkeitserfahrungen daher
am eigenen biographischen Beispiel zu thematisieren sind. Eine fünfte Methode zielt auf die
Entwicklung der Fähigkeit ab, diskriminierende Äußerungen, die im Beisein der Person
fallen, gezielt zu unterbrechen (5.). Schließlich – und hier erhält das Training den Charakter
der oben beschriebenen Argumentationstrainings – werden kontroverse Themen in ProContra-Diskussionen durchgespielt, um adäquate und im Alltag taugliche
Argumentationslinien in ähnlichen Real-Situationen zu finden. Evaluationen der Methodik
haben das nicht nur theoretisch, sondern auch mit dem gesunden Menschenverstand leicht
nachvollziehbare Resultat ergeben, dass nicht allein Selbstaufklärungen von Einstellungen
und Überzeugungen, sondern erst Veränderungen des Alltags, die durch solche Eingriffe
möglich werden, von Teilnehmenden als entscheidende Fortschritte und Erfolge des
Trainings-Programms gewertet werden (vgl. Sales 1984).
Das Gesamtbild zur Evaluation antirassistischer bzw. interkultureller Trainings bleibt noch
ein nahezu leeres, farbloses Blatt. Dass sein auf Deutschland bezogener Teil allenfalls erste
Skizzen erkennen lässt, wir dann verständlich, wenn man berücksichtigt, dass zahlreiche
Trainings wie entscheidende Anstöße für das Trainingsformat generell aus den USA kommen,
wo "cross-cultural-orientation programs" (Brislin/Pedersen 1976), "cross-cultural sensivity
trainings" (Pruegger/Rogers 1994), "culture assimilator" (Stotland/Katz/Patchen 1959;
Cushner/Brislin 1996), "cultural communication trainings" (Brislin/Yoshida 1994),
"multicultural trainings" (Ridley/Mendoza/Kanitz 1994), "race relation trainings" (Day 1983)
"race awarenesse trainings", "cultural diversity training" (Sue 1991), "diversity and difference
training" (Sims/Sims 1993) und "anti-racism trainings" (Katz 1978) seit längerem verbreitet
sind und dennoch der dortige Stand ihrer Evaluation als dürftig eingeschätzt wird (vgl. Kinast
1998). Dessen ungeachtet ist mit Grosch/Gross/Leenen (2000) davon auszugehen, dass
Trainings um so besser sind, je deutlicher und differenzierter sie stillschweigende kulturelle
Annahmen an die Oberfläche des Bewusstseins befördern, Wahrnehmung schulen,
dialogisches Lernen und kooperatives Arbeiten fördern und die Eigeninitiative der Lernenden
unterstützen. Im Kontext des Gestaltungs-Paradigmas sind sie ferner daraufhin zu beurteilen,
inwieweit es ihnen gelingt, den Transfer trainingsimmanenter interkultureller Verständigung
und antirassistischer Lernprozesse in den Alltag zu gewährleisten.
In Hinsicht auf letzteres ist der zentrale Befund einer recht großen, 400 Trainingsanbieter
umfassenden Evaluation von Anti-Diskriminierungsmaßnahmen (Information Trainings,
Cultural Awareness Trainings, Equality Trainings, Organizational Change/Multicultural
Trainings, Anti-Racism Trainings und Diversity Trainings) in den Niederlanden interessant
(vgl. Abell 2001). Danach kritisieren die TeilnehmerInnen den oft mangelhaften Praxisbezug
von Trainings. Dort, wo bereits innerhalb des Trainingssettings über die Änderung von
Einstellungen hinausgegangen werden konnte, erfolgen durchweg positive Rückmeldungen.
Der konstatierte Trend zum Typ des Management Diversity-Trainings wird deshalb als
positiv betrachtet, weil hier in erster Linie gezielt Verantwortungsträger in Institutionen
angesprochen und damit strukturelle Veränderungsprozesse angestoßen werden (können).
Nachhaltigkeit setzt allerdings – auch dies eine Einsicht aus der niederländischen Studie – den
Abschied von kurzfristigen, mehr oder minder zufällig und ohne geplante Folgemaßnahmen
stattfindenden Trainings voraus.
Die Transformation von Gelerntem in konkrete Gestaltungsprozesse ist das Anliegen noch
stärker handlungsorientierter Bildungsformen und Projekte, wie sie in Deutschland recht
frühzeitig schon z.B. im Umfeld der vom Jugendamt der Evangelischen Kirche von
Westfalen-Lippe initiierten, pädagogisch begleiteten und dokumentierten Ansätze entwickelt
wurden (vgl. Projekthandbuch Rechtsextremismus 1989; Posselt/Schumacher 1993,
90
Neuauflage 2001; im Hinblick auf die Durchführung von Umfragen und anderen Erhebungen
zur Thematik durch SchülerInnen der Sek. II auch Sander/Hülshörster 1998; ein ähnlich
handlungsorientiertes Heft des Wochenschau-Verlag ist in Vorbereitung). Dieser Typus
beschränkt sich nicht auf die Erörterung von Ideologien und Versuche ihrer argumentativen
Aushebelung. Ebenso wenig verbleibt er im Spielelabor. Vielmehr konzentriert er sich auf
Vorschläge und Anleitungen für konkrete Aktionen, die Rechercheformate annehmen
(Interviews, Video- Erkundungen, Archivarbeit), aber auch das Terrain der klassischen
Pädagogik verlassen und in politisches Handeln übergehen können (Mahnwachen,
Demonstrationen, Plakatierungen, öffentliche Solidaritätsbekundungen mit Verfolgten,
Inszenierung öffentlicher Events, Forumtheater, Denkmalsenthüllungen etc.). Dabei ist nicht
nur die Zielgruppe der ohnehin Aufgeklärten im Visier. Stattdessen wird davon ausgegangen,
dass konkretes Tun bei Kindern und Jugendlichen, die sich auf der Suche nach Orientierung
befinden, Lerneffekte mit sich bringt, die die Sinnhaftigkeit demokratischen Handelns
unmittelbar erlebbar machen und so die Motivation stärken, demokratisches Wissen in tätige
politische Moral umzusetzen. Manche der Projekte gehen so weit, dass sie sich nicht auf
punktuelle bzw. kurzfristige Aktionen beschränken, sondern eine nachhaltige Veränderung
lebensweltlicher Strukturen anstreben. Der Ansatz geht von der Devise aus, dass der Mensch
vielleicht 20% von dem verinnerlicht, was er hört, aber 98% von dem, was er selber gemacht
hat, wobei diese Quantifizierungen freilich mehr der Illustration dienen als wissenschaftlich
belegt werden (vgl. Spiele 1996, 120).
Besonders weitreichend ist ein in Deutschland noch eher wenig bekannter französischer
Ansatz, der des französischen Soziologen und Psychologen Charles Rojzman und seines
programmatisch benannten Zentrums "Impatiences démocratiques" in Arles (vgl. kurz
Eisfeld/Ott 2000). Ausgehend von dem Wissen, dass Rechtsextremismus und Gewalt keine
Randerscheinungen der Gesellschaft sind, sondern in ihrer Mitte wurzeln, schlägt er eine
Gesellschaftstherapie vor, für die die Wiederherstellung zerstörter Beziehungen im
Gemeinwesen den Kernpunkt bildet. Zielgruppe sind deshalb primär die Angehörigen von
Institutionen. Sie sollen mit potenziellen oder faktischen Konfliktparteien (Jugendlichen,
PolizistInnen, SozialarbeiterInnen, Geschäftsleuten etc.) im Gemeinwesen sog.
"Kooperationsgruppen" bilden, die Vorschläge für gewaltfreies Gemeinwesenleben
ausarbeiten und sich untereinander dabei vertraglich zu kontinuierlicher Teilnahme
verpflichten, dafür aber auch vom regulären Dienst freigestellt bzw. befristet beschäftigt
werden. Die Vorteile, die in diesem Herangehen gesehen werden, sind doppelseitig:
Menschen, die als 'Störenfriede' wahrgenommen werden, werden in kollektive Lösungen
einbezogen und Institution können bürokratischer Erstarrung entraten.
Experimentell wie es sich versteht, legt dieses lebensweltintervenierende wie auch das
spielerische Herangehen weniger Wert auf eine wissenschaftlich exakte Evaluation. Wichtiger
sind ihm Rückmeldungen aus der Praxis. Legt man diesbezüglich die Nachfragen nach
einschlägigen Materialien zu Grunde, so fallen sie ausgesprochen positiv aus. Allerdings will
es scheinen, als konzentrierten sie sich auf die außerschulische Pädagogik mit Kindern und
Jugendlichen und besonders engagierte Lehrkräfte. SchulpraktikerInnen halten demgegenüber
– wie es scheint – gewohnheitsmäßig und strukturkonform eher an zeitlich zum traditionellen
Schulablauf passenden Unterrichtseinheiten fest. Erwachsenenbildung präferiert – jedenfalls
in ihrer deutlichen Mehrheit – ebenfalls weiterhin Unterrichtungsformate (Vorträge,
Kursreihen, Diskussionsveranstaltungen etc.).
Wenn somit die Evaluation von Unterrichts-, Bildungs- und Trainingseinheiten, trotzt ihrer
weiten Verbreitung noch recht dürftig ausfällt, bleibt wenigstens aus theoretischer Sicht
festzuhalten:
91
Aus
der
Perspektive
des
aktuellen
Stands
der
wissenschaftlichen
Rechtsextremismusforschung muss eine kognitivistisch verkürzte Bildungsarbeit als
aussichtslos eingeschätzt werden. Rechtsextreme Orientierungen bestehen gerade im
Jugendalter nicht (nur) aus ideologischen Überzeugungen. Sie sind vielmehr
(jugend)kulturell-symbolisch und emotional konturiert. Sie entstehen im wesentlichen aus
bestimmten Alltagserfahrungen. In sie ist die Person als 'ganzer Mensch' eingebunden (vgl.
Heitmeyer u.a. 1992, 1995; Möller 2000a). Von daher ist auch im Bildungsbereich der Hebel
dort anzusetzen. Dies bedeutet nicht, dass der argumentative Diskurs nicht entwickelt werden
müsste. Er ist gerade im Umgang mit ideologisch verfestigten Rechten unabdingbar (vgl.
Wagner/Richter 1996). Es zeigt sich jedoch deutlich, dass mehr Demokratiewissen nicht
linear zu mehr demokratischem Handeln führt. Dort, wo Wissen über eigene Erfahrung zu
Stande kommt, hat es gute Chancen internalisiert und zur Richtschnur des eigenen Handelns
gemacht zu werden. Pädagogisch käme es daher darauf an, Wissens- über
Erfahrungsproduktion anzustoßen. Im Kontext von Bildung sind deshalb Trainings-,
Begegnungs-, Recherche- und Produktionsformate erfolgversprechend. Designs, die
spielerische Elemente beinhalten, an unmittelbaren lebensweltlichen Erfahrungen anknüpfen
und lebensweltliche Gestaltungsinteressen wecken und befriedigen, kommen am ehesten
einem modernen ganzheitlichen Lern-Verständnis entgegen, wobei allerdings zum einen auch
eine mögliche Überforderung vorausschauend bedacht und vermieden werden und zum
anderen die Einbettung einzelner Einheiten in ein langfristig angelegtes Gesamtkonzept
erfolgen muss. Dieses hat Arbeit am Bewusstsein mit Arbeit am konkreten Sein zu
integrieren. Letzteres ist um so wichtiger, weil allein mit der Änderung von individuellem
Denken noch keine Veränderung Ungleichheit und Gewalt stabilisierender Strukturen und
Institutionen verbunden ist.
Unbeschadet dieser ersten Einschätzungen bleibt die Evaluation von Unterrichts-, Bildungsund Trainingskonzepten ein dringliches Desiderat. Wenn schon für die Niederlande, wo AntiDiskriminierungsarbeit und –trainings eingesessener sind, festgestellt werden muss, dass
Trainingsanbieter nur kaum und dabei noch unsystematisch Indikatoren für Erfolg angeben
können (vgl. Abell 2001), so kann die Situation in Deutschland diesbezüglich wohl noch als
eher schlechter eingeschätzt werden. Und generell gilt für Programme zur Verbesserung von
Intergruppen-Beziehungen, also auch für Ansätze, die über Trainingskonzepte hinausgehen,
hierzulande erheblich zugespitzt das, was Stephan/Stephan (2001a, b) nach umfassenden
Meta-Analysen sogar für die diesbezüglich viel weiter entwickelte Forschungslandschaft in
den USA feststellen: "more research on the outcomes of intergroup relations techniques is
needed" (ebd., 4). Bei ihrer selbst für die USA in dieser umfassenden Anlage einmaligen
Meta-Evaluation von sechs Typen von "intergroup relation programs" ("multicultural
education programs", "diversity trainings", "intergroup dialogue programs", "cooperative
learning groups", "intergroup conflict resolution techniques", "moral education programs")
stellen sie nämlich fest: Leichte, aber signifikante positive Veränderungen von Einstellungen
und Verhaltensweisen lassen sich zwar unmittelbar nach dem Durchlaufen des jeweiligen
Programms und auch noch später auffinden, allerdings ist nicht angebbar, ob spezifische
Programmkomponenten, die Art und Weise des Umgangs mit dem Programm oder andere
denkbare Faktoren für Erfolg im Sinne der Zielerreichung generell oder auch für die
Nachhaltigkeit von intendierten Effekten ausschlaggebend sind. Der Autor und die Autorin
fordern deshalb, Forschungsanstrengungen vor allem in drei Evaluationsbereichen zu
unternehmen: Effektivitätsprüfungen, Untersuchungen zur Verbesserung der Prozessqualität
und vergleichende Studien, um die relative Effektivität verschiedener Programme und
Techniken überprüfen zu können. Die enormen Defizite innerhalb des deutschen
Forschungsstandes lassen keinen anderen Schluss zu und fordern eine erhebliche Verstärkung
von Evaluationsbemühungen unübersehbar heraus.
92
3.1.3 Konzepte der Qualifizierung personaler Kompetenzen und des allgemeinen
sozialen Lernens
Konzepte zur Qualifizierung personaler Kompetenzen und des allgemeinen sozialen Lernens9
können sich auf die zahlreichen theoretischen und empirischen Befunde berufen, die einen
engen Konnex zwischen unzureichend entwickelten Mechanismen und Kompetenzen der
subjektiven Erfahrungsstrukturierung und dem Verfolgen ausgrenzender, gewalthaltiger und
extremistischer Positionen und Verhaltensweisen konstatieren (vgl. Frey/Haußer 1987;
Schwind/Baumann u.a. 1990; Olweus 1991, 1997; Tennstädt 1991; Tennstädt/Dann 1992;
Klosinski 1993; Böhnisch 1994; Fend 1994; Smith/Sharp 1994; Balser/d'Amour 1995; von
Borries 1995; Hopf u.a. 1995; Petermann u.a. 1997; Menschik-Bendele/Ottomeyer 1998;
Möller 2000a, 2001; Lutz 2000, Schubarth 2000). Folglich zielen sie darauf ab, bei
Individuen und Gruppen (z.B. in Schulklassen) Kompetenzerhöhungen zu erzielen, die
insbesondere Qualifizierungen von Wahrnehmung, Selbstausdruck, Kommunikation,
Interaktion, Urteilen und Reflexion beinhalten. Entsprechendes Lernen betrifft also
Selbstkompetenz, Sozialkompetenz und Schlüsselqualifikationen. In Anlehnung an die
Definition sozialer Kompetenz von Bloomquist (1996) ist davon auszugehen, dass sie dazu
dienen sollen, umweltbezogene und persönliche Ressourcen gezielt so einsetzen zu können,
dass eine optimale Entwicklung ermöglicht wird. Im Mittelpunkt steht die Arbeit an
grundlegenden Kompetenzen wie Frustrations-, Ambivalenz- und Ambiguitätstoleranz,
Rollendistanz, Reflexivität, Perspektivenübernahme, Empathie, verbalem Interessenausgleich,
gewaltfreier Konfliktregelung und Verantwortungsübernahme. Dem adäquaten Umgang mit
Emotionen, motorischen Antrieben und ihrer Abstimmung mit der kognitiven
Informationsverarbeitung sowie mehr oder weniger explizit auch dem moralischen Lernen
werden dabei herausragende Rollen zugewiesen.
Basierend auf lerntheoretischen Grundlagen und operierend mit Modellernen, Rollenspielen,
verstärkenden Verhaltensrückmeldungen und z.T. Einübungen des Alltagstransfers bestehen
die im Umlauf befindlichen Konzepte größtenteils aus Trainingsformaten. Sie bieten Spiele
und Übungen, die bausteinartig miteinander kombiniert werden können. Zumeist werden sie
primärpräventiv oder in Verbindung von Primär- und Sekundärprävention eingesetzt.
Kompetenztrainings liegen für alle Altersgruppen vor (vgl. über die im folgenden diskutierten
Ansätze hinaus auch: z.B. Korte 1996; Pölert-Klaasen 1997, 1998; Ministerium für Kultus
1999; Portmann 1998; Akin 2000; Böhner 2000; Reiners 2000).
Trainings für Kinder fokussieren – seit etwa 20 Jahren in Deutschland verbreitet (vgl.
Petermann/Petermann 2000a) - insbesondere auf den Ausbau von Selbstsicherheit und
Selbstbehauptung. Das Programm von Hanewinkel u.a. (1994; vgl. auch Aßauer/Hanewinkel
2000) sieht elf eineinhalbstündige Einheiten für die fünfte und sechste Klasse vor. Es zielt im
wesentlichen darauf, eigene Verhaltensunsicherheiten wahrnehmen, Mimik und Gestik
deuten, eigene und fremde Ansprüche erkennen, Kritik annehmen, mit Misserfolg umgehen
und so letztlich Selbstsicherheit gewinnen zu können. Das "Sozialtraining in der Schule" der
Arbeitsgruppe um Petermann (1999) richtet sich an die dritte bis sechste Klasse und umfasst
einen vergleichbaren Zeitraum (10 Sitzungen à 90 Minuten). Deutlicher noch zählt es die
Entwicklung von Perspektivenwechselfähigkeit, Einfühlungsvermögen und Kooperation als
Alternative zu aggressivem, ängstlichem oder sozial isoliertem Verhalten zu seinen Zielen,
womit es sich nicht prinzipiell von dem älteren, mehr sekundärpräventiven speziellen
Antiaggressionstraining für Kinder (vgl. Petermann/Petermann 2000c) unterscheidet.
Evaluationen belegen aggressionsreduzierende Effekte (vgl. Petermann u.a. 1997).
9
Wenn hier von Konzepten allgemeinen sozialen Lernens die Rede ist, meint dies Ansätze, die nicht
spezielle Schwerpunktsetzungen, etwa auf interkulturelles Lernen (vgl. dazu auch Kap. 3.1.17) oder
Streitschlichtung (vgl. Kap. 3.1.4), vornehmen, sondern eher unspezifische, basale Kompetenzen schulen.
93
Kompetenztrainings für Jugendliche existieren in Deutschland kaum länger (vgl. Pielmaier
1980). Sie beanspruchen im allgemeinen nur unwesentlich mehr Zeit als die Trainings mit
Kindern, unterscheiden sich auch in weiten Teilen der Zielsetzungen kaum, legen jedoch oft
altersbedingt mehr Wert auf den Ausbau von Selbstkontrolle und Ausdauer, sind methodisch
dem Alter angepasst und ventilieren Inhalte, die dem Jugendliche interessierenden
Themenkreis von Berufsorientierung, Partnerschaft(splanung), Freizeitaktivitäten etc.
entspringen.
Das von Petermann/Petermann entwickelte Training (2000b) setzt auf eine Kombination von
Einzel- (fünf Sitzungen) und Gruppentraining (zehn zweistündige Sitzungen in Gruppen von
5 bis 6 Personen). Positive Verhaltenseffekte gelten als empirisch belegt. Vor allem als
Effekte des Gruppentrainings werden ein Abbau des Problemverhaltens und ein Aufbau neuer
Verhaltensweisen beobachtet (vgl. ebd.).
Das für die Sekundarstufe I entwickelte Unterrichtsprogramm von Lerchenmüller (vgl. 1986,
1987; Lerchenmüller-Hilse 1996) versteht sich ausdrücklich als Delinquenzprophylaxe. Als
Ziele werden erweiterte Fähigkeiten bezüglich Urteilsfähigkeit, Beziehungs- und
Empathiefähigkeit, kommunikativen Kompetenzen, Rollendistanz und Ambiguitätstoleranz
angegeben. Es umfasst 26 Unterrichtsbausteine à jeweils einer Doppelstunde.
Handlungsorientiert, auf die Erfahrungswelt von Schülern und Schülerinnen bezogen und
unter Einbezug affektiver Auseinandersetzung sollen die Teilnehmenden anhand der
Diskussion von Bild- und Kurzgeschichten, Videos, Rollenspielen, Kleingruppenarbeit etc.
lernen, Peergruppen-Druck zu widerstehen und die Folgen gewalttätigen Handelns z.B. im
Cliquenverbund rechtzeitig zu durchschauen. Das Einräumen von "Meckerstunden" sowie die
begleitende Beratung des/der KlassenlehrerIn lösen den kontextbezogenen Anspruch des
Trainings ein, wonach die atmosphärischen Lernbedingungen in Klassenverband und Schule
positiv mit beeinflusst werden sollen. Auswertungen des Programms mit achten Klassen von
Real- und Hauptschulen über ein halbes Jahr hinweg in den achtziger Jahren ergeben die
gewünschten Lerneffekte: eine Verbesserung des Klassenklimas, der Qualität der SchülerLehrer-Beziehung und vor allem ein Anstieg der Empathiefähigkeit sowie der
kommunikativen und speziell konfliktlösungsorientierten Kompetenzen auf Seiten der
Schülerschaft. Allerdings unterstreichen sie auch zur Erzielung nachhaltiger Wirkungen die
Notwendigkeit einer dauerhaften und frühzeitigen (spätestens in der Grundschule
ansetzenden) Implementation sozialen Lernens in der Schule und der Entgrenzung einer
Engführung sozialer Lernprozesse auf reine Trainingsprogramme (vgl. ebd.).
Eine aktuelle Weiterentwicklung des Trainings von Petermann/Petermann (FIT FOR LIFE;
vgl. Jugert u.a. 2001a, b), weiterhin auf der theoretischen Grundlage des Modell sozialkognitiver Informationsverarbeitung von Dodge (vgl. 1993; Crick/Dodge 1994), ferner der
Lerntheorie Banduras (vgl. 1986) und allgemeiner jugendpsychologischer Erkenntnisse zielt
neben der Verbesserung des Lern- und Arbeitsverhaltens der TeilnehmerInnen explizit auf die
Prävention und Reduktion von sozialen Konflikten und Verhaltensstörungen. Es wendet sich
an sozial benachteiligte Zielgruppen. 13 Module (von "Gesundheit", "Selbstsicherheit" und
"Körpersprache" über "Gefühle" und "Kommunikation" bis zu u.a. "Einfühlungsvermögen
und "Fit für Konflikte 1 und 2") sind vorgesehen, um "Scheinkompetenzen" wie z.B.
"Aggression", "Extremismus" und "Delinquenz" als "Ausdruck misslingender Bewältigung
von Entwicklungsaufgaben des Jugendalters" (vgl. ebd., 40) abzubauen und durch tragfähige
soziale Kompetenzen wie "Aufmerksamkeit und Ausdauer, Lern- und Leistungsmotivation,
Selbst- und Fremdwahrnehmung, stabiles Selbstbild, Selbstkontrolle und Selbststeuerung,
sorgsames Umgehen mit dem eigenen Körper, Erkennen und Ausdrücken von Gefühlen,
Einfühlungsvermögen (Empathie, Perspektivenübernahme), Kommunikation, Kooperation,
Entscheidung und Planung (Beruf, Leben, Zukunft), Annehmen von Lob und Kritik,
94
Überwinden von Misserfolgen, rationales (gewaltfreies) Verhalten in Konflikten" (ebd., 42f.)
zu ersetzen. Quantitative Auswertungen liegen für Rückmeldungen von im Durchschnitt
19jährigen Jugendlichen aus berufsvorbereitenden Maßnahmen sowie von BeobachterInnen
(Lehrpersonen, TrainerInnen, Sonstige) in einem Prä- und Posttestdesign (Jugendliche: N=
118 plus N= 96 Kontrollgruppe beim Ausfüllen des ersten Fragebogens), für Jugendliche
zudem ein Follow up nach drei Monaten (N=56 in der Experimentalgruppe, N= 39 in der
Kontrollgruppe) vor. Auf dieser sehr schmalen Datenbasis und bei von den EvaluatorInnen
eingestandnermaßen erheblichen methodischen Problemen bei der Datenerhebung (rd. 30%
statistische Mortalität zwischen Prä- und Posttest) zeigt sich, dass die Selbsteinschätzung des
eigenen Aggressivitätsniveaus in Prä- und Posttest (Follow up-Ergebnisse werden nicht
präsentiert) bei der Experimentalgruppe gleich bleibt und nur von einem positiven Effekt des
Trainings insofern ausgegangen werden kann, als das selbst zugeschriebene
Aggressionsniveau der Kontrollgruppe im selben Zeitraum ansteigt. Es verwundert deshalb
nicht, wenn die Autorengruppe – allerdings ohne nähere Begründungen anzuführen - meint:
"In der Hauptsache sollte sich eine Evaluation des FIT FOR LIFE-Trainings auf die
Fremdbeurteilungen stützen" (ebd., 81). Ebendiese werden allerdings ihrer Zahl nach nicht
ausgewiesen, beziehen sich in nicht nachvollziehbarer Weise auf "N=69 bis N=78
Jugendliche" (ebd., 83), werden in völlig unklarer Weise mit einer vorher nie erwähnten
Gruppe von "ZweitbeobachterInnen" in Beziehung gesetzt und können doch letztlich nicht
eine signifikate Aggressionssenkung ausmachen (vgl. ebd., 82ff.). Die unzureichende Qualität
dieser (Selbst)Evaluation sollte weniger als Argument gegen die Effektivität dieses Trainings
oder vergleichbarer Ansätze der Kompetenzenschulung verwendet, denn als (ungewolltes)
Plädoyer für seriöse externe Evaluationen gewertet werden.
Das in Deutschland bekannteste und auch im Kontext von Deeskalationstrainings (vgl. dazu
Kap. 3.1.6) in Auszügen benutzte Training für Erwachsene ist das erstmals bereits 1983 von
Pfingsten und Hinsch vorgelegte "Gruppentraining sozialer Kompetenzen" (GSK) (vgl.
Pfingsten/Hinsch 1998). Es basiert auf kognitiver Verhaltenstherapie, nutzt entsprechend
Selbstinstruktions- und Problemlöseverfahren und verknüpft diese mit Rollenspielen und
Entspannungstechniken. Wissenschaftlich geprüfte Effekte sind nicht bekannt; PraktikerInnen
greifen jedoch gerne, auch bei Arbeit mit jüngerem Klientel, auf die Übungen des GSK
zurück.
Ebenfalls für Erwachsene (Eltern, Lehrkräfte) wie für Kinder und Jugendliche lässt sich das
Gordon-Konflikttraining nutzen (Gordon 1990a, b). Hier wird davon ausgegangen, dass
Konflikte in sozialen Geflechten zur Normalität gehören, sie aber prinzipiell ohne Niederlage
und Gesichtsverluste für die an ihnen Beteiligten gelöst werden können. Lösungen sollen in
sechs Schritten angegangen werden: Identifikation und Definition des Konflikts (1.),
Entwicklung von Alternativen (2.), kritische Bewertung der Alternativlösungen (3.),
Entscheidung für die beste annehmbare Lösung (4.), Ausarbeitung von praktikablen
Lösungswegen (5.) und spätere Überprüfung der Angemessenheit der gefundenen Lösung
(6.). Propagiert wird vor allem das Aussenden von Ich-Botschaften, um Selbstauskünfte über
das eigene Befinden zu ermöglichen und schuldzuweisende Du-Botschaften zu vermeiden.
Zentral ist in diesem Zusammenhang die Verwendung einer Sprache der Akzeptanz, die
verbal, gestisch und mimisch die Bereitschaft zu aktivem Zuhören und zu Ernstnehmen des
Gegenübers signalisiert. Für den Bereich von Schule berichten Lehrkräfte von positiven
Wirkungen vor allem auf Argumentationsfähigkeiten und die Kompetenzentwicklung von
Perspektivenübernahme.
Maßnahmen zur Moralentwicklung zielen im Kontext der Bearbeitung von
Ungleichheitsvorstellungen darauf ab, dass die TeilnehmerInnen zur moralischen Reflexion
ihrer Auffassungen über Minderheiten gebracht werden.
95
Im Rahmen der auf Rokeach (1971) zurückgehenden sog. value confrontation techniques
werden sie individuell aufgefordert, diejenigen 10 Werte nach dem Grad ihrer Wichtigkeit
aufzulisten, die für sie persönlich am bedeutsamsten sind. Im allgemeinen wird dabei der
Werte der Freiheit weit höher eingeschätzt als der der Gleichheit. So wird problematisiert, mit
welcher moralischen Berechtigung, der Wert der eigenen Freiheit höher eingeschätzt werden
darf als der der Freiheit der anderen. Mit dem Verweis auf selbst vertretene moralische Werte
werden in dieser Weise fremdenfeindliche Auffassungen konterkariert. Für Studierende
konnten Katz und Ivey (1977) und Altemeyer (1994) explorativ nachweisen, dass die
auftretenden kognitiven Dissonanzen durch eine Absenkung der vormaligen Vorurteile
reduziert wurden. Ob dies auch für jüngere Leute (aus anderen Milieus und in
Handlungsfeldern außerhalb von Universitäts-Labors, z.B. Jugendarbeit und Schule) und vor
allem auch längerfristig gilt, bleibt weiteren Evaluationen zu untersuchen vorbehalten.
Eher auf die Qualifizierung der Sozialkompetenz der Lehrkräfte gerichtet ist das Konstanzer
Trainingsmodell (vgl. Tennstädt 1987). Es vermittelt Lehrpersonen spezifische Fähigkeiten
für die Reaktion auf Unterrichtsstörungen und im Unterricht auftauchende Aggressionen. Im
wesentlichen geht es um die Verbesserung der Wahrnehmung von Störungen und
Aggressionen, ihrer Erklärung und Einordnung sowie des Verhaltens in
Entscheidungssituationen, konkreter pädagogischer Gegensteuerungen und der Einschätzung
des Handlungserfolgs. In Trainingstandems, zu denen zwei oder mehrere KollegInnen
gehören, werden gegenseitige Unterrichtsbesuche organisiert, Konfliktsituationen beobachtet,
Lösungen dokumentiert und besprochen. Die empirische Evaluation belegt eine Steigerung
des Selbstvertrauens im Umgang mit Konfliktsituationen bei Lehrpersonen und eine wohl
deshalb auch höhere Bereitschaft zu konsequentem Einschreiten ihrerseits bei gleichzeitigem
Rückgang strafender Maßnahmen. Des weiteren zeigt sich ein Anwachsen des Interesses an
Schule und der Leistungsbereitschaft bei SchülerInnen, eine Verbesserung des Klassen- und
Kollegiumsklimas sowie vor allem eine Senkung aggressiven Schülerverhaltens um rd. ein
Viertel; dies jedoch nur im unmittelbaren Unterrichtsgeschehen, nicht allgemein auf
Schulebene und auch nicht speziell in Hinsicht auf rechtsextrem und/oder fremdenfeindlich
motivierte Aggression.
Eine Beschränkung der Wirksamkeit von solchen Trainings des sozialen Lernens liegt darin,
dass sie schwerpunktmäßig auf personaler Ebene ansetzen und institutionelle wie darüber
hinaus reichende strukturelle Bedingungen weitgehend ausblenden. Dies gilt auch, wenn sie
als Klassenprogramme ausgelegt sind oder im Rahmen von Projektwochen und Fortbildungen
auf Schulebene verfolgt werden. Zumeist individualistisch- und/oder gruppentherapieorientiert angelegt, priorisieren sie zwar potenziell ganzheitliches Erfahrungslernen vor dem
Ansatz bloßer Wissensvermittlungen, folgen aber der Spur des Hilfeparadigmas und nutzen
die Potenziale des Gestaltungsparadigmas nicht aus.
Weiterführend erscheint demgegenüber ein relativ neuartiges Programm des sozialen Lernens,
das das Trainingsformat überwindet und Soziales Lernen durch das Versetzen von
TeilnehmerInnen in fremde Lebenswelten und die Teilnahme am Alltag der ihr Angehörigen
dort zu erreichen trachtet. So vermittelt etwa die Stuttgarter "Agentur Mehrwert" (früher:
"Modellprojekt soziales Lernen") seit 1996 vornehmlich junge Menschen aus Schule,
Jugendarbeit und Ausbildungsunternehmen, aber auch Manager aus Betrieben, für bestimmte
Zeiträume (als Anstoß und für Schlüsselerlebnisse u.U. nur für drei bis fünf Tage) in soziale
Einrichtungen. Ausgehend von der gesellschafts- (speziell individualisierungs-)theoretisch
begründeten Einsicht "Eine funktionierende Gesellschaft braucht ein Gegengewicht zu
Ökonomie und Leistung" (Keppler u.a. 1999, 13) versteht sich das neue Lernarrangement als
vernetzungsförderlicher "Beitrag zur Gestaltung einer 'Neuen Kultur des Sozialen'" (ebd., 23).
96
Es soll über die Eröffnung von Begegnungsmöglichkeiten mit Behinderten, Alten und sozial
Benachteiligten Schlüsselqualifikationen und Sozialkompetenz, ja "Sozialkapital" in der
Zivilgesellschaft stärken. Eine über zwei Jahre (November 1996 bis Juni 1998) hinweg
vorgenommene wissenschaftliche Begleitung erfasste per halbstandardisierter FragebogenUntersuchung die Einschätzungen von 408 (von insgesamt 441) jungen Menschen im Alter
zwischen 13 und 24 Jahren in 21 Projekten. Zusätzlich wurden 253 Tagebücher und
Praktikumsberichte ausgewertet. Weitere Interviews blieben ohne systematische Auswertung.
Die Ergebnisse zeigen nicht nur, dass die Mehrzahl der Teilnehmenden angibt, neue
Erfahrungen gemacht (über zwei Drittel), neues soziales Wissen erworben (deutlich über die
Hälfte) und an sozialer Sensibilität gewonnen zu haben (je nach Fragebereich rd. 30% bis rd.
55%), sondern sie können auch als Zugewinn an "Verständnis und Toleranz" gedeutet (vgl.
ebd., 57) und für über die Hälfte der Teilnehmenden als Eröffnung eines neuen Zugangs für
soziales Engagement gelesen werden (vgl. ebd., 79). Dessen unbeschadet bleibt die
Nachhaltigkeit der gefundenen Effekte zu überprüfen (vgl. zu aktuellen Projekten auch:
Mehrwert 2002).
3.1.4 Mediation und Streitschlichtung
Mediation führt den Gedanken bloßer Deeskalation (vgl. dazu Kap. 3.1.6) insofern weiter, als
sie sich nicht mit der situationsfokussierten Aufarbeitung eines einzelnen Konflikts zufrieden
gibt, sondern ihre TeilnehmerInnen darüber hinaus in konstruktive Formen der
Konfliktregelung einführen will, die ihnen auf Dauer eine eigenständige, gemeinschaftliche
und gewaltfreie Schlichtung ermöglichen.
Im Kern handelt es sich um ein kommunikatives Verfahren der außerjustiziellen10,
informellen Vermittlung von (keinesfalls: Ermittlung bei) Streitfällen durch unparteiische
Dritte, das seit den 60er Jahren in den USA verbreitet wird (vgl. Besemer 1996). Es stellt
einen geschützten Raum für ein Gespräch (ggf. auch eine Serie von Gesprächen) zur
Verfügung, in dem ein unmittelbarer Kontakt der Streitparteien zu Stande kommt, ihre
Anliegen auf den Tisch kommen, ihre den Konflikt betreffenden Gefühle ausgedrückt, die
wirklichen und durch das Konfliktgebaren der Akteure womöglich verdeckten Interessen
geklärt und gegenseitige Verstehensbemühungen in Gang gesetzt werden können. Die Rolle
der vermittelnden Person liegt dabei darin, den Streitenden einen Weg zu einer
einvernehmlichen Lösung aufzuzeigen, die beide Seiten (ggf. auch mehr als zwei Seiten)
gleichermaßen zufrieden stellen kann. Sie enthält sich dabei jeglichen Urteils oder gar
Schuldspruchs und richtet ihre Anstrengungen darauf, die Streitenden selbst in Stand zu
setzen, selbstständig Lösungen zu finden, die optimalerweise eine "win-win-Situation"
beinhalten (vgl. Fisher/Ury/Patton 1993). Der erzielte Konsens wird in einer Vereinbarung
festgehalten.
Mediation kann mit Einzelpersonen wie mit Gruppen erfolgen. Angewandt wird sie in
verschiedenen Feldern, z.B. bei Scheidungsangelegenheiten (vgl. z.B. Duss-von Werdt 1995;
Friedman 1996), in familiären Konflikten (Proksch 1998; Bannenberg 1999),
Nachbarschaftsstreitigkeiten, Mietauseinandersetzungen oder anderen Rechtsstreitigkeiten
bzw. in Strafsachen (etwa im Rahmen der Umsetzung von "restorative justice"; vgl. Pelikan
1999), Arbeitsplatz- und betrieblichen Ausbildungskonflikten (Bundesinstitut für
10
Als außerjustizielles Verfahren ist Mediation nur dann aufzufassen, wenn der Täter-Opfer-Ausgleich (s.
Kap. 3.1.11) nicht als Mediation verstanden wird. Entgegen der auch international durchaus gebräuchlichen
Verwendung des Begriffs "Mediation" eben dafür beziehen wir uns hier im Unterschied dazu auf Verfahren, die
darauf verzichten, die unzweifelhafte Feststellung des Tathergangs in Verbindung mit einem Schuldurteil
vorzunehmen; dies deshalb, weil solche Vorgehensweisen in wichtigen pädagogischen bzw. sozialarbeiterischen
Feldern (vor allem in Schule) vorherrschen.
97
Berufsbildung 1998), politischen Konflikten, etwa zwischen Bürgerinitiativen und
Verwaltung, interkulturellen Auseinandersetzungen (vgl. Haumersen/Liebe 1999) aber
zunehmend auch im Kontext von Täter-Opfer-Ausgleich und vor allem bei
Auseinandersetzungen zwischen Kindern (vgl. auch Scholl/Korell 2001) und Jugendlichen
(vgl. Hauk-Thorn 2001) oder zwischen jungen Leuten und Erwachsenen im schulischen und
außerschulischen Bereich (vgl. Walker 1991, 1995a, b; Faller/Kerntke/Wackmann 1996;
Faller 1998; Jefferys-Duden 1999, 2000, 2001a, b; Jefferys-Duden/Noack 2000;). Wie aus
Kap. 1 ersichtlich, erfreuen sich einschlägige Zusatzausbildungen z.Zt. großer Nachfrage, vor
allem von Lehrern und Lehrerinnen. Der MediationsGuide 2000, ein von der Kölner Zentrale
für Mediation herausgegebenes Verzeichnis von MediatorInnen, weist über 500 Personen aus.
Bei dieser Zahl ist zu berücksichtigen, dass es noch keine rechtlich geschützte
Berufsbezeichnung für MediatorInnen gibt und die Diskussion um Mindeststandards noch
geführt wird.
Voraussetzung für den Beginn von Mediation ist, dass die Konfliktbeteiligten nach ihrer
eigenen Einschätzung an die Grenzen ihrer eigenen Konfliktlösungskompetenzen gestoßen
sind und beide Seiten freiwillig am Mediationsverfahren teilnehmen (vgl. aber zur
Relativierung des Freiwilligkeitsprinzips die unten stehenden, kurzen Ausführungen zu
Schulmediation).
Die Schritte des Verfahrens gliedern sich in die Vorphase, das Mediationsgespräch und die
Umsetzungsphase (vgl. Besemer 1999).
In der Vorphase geht es darum, die Konfliktparteien an einen Tisch zu bekommen; denn
längst nicht immer suchen beide Seiten von sich aus und womöglich auch noch gemeinsam
das Mediationsgespräch. Wird ein Konflikt von einem/r der Beteiligten an den Mediator/die
Mediatorin herangetragen und dies mit dem Wunsch nach Vermittlung verbunden, so sucht
der Mediator/die Mediatorin die andere Partei auf, um sie zur Teilnahme an einem
Vermittlungsgespräch zu bewegen. Unter Umständen hört aber die Mediationsperson auch
nur von Dritten von einem Konflikt. In diesem Fall würde sie versuchen, beide Parteien zu
kontaktieren, um sie zu einer einvernehmlichen Problemlösung zu motivieren. Die
Freiwilligkeit der Teilnahme bleibt dabei jedoch grundsätzlich zu wahren.
Das Mediationsgespräch soll an einem neutralen Ort geführt werden. Schon die Sitzordnung
soll eine Kommunikationsatmosphäre ermöglichen, die ein Gespräch 'auf gleicher
Augenhöhe' erlaubt und eine offene und vertrauensfördernde Grundlage schaffen kann. Zu
Beginn klärt der Mediator/die Mediatorin die Parteien über den Ablauf, die eigene Rolle und
die Grundregeln auf. Er/sie versichert sich noch einmal der Freiwilligkeit der Teilnahme und
der Bereitschaft zur Lösungssuche. Unbeschadet dessen, dass spezielle Regeln für die
folgende verbale Auseinandersetzung vereinbart werden können, gelten Ausredenlassen und
jeglicher Gewaltverzicht nicht nur während des Gesprächs, sondern insgesamt während der
Mediationsphase als unverzichtbar. Nach der Einleitung erhalten die Konfliktparteien
nacheinander die Gelegenheit, ungestört von Unterbrechungen ihre jeweiligen Sichtweisen
darzulegen. Es folgt die Phase der Konflikterhellung: Hintergründe der konfliktbehafteten
Auseinandersetzung, die in verborgenen Gefühlen und Interessen liegen, sollen aufgeklärt und
benannt werden. Das Aussenden von Ich-Botschaften und das Paraphrasieren des vom
Gegenüber Gehörten sind dabei wichtige Methoden. Ist so die Basis für gegenseitiges
Verstehen geschaffen, sollen anschließend – u.a. zunächst über brainstorming –
Möglichkeiten der Problemlösung in den Blick genommen und ausgelotet werden. Sind sie
gefunden, wird eine zumeist schriftlich festgehaltene Übereinkunft geschlossen, die nicht nur
die Lösung, sondern auch die Möglichkeiten der Überprüfung ihrer Umsetzung durch die
Beteiligten selbst enthält. Sollte dies erforderlich erscheinen, können die MediatorInnen
allerdings auch in Ergänzung zu diesem Grundmuster Einzelgespräche mit den Beteiligten
einschieben, um Klärungen voranzutreiben.
98
In der Umsetzungsphase nimmt die Mediationsperson nach einem gewissen Zeitraum noch
einmal Kontakt mit den vormaligen Streithähnen auf, um nach der Tragfähigkeit der
gefundenen Lösung(en) zu fragen und ggf. Korrekturen vorschlagen zu können.
Grenzen des Einsatzes von Mediation liegen vor, wenn
 sich der Streit in einer akuten Phase befindet,
 die Streitenden kein Interesse an einer einvernehmlichen Lösung ihres Konflikts besitzen,
 eine der Seiten nicht freiwillig mitmacht,
 Gewaltsamkeit oder Bedrohungen virulent sind,
 gravierende und nicht zu überbrückende Machtunterschiede zwischen den streitenden
Parteien bestehen,
 bloße Ja-/Nein-Entscheidungen zu treffen sind,
 grundsätzliche Wertorientierungen oder grundlegende Rechte (z.B. Recht auf Gleichheit,
Gewaltfreiheit) zur Verhandlungsdisposition gestellt werden,
 nicht
ein
Mindestmaß
an
Verbalisierungsfähigkeit
und
kommunikativer
Selbstbehauptungsfähigkeit vorausgesetzt werden kann und
 kein hinreichender Zeitraum für die Erzielung einer einvernehmlichen Lösung zur
Verfügung steht.
Mediation wird gerade auch als Chance in der Arbeit mit gewaltbereiten Jugendlichen
gesehen. Ihr wird zugeschrieben, wichtige Lernprozesse einleiten bzw. aufrecht erhalten zu
können, die nachweislich (vgl. Möller 2000a, 2001) eine Distanzierung von gewaltsamem
Handeln begünstigen. Dazu gehören "transformative" Funktionen wie:
 das Verbalisieren von Emotionen,
 die Übernahme der Perspektive von Anderen,
 die Entwicklung von Empathie,
 Verbesserungen der Fremdwahrnehmung im interpersonalen Verhältnis,
 die Erhöhung der Selbstkontrolle,
 das Führen diskursiver Interaktionen,
 das Verdeutlichen der Bedeutung von gegenseitiger Achtung, Akzeptanz und Toleranz,
 das
Erlernen
gewaltfreier,
eigenständiger
Selbstbehauptungsund
Auseinandersetzungsformen sowie Konfliktlösungen (vgl. auch Simsa 2001, bes. 10ff.,
82ff.).
Insofern sind sie nicht nur gleichsam defensiv auf die Aufarbeitung vergangener
Auseinandersetzungen gerichtet, sondern führen offensiv und mit Zukunftsbezug in ein
konstruktives, gewaltfreies Agieren ein (vgl. auch Mücke/Korn 2000)
Zunehmend wird Mediation in der pädagogischen und sozialen Arbeit mit Kindern und
Jugendlichen nach Vorbildern aus Großbritannien und vor allem den USA, wo entsprechende
Ansätze schon seit den 80er Jahren verbreitet und in den letzten 10 Jahren weiter ausgebaut
wurden, auch als Peer-Mediation konzipiert (vgl. Faller/Kerntke/Wackmann 1996; JefferysDuden 1999, 2000; Jefferys-Duden/Noack 2000; Simsa 2001). An Schulen werden dann
mittels entsprechender Bildungsprogramme für Schüler und Schülerinnen (in Hessen von 30
bis 40 Unterrichtseinheiten) AGs von "StreitschlichterInnen" bzw. "Konfliktlotsen"
eingerichtet. Erwachsene PädagogInnen fungieren begleitend als "Coaches". Modellversuche
an einzelnen Schulen existieren mittlerweile in allen Bundesländern; in Hessen sind (und
werden) Projekte besonders stark verbreitet (vgl. Simsa/Schubarth 2001). Aus solchen
Versuchen ist bekannt, dass das Prinzip der Freiwilligkeit nicht immer durchgehalten wird
(vgl. Simsa 2001, bes. 76ff.). Aus der Stellung von Mediation zwischen Recht und Pädagogik
erwächst, dass sie teilweise in Ordnungsmaßnahmeverfahren überführt wird. Konkret: Es
99
wird mit Sanktionen gedroht, wenn Mediation nicht in Anspruch genommen wird. Mediation
ist dann keine Alternative mehr zum Schulordnungsrecht, sondern wird als eines seiner
Elemente genutzt.
Der theoretische Ausgangspunkt wird nicht in allen Konzeptausarbeitungen ersichtlich.
Manche bestehen nur mehr oder weniger aus einer Aneinanderreihung von Techniken,
Handlungsanweisungen und spielerischen Übungen, die vor allem zur Ausbildung von
MediatorInnen und StreitschlichterInnen und zur Arbeit in Schulklassen und Jugendgruppen
dienen.
Zu Grunde liegt aber wohl im allgemeinen ein positiver Konfliktbegriff: "Nicht der Konflikt
an sich ist das Problem, sondern die Art und Weise, wie damit umgegangen wird"
(Faller/Kerntke/Wackmann 1996, 11). Konflikten wird aus dieser Sicht "Lern- und
Wachstumspotenzial" (ebd., 12) unterstellt. Oft bezieht man sich auf den österreichischen
Unternehmens- und Organisationsberater Friedrich Glasl und seine Definition von Konflikt:
"Sozialer Konflikt ist eine Interaktion zwischen Aktoren (Individuen, Organisationen,
Gruppen
usw.),
wobei
wenigstens
ein
Aktor
Unvereinbarkeiten
im
Denken/Vorstellen/Wahrnehmen und/oder Fühlen und/oder Wollen mit dem anderen Aktor
(anderen Aktoren) in der Art erlebt, daß im Realisieren eine Beeinträchtigung durch einen
anderen Aktor (die anderen Aktoren) erfolgt" (Glasl 1997, 14 f.; vgl. auch Glasl 2000).
Wo Peers einbezogen werden, knüpft man an Erfahrungen mit Peer-Education an und leitet
aus ihnen ab, dass sich Kinder und Jugendliche zumindest in bestimmten Bereichen ihres
Verhaltens eher an Gleichaltrigen als an Erwachsenen orientieren. Unterlegt wird das Konzept
des Modell-Lernens.
Wenn Streitschlichtung in ein generelles Konfliktmanagement einmünden soll (wie ebd.),
zielt man auf mehr ab als die Veränderung individuellen Verhaltens. Es wird die Absicht
verfolgt, zu strukturellen Wandlungen beizutragen, die es Initiativen und Organisationen,
insbesondere auch pädagogischen Einrichtungen wie Schulen und Jugendzentren, erlauben,
Mechanismen zu entwickeln, die Konflikte möglichst frühzeitig konstruktiv zu lösen
gestatten. Mit solchen Ansätzen der Struktur- und Organisationsentwicklung sollen
klimatische Bedingungen geschaffen werden, die einer Präventionskultur zuträglich sind. Zu
ihnen gehört neben der Etablierung des Mediationskonzepts im engeren Sinne auch (vgl.
Faller 1998; Simsa 2001):
 der Ausbau sozialen Lernens in Form von mehr kooperativem, projekt- und
handlungsorientiertem Lernen,
 die Entwicklung von Aufmerksamkeit für in den verschiedenen Phasen von Gruppen- und
Klassenbildung sich wiederholenden Situationen (Klassenbildung, Gruppenprozesse), für
die damit für alle Beteiligten verbundenen Orientierungsprobleme und für deren
systematische Bearbeitungsformen,
 die Verankerung von Mediation im Schulprogramm,
 die Kooperation von Schule und Jugendhilfe und
 die Öffnung der Schule gegenüber dem Gemeinwesen.
Entwicklungen sollten dabei nicht 'von oben' gesteuert werden, sondern beteiligungsressourcen- und prozessorientiert angelegt sein (vgl. Faller 1998, 209). Dies meint: Die
Menschen, die von den Veränderungen betroffen sind, sollten aktiv in den Planungs-,
Durchführungs- und Entscheidungsprozess einbezogen werden. An den vor Ort vorliegenden
positiven Ansätzen, Erfahrungen und Kompetenzen sollte angeknüpft werden, statt ein von
woanders entlehntes Modell überzustülpen. Und: Der Weg der Zielerreichung ist wichtig. Er
sollte in Etappen einteilbar sein, die eine Kontrolle von Fortschritten und ggf. auch
Verirrungen erlauben.
100
Evaluation empfehlen umfassende Mediationskonzepte zwar dringlich. Im Hinblick auf
wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Evaluation von Mediations-Konzepten ist – wie
bei anderen Konzepten auch – dennoch weitgehend Fehlanzeige zu vermelden. Ein aktueller
Bericht der "Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention" des Deutschen
Jugendinstituts (DJI) bestätigt: "Hinweise auf Ergebnisse wissenschaftlicher Begleitung oder
Selbstevaluation finden sich nur vereinzelt" (Gabriel u.a. 1999). In Bezug auf die mediative
Klärung rechtsextrem aufgeladener Konflikte ist schon dies ein Euphemismus.
Immerhin aber liegen einige erste Erfahrungen in Hinsicht auf allgemeine Gewaltprävention
durch Mediation aus wissenschaftlichen Begleitungen vor. Die zweijährige Begleitung des
hessischen Modellprojekts von Konfliktmanagement an Schulen ergibt in dieser Hinsicht mit
Bezug auf 39 Schulen: Die Schulen vermelden mehrheitlich (30 Schulen) eine "Verbesserung
des Klassenklimas", eine "Erhöhung von Konfliktlösungskompetenz" und dabei auch eine
Verringerung von Aggressionen (Simsa 2001, 41). Chancen auf Erfolge steigen in dem Maße
wie längerfristige Implementationen (als ideal wird eine Laufzeit von 4 bis 5 Jahren bis zur
endgültigen Etablierung betrachtet) vorliegen. Mit peer-mediation wurden – allerdings
wurden hier nur insgesamt 102 Konfliktfälle in 50 Mediationsgesprächen an zwei Schulen
ausgewertet – gute Erfahrungen gemacht: Danach interessieren sich vor allem Mädchen für
den StreitschlichterInnen-'Job' und nehmen vor allem ältere Kinder bzw. jüngere Jugendliche
(5. und 6. Klasse) Mediation in Anspruch. Allerdings betrifft nur etwa ein Viertel der Fälle
körperliche Angriffe; die anderen Konfliktfälle beinhalten 'weichere' Streitpunkte und –
formen (z.B. Meinungsverschiedenheiten). Immerhin kommt es in 86% der Fälle zu
Vereinbarungen und haben die Konfliktlotsen das Gefühl, mit ihrer Arbeit das Gewaltniveau
verringern zu können (vgl. Simsa 2001; Stahlberg 1998, 17).
Freilich kann daraus nicht geschlossen werden, mit Mediation sei nun der Königsweg für
Gewaltprävention und rechtzeitige –intervention gefunden. Erfahrungen aus anderen
Programmen zeigen: Auch wenn der Anteil konstruktiver Konfliktlösungen zunimmt, kann
die Zahl der destruktiven Konfliktbearbeitungsformen hoch bleiben (vgl. Noack 1998; Simsa
2001). Erfahrungsberichte, die erfreulicherweise positive Effekte (Erhöhung des
Zusammengehörigkeitsgefühls von Klassen und nach durchlaufener Mediation steigende
Bereitschaft, ernsthafte Konflikte zu vermeiden) vermelden, sind viel zu ungenau (vgl.
Jefferys-Duden/Noack 2000; Jefferys-Duden 1999). Detaillierte Forschung ist unbedingt
erforderlich. Denn: "Es fehlen weitgehend theoriegeleitete und empirisch valide
Untersuchungen zur Gewaltprävention an Schulen. Dies gilt insbesondere für die
Schulmediation, die bisher weder eine systematische Erfassung der verschiedenen Modelle,
noch einen inhaltlichen Vergleich der unterschiedlichen Programme verzeichnen kann.
Evaluationsstudien mit einer langfristigen wissenschaftlichen Begleitung von
Mediationsprojekten zur Messung der Effizienz der jeweiligen Ansätze gibt es zurzeit nicht"
(Simsa 2001, 87).
Aus einer regional (auf Frankfurt und Umgebung) beschränkten ExpertInnen-Befragung unter
MediatorInnen lässt sich weniger über konkrete Wirkungen, immerhin aber einiges über
gängige Anwendungsrahmen und Desiderata entnehmen (vgl. Schmauch 2001a, b). Danach
sind Konfliktanlässe häufig u.a. auch Kämpfe um Positionen, Ränge und Anerkennung. Sie
sind nicht selten auch durch ethnisch konturierte Abgrenzungen aufgeladen. Um sie adäquat
anzugehen, erscheint den Befragten nicht nur eine Implementierung von
Streitschlichtungsarbeit in den Regelbetrieb pädagogischer Einrichtungen, sondern weiter
ausgreifend im Sinne eines systemischen Verständnisses auch ein Transfer – ggf. auf den
jeweiligen Praxisbereich hin abgewandelter - mediativer Prinzipien und Elemente in die
Alltagsarbeit von Schule und Jugendarbeit erforderlich (vor allem Schulung der
Wahrnehmung, Regelgebrauch, Sensibilisierung für Sprache als Macht- und
101
Kommunikationsmittel), wobei auch Grenzen darin gesehen werden, gesellschaftliche
Sozialisationsbereiche wie Familie, Betrieb und Straße erreichen zu können. Der z.B. in
Bochum und in Bielefeld-Sennestadt erstem Anschein nach mit Erfolg erprobte Einsatz von
jugendlichen Coolness-ExpertInnen zur Prävention und Schlichtung von Streitereien im
ÖPNV (insbesondere in Schulbussen) dürfte in dieser Hinsicht nur ein allererster Schritt sein
(vgl. auch kurz: Fluter 2/2002, 45). Bis zur Entwicklung geeigneter Beeinflussungsstrategien
weiterer Bereiche des Aufwachsens werden die o.e. Transferprobleme wohl so weit bestehen
bleiben, dass der Gedanke einer flächendeckenden Verbreitung mediativer Grundannahmen,
Methoden und Verfahren konstruktiver Konfliktregelung mit Widerständen rechnen muss.
3.1.5 Schulumfassende Programme
Schulumfassende Programme – dies meint in diesem Zusammenhang Bündel von
Maßnahmen, die nicht (nur) an einzelne Schüler und Schülerinnen oder einzelne Klassen
adressiert sind (wie etwa Beratungsarbeit, Unterrichtseinheiten und -formen), sondern die
jeweilige Schule als ganze erfassen. Zu unterscheiden sind im wesentlichen drei Ansätze:
erstens solche, die eher auf Einstellungsbereiche abheben, zweitens Ansätze, die auf die
Prävention und adäquate Intervention von gewaltförmigem Verhalten zielen und drittens
weiter gesteckte Programme, die insgesamt eine Demokratisierung der Schulkultur anstreben.
Aus der Vielfalt der im Umlauf befindlichen Ansätze werden im folgenden solche
ausgewählt, die Auswertungen vorweisen können oder wenigstens aktuell von hoher
Bedeutung sind und für Evaluationen besonders lohnend erscheinen (vgl. zu weiteren
Ansätzen zusammenfassend: Schubarth/Ackermann 1997; Schubarth 2000).
Als Ansatz, der in erster Linie den Abbau von Vorurteilen und die Verbreitung von antirechten Einstellungen betreibt, ist das schon seit 1990 zunächst an bayerischen Schulen
praktizierte Anti-Rassismus-Training (A.R.T.) für Schüler und Schülerinnen zu nennen (vgl.
Heigl 1996). Anders als die Bezeichnung vermuten lassen könnte, enthält es nicht nur
Übungen und Simulationen zur Reflexion von Fremdheitserfahrungen und Entwicklung
kreativer Ansätze des Umgang mit ihnen. Über die Formatierungsgrenzen eines Trainings
hinaus regt es auch die Selbsttätigkeit von Schülern und Schülerinnen an, indem nicht allein
im Sinne von Peer-Education jüngere SchülerInnen (ab der sechsten Klasse) von älteren (ab
der neunten Klasse) trainiert werden, sondern z.B. auch von ihnen Besuche in
Flüchtlingsunterkünften, multikulturelle Schulfeste, Ausstellungen oder Flugblattaktionen
organisiert werden. Eine systematische Evaluation existiert jedoch nicht.
Bekannter, verbreiteter und breitrahmiger angelegt ist das inzwischen mehrfach preisgekrönte
Programm "Schule ohne Rassismus" der seit 1992 bestehenden "Aktion Courage e.V.". Es
handelt sich um eine ursprünglich 1988 im belgischen Antwerpen als Reaktion auf
Wahlerfolge des rechtsextremen Vlaamse Blok entwickelte, 1994 in die Niederlande und ab
Sommer 1995 auch nach Deutschland importierte Idee. Im wesentlichen ausgehend von der
Initiative von SchülerInnen (nach ersten Beobachtungen überproportional stark von Mädchen)
beinhaltet sie den Gedanken, einen breit angelegten Prozess der Auseinandersetzung mit
Diskriminierung und Rassismus in Schulen voranzutreiben, an dessen Ende die
Verabschiedung eines Regelwerkes für eine "Schule ohne Rassismus" steht (vgl. näher
Handbuch 1996, 50ff.), das von mindestens 70% der an der jeweiligen Schule Beteiligten
(Lehrkörper, SchülerInnenschaft, HausmeisterInnen, Reinigungspersonal etc.) unterzeichnet
worden sein soll und als positives Signal für den Willen zu Diskriminierungsbekämpfung und
unter Umständen auch für weiterreichende Demokratisierungsinteressen publikumswirksam
in eine entsprechende Außendarstellung münden soll. Die Regeln sind durchaus
102
niederschwellig angesetzt. Sie enthalten im wesentlichen die Selbstverpflichtung, rassistische
Propaganda im Schulrahmen nicht zu dulden, Diskriminierung und Rassismus in der 'eigenen'
Lehranstalt nicht zuzulassen, Initiativen zur interethnischen Verständigung zu ergreifen und
kontinuierlich dem gemäße Projekttage durchzuführen sowie in der Bewegung "Schule ohne
Rassismus" mitzuarbeiten. Eine Bundeskoordination und regionale Service-Stationen dienen
der Unterstützung des Prozesses durch Vernetzungsangebote, Eingabe von Projektideen,
Materialienhinweise, Tipps für Handlungsschritte, Überzeugungsarbeit, Öffentlichkeitsarbeit,
Sponsoring usw. (vgl. dazu auch ebd. sowie Schule ohne Rassismus 1996). Inzwischen (Stand
Januar 2002) sind 87 Schulen (davon 74 im Westen der Republik) "Schulen ohne Rassismus"
und befinden sich zahlreiche weitere Schulen in einem entsprechenden
Selbstverständigungsprozess (vgl. insgesamt auch www.aktioncourage.org). Eine Evaluation
des Projekts liegt nicht vor. Dies ist um so bedauerlicher, als die lebensweltnahe schüler-,
verständigungs- und handlungsorientierte Vorgehensweise mit ihrem Einbezug der
verschiedenen Ebenen der Institution Schule wie ihres öffentlichen Umfelds den Ansatz aus
theoretischer Sicht als durchaus erfolgversprechend erscheinen lässt. Zu prüfen ist allerdings,
inwieweit der schon programmatisch ausgedrückte Impetus des Antirassismus auch zu
oberflächlichem Engagement oder gar zu demonstrativer Gleichgültigkeit oder – ähnlich wie
bei historsicher Bildung zum Nationalsozialismus beobachtet (vgl. Kap. 3.1.1) – zu
Abwehrhaltungen z.B. bei 'rechten' SchülerInnen führen kann.
Anti-Gewalt-Programme sind im allgemeinen nicht spezifisch auf die Reduktion von
fremdenfeindlicher bzw. sonstiger minoritätenfeindlich motivierter und rechtsextremer
Gewalt orientiert. Sie streben vielmehr die Herstellung und Erhaltung eines möglichst gewaltund angstfreien Schulklimas und dafür die Etablierung von demokratischen
Konfliktregelungsstrukturen an.
Bereits seit Mitte der 90er Jahre wird - zunächst in Schleswig-Holstein, später auch in
Rheinland-Pfalz – "Prävention im Team" (PIT) angeboten. Hinter dem Titel verbirgt sich ein
neben die Problematiken von "Sucht" und "Diebstahl" (in Schleswig-Holstein) bearbeitendes
auch zentral auf "Gewalt" abzielendes Unterrichtsprogramm für die Klassen 6 bis 8 aller
allgemeinbildenden Schulen. Sein Kern besteht in einem dreiphasigen Programm von
mindestens 12 Unterrichtsstunden, das von Lehrkräften und Polizeibeamten, ggf. auch unter
Hinzuziehung von Schülern und Teilen der Elternschaft, durchgeführt wird, wobei die
KlassenlehrerInnen die einführende Rolle, die PolizistInnen die Vertiefungsphase und beide
Berufsgruppen in Phase drei die Anleitung und Moderation von bestimmten Wahrnehmungs-,
Kommunikations-, Interaktions- und Kooperationsübungen für die Schüler und Schülerinnen
übernehmen. Als anspruchsvolle Ziele werden weit ausgreifend eine "Stärkung des
Normenbewusstseins, Erfahrung, Erprobung und Aneignung sozialer Kompetenzen, Auf- und
Ausbau des Selbstbewusstseins, des Selbstwertgefühls und der Eigenverantwortlichkeit,
Entwicklung von Einsicht in konstruktive Konfliktlösungsmöglichkeiten, Förderung von
Fähigkeiten zu gewaltfreien Problemlösungen, Verbesserung des sozialen Klimas in der
Klasse, Wecken von Verantwortung für gefährdete Mitschüler" (Pädagogisches Zentrum
2000, 29) benannt. Eine vom Institut für Soziologie der Universität Mainz in den Jahren 1999
und 2000 durchgeführte Evaluation an 17 rheinland-pfälzischen Schulen, davon 10 mit dem
Themenschwerpunkt "Gewalt" befragte in einem Vorher-Nachher-Design rd. 600 beteiligte
Schüler und Schülerinnen, ex post ferner 35 Lehrkräfte und 17 Polizeibeamte. Als bei Lehrerund Schülereinschätzungen übereinstimmendes Ergebnis wird festgehalten, dass zwar
Einsichtsfähigkeiten gestiegen sind und gewaltförderliche Einstellungen gesunken sind - vor
allem bei Hauptschülern – (vgl. ebd., 124), die Klassengemeinschaft gestärkt, vermutlich auch
die Integration ausländischer SchülerInnen, ohne dass dies explizit beabsichtigt gewesen
wäre, gefördert (ebd., 162) und Berührungsängste gegenüber der Polizei abgebaut werden
konnten (ebd., 225), konkrete Verhaltensänderungen in Richtung auf Reduktion des realen
103
Gewaltlevels aber kaum festgestellt werden können (vgl. ebd., 62). Verbesserungen werden
im verstärkten Einbezug außerschulischer Aktivitäten, der zeitlichen Ausdehnung des
Projekts, dem intensiveren Eingehen auf Diskussionswünsche von SchülerInnen und der
Herstellung von mehr Transparenz im Hinblick auf die Sinnhaftigkeit der in Phase drei
anstehenden spielerischen Übungen gesehen; Vorschläge, die auch als Defizitmarkierungen
wenig langfristig angelegter, stark unterrichtlich beschränkter, unzureichend schüler-,
lebenswelt- und handlungsorientierter und mangelhaft vernetzter Ansätze betrachtet werden
können.
Umfassender als dieses Projekt und auch als die im Abschnitt zu Mediation und
Streitschlichtung benannten Ansätze (vgl. Kap. 3.1.4) versteht sich in das Programm
"Konflikt-Kultur", das in der Arbeitsgemeinschaft für Gefährdetenhilfe und Jugendschutz in
der Erzdiözese Freiburg entwickelt wurde (vgl. Grüner/Hilt 1998). Es bietet ein am Prinzip
der Nachhaltigkeit orientiertes "Paket" an, in dem neben der Implementation von Mediation
und Streitschlichtung auch das Vorgehen des Täter-Opfer-Ausgleichs, Krisenintervention in
schwierigen Gruppensituationen und Maßnahmen zur Stärkung der Erziehungskompetenz,
u.a. mittels Teamentwicklung, enthalten sind. Evaluationen liegen allerdings nicht vor.
Als besonders erfolgversprechend hat sich das nach dem norwegischen Schulforscher Olweus
benannte Mehr-Ebenen-Programm gezeigt. Auf lerntheoretischer Basis visiert es durch elternund lehrergestützte Maßnahmen auf Schul-, Klassen- und SchülerInnen-Ebene an, den
Kreislauf von Angst und Gewalt zu durchbrechen. Auf individueller Ebene sieht es intensive
Gespräche zwischen Lehrpersonen und an Gewalt beteiligten SchülerInnen sowie zwischen
Lehrpersonen und den Eltern dieser SchülerInnen, Hilfen für familiäre Problemsituationen,
Diskussionsgruppen für Eltern von Tätern und Opfern und ggf. auch Klassen- und
Schulwechsel von SchülerInnen vor. Auf Klassenebene werden sanktionsflankierte Regeln
gegen Gewalt in Absprache zwischen SchülerInnen und Lehrkräften aufgestellt, regelmäßige
klasseninterne Gespräche zum Umgang mit diesen Regeln durchgeführt, inhaltlich
spezifizierte und handlungsorientierte Behandlungen der Thematik im Unterricht
vorgenommen, allgemeine soziale Lernprozesse gefördert und die Kooperation mit
ElternvertreterInnen intensiviert. Auf Schulebene werden mittels einer Erhebung das Ausmaß
und die Problemstellen von Gewalt in der Schule festgestellt, ein Pädagogischer Tag zur
Diskussion der Ergebnisse und ihrer Konsequenzen anberaumt und auf einer sich
anschließenden Schulkonferenz ein schulspezifisches Anti-Gewalt-Programm verabschiedet,
das etwa eine Optimierung der Pausenaufsicht, die Umgestaltung des Schulhofes (vgl. dazu
auch die positiven Erfahrungen mit einer Aggressionsreduktion in Rheinland-Pfalz durch das
Projekt "Sport und Spiel statt Gewalt auf dem Schulhof: Ministerium für Bildung,
Wissenschaft und Weiterbildung 2000), die Einrichtung eines Kontakttelefons, die
Durchführung thematisch einschlägiger schulinterner Lehrerfortbildungen und spezifische
Kooperationsformen mit den Eltern beinhalten kann.
Evaluationen des Olweus-Programms konnten einen deutlichen Rückgang von
Gewaltsamkeiten um bis zu 50% innerhalb von 24 Monaten (bei der Durchführung eines von
Schule zu Schule modifizierten Olweus-Programms in Schleswig-Holstein allerdings nur um
1,5 % bis zu 7,6 % innerhalb eines Jahres beim Mobbing; vgl. Knaack/Hanewinkel 1999)
ausmachen (vgl. Olweus 1991; 1996). Sie ergeben darüber hinaus einen Zugewinn an sozialer
Kompetenz (wie Aufeinander-Eingehen, Sicht-Füreinander-Einsetzen) auf Seiten der Schüler
und Schülerinnen (vgl. Hanewinkel/Knaack 1997, 302; Olweus 1996, 71).
Noch stärker auf die Etablierung von Schule als ganzheitlichem Lebensraum zielt das seit
1993 an Berliner Grund- und Hauptschulen gepflegte Konzept "Lebenswelt Schule" (vgl.
Hensel 1995; Senatsverwaltung für Schule 1995). Es beabsichtigt, das eingeschränkte
104
Verständnis von Schule als bloßer Agentur der Wissensvermittlung zu überwinden und
reklamiert deshalb einen erweiterten Erziehungsauftrag für sich. Zum ihm gehört die
Einflussnahme auf die soziale und räumliche Gestaltung der Schule, die Verlebendigung des
Lernens, die Öffnung von Schule in den Freizeitbereich hinein und die Qualifizierung des
Integrationsvermögens der Schule. Wichtigste Einzelziele sind die Erhöhung des
beschädigten Selbstwertgefühls von SchülerInnen mit geringem Schulerfolg (differenzierter
Unterricht, erlebnispädagogische Elemente u.a.m.), die Erhöhung der Identifikation aller
Beteiligten mit 'ihrer' Schule (Schulband, Feste etc.), die Entwicklung sozialer
Handlungskompetenzen und gewaltfreier Konfliktregelungsformen (Streitschlichtung) und
Angebote im Übergang zum außerunterrichtlichen Bereich (Cafeteria, Aktionen etc.).
Erfahrungen zeigen, dass an den vier Modellschulen die Gewaltbereitschaft gesenkt und bei
den Beteiligten das Selbstverständnis einer guten Schule aufgebaut werden konnte. Allerdings
macht der dafür aufgebrachte personelle Ressourcenbedarf (z.B. Kooperation von mehreren
SpezialistInnen, Beteiligung von Studierenden, SozialpädagogInnen, Eltern und
zivilgesellschaftlichen AktivistInnen bei hohem persönlichen Einsatz) eine flächendeckende
Übertragung eher unwahrscheinlich und lässt das Projekt daher realistischerweise eher an
sozialen Brennpunkten empfehlenswert erscheinen (vgl. Schubarth/Ackermann 1997).
In die Lücke mangelnder Verbindung von Ursachenanalyse, pädagogischem Handeln, dessen
Evaluation und ihrer Rückmeldung in die Praxis stößt gegenwärtig das noch laufende Projekt
"Unsere Schule...". Seit Frühjahr 2001 (bis August 2003) gemeinsam vom Potsdamer Institut
für angewandte Familien- Kindheits- und Jugendforschung e.V. (IFK) und dem Göttinger
Institut für berufliche Bildung und Weiterbildung e.V. (ibbw) durchgeführt, befragt es
zunächst Schüler und Schülerinnen an 250 Schulen in 10 Bundesländern u.a. zu den
Themenbereichen "Rechtsextremismus", "Ausländerfeindlichkeit" und "Gewalt", um der
jeweiligen Schule präzise Angaben über die Situation vor Ort liefern zu können. In einem
zweiten Schritt werden auf der Basis dieser Ergebnisse Qualitätsentwicklungen angestoßen
und Fortbildungsangebote (vor allem Lehrmaterialien und Fernlehrgänge für Lehrpersonen)
entwickelt. Eine Folgebefragung ab dem Frühjahr 2003 soll den Effekten der Fortbildungen
im Schulklima und für die Schulentwicklung nachgehen. Sie wird an die Schulen
zurückgespiegelt. Publizierte (Zwischen-)Ergebnisse liegen noch nicht vor.
Insgesamt betrachtet stellt sich somit die Situation der Evaluation von schulischen
Gewaltpräventions- und –interventionsprogrammen, mehr noch von 'Anti-RassismusAnsätzen', erheblich defizitär dar (vgl. Schubarth 1998, 154ff). Die Befunde können
dahingehend zusammengefasst werden, dass diejenigen Projekte Erfolg im Sinne einer
signifikanten Reduktion von Gewaltproblemen bzw. im Sinne der Herstellung eines
vergleichsweise niedrigen Gewalt- und Ausgrenzungsniveaus vorweisen können, die mehrere
Ebenen einbeziehen – Nolting/Knopf (1998) benennen etwa die schulbezogene, curriculare
sowie täter- und opferbezogene -, diesbezüglich zumindest auf der Ebene der
Schülerpersönlichkeit und der schulinternen Interaktionen (Schulkultur) operieren und dabei
(vgl. Olweus 1991, 1997; Tennstädt 1991; Tennstädt/Dann 1992; Smith/Sharp 1994;
Petermann u.a. 1997; Dann 1997; Schubarth/Ackermann 1997; Lutz 2000;
www.b.shuttle.de/b/frbayer-os/proj-ued.htm; zu speziellen Anforderungen an den
Grundschulunterricht zusammenfassend: Schubarth/Ackermann 1997):
 SchülerInnen ein positives Selbstkonzept mit angemessenen Formen der Selbstbehauptung
und der Identitätsentwicklung vermitteln,
 differenzierte soziale Wahrnehmung schulen,
 sozialverträglichen Gefühlsausdruck erlernbar machen,
 Empathie entwickeln,
105
 ein positiv erlebtes, auf einem breiten Werte- und Normenkonsens aufruhendes und über
die Einhaltung von Regeln erhaltenes Schulklima ermöglichen,
 über kooperativ-kommunikative Umgangsstile Informationsfluss und Transparenz sichern
und eine Atmosphäre sozialen Lernens erzielen,
 die Qualität der Lehrer-Schüler-Beziehung entwickeln,
 Kompetenzerweiterungen und Qualifizierungen aller Beteiligten anstreben,
 konzeptionell, kollegial, koordiniert und selbstreflexiv handeln,
 ressourcenorientiert vorgehen und
 emotionale Zugehörigkeiten, Verantwortlichkeiten, ja Bindungen an Gemeinschaften
vermittels Partizipations-, Selbststeuerungs- und Anerkennungsmedien herstellen.
Davon, dass für entsprechende Umsetzungen Schulsozialarbeit hilfreich und unter Umständen
gänzlich unverzichtbar ist, kann ausgegangen werden (vgl. auch ebd.).
Darüber hinaus besteht die Notwendigkeit, diese Dimensionen um die Perspektive der
Einflussnahme auf die sozialökologische Schulumwelt zu erweitern (vgl. auch
Forschungsgruppe Schulevaluation 1998), also die Öffnung und Vernetzung von Schule zu
betreiben.
Projekte der Öffnung der Schule zum Gemeinwesen beinhalten wichtige gewaltpräventive
und -interventive Potenziale. Dies kann auch die Evaluation eines Modellprojekts "Stadtteil
und Schule" belegen (vgl. Mutzeck/Faasch 1998), die über 3 Jahre hinweg die
gemeinwesenbezogenen
Vernetzungsanstrengungen
von
Schulen,
Jugendhilfe,
psychosozialen Beratungseinrichtungen und zivilgesellschaftlichen Vereinigungen als
Reaktion auf überproportionale Kriminalitätsbelastungen und Gewaltauffälligkeit von
Kindern und Jugendlichen sowie im Nachgang zu "rechtslastigen Wahlergebnissen" (ebd., 8)
in einem Lübecker Stadtteil wissenschaftlich begleitete. Nach den Beobachtungen der
Beteiligten gelang es, durch Intensivierung, teilweise gemeinsame Planung und Abstimmung
von Beratungs-, Freizeit- und Therapieangeboten, spezifisch ausgerichtete Projekte an
Schulen und kooperative Unterrichtsprojekte der Netzwerkpartner, die allgemeine
Gewaltbereitschaft und –tätigkeit der jungen Generation zu senken, das Schulklima zu
verbessern und eine stärkere Integration der auffälligen Schüler und Schülerinnen zu erzielen.
Explizit wird im Evaluationsbericht festgehalten, dass "Präventionsarbeit langfristig angelegt
sein muß", "kooperative Umsetzungsstrategien immer erfolgreicher als Einzelmaßnahmen
waren", "die häufig weitreichenden Kompetenzen von Nichtprofessionellen (Nachbarn,
Trainer, Freunde)" gerade beim Einbezug von Eltern "erfolgreich genutzt werden" können
und "rein schulisch orientierte Einzelmaßnahmen zur Erziehungshilfe auf Dauer wirkungslos
bleiben" (ebd., 176f.). Eine enge Zusammenarbeit von Schul- und Sozialpädagogik wird für
unabdingbar gehalten, auch über Schulsozialarbeit hinaus.
Inhaltlich und strukturell besonders umfassend als demokratiepädagogisches
Schulentwicklungsprogramm setzt das im Frühjahr 2002 zunächst in 12 Bundesländern mit je
sechs bis 20 beteiligten Schulen startende BLK-Modellprogramm "Demokratie lernen und
leben" an (vgl. Edelstein/Fauser 2001; Regionale Arbeitsstelle 2001). Es will neue
"Gelegenheiten für verständnisintensives Lernen" stiften, die "gleichzeitig der individuellen
Entwicklung und der demokratischen Umgestaltung der Schule dienen" (Edelstein/Fauser
2001, 16). Auch wenn es die allgemeine schulische Demokratieerziehung nicht eingeengt für
die Prävention von und Intervention bei Gewalt, Rechtsextremismus und
Fremdenfeindlichkeit instrumentalisiert sehen will (vgl. ebd., 8), wird zentral auf den
"grundlegenden
und
empirisch
nachgewiesenen
Zusammenhang
zwischen
Demokratieerfahrung und Gewaltverzicht (verwiesen): Wenn Kinder und Jugendliche die
Erfahrung machen, dass in Schule und Erziehung Mitwirkung, demokratisches Handeln und
106
Verantwortungsübernahme erwünscht sind und als wichtig anerkannt werden, sind sie für
Gewalt und Rechtsextremismus weniger anfällig als Jugendliche, denen diese Erfahrung
versagt bleibt" (ebd., 21). Deshalb wird die "schüleraktive" Transformation der "dominante(n)
Form des reproduktiven unterrichtlichen Lernens" und eine Ablösung der von Jugendlichen
als "abstrakt" und "lebensfern" erlebten "wissensbezogenen Didaktik" durch ein
"erfahrungsgeleitetes und Erfahrung vermittelndes Lernen" angezielt (ebd., 23). Dazu sollen
bestimmte Strukturelemente – Module, Themen und Schwerpunkte – dienen. Module meinen
die "institutionellen Entwicklungsbereiche der Schule", konkret: den Unterricht, Projekte als
"zentrale didaktische Handlungsform" (ebd., 25), die partizipationsorientierte Erfahrung von
"Schule als Demokratie" (z.B. über Ausbau der bestehenden und Aufbau neuer
Mitbestimmungsmöglichkeiten sowie Konfliktmediation bzw. Streitschlichtung) und das
Erleben von "Schule in der Demokratie" durch ihre Öffnung zum Gemeinwesen, Community
Education (vor allem Aktivierung partnerschaftlicher Zusammenarbeit von schulischen und
außerschulischen Akteuren) und Service-Learning (z.B. Durchführung von Projekten mit
realem Nutzen für die Schule und/oder die Gemeinde). Institutionelle Schwerpunkte werden
in den Bereichen von Grundschulen (hier vor allem: toleranter Umgang mit Differenz) und
beruflicher Bildung (hier u.a.: kooperative Selbstorganisation und –verantwortung von Lernen
in Projekten und Ausbau beruflicher Schulen zu "regionalen Kompetenz- bzw.
Berufsbildungszentren") gesetzt. Themensetzungen finden – und dies macht das Vorhaben für
den hier diskutierten inhaltlichen Zusammenhang von besonderer Relevanz - unter den
Stichworten "interkulturelles Lernen" und "Gewaltprävention" statt. Unter dem zuletzt
genannten Label wird für den Aufbau von Unterstützungsnetzwerken zwischen Schule,
Elternhaus und Jugendhilfe, für sozio-emotionale Entwicklungsinterventionen u.a. zur
Gegensteuerung von Empathiedefiziten bei SchülerInnen und für Peer-Mediation plädiert. Für
interkulturelles Lernen wird eine "Integrationspädagogik" vorgeschlagen, die strukturelle
Integrationsbemühungen mit persönlichen und kulturellen "Verhaltensassimilationen"
verbindet und ebenfalls die Kooperation schulischer und außerschulischer Akteure aktiviert
(ebd., 50). Das Programm wird von einer Fort- und Weiterbildung der Professionellen
begleitet, die insbesondere auf die Förderung von Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, der
intrinsischen Motivation und der sozialen Kompetenz bei SchülerInnen abhebt. Dazu gehört
neben dem bereits Genannten explizit auch die Förderung von Fähigkeiten zu
Perspektivenwechsel, das Training von Zivilcourage und die Einübung in demokratisches
Diskutieren. Die Aktivitäten sollen in einen mehrdimensional kooperativ vernetzten Prozess
der Schulentwicklung eingebettet werden, die der Idee des der einzelnen Schule ein
spezifisches Profil verleihenden Schulprogramms folgt. Das heißt Aktivitäten der Gewaltund Extremismusprävention und der darüber hinaus weisenden Demokratieerziehung sollen
wie andere Schulaktivitäten auch in einen Prozess der gemeinsamen Verständigung über die
übergreifenden Grundauffassungen und Handlungsziele der Institution Eingang finden, der
von einer Ist-Analyse ausgeht, auf dieser Basis Handlungsprinzipien und priorisierte
Arbeitsvorhaben samt Zeitplanungen festlegt, Fortbildungsplanungen entwirft, Evaluationen
und Qualitätssicherungen vorsieht und kontinuierliche Fortschreibungen bzw. Überprüfungen
der Ansprüche und ihrer Realisierung verlangt.
Eine Evaluation des Gesamtprogramms ist unter miteinander verflochtenen formativoptimierenden und bilanzierend-summativen Dimensionen prozessbegleitend bis in die
Berichtsphase im Jahre 2007 hinein vorgesehen.
Die plausible, weil langfristige, breite, d.h. auch das schulische Umfeld detailliert
berücksichtigende und auf den aktuellen Forschungsstand stringent bezogene Anlage des
Programms lässt höchst aufschlussreiche Befunde über geeignete pädagogische
Gegenstrategien in Schule und in Einrichtungen, die Kooperationsbeziehungen mit ihr
aufnehmen, erhoffen. Denn mit Schubarth (vgl. 2000, bes. 165) lässt sich auf der Basis des
vorhandenen Kenntnisstandes festhalten, dass
107



Präventionsansätze nicht durch zeitlich knapp bemessene Aufklärungsversuche im
Rahmen von Paketen mit Unterrichtseinheiten zum Erfolg zu führen sind, sondern
längerfristiger Veränderungen in den Lebens- und Lernwelten von Kindern und
Jugendlichen bedürfen,
sie dabei ganzheitlich auf die Persönlichkeitsentwicklung und die Stabilisierung einer
autonom-balancierenden eigenständigen Identität der jungen Menschen bezogen sein
müssen und
in Strukturen eingelagert werden sollten, die positive Demokratieerfahrungen
begünstigen.
Aussichtsreiche schulische Konzepte umfassen deshalb inhaltliche, methodische, personelle
und institutionelle Aspekte, vor allem:
 die Implementierung neuer Inhalte und Formen des Unterrichts,
 die Unterstützung und Stabilisierung der Identitätsbildungsprozesse der Schüler und
Schülerinnen,
 die Optimierung der Kommunikations-, Interaktions-, Partizipations- und
Kooperationsprozesse sowohl innerhalb der Schule wie auch zwischen Schule und dem
Umfeld (z.B. Zusammenarbeit mit Gemeinweseneinrichtungen und Jugendhilfe),
 das Ingangsetzen und die Qualifizierung von Schulentwicklungsprozessen.
Insgesamt zeigt sich, dass die Verhaftung schulischer Ansätze in den Paradigmen der
Wissensvermittlung und der Hilfe für einzelne von Gewalt und Extremismus als Täter oder
Opfer Betroffene aufgebrochen, in Richtung auf eine Ausdehnung von Erfahrungslernen und
strukturverändernden Gestaltungsprozessen verändert und in stärker ganzheitliche,
selbstgesteuerte, handlungsorientierte und forschende Formatierungen in flexiblen,
Kontinuität ermöglichenden und vernetzten Designs gelenkt werden muss.
3.1.6 Maßnahmen zur Deeskalation und Entwicklung von Zivilcourage
Deeskalation beabsichtigt die präventive Verhinderung oder situative Unterbrechung direkter
Gewaltausübung und ihrer Verschärfung, ohne schlicht nur beschwichtigend oder in jedem
Fall konfliktvermeidend wirken zu wollen.
Sie setzt also prophylaktisch und situativ an, umfasst auch Maßnahmen nach der gelungenen
Deeskalation, indem der auslösende Konflikt von den Beteiligten unter Begleitung von
Fachkräften nachträglich bearbeitet wird, sie führt aber im Gegensatz zur Mediation noch
nicht prinzipiell in gewaltfreie Formen der Konfliktregelung ein, sondern schafft vielmehr nur
die Voraussetzungen dafür, im weiteren konstruktive Konfliktlösungen verfolgen zu können
(vgl. auch Korn/Mücke 2002).
Dazu sollen neben De-Eskalationsstrategien, die speziell von Kommunalpolitik, Polizei,
Staatsanwaltschaft (vgl. z.B. Landesgruppe 1998) und im Alltag von Einrichtungen der
Jugendhilfe von (sozial)pädagogischen Fachkräften angewandt werden können (vgl. Schwabe
1996), in jüngerer Zeit auch arbeitsfeld- und konfliktunspezifisch durch entsprechende
Trainings – oft entwickelt als Ausfluss der Friedens- und Menschenrechtsbewegung (vgl. z.B.
Aktionshandbuch 1993; Beck u.a. 1994; Blum/Knittel 1994; Koppold 1996; Blum/Beck
2000) – die aktuell oder potenziell an einer Konfliktsituation Beteiligten in die Lage versetzt
werden, die eigenen Reizschwellen und persönlichen Aggressionsauslöser bewusst in den
Griff zu bekommen. Wichtige Ziele sind in diesem Zusammenhang
 die Schulung der Aufmerksamkeit und Wahrnehmung,
 vor allem über die Sensibilisierung für eigene und fremde Körpersprache,
 die Stabilisierung von Selbstsicherheit im Verhalten durch
108






die Reflexion eigener Unsicherheiten,
das Erkennen der Notwendigkeiten von Grenzsetzungen und
die Vermittlung positiver Erfahrungen eigener Kraft z.B. mittels Stimmeinsatz und
Körperhaltung in Bedrohungssituationen,
die Stützung von Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit über die Reflexion
ansozialisierter persönlicher Kommunikationsmuster,
das Einüben dialogischer Kommunikation in schwierigen, gewaltbelasteten Situationen
und die Herstellung von Konsensentscheidungen sowie
die Absicherung des eigenen Handelns über das Kennenlernen verschiedener
Interventionsmöglichkeiten in unterschiedlichen Situationen und das Erlernen von
Techniken kreativer Lösungssuche.
Methodisch bedient man sich neben eher am Rande stehenden theoretischen Inputs
vorwiegend ganzheitlich angelegter und handlungsorientierter Übungen und Rollenspiele, die
aus verschiedenen Ansätzen von Psychologie und Pädagogik entlehnt sind (Themenzentrierte
Interaktion, Erlebnispädagogik, Gestaltpsychologie, Theater der Unterdrückten etc.). Die
Gruppengröße schwankt zwischen unter 10 und ca. 35 Personen; im Durchschnitt wird ein
Trainer/eine Trainerin für ca. 10 – 15 Teilnehmende vorgesehen. Im allgemeinen werden 2- 3
Tage veranschlagt, kurze halbtägige Schnupper-Inputs im Rahmen von Tagungsworkshops
sind aber wegen der großen Nachfrage keine Seltenheit. SOS-Rassismus-NRW und das
Villigster Deeskalationsteam bieten eine 30-tägige berufsbegleitende Ausbildung als
TrainerIn an (vgl. Amt für Jugendarbeit 2000; Villigster Deeskalationsteam Gewalt und
Rassismus 1999), demnächst wohl über die in Gründung befindliche "Akademie zur
Deeskalation von Gewalt und Rassismus (Gewalt-Akademie NRW)".
Zivilcourage gilt als eine gewaltfreie (eben "zivile") "demokratische Tugend". Sie bezeichnet
nicht nur den "Mut, öffentlich die eigene Überzeugung zu äußern" (Singer 1992, 40), sondern
auch ein u.U. für die eigene Person riskantes gemeinwohlorientiertes Eingreifen dort, wo
Unrecht geschieht. Von bloßem "Mut" unterscheidet sie sich dadurch, dass sie "im Dienst von
Überzeugungen und Idealen eigene wirtschaftliche oder gesellschaftliche Nachteile riskiert"
(Brockhaus 1991). Gegenüber "zivilem Ungehorsam", der für exakt umschriebene Fälle
schwerwiegender Ungerechtigkeit, nach Ausschöpfung aller anderen legalen Mittel und ohne
Gefährdung der Verfassungsordnung (vgl. Rawls 1975, 401f.) – im Regelfall in kollektiven
Aktionen – "politische Ziele, denen eine hohe Legitimität zugesprochen wird, gegen
staatliches Handeln durchzusetzen" versucht, ist Zivilcourage als "individuelles Verhalten in
einer singulären Situation" abzugrenzen (Ostermann 2000, 5).
Schulung von Zivilcourage zielt darauf ab, Menschen in Stand zu setzen, zu ihrer Meinung zu
stehen, auch dann, wenn sie nicht mehrheitlich geteilt wird, vor allem aber auch gerade im
Umfeld von Fremdenfeindlichkeit dann einzuschreiten, wenn andere Menschen angegriffen
werden. Dahinter steht die durch einzelne Beobachtungen belegte Auffassung, dass Angreifer
am ehesten dann von einem Opfer ablassen, wenn sie gewärtigen müssen, dass andere
Personen sich mit dem Opfer solidarisieren und zur Verteidigung seines Rechts auf
Unversehrtheit einzustehen bereit sind (Adressen von Anbietern entsprechender Trainings
finden sich in: Gesicht zeigen 2001, 233f.).
Eine entsprechende Haltung ist nicht voraussetzungslos zu aktivieren; vielmehr baut sie auf
persönlichen Faktoren auf wie (vgl. Frey/Schäfer/Neumann 1999; Singer 1992, bes. 136ff.;
Meyer/Hermann 2000; Ostermann 2000):
 einer adäquaten Analyse der Bedrohungssituation,
 moralischer Reflexion,
 Bereitschaft zu Verantwortungsübernahme – auch über den Rahmen partikularistischer
Gruppierungen hinaus,
109






Bearbeitung eigener Ängste,
Fähigkeiten zur Loslösung von Autoritätsgehorsam und Gruppen- bzw. generell
Konformitätsdruck,
Kenntnissen der Selbst- und Fremdverpflichtungen zu Hilfeleistungen,
spezifischen
Hilfefertigkeiten,
z.B.
Artikulations-,
Dialogund
Argumentationsfähigkeiten,
einem gewissen Grad an Misserfolgstoleranz und
sozialisatorisch, insbesondere familiär und schulisch vermittelten positiven Erfahrungen
von Gewaltlosigkeit, Toleranz, Anteilnahme, 'Wärme', Solidarität und Selbstwirksamkeit.
Hinzu kommen (vgl.: Meyer/Hermann 2000) soziale Faktoren wie:
 die soziale und politische Wertschätzung der angegriffenen Person,
 die persönliche und soziale Nähe der angegriffenen Person zum potenziellen Eingreifer,
 die soziale Position und der Status des potenziellen Eingreifers,
 das Handeln von Umstehenden,
 das öffentliche und institutionell verbreitete Klima für couragiertes Einschreiten,
 gesamtgesellschaftliche Faktoren wie die Verbreitung bestimmter moralischer
Überzeugungen,
Gleichheitsbzw.
Gerechtigkeitsvorstellungen
und
Fürsorgeverpflichtungen, Autoritätsbeziehungen, Gruppenbindungen, strukturelle
Gewaltformen, soziale Chancen etc.
Von daher sind die in mehreren Versionen im Umlauf befindlichen 'gutgemeinten' Flyer mit
Tipps zu Zivilcourage (vgl. z.B. die Faltblätter von "Mach meinen Kumpel nicht an!" e.V.,
SOS-Rassismus-NRW, Innenministerium NRW), Ausschreibungen (vgl. Informations- und
Dokumentationszentrum 2000, 43ff.) und Postkartenkampagnen (z.B. der Landeszentrale für
politische Bildung Brandenburg unter dem Motto "Ich sehe nicht weg!") zwar erste Anfänge,
reichen aber für eine vertiefte Verankerung des Gedankens und der Praxis couragierten
Einschreitens in Bedrohungssituationen nicht aus.
Pädagogische Ansätze, die darüber hinausgehen, liegen für den schulischen – teils sogar den
grundschulischen (vgl. Linke 1999) – und den außerschulischen Bereich vor, teils in
Zusammenhang mit Trainings zur Deeskalation (s.o.), teils auch im Zusammenhang mit
handlungsorientierter politischer Bildung (vgl. z.B. "Betzavta": Miteinander 1997, 95ff.). Sie
fußen auf der Überzeugung, dass Zivilcourage erlernbar ist, sind aber größtenteils noch sehr
tentativ angelegt. Einschlägige Projekte und Trainings üben u.a. ein (vgl. Beck/Müller/Painke
1994; AUS 1995; Gugel 1996; Lünse/Rohwedder/Baisch 1998; Linke 1999; Hron/Klemm
2000),
 zunächst kleine Schritte zu wagen,
 Anmachsituationen adäquat einschätzen und ihnen schnell begegnen zu können,
 die eigene Angst anzunehmen und zu bearbeiten,
 Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit zu entwickeln,
 eigene Wertvorstellungen entwickeln, äußern und in Argumentieren und Handeln
umsetzen zu können,
 Rückhalt in der Gruppe von Umstehenden zu suchen,
 gewaltlose Durchsetzungsstrategien in Konflikten zu entwickeln,
 über Perspektivenwechsel und empathisches Einfühlen die 'Wahrheit' des Anderen
verstehen zu lernen,
 sich die Rechtslage zu erarbeiten.
110
Zivilcouragiertem Handeln lässt sich alltagsperspektivisch eine hohe, wenn auch situativ
schwankende Erfolgswahrscheinlichkeit zuschreiben. Dennoch ist es weder selbst noch in
seinen Schulungsformen wissenschaftlich als Anti-Gewalt-Maßnahme evaluiert. Daher sind
auch leider die genauen Bedingungen (z.B. Anzahl der Angreifer, Verhalten des Opfers,
Kompetenzen des Helfers, Reaktion der bystander etc.) unbekannt, unter denen es tatsächlich
ausgrenzungs- und gewaltreduzierend wirken kann.
Insofern erscheint es auch wohlfeil, einerseits das moralische Postulat der Zivilcourage von
Seiten der Politik an die Bevölkerung aufrechtzuerhalten, andererseits aber Konstellationen
für Erfolgswahrscheinlichkeiten entsprechenden Handelns im Dunkel zu belassen. Nicht
unproblematisch sind in diesem Zusammenhang auch pädagogische Maßnahmen der
Steigerung von Zivilcourage, wenn sie nicht genau angeben können, unter welchen
Bedingungen aller Wahrscheinlichkeit nach ein Einschreiten den Selbstschutz gefährden
und/oder zusätzliche Eskalationen produzieren kann. Dabei handelt es sich um Gefährdungen,
die aus den weitflächigen Blindstellen evaluativer Erforschung couragierten Handelns und
seines Erlernens resultieren.
3.1.7 Aufsuchende Arbeit
Aufsuchende Arbeit stellt einen spezifischen Ansatz der Jugend(sozial)arbeit dar. Seine
Pointe besteht darin, nicht zu warten, bis das Klientel in Räumlichkeiten der Jugendarbeit
kommt (Komm-Struktur), sondern eine sog. Geh-Struktur aufzubauen, also als PädagogIn
resp. SozialarbeiterIn dort hin zu gehen, wo Jugendliche sich aufhalten und treffen. Orte der
Arbeit können somit Plätze, Straßen, Parks, Kaufhäuser, Kneipen, Spiel- und Sportplätze,
Bushaltestellen, Diskotheken, Konzerthäuser etc. sein. PädagogInnen mischen sich zunächst
als BeobachterInnen, dann als Gäste in die Lebenswelten Jugendlicher ein. Das Konzept
erhält seine Eigenart also durch die Art der Zugangsweise zu seinen AdressatInnen.
In Bezug auf rechtsextrem orientierte bzw. im Umfeld rechtsextremer Rekrutierungsversuche
angesiedelte Cliquen bietet es sich deshalb an, weil hier mit einer 'Klientel' zu arbeiten
versucht wird, die meistens schon durch die Raster anderer sozialer Einrichtungen (bspw. der
offenen Jugendarbeit) gefallen ist und deshalb erhebliche Schwellenängste ihnen gegenüber
aufgebaut oder schlicht Hausverbote auferlegt bekommen hat.
Der Ansatz wird mit rechtsextrem orientierten AdressatInnen – im Regelfall (und nur
erfolgversprechend) aus der unorganisierten Szene – seit Ende der 80er Jahre, verstärkt dann
seit der ersten Hälfte der 90er Jahre verfolgt. Er trug wesentlich dazu bei, die vormalig unter
PädagogInnen und SozialarbeiterInnen gängige Vorstellung, man könne mit 'Rechten' nicht
arbeiten und die aus ihr resultierende symbolische oder faktische Einrichtung "nazifreier
Zonen" innerhalb der Sozialen Arbeit abzulösen. Seine VertreterInnen reklamier(t)en dabei
das Argument für sich, ohne eine Hinwendung zu diesen Jugendlichen, sie gänzlich
ungeschützt der Ansprache durch 'rechte Rattenfänger' überlassen und insoweit den
Offenbarungseid pädagogischer und Sozialer Arbeit schwören zu müssen. Bei Jugendlichen
wurde von ihnen eine ideologische Sättigung oder gar Festlegung rechtsextrem konturierter
Positionierungen nicht beobachtet. Zudem sei die Etikettierung und Stigmatisierung als
"Neonazis", "Ausländerfeinde" u.ä.m. kontraproduktiv, liefere sie doch ohnehin
identitätsunsicheren jungen Leuten nach dem Motto "Lieber ein Nazi als sonst gar nichts" ein
willkommenes Identitätsangebot. Sozialwissenschaftliche Forschungen stützen die beiden
zuletzt genannten Argumente mittlerweile stark (vgl. zusammenfassend: Möller 2000a).
Zielgruppe sind zwar die Angehörigen beider Geschlechter. Faktisch wird aber wegen des
deutlichen maskulinen Überhangs in der recht(sextrem)en Szene, speziell in ihrem durch
sozial auffälliges Verhalten in Erscheinung tretenden Segment, ganz stark überwiegend mit
111
Jungen bzw. jungen Männern gearbeitet (vgl. aktuell auch Hafeneger u.a. 2002; zur Arbeit
mit Mädchen vgl. aber: Lutzebäck u.a. 1995; Engel/Menke 1995; Bruhns/Wittmann 2002).
Die Anzahl der Projekte schwankt; dies nicht zuletzt auch deshalb weil sie meist in
'Feuerwehrfunktion' dann zu Hilfe gerufen werden, wenn rechtsextreme Jugendliche offen
agieren, die Öffentlichkeit auf sie aufmerksam geworden ist, polizeiliche Mittel sich als
unbrauchbar erwiesen haben und (Kommunal-)PolitikerInnen eine skandalträchtige
Eskalierung zu vermeiden suchen. Außerdem sind die Beschäftigungsverhältnisse der
MitarbeiterInnen meist befristet und nicht nur wegen der Klientel wenig attraktiv. Es gibt hier
viele ABM- und BSHG-Stellen. Eine genaue Übersicht existiert nicht. Gegenwärtig dürften
jedoch bundesweit nicht mehr als höchstens ein paar Dutzend Projekte laufen, nachdem –
angeregt durch das AgAG-Programm und mitbedingt durch sein Auslaufen – bis in die zweite
Hälfte der 90er Jahre hinein noch mehr existierten. Zum Teil verbergen sie sich hinter dem
politisch unspezifischen Label der 'Anti-Gewalt-Arbeit'. Die Philosophie der neuen
Bundesprogramme, insbesondere von Civitas, erschwert es zudem auch Mitarbeitern und
Mitarbeiterinnen, öffentlich zu ihrem Ansatz zu stehen (vgl. Heitmann 2002), so dass auch
Selbstdefinitionen als Projekt mit rechten Cliquen eher vorsichtig gehandhabt werden.
Eine eindeutige paradigmatische Zuordnung zu den Eckpunkten des oben aufgezeichneten
pädagogisch-sozialarbeiterischen Diskursrahmens fällt schwer. Scheint deutlich zu sein, dass
das Konzept bei Abwägung der Relevanz von Wissensvermittlung einerseits und
Erfahrungslernen andererseits sein Schwergewicht auf die Waagschale des Erfahrungslernens
legt – und zwar so, dass es seine Ganzheitlichkeit aus der Verortung im Alltag bezieht -, so
pendelt es zwischen dem Angebot von Hilfe und dem von Gestaltungschancen hin und her.
Der Versuch, Formate zuzuordnen, lässt deutlich werden, dass es sich um ein sehr komplexes
Konzept handelt: Personale Unterstützung und Strukturverbesserung sind zwar von
vorherrschender Bedeutsamkeit, jedoch werden projektförmig durchaus auch andere Formate
aktiviert. Strategien kognitiver Information, damit verbundener politisch-moralischer
Aufklärung und argumentativer Überzeugung werden – wenn überhaupt – allenfalls
rudimentär in relativ späten Phasen gelungenen Vertrauensaufbaus und eher punktuell
eingesetzt. Im Vordergrund steht zunächst eine auf Täter oder potenzielle Täter bezogene
personale Zuwendung, die sich als Hilfe versteht und zentral auf die Vermittlung funktionaler
Äquivalente für Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und andere Formen sozialer Abwertung und
Ausgrenzung zielt.
Der Ansatz baut auf der Analyse auf, dass die genannten Problem-Syndrome – auch konkret
in der Lebensrealität ihrer Träger – in Erfahrungen politischer und sozialer Desintegration und
daraus folgenden Anerkennungszerfalls verankert sind und daher ursachenbezogene Soziale
Arbeit auf die Beseitigung sozialer Desintegration und die (Wieder-)Herstellung von sozialer
Integration, Partizipation und Anerkennung gerichtet sein muss. Die Hilfsangebote sind
deshalb nicht auf die Probleme bezogen, die 'die Rechten' der Gesellschaft schaffen, sondern
auf jene, die sie selber haben.
Zentrale Ziele und Handlungsansätze liegen auf sechs Feldern (ausführlicher:
Krafeld/Möller/Müller 1993):
 Das Leben von auffällig rechtextrem orientierten Jugendlichen ist vielfach durch
existentielle Instabilitäten, Konflikthaltigkeiten und andere Schwierigkeiten der
Alltagsbewältigung gekennzeichnet. Diese rufen erhebliche Orientierungs- und
Integrationsschwierigkeiten hervor, die wiederum durch fundamentalistische Gewissheiten
rechter Couleur zugekleistert werden sollen. Deshalb wird zunächst einmal eine
Sozialisations- und Alltagshilfe angeboten. Es geht dann um die Vermittlung von
Arbeitsplätzen, von Wohnraum, von Therapieplätzen, um Aufarbeitung von
zurückliegenden Straftaten, Ämterbegleitung u.ä.m.
112
 Anliegen Sozialer Arbeit mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen ist, dass sich die bei
ihnen verbreiteten individuellen Selbstdurchsetzungsstrategien hin zu kooperativ verfasster
Selbstorganisation öffnen. Cliquen werden deshalb zunächst nicht als 'Banden', 'Gangs'
und Keimzellen rechtsextremer Selbstvergewisserung betrachtet. Statt nur als
Gefährdungszusammenhänge sollen sie als Ressource zum Bezug von Kooperativität,
Solidarität und Verantwortungsübernahme, manchmal als der letzte Ankerpunkt innerhalb
eines sozialen Lebenskontextes, der ohne ihn das Individuum völliger Atomisierung
freigäbe, in den Blick kommen.
 Insofern eine gewaltfreie Lebensgestaltung, die auf tragfähigen Beziehungsgeflechten
aufbauen kann, bestimmter Voraussetzungen bedarf, wird das Erschließen und Entwickeln
von zeitlichen, materiellen und sozialen Ressourcen verfolgt. Da es in beträchtlichem
Ausmaß Gemeinschaftssurrogate und Kameradschaftsofferten sind, die Jugendliche in
rechte Bezugsgruppen locken, sollen insbesondere zwischenmenschliche Verhältnisse
erfahrbar gemacht werden, die zu pflegen sich lohnt.
 Vermittels Beziehungsarbeit sollen nicht nur Kontakte in die Szene hinein geschaffen und
Vertrauensverhältnisse aufgebaut werden. Sie dient auch dazu, Beratungs- und
Verständigungszusammenhänge zu schaffen, die in der alltäglichen Lebensumwelt von
Straße, Clique und (oft zerrütteter) Familie nicht existieren.
 Ausgewählte Aktivitätenangebote zielen nicht auf ein bloßes 'Beschäftigen' mit 'sinnvollen'
Alternativen zu Pöbelei, Krawall und Randale ab. Vielmehr gelten sie als Medien, die den
Jugendlichen über Erfahrungen gewaltfreien körperlichen Agierens, sozialer
Wertschätzung und Gemeinschaftlichkeit Ressourcen- und Selbstwertzuwächse bescheren
sollen. Ein spezifisches methodisches Repertoire wird nicht bemüht. Vielmehr werden
diverse Methoden bedürfnis- und situationsorientiert eingebracht (etwa aus Erlebnis- und
Sportpädagogik, Kulturarbeit, Deeskalations- und Anti-Gewalt-Trainings).
 Um der Pädagogisierungsgefahr zu entraten (die z.B. Hafeneger 1993 sieht), werden
Strategien politischer Einmischung verfolgt. Sie haben zum Ziel, die politisch
beeinflussbaren Lebensbedingen der Klientel im unmittelbaren Gemeinwesen und darüber
hinaus so mitzugestalten, dass ein gewaltfreies Aufwachsen möglich wird.
Der zuletzt genannte Punkt – aber auch Punkt 2 und 3 – verdeutlicht die Relevanz
infrastruktureller Arbeit innerhalb des Konzepts und offenbart, dass im konzeptionellen
Hintergrund das Hilfe- vom Gestaltungsparadigma ergänzt wird. Hilfe wird hier einerseits als
personale Akzeptanzofferte verstanden, andererseits aber auf Dauer als Hilfe zur Selbsthilfe
angelegt.
Drei Ansätze markieren das Konzept: die "akzeptierende" bzw. "gerechtigkeitsorientierte"
Jugendarbeit (vgl. Krafeld 1992a, b, 1996, 2001a, b, c), das Konzept "Milieubildung" (vgl.
Böhnisch 1994, 1997; Seifert 1998) und die Mobile Jugendarbeit (vgl. vor allem
Landesarbeitsgemeinschaft Mobile Jugendarbeit 1997; Landesarbeitsgemeinschaft Mobile
Jugendarbeit/Streetwork 2002). Sie sind durchaus auch als Ergänzungen untereinander
aufzufassen, weil sie auf unterschiedlichen Ebenen liegen, indem sie eine personale
Zugangsweise ("akzeptierende" Jugendarbeit), eine weiterreichende, auf die (Re)Konstruktion von sozialen Strukturen fokussierende Handlungsperspektive (Milieubildung)
und ein jugendarbeiterisches Arbeitsfeld (Mobile Jugendarbeit) umreißen.
Im Zusammenhang mit dem pädagogischen Rechtsextremismus-Umgang wird am breitesten
öffentlich diskutiert – wenn man den Diskussionsprozess in seinen Einzelheiten verfolgt
(dazu auch Krafeld 2001, 276 f.), wahrscheinlich gerade auch wegen der pointierten
Selbstbezeichnung - das im Umfeld von Franz Josef Krafeld und der von ihm begleiteten
Praxisprojekte in Bremen entstandene Konzept der "akzeptierenden Jugendarbeit". Einen
113
Begriff aufgreifend, der in anderen Feldern Sozialer Arbeit längst geläufig ist (vgl.
"akzeptierende Drogenarbeit"), in Bezug auf rechtsextrem Orientierte aber ausgesprochen
provokativ wirkt, setzt es die oben erwähnten Handlungsansätze mit spezifischer
Akzentuierung um (vgl. v. a. Krafeld 1996). Ausgegangen wird von den zentralen
Grundsätzen,
 dass wohlmeinende Belehrungen nicht gegen Erfahrungen ankommen,
 dass Ausgrenzungen aus den Bereichen von Pädagogik und Sozialer Arbeit
Veränderungsmöglichkeiten verbauen,
 dass die subjektiven (politischen) Deutungen der Jugendlichen als Versuche zu werten
sind, innerhalb ihrer Lebenswelt handlungsfähig zu bleiben und diese Deutungen in ihren
Lebenszusammenhängen subjektiv funktional sind,
 dass sie durch Defizite sozialer Akzeptanz, sozialer Integration und demokratischer
Beteiligung verursacht sind und
 dass deshalb zum einen pädagogisch diesen jungen Leuten gegenüber menschlich
Akzeptanz zu zeigen ist, aber auch im Sinne von 'Verstehen, aber nicht einverstanden sein'
(Bauriedl 1993; Gall 1997) "personale Konfrontation mit dem tiefgreifenden Anderssein"
der PädagogInnen in ihren "Grundhaltungen, Wertorientierungen und Verhaltensweisen"
erfolgen soll (vgl. ebd., 15) und
 dass zum anderen politische Einmischungen für und mit den Jugendlichen zur
pädagogischen Aufgabe gehören.
Daraus ergeben sich neben der oben schon als Handlungsebenen erwähnten Beziehungsarbeit
und der infrastrukturellen Arbeit zwei weitere konkrete Handlungs- und Zugangsweisen:
 Bestehende Cliquen sollen als Selbstorganisationseinheiten Jugendlicher verstanden
werden, die aus ihrer Sicht dazu dienen, "in einer Welt, in der sie sich ungeheuer
vereinzelt fühlen, selbst soziale Zusammenhänge zu schaffen" (ebd., 19). Soziale Arbeit
mit Rechten hat deshalb "cliquenorientiert" (vgl. Krafeld 1992b) zu erfolgen. Nicht
Zerschlagung, sondern Arbeit mit ihnen heißt die Devise.
 Durch das Angebot von Räumen soll den Jugendlichen der Druck, der auf sie durch die
gesellschaftliche Monofunktionalisierung von Raum und die Sanktionierung
anderweitiger Raumaneignung ausgeübt wird, genommen werden. Sie sollen über eigene
Treffs verfügen, aber auch darüber hinaus gewaltfrei Entfaltungsräume in ihren
Wohnumfeldern gewinnen können.
Die ab Herbst 1992 vernehmlich einsetzende Kritik an "akzeptierender Jugendarbeit mit
Rechten" führt im wesentlichen zwei Argumente an, die jedoch erheblich unterschiedliches
Gewicht haben:
Eine eher oberflächliche, zumeist außerfachliche, nämlich von Medienvertretern getragene
Kritik macht sich an der Verwendung des Adjektivs "akzeptierend" fest. Sie moniert, dass es
Akzeptanz gegenüber Rechtsextremen nicht geben dürfe und führt Einzelfälle vor, in denen es
entweder Rechtsextremen gelungen ist, als Sozialarbeiter für "Arbeit mit Rechten" eingestellt
zu werden (so ein viel diskutierter Tagesthemen-Beitrag am 24.09.1992), oder wo schlecht
oder gar nicht ausgebildete Kräfte unter dem Label "akzeptierender Jugendarbeit"
entsprechende Jugendclubs betreuen, dies aber völlig konzeptionslos tun (vgl. Leif 1992).
Eine Kritik an der Konzeption als solcher liegt also gar nicht vor. An dieser Stelle rächt sich
die Missverständlichkeit des Begriffs "akzeptierend" im Umgang mit rechtsextrem
Orientierten auf zweierlei Weise: Zum ersten drückt er die wichtige, ja zentrale
Unterscheidung zwischen der Akzeptanz als Person und der Akzeptanz der von ihr
vertretenen Haltungen und Verhaltensweisen nicht aus und öffnet damit im öffentlichen
Diskurs Fehldeutungen Tür und Tor (vgl. dazu: Heitmann 2002; Norddeutsche Antifagruppen
2000, aber auch: Voß 1993). Zum zweiten erweist er sich als fatal, wenn einzelne
114
MitarbeiterInnen in der Jugendarbeit öffentlich als Fachkräfte auftreten, dies aber faktisch
aufgrund
fehlender
Qualifikation
gar
nicht
sind.
Fachkräftemangel
und
Qualifizierungsdefizite (vgl. Heitmann 2002), verschärft im Osten Deutschlands, aber nicht
nur dort (vgl. Bremen 1995), führen so zu Diskreditierungen eines Konzepts, das nur dem
Namen nach verfolgt, in seinen Bestandteilen aber offensichtlich gar nicht gekannt wird.
Ein zweiter Kritikpunkt nimmt Bezug auf die spezifische Situation in Ostdeutschland. Er
vermerkt, dass 'Rechtssein' dort unter Jugendlichen zum Bestandteil eines als 'ganz normal'
angesehenen "lifestyles" geworden ist und sich in manchen Städten die rechtsextreme
Strategie der "national befreiten Zonen" als erfolgreich erwiesen hat (vgl. Wagner 1998,
1999a, b). Die Diagnose einer solchen Zuspitzung der Gefährdungslage zieht die vor allem im
Civitas-Programm umgesetzte Argumentation nach sich, dass der Aufbau demokratischer
Gegenöffentlichkeit und die Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen sinnvoller, wenigstens
aber zunächst vorrangig ist.
F.J. Krafeld hat auf diese Kritik mit der Umbenennung seines Ansatzes von "akzeptierender"
zu "gerechtigkeitsorientierter" Jugendarbeit reagiert (vgl. Krafeld 2000). Er verbindet damit
"wichtige Präzisierungen und Pointierungen" (Krafeld 2001a, 287). Sie betreffen die Ansicht,
dass Jugendarbeit sich "für die Rechte derer einsetzen muss, die verdrängt werden", die
Gefahr einer kumpelhaften Anbiederung an rechtsextreme Jugendliche vermieden werden und
das pauschale Gutheißen von cliqueninhärenten Verhaltensmustern unterbleiben muss (vgl.
ebd., 288). Der zuletzt genannte Gesichtspunkt ist geeignet, auch jene Kritik aufzunehmen,
die das bei Krafeld zu konstatierende, nahezu uneingeschränkt positive Verständnis von
Cliquenorientierung mit dem Hinweis auf die Stabilisierungsfunktion, die Cliquen bei
rechtsextremer und gewaltakzeptierender Positionierung erfüllen (vgl. z.B. Bohnsack u.a.
1995; Thornberry 1996; Ulbrich-Herrmann 1998; Kühnel 1998; Tillmann u.a. 1999; Eckert
u.a. 1999; Möller 2000a, 2001a; Wahl u.a. 2001; Kerner u.a. 2001; Hafeneger u.a. 2002),
bemängelt und dafür plädiert, nachdrücklicher als bislang in dieser Arbeit üblich
Ablösungsprozesse in die Wege zu leiten (vgl. Wagner 1999; Möller 2002b). Eine
konzeptionelle Neuorientierung ist mit dem Austausch von Bezeichnungen freilich noch nicht
vollzogen; dies erst recht nicht, wenn mit den Forderungen nach Beziehungsarbeit,
dialogischer Kommunikation zwischen PädagogInnen und Jugendlichen und der Dimension
der politischen Einmischung Plausibles, aber doch Altbekanntes in leicht veränderter Diktion
wiederholt (vgl. auch Krafeld 2001b) und neuerdings zudem mit der Metapher der
"Zivilgesellschaft" angereichert wird (vgl. 2001c).
Eine im engeren Sinne wissenschaftliche Evaluation "akzeptierender" bzw. neuerdings
"gerechtigkeitsorientierter" Jugendarbeit liegt nicht vor.
Auf der Suche nach einem geeigneten theoretischen Ausgangspunkt für Weiterentwicklungen
bieten sich die Überlegungen von Lothar Böhnisch (v.a. 1994 und 1997) zur "Milieubildung"
an.
Auf der Basis einer hier nicht darstellbaren, weil rahmensprengenden gesellschaftstheoretisch
eingebetteten Interpretation aktueller gesellschaftlicher Gewaltphänomene und ihrer
Hintergründe, für die Gewalt "nicht nur Ausdruck sozialer Desintegration, sondern
gleichzeitig Medium sozialer Integration" (ebd.,149) ist (mit den primären Bezugspunkten
von Individualisierungs- und Anomietheorie), sowie einer gründlichen sozialpolitischen
Funktionsbestimmung aktueller sozialpädagogischer/-arbeiterischer Arbeit, die die aktuelle
Krise der Wohlfahrtsgesellschaft und ihrer Normalitäts- und Normalisierungsversprechen
analysiert, entwickeln sie einen arbeitsfeldübergreifenden Ansatz (vgl. zusammenfassend
auch Möller 1999a).
115
Milieubildung meint danach den sozialen Prozess der strukturierenden Entwicklung eines
sozialen Kontextes, der die biografisch verfügbare "räumlich und zeitlich begrenzte Nahwelt,
ein besonderes psychosoziales Aufeinanderbezogensein, eine typische, meist gruppen- oder
gemeinwesenvermittelte Gegenseitigkeitsstruktur, die emotional relativ hoch besetzt ist"
(Böhnisch 1994, 217) umfasst (vgl. zur Abgrenzung von "Milieu" gegenüber "Gemeinschaft",
"Alltag" und "Lebensstil" auch ebd. 199ff, 213ff., 218ff.). PädagogInnen vermögen ihn meist
nur in geschlossenen Settings selbst zu initiieren; ansonsten ist ihre Funktion eher die einer
stützenden und begleitenden Strukturierung. Soziale Arbeit zielt auf "offene Milieubildung",
also auf eine Milieukonstruktion, die sich einerseits nach außen nicht die hermetische
Abschirmung von der Außenwelt und anderen Milieus zum Ziel setzt und andererseits auch
nach innen den gegenseitigen Respekt vor den integren Rechten der einzelnen
Milieuangehörigen wahrt. Das Gegenbild dazu wären "regressive Milieus" z.B.
ethnozentrischen oder autoritären Zuschnitts, die Kohäsion und Integrationsdruck über
Unterdrückung und Ausgrenzung herstellen (vgl. Böhnisch 1994, 203 ff.; 1997, 280).
Milieubildung besitzt nach Böhnisch vier Entwicklungsdimensionen:
 Eine "personal-verstehende" Dimension versucht im Sinne eines akzeptierenden Ansatzes
die subjektive Funktionalität von Milieu für ihre Angehörigen zu entschlüsseln und damit
Ressourcen ausfindig zu machen, auf die sich pädagogisch aufbauen lässt.
 Eine "aktivierende Dimension" betreibt die "Qualifizierung" des Milieus dahingehend,
dass die darin versammelten Kompetenzen und Ressourcen handlungspraktisch für eine
sozialintegrative Weiterentwicklung des Milieus aktiviert werden. Sie hat sich vor allem an
zwei ethischen Leitlinien zu orientieren: an der "Autorität" gegenseitigen Respekts
("Respekt vor dem Wert Anderer"; ebd., 241) und an einer "reflexiven Ethik", für die
"moralische Reflexivität" "in der Frage nach den Folgen des eigenen Tuns liegt" (ebd.,
254).
 Die "pädagogisch-interaktive" Dimension reflektiert die Stellung des/der PädagogIn im
Milieu, vor allem ihre/seine Erreichbarkeit und ihre/seine Fähigkeit, Plattformen des
interaktiven Austausches zu schaffen, die ein Milieuklima des "Vertrauens", des
"Gemeinschaftlichen", wenn nicht sogar der "Geborgenheit" sich entwickeln lassen können
(vgl. zu diesen Begrifflichkeiten Böhnisch 1997, 282; 1994, 190ff., 199ff.).
 Die vierte Dimension besteht in "Ressourcenmanagement über die Milieugrenzen hinaus".
Milieubildung geht an dieser Stelle in "Netzwerkbildung" über. Während Milieubildung
auf den lebensweltlichen Nahbereich abzielt, in dem Gemeinschaftlichkeit und
Gleichsinnigkeit emotional basiert sind, ist sozialpädagogische Netzwerkorientierung auf
den Verbindungsbereich ("Mesobereich") zwischen Lebensweltlichem und SystemischGesellschaftlichem bezogen und aktiviert in Erweiterung der Milieuperspektive einen
Austausch der Interessen. Es "wird eine 'zweite Ebene' eingezogen, d.h. die
milieuverhaftete emotionale Dimension wird um die Interessendimension in ihren Grenzen
erweitert, geöffnet und damit aktiviert" (ebd., 284). Gerade für cliquenförmige und
ethnozentrisch angelegte Milieuformen gewaltakzeptierender Jugendlicher wird dadurch
die Strategie verfolgt, "Erfahrungen (zu) vermitteln, daß man trotz seiner Lage den
Anderen etwas zu bieten hat und daß andere Interesse an einem haben
(Selbstwertdimension), daß man mehr davon hat, wenn man sich nicht über Gewalt und
Abwertung Anderer oder in sozialer Isolation abgrenzt und abschirmt, sondern
Beziehungen zu Anderen – auch Fremden – für sich nutzen kann und daß sich über ein
solch milieuöffnendes Beziehungsnetzwerk bisher einander als fremd und ungleich
Gegenüberstehenden ein neues Aktivitätsniveau öffnet" (ebd., 284f.). In dieser Weise
bringt sich der/die PädagogIn in der Rolle eines/r sozialen AgentIn ein: Man bewegt sich
"über den direkten Hilfebezug zu den KlientInnen hinaus ins Sozialräumliche" (ebd., 287).
116
Eine kritische Sicht auf Böhnischs Ansatz fördert folgende für unseren Zusammenhang
wichtige Stärken zu Tage (zu kritischen Punkten siehe Möller 1999a):
 Auf der gesellschaftstheoretischen Ebene schafft der Ansatz einen unmittelbaren
Anschluss an die individualisierungstheoretische Diagnose der Auflösung traditioneller
Milieus. Das Erfordernis von sozialpädagogisch strukturierter Milieubildung ergibt sich ja
– gesellschaftstheoretisch betrachtet – aus dem allmählichen Wegbrechen von
lebensweltlichen Milieufunktionen, die nicht verzichtbar erscheinen. Die Kehrseite von
Pluralisierung als Chance von Individualisierung ist nämlich das Risiko der Atomisierung
bzw. des Rückzugs in regressive Milieus. Mit dem Angebot pädagogisch gestützter
Übergangs-Milieus – dies ist der bessere Begriff als "Ersatz-Milieus", weil damit
suggeriert werden könnte, 'neue' Milieus könnten mehr oder weniger nahtlos 'alte'
Milieufunktionen übernehmen und weil das Missverständnis auftauchen könnte,
Sozialpädagogik stelle diese Milieus selber her, liefere sie quasi als Ersatz an die
Betroffenen und sei für ihre Abstützung auf Dauer unerlässlich – nimmt Sozialpädagogik
diese zentrale historische Herausforderung auf.
 Durch die sozialpolitische Analyse von (post)wohlfahrtsstaatlicher Politik und die
Diagnose einer Entstrukturierung und Pluralisierung sozialer Integration öffnet Böhnisch
die Sicht auf Gewalt als Integrationsmedium: Gerade weil andere, befriedigende Formen
der sozialen Integration fehlen, wird danach eine segmentierte Integration über
Gewaltförmigkeit angestrebt.
 Auf der Ebene sozialpädagogischer Konzeptentwicklung legt Böhnisch ein Modell vor, das
zentral die Erfordernisse individueller Handlungsfähigkeit und sozialer Integration
systematisch aufeinander bezieht:
 Es bezieht damit nicht nur Individuelles und Soziales aufeinander, sondern erweist
sich damit auch – im übrigen ebenfalls an anderen Stellen, vor allem bei der
Akzentuierung der Bedeutung von Selbstwert und Anerkennung – als kategorial
anschlussfähig an vergleichsweise gut abgesicherte theoretische Überlegungen wie
empirischen Befunde (vgl. insgesamt Schubarth 2000; Interdisziplinärer
Forschungsverbund 2001).
 Es bewegt sich auf der Ebene der Pädagogik funktionaler Äquivalente. Sie schließt
ein, ein als problematisch erachtetes Verhalten in seiner Funktionalität für das
Subjekt zu entschlüsseln, um Alternativen von vergleichbarer Funktionalität
außerhalb von Problembereichen anbieten zu können.
 Es handelt sich um ein Konzept, das nicht nur auf Jugendarbeit zugeschnitten ist,
aber gerade auch Jugendliche als Zielgruppe ins Visier nimmt.
 Es ist ebenfalls nicht problemspezifisch zugeschnitten, verweist aber an vielen, im
obigen aus Platzgründen nicht immer erwähnten Stellen speziell auf
sozialpädagogische/-arbeiterische Reaktionsnotwendigkeiten und –möglichkeiten in
Bezug auf Gewaltprobleme und ethnozentristische Ausgrenzungshaltungen.
 Es reflektiert – mehr als in diesem kurzen Abriss darstellbar – alle eingeführten
kategorialen Begrifflichkeiten und wichtigen Aussagen in Hinsicht auf ihre
geschlechtsspezifische Bedeutung.
 In der Verbindung von Milieubildung und Netzwerkorientierung führt es die
Notwendigkeit vor, eine akzeptierende Haltung cliquenorientierter Jugendarbeit
(vgl. Krafeld 1992a, b) durch die Perspektive der Milieuöffnung zu ergänzen und
zu begrenzen.
Freilich gilt, dass Böhnisch bestenfalls theoretisch zu plausibilisieren, aber nicht empirisch zu
erhärten vermag, dass der Ansatz der Milieubildung ertragreich sein kann, auch und gerade
als pädagogische Umgangsweise mit den Problemen von Gewalt und Rechtsextremismus bei
Jugendlichen.
117
Wenn er für die u.a. sozialpädagogisch zu bewerkstelligende Erweiterung von
Handlungsfähigkeit, Selbstwert und soziale Anerkennung plädiert, benennt er zwar
fundamental wichtige Distanz- und Distanzierungsfaktoren, kann aber nicht mit hinreichender
Seriosität erfahrungswissenschaftlich fundierte Aussagen über die alters- und
geschlechtsspezifische Profilierung dieser Faktoren sowie die sozialen und individuellen
Bedingungen ihrer Prozessierung treffen. Das sozialpädagogische Konzept kann deshalb an
dieser Stelle von ihm nicht ausdifferenziert werden.
Eine Evaluation von Projekten, die mit dem Konzept arbeiten, liegt außerdem bisher nicht
vor, sieht man von der in dieser Hinsicht nicht sonderlich ertragreichen wissenschaftlichen
Begleitung des AgAG-Programms ab (s.o.).
Das Konzept der Mobilen Jugendarbeit bietet ein – mit Schwerpunkt in Baden-Württemberg –
besonders weit entwickeltes Konzept der aufsuchenden Sozialarbeit. Stärker als die Offene
Jugendarbeit, die Jugendbildungsarbeit und Jugendverbandsarbeit als die anderen großen
außerschulischen Arbeitsfelder von pädagogischer Arbeit mit Jugendlichen dies tun (können),
strebt es die Reduktion von Jugenddelinquenz und kriminalisierenden Kontakten generell,
aber u.a. auch von Phänomenen rechtsextremer Tendenzen bei Jugendlichen an (vgl.
Piaszczynski
1993;
Landesarbeitsgemeinschaft
Mobile
Jugendarbeit
1997;
Landesarbeitsgemeinschaft Mobile Jugendarbeit/Streetwork 2001; Gangway 2001).
Theoretisch knüpft Mobile Jugendarbeit an US-amerikanische Studien (z.B. Spergel 1966),
sozialräumliche Konzepte und in Hinsicht auf Rechtsextremismus am deutlichsten an
individualisierungstheoretisch inspirierte Forschungen (vgl. schon Heitmeyer 1987) an.
Vorgehensweisen, Zielgruppen und Aktivitätsfelder lassen sich im Überblick wie folgt
beschreiben:
Im Sinne von Lebenslagen- und Lebensfeldorientierung wird der Fokus auf die
lebensbestimmenden Existenzbedingungen und Orte des Aufwachsens von Jugendlichen
gelegt. Die dort entstehenden bzw. auftretenden Bedürfnisse und Problemlagen junger Leute
aufgreifend, soll Kontaktaufbau und Beziehungsarbeit im Sozialraum geleistet werden, um
Gefährdungen 'gelingender' Sozialisation und soziale Benachteiligungen vermeiden bzw.
abbauen zu helfen.
Besondere Bedeutung erhält dabei die Orts- und Stadtteilorientierung. Sie meint nicht nur
eine sozialräumliche Bezugnahme der Arbeit mit Jugendlichen im engeren Sinne, sondern
auch das gezielte Anstreben einer Kooperation mit anderen sozialen Einrichtungen im
Einzugsbereich. Sie wird gerade auch mit dem Ziel unternommen, deren Öffnung für die
Lebenslagen sog. 'schwieriger' Jugendlicher, der hauptsächlichen Adressatengruppierung
Mobiler Jugendarbeit, zu erreichen.
Im Zentrum der Aktivitäten stehen vier miteinander verbundene Felder: Streetwork,
Gruppenarbeit, Einzelfallhilfe und Gemeinwesenarbeit.
Der mobile Charakter des Ansatzes kommt vor allem durch Streetwork zum tragen. Mehr
oder weniger regelmäßig werden Jugendcliquen des Einzugsgebiets an ihren Treffpunkten
(z.B. Straßenecken, Parks, Kaufhäuser, aber auch Schulhöfe) aufgesucht. In der Praxis führt
solche Straßensozialarbeit, da sie im Regelfall über kurz oder lang mit dem Angebot von
Räumen – meist im Gebäude der jeweiligen Gesellschaft für Mobile Jugendarbeit –
verbunden ist, nicht allein zu losen Kontakten zu Cliquen, sondern auch zu dauerhafteren
Bindungen zwischen SozialarbeiterIn und Jugendlichen (zu Zielen, Leistungsangeboten,
Rahmenbedingungen, Qualitätsmerkmalen und Standards von Straßensozialarbeit vgl. auch
eingehender und zugleich praxisbezogen: Gangway 2001).
Es findet nun eine sog. Clubarbeit statt. Dahinter verbirgt sich eine einrichtungsgebundene
Arbeit mit lebensweltlich gewachsenen Cliquen, immer häufiger aber auch mit in ihrer
Zusammensetzung auch pädagogisch beeinflussten Gruppen. Ziel ist es, den Zusammenhalt
der Jugendlichen - wenn man so will: die Selbstheilungskräfte der Gruppe - zu stärken, indem
118
das Identitätsverständnis eines relativ geschlossenen Clubs aufgebaut wird. Dem dienen nicht
nur eine Namensgebung, die Regelmäßigkeit von Treffs, gemeinsame Unternehmungen und
die Abstimmungsprozesse darüber, sondern auch die Erarbeitung eines Regelwerks für das
Clubleben und gemeinsame Entscheidungen über die eventuelle Aufnahme neuer Mitglieder.
Durch die damit gegebenen persönlichen Kontakte zur pädagogischen Bezugsperson des
Clubs können Vertrauensbeziehungen wachsen, die erfahrungsgemäß relativ rasch in
Einzelfallhilfen bzgl. von Problemen mit z.B. Schule, Arbeit, Eltern, Polizei, Gericht etc.
münden.
Da innerhalb des Konzepts sog. Jugendprobleme als Ausdruck von Problemen des
Gemeinwesens begriffen werden, verbietet sich eine ausschließlich jugendzentrierte Arbeit.
Phänomene wie Gewalt, Kriminalität oder Drogenkonsum, die sich bei jungen Leuten zeigen,
werden als Indizien dafür gewertet, dass die Sozialraumbedingungen Jugendlicher nicht im
Lot sind, d.h. ein von gravierenden Problemen freies Aufwachsen nicht gewährleisten.
Entsprechend wird mittels Vernetzung und politischer Einmischung (bspw. über
Stadtteilkonferenzen und Runde Tische) nicht allein eine Reduktion akuter Konfliktlagen,
sondern auch eine nachhaltige Verbesserung der Sozialisations-Ressourcen des
Gemeinwesens angestrebt. Dazu gehört basal auch, das Gemeinwesen mit seiner
Verantwortung für die Lösung von Jugendproblemen und darüber hinaus für die offensive
Gestaltung möglichst gewaltfreier Sozialisationsverhältnisse zu konfrontieren und seine
Einrichtungen und Vereinigungen in geeignete Bearbeitungsstrategien entsprechend
einzubinden (ggf. auch über eine (Teil-)Trägerschaft der Mobilen Jugendarbeit vor Ort
gemeinsam mit Kirchengemeinden, Wohlfahrtsverbänden u.ä.).
So wie eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Evaluation des gesamten Ansatzes
Mobiler Jugendarbeit nicht vorliegt, so sucht man auch Evaluationsergebnisse einer in seinem
Rahmen stattfindenden sozialen Arbeit mit Recht(sextrem)en vergeblich. Dies gilt noch trotz
erster Ansätze ihrer Etablierung – primär unter dem formativen Gesichtspunkt der
Optimierung der eigenen Arbeit, z.B. in Stuttgart oder Berlin - durch Feldanalysen,
Teamtagebücher und –besprechungen, systematische Arbeitsdokumentationen der einzelnen
MitarbeiterInnen, Interviews mit NutzerInnen der Angebote in den jeweiligen
Handlungsfeldern, quantitativ-statistischen Erhebungen und nach Evaluations- bzw.
Qualitätsentwicklungsaspekten strukturierte Jahresberichte (vgl. Gangway 2001). Nicht nur
Mobile JugendarbeiterInnen und deren Anstellungsträger selber, sondern vielerorts auch
Polizei und Politik bezeugen allerdings seine delinquenzreduzierende Funktion, die teilweise
(z.B. in Stadtteilen Stuttgarts) auch schon kriminalstatistisch belegt worden ist.
Ungeachtet dessen, dass die Evaluation aufsuchender Arbeitsansätze insgesamt erheblich
unterentwickelt ist: Aus den statistischen Erhebungen von Gangway e.V. weiß man, dass rund
80% der befragten SozialarbeiterInnen in Ostdeutschland mit 'rechtem' Klientel arbeiten. Und
die Veröffentlichungen von Krafeld/Möller/Müller (1993, 1996) und Klose u.a. (2000) bieten
immerhin annähernd verallgemeinerbare Zusammenfassungen der bis in die zweite Hälfte der
90er Jahre gemachten Erfahrungen von Projekten in rechten Szenen. Schwerpunktmäßig mit
qualitativer Auswertung von Gruppendiskussionen mit MitarbeiterInnen und von
Dokumentationsbögen operierend, können sie allerdings auch keine Erfolgsvermessung im
engeren Sinne bieten. Danach erreicht aufsuchende Arbeit eher Jungen (so auch die
statistischen Auswertungen des AgAG-Programms, die bei den erreichten 6.500 – 8.000
Jugendlichen unter 16 Jahren 70% Jungen verzeichnen). Es zeigt sich im allgemeinen –
freilich nicht bei allen Jugendlichen, die betreut werden – während der Projektlaufzeiten eine
Auflösung rechtsextremer Verankerungen und eine Reduktion der Intensität von
Gewalthandlungen – so auch im AgAG-Projekt -, wobei sich freilich bislang nicht
differenziert angeben lässt, ob dieser Orientierungsumschwung überhaupt mit Sicherheit auf
119
pädagogische Interventionen und, wenn ja, auf welche zurückzuführen ist. Dessen ungeachtet
scheint weniger kognitive Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit erfolgversprechend zu sein
als das Angebot von Räumen sowie einer lebensweltorientierten Alltags- und
Sozialisationshilfe, gepaart mit politischen Einmischungsstrategien, die die Problem- und
Konfliktlagen entsprechend orientierter Jugendlicher zu entschärfen trachten. Ob aufsuchende
Arbeit in rechten Szenen jedoch mehr erreichen kann als eine durchschnittliche Reduktion
von Verhaltensauffälligkeiten, also etwa auch nachhaltig in Kraft bleibende
Umorientierungen auf der Einstellungsebene, bleibt vorläufig dahingestellt (vgl. auch Scherr
1993). Außerdem ist bis heute die wichtige Frage unbeantwortet, in welcher Weise mittels
geschlechtsreflektierender Jungen- und Männerarbeit der weit überproportionale Anteil von
Jungen und Männern in der recht(sextrem)en Szene angegangen werden kann (vgl. auch
Möller 2000c).
Als Fazit ergibt sich: Auch wenn im engeren Sinne aufsuchende Arbeit in rechten Szenen
evaluative Bewährungsproben mangels solcher Bestrebungen und eindeutiger
Zurechnungskriterien für Erfolg noch nicht bestanden hat, ist das Konzept weithin anerkannt,
aus der Landschaft deutscher Jugendarbeit nicht mehr wegzudenken und weiter
entwicklungsfähig. Dies bestätigt auch die Einschätzung des Auswärtigen Amtes in seinem
15. Bericht der Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 9 des Internationalen
Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom 16.06.2000
(vgl. www.auswaertiges-amt.de/infoservice/download/pdf/mr/bercerd.pdf, 35). Dem kann
auch die Beobachtung nicht entgegengehalten werden, wonach fremdenfeindliche und
gewalttätige Jugendliche besonders häufig von der Jugendhilfe betreut werden (vgl. z.B.
Frindte u.a. 2001). Bekanntermaßen hält Jugendhilfe ihre Maßnahmen gerade für
benachteiligte und besonders gefährdete Jugendliche vor, so dass die Wahrscheinlichkeit, bei
Tätern Jugendhilfe-Sozialisation zu registrieren, deutlich überproportional ist. Daraus
abzuleiten, Jugendarbeit mit rechten Cliquen erfülle geradezu kontraproduktive Funktionen,
wie dies Wagner u.a. (2001, 315) andeuten, entbehrt der Grundlage.
Evaluationen sind gleichwohl dringend geboten. Dies gilt um so mehr, als sich aus einer
amerikanischen Totalerhebung von 254 Programmen in 53 (Groß-)Städten über die
Effektivität von repressiven und problemgruppenzentriert-sozialarbeiterischen Strategien der
Reduzierung von Jugendgewalt ergibt, dass die Verantwortlichen sie solange für relativ
unwirksam halten wie sie nicht durch 2 weitere Strategien ergänzt werden: die Schaffung von
besseren Lebenschancen für junge Leute und die Mobilisierung der sozialen Umfelder und
der gesamten zivilen Öffentlichkeit (vgl. Spergel/Curry 1990).
3.1.8 Körper- und bewegungsorientierte Konzepte von Erlebnis-, Abenteuer- und
Sportpädagogik
Die pädagogische Vermittlung spannender und abenteuerlicher Erlebnisse hat sich
bekanntlich seit längerem (vgl. z.B. Weber/Ziegenspeck 1983; Ziegenspeck 1983; Fischer u.a.
1985; Bauer 1985), meist rekurrierend auf Kurt Hahns "Erlebnis-Therapie" aus körperlichem
Training, Projektarbeit, Expedition und Dienst am Nächsten, teils als Methode, teils
eigenständiges Arbeitsfeld in der Jugendarbeit etabliert. Als Umgangsweise mit gewalttätigen
und speziell rechts(extrem) orientierten Jugendlichen (vgl. z.B. Behn/Heitmann o.J.; Nickolai
1991) bietet sie sich deshalb an, weil sie beansprucht, solche Erfahrungshintergründe des
Aufwachsens aktiv angehen zu können, die auch als Ursachenfaktoren und
Auslösezusammenhänge für politisch rechts gewirkte Gemeinschaftssehnsüchte und
gewalthaltige Randale ausgemacht werden können, wie z.B.:
 Denaturalisierung, Urbanisierung und Monofunktionalisierung von Räumen;
120




Durchrationalisierungen
und
Verregelungen
von
Zeit,
Lernprozessen,
Anerkennungsformen und sozialen Beziehungen;
Bewegungsarmut und Mangel an Naturerfahrungen;
Dominanz von Erfahrungen aus zweiter Hand, vor allem über Konsum, Medien und
Pädagogisierung;
Vereinzelung, Vereinsamung und Orientierungs- wie Sinnverlust.
Erlebnis- und Abenteuerpädagogik will dagegen, etwa in steiler Felswand oder auf hoher See,
eine kontrafaktische Gegenkultur setzen, die unmittelbare, ganzheitliche und überschaubare
Lernsituationen mit Ernstcharakter und Entscheidungsdruck offeriert (vgl. Thiersch 1993).
Sie erfordern u.a.:
 Sich-Einlassen auf Natur-Umgebungen,
 Vitalisierung des Körpers,
 Mitgestaltung der Situation statt Konsum,
 ganzheitliche Erfahrung von Freizeit und Arbeit,
 Kooperation, Selbstorganisation und gewaltfreie Konfliktregelung in der Gruppe.
Die TeilnehmerInnen sollen dabei lernen (vgl. Becker 1993),
 sich eigeninitiativ, aktiv und konstruktiv mit der Welt auseinander zu setzen,
 Verantwortung für sich und andere zu übernehmen,
 Situationen mit eigenen Fähigkeiten kontrollieren zu können,
 Hilfe und Sicherheit im Gemeinschaftsgefüge zu erfahren,
 eine kritische Reflexion eingeschliffener Auffassungen, Rollen und Verhaltensweisen
vorzunehmen,
 mit Stressanforderungen umgehen zu können,
 Toleranz, Akzeptanz und Rücksichtnahme zu zeigen.
In Abgrenzung zu rechtsextremen Angeboten von action und Abenteuer gibt es (vgl. Fischer
u.a. 1985)
 kein Befehl-Gehorsam-Prinzip,
 keine aus der Selbstverantwortung entlassende Hierarchie,
 keine Angebote simpler Gewissheiten und Weltbilder,
 keine Mutproben und individualisierenden Wettkämpfe.
'Gute' Erlebnispädagogik mit 'schwierigen' Jugendlichen in Jugendhilfemaßnahmen fühlt sich
dabei Erfolgsvariablen und Standards verpflichtet, wie sie Klawe (1998, 480) auflistet:
 Strukturelle Faktoren:
 Entscheidungsprozeß und Partizipation der Adressaten
 Auswahl der Zielgruppe
 Freiwilligkeit der Teilnahme
 Zeitliche und räumliche Distanz zum Milieu
 Angemessene Vorbereitung der Maßnahme
 Kontinuität und Qualität in den Beziehungen
 Alltagsbezug, Nachbetreuung und Transfer
 Fachaufsicht, Kontrolle und Supervision
 Qualifikation der Betreuer/-innen
 Besondere Bedeutung des Auslands
 Interne Faktoren
 Ausreichender Raum zum Handeln
121




Transparenz des Handlungsfeldes
Erfahrungen und Umgang mit Grenzen
Flexibilität und individuelle Ausrichtung
Beschulung oder Ausbildung
Die Kritik an einer Bekämpfung des Rechtsextremismus- und Gewalt-Problems mittels
Erlebnispädagogik zitiert zum einen die bekannten Einwände gegenüber der
Erlebnispädagogik: Sie sei bloße Kurzzeitpädagogik, löse das Problem des Transfers in den
Alltag nicht und mache bestenfalls abenteuersüchtig. Bezogen auf rechtsextreme Klientel
werden zum anderen zusätzliche Gefahren darin erkannt, dass hier rechte
Männlichkeitsmythen über das Aufsuchen von Grenzsituationen körperlicher Belastbarkeit
eher verstärkt werden, Natur- und Lagerfeuerromantiken deutschtümelnd "umkippen" und
körperliche Trainings zudem für Krawallaktionen genutzt werden könnten (Möller 1996).
Themenspezifisch fokussierende Evaluationen zu den gewaltpräventiven oder –interventiven
Effekten von Erlebnispädagogik liegen im deutschen Sprachraum nicht vor. Selbst
Evaluationen von Erlebnispädagogik überhaupt sind rar.
Nach unseren Recherchen ist eine der letzten Arbeiten dieser Art die methodisch triangulative
Totalerhebung von Jagenlauf (1990, 1992), die sich auf die Aktivitäten der
erlebnispädagogischen Einrichtung "Outward Bound" zwischen 1985 und 1989 bezieht, im
Regelfall 12-tägige Kurse mit – auch nach regionaler Herkunft – heterogen
zusammengesetzten Gruppen. Danach "überschätzt die generelle Wirksamkeit
kurzzeitpädagogischer
persönlichkeitsbildender
Maßnahmen",
wer
glaubt,
im
erlebnispädagogischen Labor Gelerntes könne "mit einem Test als signifikante
Verhaltensveränderung gemessen werden" (Jagenlauf 1992). Dessen unbeschadet ist nach
dieser Studie Erlebnispädagogik ein "Impuls-Effekt" zuzusprechen. Er besteht für mindestens
ca. die Hälfte der Teilnehmer und Teilnehmerinnen darin, sich "für einige Zeit" nach der
Kursteilnahme mit den eigenen Einstellungen und Verhaltensweisen auseinander zu setzen
und die Lebensgewohnheiten wie "die sozialen Beziehungen neu zu bewerten oder zu ändern"
(ebd.). Konkret steigt vor allem die Fähigkeit zu Ausdauer und sozialem Umgang,
Selbstsicherheit, Körperbewusstsein und Sorgfalt. Allerdings wird u.a. zweierlei
eingestanden: zum ersten, dass noch zu erklären ist, ob die Effekte nicht einfach durch "flow"
(vgl. Csikszentmihalyi 1985), also schlicht durch das Erfahren von Gipfelerlebnissen und
nicht spezifisch durch ihre pädagogische Begleitung zustande kommen; zum zweiten, dass
Wirkungen
bei
spezifischen
Gruppen,
z.B.
solchen
"mit
ungenügenden
Interaktionsfähigkeiten" (Jagenlauf 1992), also gerade von Klientel, das sich im Dunstkreis
rechtsorientierter und gewaltbereiter Jugendgruppen findet (vgl. z.B. Möller 2000a, 2001),
ununtersucht blieben.
Gewisse Aufschlüsse lassen sich allerdings gerade für 'schwierige', wenn auch nicht
unbedingt 'rechte', gewalttätige oder fremdenfeindliche Jugendliche aus den Ergebnissen einer
1998 abgeschlossenen zweijährigen Evaluationsstudie zur "Erlebnispädagogik in den Hilfe
zur Erziehung" gewinnen (vgl. Klawe 1998). Danach sind nach Wahrnehmung der
betroffenen Jugendlichen Gefühle gewonnener Selbstwirksamkeit die wichtigste Erfahrung in
erlebnispädagogischen Projekten. Stellt man in Rechnung, dass Gewaltsamkeit häufig gerade
auch sie und die damit verbundenen positiven Emotionen und Körpererfahrungen vermitteln
helfen soll (vgl. Sutterlüty 2000; Eckert/Steinmetz/Wetzstein 2001), lässt sich
Erlebnispädagogik als Pädagogik funktionaler Äquivalente begreifen. Allerdings setzen
erwartbar positive Wirkungen bestimmte Konstellationen des settings voraus. Es sind nämlich
(wohl nicht nur) im Bereich der "Intensiven Sozialpädagogischen Einzelbetreuung" (ISE;
siehe § 35 KJHG) kontraproduktiv:
122






hoher Zeitdruck, verbunden mit einer kurzen Zeitspanne zwischen der Entscheidung und
der Realisierung einer Maßnahme (40% der Entscheidungen für eine
erlebnispädagogische Maßnahme der Jugendhilfe werden in aktuellen Krisensituationen
gefällt),
institutionelle Handlungsbedarfe, insbesondere Unterbringungszwänge, die zu einer
Instrumentalisierung erlebnispädagogischer ISE als Ersatz für geschlossene
Unterbringung führen,
unzureichende Partizipation des Adressaten im Hilfeplanverfahren,
ungesicherte Vorbereitung, Kontinuität und fachliche Beratung der Betreuung,
überzogene und unreflektierte Erwartungshaltungen an die Beziehung zwischen
Jugendlichem und Fachkraft sowie die Entwicklung einer alltagstransferierbaren
Beziehungsfähigkeit und
mangelnde Vorbereitung der back-home-Situation durch Außerachtlassen von
Veränderungserfordernissen im Herkunftsmilieu.
Daraus ist die Schlussfolgerung zu ziehen, Erlebnispädagogik nicht als 'Königsweg' zu
betrachten, sondern
 im Repertoire einer Vielzahl von Maßnahmen dann zum Zuge kommen zu lassen,
 wenn eine individuelle Indikation dafür erstellt werden kann,
 Rahmenbedingungen stimmig sind,
 zusätzlich Veränderungsprozesse und Aktivierungen von Ressourcen im
Lebensweltzusammenhang des Jugendlichen erfolgen und
 Kooperationen gesucht werden, die erlebnispädagogische Maßnahmen systemisch
einbinden.
In Nordamerika ist die Evaluationslandschaft auch in Bezug auf Erlebnispädagogik
ausgedehnter, obwohl Davis-Berman/Berman/Capone (1994) in ihrer Untersuchung aller
erlebnispädagogischen Programme der Mitglieder der "Association of Experiental Education"
bemängeln, dass tragfähige, Kontrollgruppen einbeziehende Methoden zur Evaluation
außerhalb simpler Pre-Post-Testverfahren selbst hier kaum vorhanden sind. Immerhin ergeben
verschiedene Studien mit 'schwierigen', delinquenten und straffällig gewordenen Jugendlichen
(vgl. Kelly/Baer 1968; Boudette 1989; Durgin/McEwen 1991; Bartel 1996), dass vor allem
Selbstvertrauen und Gruppenfähigkeit gesteigert werden zu können scheint und delinquentes
Verhalten zurückgeht (zu weiteren, z.T. allerdings auch weniger positiven
Untersuchungsergebnissen vgl. auch Rehm 1998). Dies gilt zumindest, wenn gut ausgebildete
TrainerInnen zur Verfügung stehen, adäquate Selbstwirksamkeitserlebnisse durchlaufen
worden sind und eine Nachbetreuung gegeben ist (vgl. ebd.).
Durchaus ähnlich wie erlebnis- und abenteuerpädagogische Konzepte argumentieren Ansätze
im Bereich des Sports. Allerdings stehen hier naturgemäß stärker Überlegungen zu
Körperlichkeit und Bewegung im Vordergrund.
Insbesondere dort, wo eine rechtsextreme Ideologie in eigene physische Gewaltsamkeit
übergeht, konstatiert man aus dieser Sicht eine Fehlleitung körperlicher und motorischer
Bedürfnisse (vgl. auch Klose u.a. 2000, 42 ff.). Als Hintergrund dessen wiederum gilt eine im
Laufe des Zivilisationsprozesses sich herausbildende allgemeine Überbetonung rationaldistanzierender Kulturtechniken und körperferner abstrakt-symbolischer Lerninhalte für die
nachwachsende Generation. Technische Innovationen entlasten die muskuläre Beanspruchung
im Bereich der Arbeit, das ausgebaute Verkehrswesen beschneidet ursprüngliche motorische
Erfahrungen, körperliche und sinnliche Erfahrungen werden immer mehr durch
telekommunikative Surrogate ersetzt (vgl. Pilz 2002a).
123
Der Monotonie von anregungsarmen Nah- und Bewegungsräumen des jugendlichen
Aufwachsens in verkehrsgerechten Städten sind vorwiegend Jugendliche aus sozialen
Randlagen ausgesetzt. Sie treibt körperlich spürbare Erlebnisdefizite hervor, die nach
Kompensation durch Risikohandlungen von hoher Erlebnisintensität rufen; um so mehr als
der gesellschaftlich akzeptierte Bereich körperlicher Betätigung, der Sport, immer mehr zum
Zuschauersport verkommt, als Schulsport zu veröden droht sowie selbst technisiert und
konsum-kulturell vereinnahmt wird. Als Risikohandlung par excellence aber bietet sich
Gewaltsamkeit an, denn:
 die Teilnahme an ihr kann relativ voraussetzungslos erfolgen, weil der Körper als Kapital
eingesetzt werden kann;
 sie wird über mediale Vorbilder symbolisch-kulturell deutbar;
 sie bietet Attraktionserwerb und Durchsetzungserlebnisse jenseits gesellschaftlicher
akzeptierter Leistung;
 sie verspricht sinnlich-emotionale Erlebnisse höchster Intensität bis hin zu Euphorie und
zur Lust (vgl. Buford 1992);
 sie testet die Grenzen körperlicher Belastbarkeit aufs äußerste;
 sie erfordert den ganzen Menschen, den "ganzen Kerl" und
 sie schafft Nähe und Körperkontakt unter Männern.
Sport wird zugesprochen, demgegenüber "große Möglichkeiten" der primären, sekundären
und tertiären Gewaltprävention zu eröffnen. "Durch sportlichen Aktivität können (Hervorhbg.
i. Orig.):
 Aggressionen und motorischer Betätigungsdrang 'gesteuert' abgearbeitet,
 als Äquivalent zur Problematisierung vorhandene körperliche Fähigkeiten positiv
eingesetzt,
 mit vertrauter Betätigung Schwellenängste gegenüber dem sonstigen Angebot abgebaut,
 die Beziehungen von Jugendlichen (vor allem aus Randgruppen) untereinander, zu ihrer
Umwelt und zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geübt und verbessert,
 die Identifikation mit den sozialen Einrichtungen (z.B. Jugendzentrum) verbessert, bzw.
oft erst hergestellt und verstärkt werden,
 das Akzeptieren vorhandener Regeln erlernt,
 Erfolgserlebnisse erzielt werden" (Pilz 2002a).
Aus sportwissenschaftlicher Sicht muss aber vor voreiligen Erwartungshaltungen gewarnt
werden. "Sport wirkt wie eine Schutzimpfung gegen soziale Auffälligkeit" (Jochen Welt,
Aussiedlerbeauftragter der Bundesregierung; ähnlich Christian Pfeiffer), "Gerade der Sport
kann ... dazu beitragen, vorhandene Vorurteile und Angst vor Fremden abzubauen"
(Bundesinnenminister Otto Schily) und "Sportvereine sind in unserer Gesellschaft
Integrationsfaktor Nummer eins" (Manfred von Richthofen, Präsident des Deutschen
Sportbundes; zit. n. Pilz 2002) – solchen Hoffnungen ist aus dieser Sicht mit größter Skepsis
zu begegnen. Denn in der Jugendarbeit der Sportvereine klaffen offensichtlich Anspruch und
Wirklichkeit weit auseinander (vgl. auch die Wanderausstellung "Tatort Stadion. Rassismus
und Diskriminierung im Fußball" des "Bündnisses aktiver Fußballfans" (BAFF)). Im
Gegensatz zu der dem Sport zugedachten Integrationsfunktion sind besonders gefährdete
Jugendliche aus gesellschaftlichen Randlagen und in schwierigen Lebenssituationen hier
deutlich unterrepräsentiert (vgl. Deutsche Sportjugend 1998; Brettschneider/Kleine 2001).
Zudem muss wohl mit Grupe (2000) zwischen "Sportkultur" und einer "Kultur des Sports"
unterschieden werden. Während der letztgenannte Terminus die traditionelle Werte des Sports
(Fairness, Teamgeist usw.) umschreibt, meint "Sportkultur" die Realität des Sports mit all
ihren positiven, aber auch negativen Begleiterscheinungen. Diesbezüglich kann nicht darüber
124
hinweggesehen werden, dass sich innerhalb von "Sportkultur" auch eine Kultur der Gewalt
realisiert. Ihre Reproduktion wird nicht zuletzt durch die "Moral des fairen Fouls" (Pilz 1999)
gesichert. Ein Umschlagen von "Sportkultur" in problematische Verwendungen von Sport
kann wohl auch deshalb leicht erfolgen, weil der Sport selbst mit Lorenz triebtheoretisch als
"Ventil für gestaute Aggressionen", ritualisierte und zeremonielle Kampfform, ja als "Krieg
ohne Schießen" (Orwell) begriffen werden kann (vgl. zum Zusammenhang von
triebtheoretischen Erklärungen und gewaltpräventiven Konsequenzen in Hinsicht auf die
Befriedigung von Abenteuer- und Bewegungsbedürfnissen durch Erlebnis- und
Sportpädagogik kurz: Schubarth 2000, 14f.). Auch im Hinblick auf das Management
multikultureller Konflikte im Sport bestehen erhebliche und sich zuspitzende Probleme (vgl.
Bröskamp/Alkemeyer 1996; Klein/Kothy 1998; Pilz/Schick/Yilmaz 2000). Insofern kann
nicht verwundern, wenn eine aktuelle Evaluation der Jugendarbeit von Sportvereinen
ernüchtert. Nach ihr lässt sich "eine gewaltpräventive Funktion des Sportvereins aus den
vorliegenden empirischen Daten zur Prävalenz devianten und delinquenten Verhaltens
jedenfalls nicht ablesen" (Brettschneider/Kleine 2001, 492).
Diesen Kalamitäten ist aus sportwissenschaftlicher Perspektive nur entgegenzusteuern durch
 die Thematisierung und Abarbeitung gewalt- und extremismusförderlicher Elemente in
der Sportkultur,
 die Öffnung von Sportvereinen in das Gemeinwesen, auch gerade für 'schwierige'
Personengruppen, insbesondere Jugendliche,
 die sozialpädagogische Qualifizierung von Funktionären und Übungsleitern,
 die stärkere Ausrichtung des Schulsports an den jugendkulturellen Bewegungsformen der
Schüler und Schülerinnen (vgl. z.B. Kottmann/Küpper/Pack 1997; Illi u.a.1998; KlupschSahlmann 1999)
 die Intensivierung der Kooperation von Sportvereinen mit Einrichtungen pädagogischer
und Sozialer Arbeit, etwa mit Schulen und der Jugendarbeit,
 die Vernetzung sportlicher Aktivitäten mit anderen gewalt- und extremismuspräventiven
Maßnahmen,
 politische Einmischung, um bewegungsfreundliche Umwelten sicherzustellen.
Gewaltpräventive sportpädagogischen Gegensteuerungen erfolgen vor allem über (Liegel o.J.,
38; vgl. auch z.B. Kuhn 1994; Pilz 2002a):
 das Ernstnehmen jugendlicher Bewegungsbedürfnisse und das Anknüpfen an
jugendlichen Bewegungskulturen, die eben nicht (nur) in Sportvereinen ausagiert werden
(vgl. Brinkhoff/Sack 1996),
 den Aufbau einer "experimentierfreundlichen Bewegungsinfrastruktur im nahen
Wohnumfeld",
 die
niederschwellige
"Durchführung
erlebnisintensiver,
risikoangereicherter
Bewegungsprogramme" mit "spannungserzeugenden Anforderungen städtischer und
naturnaher Bewegungsräume",
 "Projekte, in denen Körper- und Bewegungsaktivitäten in ihrem Zusammenhang, z.B. zu
Ernährungsgewohnheiten, zu Gesundheitsverhalten oder zu ästhetischen Praxen,
thematisiert werden" und dabei
 konsequent, aber ohne Ausgrenzungs-Pädagogik gegen Gewalt einschreiten und
 einen geschlechterdifferentem Blickwinkel anlegen, der
 Gegenentwürfe zur Marginalisierung von Mädchen im Sportleben sowie
 äquivalente Alternativen zu maskulinen Hegemonialstrukturen aufzeigt.
Einmalige Veranstaltungen sind dabei einer nachhaltigen Verbesserung nicht förderlich.
125
Wo entlang dieser Linie außerhalb der Sportvereine (oder außerhalb von Haftanstalten; dazu
und zur Evaluation vgl. Wolters 1994; siehe auch das Kapitel zu gewalttherapeutischen
Ansätzen) sportbezogen sozialarbeiterisch gearbeitet wird,
 geschieht aus der Jugendhilfe heraus für eine breite Adressatengruppierung vor allem
aufsuchende Arbeit mit Trendsportarten (Inline-skating, streetsoccer, MitternachtsBasketball etc.), nicht selten in Kooperation mit der Polizei (vgl. z.B. Hamburger
Sportjugend 1998; Gesicht zeigen 2001, 200ff.; Pilz 2002b),
 kümmern sich Fan-Projekte um (vornehmlich junge) Sportbegeisterte (siehe dazu auch die
Aktion der Schalker Fan-Initiative gegen Rassismus; vgl. kurz: Gesicht zeigen 2001,
81f.),
 erfolgt in Kooperation mit Schulen eine Heranführung an eine eher spaß- als
leistungsbezogene neue Bewegungskultur und 'New Games' (vgl. etwa Klose u.a. 2000)
 oder es werden mit spezifischerer Zielgruppenfokussierung gezielt sportliche Angebote
für sozial Marginalisierte und Gewaltgefährdete in sozialen Brennpunkten angeboten
(etwa im Hamburger Projekt "Integration durch Sport").
Damit sollen neue Formen sozialer Anerkennung (vgl. auch das Ergebnisprotokoll der
Konferenz der Sportminister der Länder vom 5. November 1993; zit. n. Pro Jugend 4/1996)
über Umlenkungen von Aggressivität in sozial akzeptierte Formen körperlichen Ausagierens
erarbeitet werden.
In verschrifteten Zielsetzungen entsprechender Projekte, die der Intention der GewaltBekämpfung dann auch noch leicht unvermittelt die Absicht einer Anti-Wirkung gegenüber
Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit anhängen, finden sich Vermittlungsabsichten gehäuft in
Stichwortreihungen wie "sinnvolle Freizeitangebote", "positive Wertvorstellungen", "soziales
Verhalten", "Fair play", "Achtung gegenüber dem Nächsten", "Rücksichtnahme",
"überschüssige Energien sinnvoll abbauen", "Kinder von der Straße holen" (hier exemplarisch
für viele zitiert aus: Seehausen 1995) oder "Entwicklung positiver Lebenskonzepte",
"Förderung der Lebenskompetenz", "Entwicklung von sozialer Verantwortung",
"Kritikfähigkeit", "Konfliktfähigkeit" und "Aufbau eines positiven Selbstwertgefühls"
(Sportjugend Niedersachsen 2002). So wenig sich in solchen Auflistungen pädagogische
Reflexivität und konzeptionelle Sättigung im Sinne der Stiftung eines sinnhaften
Zusammenhangs zwischen Zielen, Inhalten, Methoden und Evaluationen widerspiegeln, so
offen bleibt, inwieweit vollmundige und noch zusätzlich z.T. problematische ("Kinder von der
Straße holen") Versprechungen wie diese weit ausgreifende Erwartungshaltungen wecken
bzw. am Leben halten, die womöglich gar nicht einzulösen sind oder sogar zu
ordnungspolitischen Instrumentalisierungen des Freizeitsports führen; dies derart, dass die
jugend-, körper- und bewegungskulturellen Dimensionen des Sports problemfixiert
überblendet werden.
Brettschneider/Kleine (2001) jedenfalls raten auf der Grundlage ihrer Evaluation "zur
Zurückhaltung, wenn es um programmatische Behauptungen zur persönlichkeitsformenden
Kraft des Sports geht" (ebd., 492). Sicherlich mit Recht fordern sie eine verstärkte Evaluation.
Eine kritische Sicht auf sportpädagogische Projekte führt eine Reihe der o.a. Argumente
gegen die Erlebnispädagogik ins Feld, moniert das angesichts der Komplexität des
Rechtsextremismus-Syndroms eingeschränkte, eigentlich unpolitische Handlungsfeld und
problematisiert eine eventuelle bloße Aggressivitätssublimierung.
Evaluationen, die die genannten Erwartungshalten der Protagonisten, aber auch die ihnen
gegenüber erhobenen Vorwürfe prüfen könnten, liegen auch hier nur begrenzt vor und
kommen zumeist nicht über den Charakter von Erfahrungsberichten hinweg.
126
Aus den in den hessischen Modellprojekten gewonnenen Erfahrungen mit sportbezogenen
Angeboten lässt sich immerhin auf derartiger Erkenntnisbasis dreierlei festhalten:
 Dem Projekt "Auszeit" gelang es, "schwierige Jugendliche" in Sportvereine zu
reintegrieren. Allerdings handelte es sich hierbei überwiegend um männliche Migranten,
also keine 'rechten' Jugendlichen.
 Über Kooperationen mit Schulen konnten mittels Sport verschiedene ethnische Gruppen
(Türken, Russlanddeutsche), die sich ablehnend gegenüber standen, miteinander in
Kontakt gebracht werden. Wie weit dies zu einer dauerhaften Entkrampfung des
Verhältnisses beitragen konnte und Modellcharakter beanspruchen kann, bleibt aber offen.
 Mobile Sportangebote im öffentlichen Raum erreichen vornehmlich männliche
Migrantenjugendliche.
Letzteres macht deutlich, dass Sport per se noch längst nicht Integration mit sich bringt,
zumal bisweilen festgestellt wird, dass deutsche Jugendliche aus Angst wegbleiben, wenn der
Teilnehmerkreis zu 80%-90% aus ausländischen Jugendlichen besteht (vgl. dazu die
Erfahrungen mit Mitternachtssport bei Pilz 2002b). Dessen unbeschadet werden delinquenzund gewaltreduzierende Effekte solcher Angebote festgestellt. Wie weit sie allerdings über
die polizeilich bestätigte Beobachtung hinausgehen, dass während der Laufzeit des Events
selbst entsprechende Vorkommisse zurückgehen, bleibt fraglich, zumindest bis genauere
Evaluationen entsprechender Projekte vorliegen.
Auch die mittlerweile seit 20 Jahren bestehende (Fußball-)Fan-Projektarbeit (vgl. im
Überblick dazu: Gabriel/Schneider 1999) ist bislang in Hinsicht auf die Umsetzung von zwei
ihrer vordringlichsten Zielsetzungen, nämlich Eindämmung von Gewalt und Abbau
extremistischer Orientierungen, unevaluiert geblieben - ganz im Widerspruch zu den im 1993
verabschiedeten "Nationalen Konzept Sport und Sicherheit" ausgedrückten Absichten. Zwar
liegen erfolgsbestätigende Äußerungen aus Politik und Polizei vor11, letztlich bleibt aber
bislang nicht wissenschaftlich exakt bestimmbar, ob und inwieweit für den Rückgang von
Gewalthandlungen bei jungen Fußballfans auch oder sogar eher repressive Maßnahmen bzw.
das Zusammenspiel von präventiv-sozialarbeiterischen und repressiv-polizeilichen Strategien,
das das "Nationale Konzept Sport und Sicherheit" vorschreibt, verantwortlich sind. Eine
aktuelle empirische Untersuchung von Lösel u.a. (2001) über Hooliganismus deutet an, dass
gerade die Kooperation von kontrollierend-repressiven und sozialarbeiterischen Maßnahmen
erfolgversprechend ist. Allerdings handelt es sich hierbei um Aussagen, die auf der Basis der
Einschätzungen von ExpertInnen (24 Gruppendiskussionen mit insgesamt 205
Hooliganismus-ExpertInnen und 172 nach der Delphi-Methode per Fragebogen
vorgenommene Einzelbefragungen) und einer verschiedene Instrumente (biographische
Interviews, Persönlichkeits- und Einstellungsfragebögen, Test und klinische
Diagnoseverfahren) einsetzenden Erhebung bei 33 Hooligans getätigt werden, also nicht
Resultate einer kontrollierten Wirkungsevaluation darstellen (vgl. ebd., bes. 153ff.). Zudem
muss - wie auch außerhalb der Sportarenen - trotz der im nationalen Konzept gebündelten
11
So erklärte z.B. Innenminister Behrens (NRW) am 18.01.2000, "dass es gelungen ist, den Zulauf zu
gewaltbereiten Gruppen zu verringern. Es war ein wesentliches Ziel der Fanpropjekte, ein Abgleiten
Jugendlicher in das Umfeld von Gewalttätern zu verhindern. Das ist uns ganz offensichtlich gelungen"; ähnlich
auch die Darstellung des Ministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit NRW, wonach "Fussball-FanProjekte inzwischen eine unverzichtbare Struktur hinsichtlich der Gewaltprävention, des Abbau von
Fremdenfeindlichkeit und der Entwicklung von Rechtsextremismus" geworden sind und auf ihre Arbeit die
geringere Auffälligkeit von Hooliganismus, Vandalismus und gewalttätigem Handeln sowie das
Nichtvorhandensein eines "spektakulären Fall(s) von Gewalttätigkeit und Rechtsextremismus in den
Bundsligastadien NRWs" zurückzuführen sind; vgl. MFJFG NRW 2000; vgl. zur Selbsteinschätzung der
Projekte auch: Dembowski 1998, 25, wonach zumindest "eine Sensibilisierung für rechtsgerichtete Tendenzen
erreicht worden" ist.
127
Bemühungen von Polizei und Sozialarbeit "eine Zunahme rechtsextremistischer
Orientierungen im Fußballfanumfeld" (Pilz 2000) registriert werden. Dass Personen solche
Haltungen in ihrer Außendarstellung mittlerweile weniger zu erkennen geben als früher, sich
bspw. angepasster kleiden und seltener Glatzen tragen, kann über Vorurteile, Feindbilder und
Fremdenfeindlichkeit in den Köpfen nach übereinstimmender Auffassungen der Zentralen
Infostelle Sporteinsätze der Polizei und der Koordinationsstelle der Fanprojekte nicht
hinwegtäuschen.
Für die Qualitätssicherung und eine Wirksamkeitssteigerung der professionellen Fanarbeit
erscheint eine formative Evaluation dringend geboten. Da"(o)hne systematische
Evaluationen... nichts objektiv über verschiedene Arbeitskonzepte und ihre Wirkung
ausgesagt werden" (Lösel u.a. 2001, 157) kann, fordern Lösel u.a. darüber hinaus "eine
vermehrte kontrollierte Wirkungsevaluation" (ebd., 165); dies auch von solchen Maßnahmen,
die repressiven bzw. kontrollierenden Charakter haben.
So unbestimmt also bislang die Erfolge sportbezogener Ansätze sind: Ziemlich sicher dürfte
schon heute das gelten, was die Evaluation des schleswig-holsteinischen Projekts "Sport
gegen Gewalt" als "Hauptergebnis" herausstellt: "Sport alleine bringt 's nicht" (vgl.
Grenz/Sielert 1996). Danach sind aus einer Fülle an Schwierigkeiten mindestens vier
hervorzuheben – und zu lösen, wenn Gewaltreduktion durch Sport Erfolg haben soll:
 Akut gewalttätige Jugendliche kommen nicht in die Angebote, leicht gewaltbereite
überwiegen.
 Positive Verhaltensveränderungen werden weniger durch den Sport als solchen denn
vielmehr über das mit ihm gegebene Gruppenerleben verantwortet.
 Sensibilisierungen für Gewaltformen, die unterhalb des "Hauens" liegen, sind bei
ungeschulten MitarbeiterInnen von Sportvereinen selten.
 Und: Persönliche und pädagogische Qualifikationen von MitarbeiterInnen sind
"entscheidend für den gewaltpräventiven Erfolg" (ebd., 12).
Wenn deshalb in Hinsicht auf Qualifizierung der ProjektmitarbeiterInnen hier vor allem auf
eine Schulung von Wahrnehmungs-, Analyse-, Reflexions-, Empathie- und
Handlungsfähigkeit (vgl. ebd., 13f.) abgehoben wird, ist damit ein auch aus der Sicht anderer
sportwissenschaftlicher Analysen und Evaluationen (s.o.) nach wie vor dringlich zu
einzulösendes Desideratum angesprochen.
Aus der Sicht der Studie von Lösel u.a. (2001) kommt für die Arbeit mit gewaltbereiten
Sportfans – aber wohl nicht nur mit ihnen – hinzu, dass Intervention und Prävention auf
mehreren Ebenen zu geschehen hat. Danach erscheint eine Vernetzung der Anstrengungen
von Vereinen und sozialpädagogischer Fanarbeit mit denen der kommunalen
Kriminalprävention, der Medien und vor allem auch mit Maßnahmen zur Förderung der
biografisch frühen erzieherischen Gewaltbearbeitung in Familie, Kindergärten und Schule
angezeigt (vgl. ebd., bes. 157ff.); letzteres vor allem deshalb, weil zum ersten eine
Verjüngung der gewaltbereiten Szene konstatiert werden muss und zum zweiten bei ihren
Angehörigen deutlich erkennbare Risikokumulationen durch biographisch schon in der
Kindheit einsetzende ungünstige Erziehungs- und Sozialisationserfahrungen vorliegen (vgl.
ebd.; auch Möller 2000a, 2001a).
3.1.9 Kultur- und medienpädagogische Konzepte
Kultur- und medienpädagogische Konzepte haben generell in der sozialen und pädagogischen
Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in den letzten zwei Jahrzehnten einen
erheblichen Bedeutungszuwachs erfahren. Er ist ganz offensichtlich Reflex auf
Modernisierungsentwicklungen, die ihren Ausgang bei der Entwicklung technischer
128
Innovationen im Bereich der Computer- und Unterhaltungselektronik nehmen, im Zuge ihrer
Verbreitung jedoch zugleich enorme Auswirkungen auf die Beschaffenheit des Sozialen
zeitigen. Pädagogische und sozialarbeiterische Relevanz wird ihnen nicht nur in der Debatte
um die Auswirkungen medialer Gewaltdarstellungen (z.B. in Videos und Computerspielen)
auf reales Handeln und um einen entstehenden "digitalen Graben" innerhalb der Gesellschaft
und in ähnlichen Diskursen über die Gefährdungen aufgrund von sozialen Spaltungen der
"Informationsgesellschaft" zugeschrieben. Es wird auch darauf verwiesen, dass soziale
Zugehörigkeit und Selbstausdruck neue Gestalten annehmen: Insbesondere für Jugendliche
spielen jugendkulturelle Zuordnungen und die oft in ihrem Kontext stehenden medialen
Ausdrucksmöglichkeiten immer deutlicher entscheidende Rollen bei der sozialen und
personalen Identitätsentwicklung.
Eine an den Bedürfnissen, Interessen und Lebenswelten des Klientels orientierte Pädagogik
und Sozialarbeit sieht sich deshalb herausgefordert, auf diesen Gebieten neue Ansatzpunkte
zu entwickeln. Das Hauptargument ist klar: Wer Zugang zur jungen Generation sichern will,
muss sich auf die von ihr ausgehenden bzw. bei ihr attraktiven kulturellen Stilisierungen und
ihr Mediennutzungsverhalten einstellen. Bei den dieser Devise folgenden pädagogischsozialarbeiterischen Annäherungen hat sich trotz gelegentlicher Rückfälle in die
Kurzschlüssigkeiten der Bewahrpädagogik längst ein praktischer Konsens etabliert: die
Favorisierung eines handlungsorientierten Ansatzes. Anders als der faktisch angesichts
globaler Mediennetze noch kaum durchzusetzende gesetzliche Jugendschutz, aber auch in
Absetzung von der klassischen Medienkunde und der konventionellen kritischen
Medienanalyse fragt er weniger danach, was die Medien mit den Menschen machen, als
danach, was die Menschen mit Medien bewerkstelligen können. Er gefällt sich auch weniger
in kulturkritischem Lamento, sondern propagiert stattdessen die aktive kulturelle Produktion
durch TeilnehmerInnen in sozialarbeiterischen und pädagogischen Lernarrangements.
Insofern handelt es sich um mehr als nur neuartige Zugänge und Inhalte. Auch methodisch
verlagert sich das Schwergewicht von Verbot, Zugangsbeschneidung, Aufklärung und
Wissensvermittlung auf Handlungsorientierung, Erfahrungslernen und die damit in
Verbindung stehenden affektiven Prozesse (nicht zuletzt: "Spaß"). In ihrer Ergebnissen sind
solche Aktivitäten mehr als andere auf die Herstellung von Öffentlichkeit hin angelegt. Sie
erlauben damit die Publizierung eigener Expressivität und interessengeleiteter Anliegen über
die nahweltlichen face-to-face-Bezüge hinaus, ihre Produkte sind als politisch-sozial relevante
Stellungnahmen zu deuten und nehmen insofern Einfluss auf das gesellschaftliche Klima.
Es liegt daher nahe, auch in Hinsicht auf die pädagogische Bearbeitung von Problematiken
wie Fremdenfeindlichkeit, Extremismus und Gewalt auf kultur- und medienpädagogische
Impulse zu setzen. Von ihrer Zugangsweise her versprechen sie den 'Nerv' jugendlichen
Alltagslebens und der sich in ihm dokumentierenden Interessen, personalen
Identitätskonstruktionen und sozialen Zuordnungen junger Leute zu treffen und dabei auch
diejenigen Aspekte zu erreichen, die im Bereich politischer Latenz liegen. Indem sie die
kulturelle bzw. mediale Produktion in den Vordergrund rücken, erscheinen sie selbst im
Kontext der politischen Bildung nicht einseitig inhaltlich festgelegt. Sie transportieren damit
neben dem Politischen immer noch gleichsam einen zweiten Inhalt. Die verbreitete
Abneigung gegenüber etablierter Politik und ihren konventionellen Ausformungen trifft sie
deshalb nicht so leicht. Andererseits sind sie gerade an die in kulturellen Überformungen
bestehenden modernisierten Existenzweisen des Politischen anschlussfähig, wie sie sich auch
nicht zuletzt im Umfeld der Amalgamierung rechtsextrem konturierter und gewaltförmig
auftretender jugendkultureller Elemente mit politisch-ideologischen Haltungen, wie etwa bei
den Skinheads, aber auch – in ganz anderer politischer Ausrichtung – in der HipHop-Szene
finden. Ihre methodischen Chancen für Erfahrungslernen und Gestaltungserleben sind
offensichtlich, so dass bei ihren Zielgruppen die Assoziation einer leicht auf Ablehnung
stoßenden politisch-moralisierenden Aufklärungspädagogik 'von oben herab' zumeist erst gar
129
nicht aufkommt. Hinzu kommt die emotionale Ansprache, die kreative, kulturelle und mediale
Aktivitäten beinhalten. Sie können an ein Verständnis von Politik anknüpfen, das es aus der
Sphäre rationalistisch-argumentativer Diskurse in Richtung auf symbolische Stilisierungen
und eventartige Erlebnisformen öffnet. Mediale und kulturelle Aktionen und Produktionen
enthalten darüber hinaus Publikationspotenziale, die sie für einen Transport von politischen
Auffassungen und Diskussionsangeboten aus dem gesellschaftlichen Mikro- in den Mesound Makrobereich prädestiniert erscheinen lassen. Davon abgesehen verstehen sich die
Angebote auch oft als Vermittlungsformen von Selbst- und Sozialkompetenz bzw. von
Schusselqualifikationen.12
Insoweit kann es nicht verwundern, wenn zur pädagogischen und sozialarbeiterischen
Bekämpfung von Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in der Arbeit mit
verschiedenen Zielgruppen, vorwiegend aber mit Kindern und Jugendlichen, alte und neue
Medien wie Theater(spiel), Musik, Tanz, Film, Video, Foto, Plakatdruck, Comics, Literatur
und Textproduktion, Internet sowie bildnerische Kunst zum Zuge kommen. Einzelprojekte
sind
in
ihrer
Vielzahl
mittlerweile
unüberschaubar
(vgl.
exemplarisch
www.bkj.de/mutproben). Formate und Designs, in denen kulturelle und mediale Aktivitäten
entweder mit dem methodisch-didaktischen Stellenwert von Techniken und Verfahren im
Sinne kultureller Sozialarbeit irgendwie zur Geltung kommen oder von vornherein als
eigenständiger Inhalt sozialer Kulturarbeit im Mittelpunkt stehen, differieren in ihrem
Umfang und in der Intensität der abverlangten Teilnahme erheblich. Designs reichen von
Konzerten oder Ausstellungs-, Musical-, Film- und Theaterpräsentationen, die vorwiegend
konsumierende Zielgruppen ansprechen, über 90-minütige Schnupperworkshops mit
eigenaktiven Anteilen und - z.T. im ersten Schritt als Einzelansprache konzipierte –
Internetangebote bis hin zu Projekten, bei denen im Gruppenzusammenhang über mehrere
Wochen oder sogar Monate hinweg ein eigenes Produkt (z.B. CD, Video, Theaterstück)
erstellt und oft auch veröffentlicht wird. Zumeist sind die Vorhaben im außerschulischen
Bereich angesiedelt, nicht selten kommen sie aber auch in Kooperation mit Schulklassen
zustande. Die Träger entstammen meistens der Medienpädagogik bzw. der kulturellen oder
politisch- bzw. sozial-kulturellen Bildung und verfügen über Personal, das verhältnismäßig
oft auch nicht-pädagogische Qualifikationsprofile aufweist. Dem gemäß bestehen die
eingebrachten Fachkompetenzen häufig eher in Fähigkeiten und Fertigkeiten des technischen
und didaktischen Umgangs mit bestimmten Medien und/oder kulturellen Praktiken als in
thematisch-inhaltlichen Bezügen auf die Problematiken von Rechtsextremismus,
Fremdenfeindlichkeit und Gewalt. Im Regelfall herrscht ein professionelles Selbstverständnis
vor, das dem Umgang mit Medien und kultureller Praxis pädagogischen Eigensinn zuschreibt
und diese Aktivitäten nicht für übergeordnete pädagogisch-thematische Interessen
instrumentalisiert sehen will.
Musical- und Theaterprojekte firmieren nicht selten unter einem Titel wie "Theater gegen
rechts". Darunter werden zum Teil Tourneen professioneller oder semiprofessioneller
Schauspieltruppen – oft mit Diskussionen oder Rollenspielaktionen (für SchülerInnen) im
Anschluss an die Aufführungen – verstanden, als auch Wettbewerbe und Projekte angeboten,
die Kinder und Jugendliche dauerhafter zu darstellendem Spiel animieren (so etwa die unter
diesem Rubrum stehende und vom Bundesprogramm "Jugend für Toleranz und Demokratie"
geförderte Aktion von Bund Deutscher Amateurtheater, Bundesarbeitsgemeinschaft Spiel und
Theater und Bundesarbeitsgemeinschaft Darstellendes Spiel in der Schule, bereits seit 1996
das Kindertheater "S.O.S. in Feuerland" der Spiel- und Theaterwerkstatt Villigst oder – als
12
So weist das den TeilnehmerInnen an der Musical-Produktion "Voll das Leben" ausgestellte Zertifikat
auf den Erwerb von Kompetenzen hin wie "gute Kommunikationsfähigkeit, die Fähigkeit und Bereitschaft im
Team zu arbeiten...Abstraktions- und Reflexionsfähigkeiten..., die Fähigkeit, zu Problemlösungen beizutragen".
130
Beispiele für Musical-Produktionen die im Ruhrgebiet auftretende Aufführung "Voll das
Leben" oder "Rapomania") und ggf. mit der Teilnahme an Festivals belohnen (vgl. aktuell
etwa das UNESCO-Weltkindertheater-Festival im Juni 2002 in Lingen (Ems) unter dem Titel
"Dialog zwischen den Kulturen" mit 400 Kindern aus 20 Ländern und 20.000 erwarteten
BesucherInnen). In ähnlicher Weise wird Theaterspiel zur allgemeinen Gewaltprävention
eingesetzt. So entwickelten bspw. der Bundesverband Theaterpädagogik e.V. und das
Theaterpädagogische Zentrum Köln die mobile Produktion "Schönes Wochenende", die als
Begleitmaßnahme zur Reform des Rechts auf gewaltfreie Erziehung (§ 1631, Abs. 2 BGB)
angesehen wird, das Theaterpädagogische Zentrum Lingen erstellte in Kooperation mit dem
niederländischen Kindertheater "Benjamin" ein von einem Arbeitsheft begleitetes Stück über
Gewalt an Schulen ("Game over – oder: Schikanieren ist kein Spiel") und die
Bundesarbeitsgemeinschaft für das Darstellende Spiel in der Schule und das SchultheaterStudio Frankfurt konnten an mehr als 150 Schulen im Bundesgebiet über 4000 SchülerInnen
mit ihren theaterpädagogischen Gewaltpräventionsworkshops erreichen. Gelegentlich wird
auch mit dem Einbezug 'rechter' Jugendlicher experimentiert (vgl. Braun-Badie-Massud u.a.
1996).
So gut solche Projekte angenommen werden, so positiv vereinzelte Rückmeldungen von
BesucherInnen bzw. TeilnehmerInnen oder beteiligten Lehrkräften sind und so optimistisch
einzelne Erfahrungsberichte klingen: Aussagen über messbare gewalt- bzw.
extremismusreduzierende oder –präventive Effekte lassen sich nicht machen, erst recht nicht
in Hinsicht auf Nachhaltigkeit. Wissenschaftliche Evaluationen fehlen.
Der Einsatz von Musik "gegen rechts" und gegen Gewalt beschränkt sich nicht allein auf das
Angebot von Konzerten und Tonträgern bekannter InterpretInnen mit entsprechend kritischen
Texten. Neben dem bloßen Konsum wird "Gegenwind" der "jungen Musikszene gegen
rechts" entfacht. (so das Motto der Landesarbeitsgemeinschaft Musik Nordrhein-Westfalen).
Musikwettbewerbe für junge Leute (z.B. "Nicht hier geboren..." der Landesvereinigung für
kulturelle Jugendbildung Thüringen), musikalische Aktionstage (wie z.B. "beat gegen rechts"
in Hamburg und ähnlich andernorts), Begegnungsfestivals (wie des Arbeitskreises Musik in
der Jugend oder des Verbandes deutscher Musikschulen) wollen "Zeichen gegen Hass und
Gewalt" setzen und "Botschaften" für "Toleranz und Aufgeschlossenheit gegenüber Fremden"
aussenden. Sie vertrauen darauf, dass dies "viel wirksamer" gelingen kann "durch Initiativen
für etwas... als durch noch so viele Aktionen gegen gesellschaftliche Fehlentwicklungen"
(vgl. www.musikschulen.de). Auch außerpädagogische Akteure schreiben entsprechende
Aktionen aus (vgl. etwa den im Jahre 2001 von AOK, VIVA und BMG Entertainment
durchgeführten und mit einem Plattenvertrag ausgepreisten Talentwettbewerb "Rhythmus
gegen Rassismus"; vgl. www.act2001.de).
Während solche Angebote im allgemeinen nur bereits musizierende Kinder und Jugendliche
ansprechen, geht die 1999 mit dem Projekte-Preis der Heinrich-Böll-Stiftung ausgezeichnete
und 2001 als deutscher Beitrag für das internationale Jahr der UN "Dialog zwischen den
Kulturen" ausgewählte Initiative "Rap für Courage" seit 1995 einen anderen Weg.
Jugendgruppen bzw. Schulklassen bis zu 18 Personen im Alter zwischen 12 und 20 Jahren
werden innerhalb eines intensiven viertägigen Workshops befähigt, einen HipHopAct
multimedial (Musik(video), Tanz) auf die Bühne zu bringen bzw. einen Song bis zur CDReife zu produzieren. Unterstützt werden sie dabei von einer professionellen HipHopFormation, den "Sons of Gastarbeita". Seit 1998 gibt es ein analoges Angebot nur für
Mädchen: "Mädchen zeigen Courage". Über 1.200 Jugendliche konnten bis heute so erreicht
werden. Neuerdings können ausgelöst durch die große Nachfrage nach dem Projekt auch
speziell dafür als MultiplikatorInnen ausgebildete Fachkräften aus der Jugend(bildungs)arbeit
eingesetzt werden. Die mit ihnen (N= 62; Stand Januar 2002) durchgeführten Fortbildungen
wurden z.T. unter Einbezug jugendlicher Lehrender organisiert und projektintern sehr positiv
131
evaluiert. Nach Projektrecherchen setzen etwa 50% der TeilnehmerInnen das Gelernte
innerhalb der eigenen Praxis in eigene Projekte um. Über die Wirksamkeit von "Rap für
Courage" in Hinsicht auf die beanspruchte Protektion von Rassismus, Rechtsextremismus,
Minoritätenfeindlichkeit und Gewalt ist damit allerdings noch nichts ausgesagt. Dies gilt auch
für die CD- und Video-Clip-Produktionen im Rahmen einer handlungsorientierten Medienund Kulturarbeit "gegen rechts" in Nürnberg (vgl. Eismann u.a. 1997; Glöckler 2002) und
anderswo. Evaluationen hätten u.a. die Vermutung zu prüfen, dass der HipHop-Stil nicht
unbedingt rechtsextrem gefährdete Jugendliche anspricht, sondern eher geeignet erscheint,
Migrantenjugendliche und ihre schon 'antirassistisch' gestimmten deutschen Freunde zu
interessieren und in ihren multikulturell geprägten Lebensweisen und Auffassungen zu
stabilisieren.
Auch
die
möglicherweise
aggressionsreduzierende
Funktion
kinästhetischer
Bewegungsabläufe und ihre Verbindung mit musikalischen Projekten ist völlig unzureichend
erforscht. Mit der Langzeitstudie von Bastian (2001) liegen zwar Belege dafür vor, dass
Kinder, die ein Musikinstrument spielen lernen, nicht nur an intellektuellen Fähigkeiten
gewinnen und kommunikativer werden, sondern auch ihre Gewaltbereitschaft absenken
können, die "uneingeschränkt(e)" Übertragung dieser Forschungsergebnisse auf Wirkungen
des Tanzens – wie sie z.B. von der LAG Tanz Berlin (2001) mangels tanzbezogener
Forschungsresultate unternommen wird – erscheint auf dem Hintergrund des Interesses von
tanzpädagogisch arbeitenden PraktikerInnen an Absicherung von unsystematischen
Praxisbeobachtungen bei Projekten wie "Tanz in der Schule" nachvollziehbar,
wissenschaftlich aber so vorerst nicht haltbar. Die vorgebrachte Vermutung, tanzen fördere
nicht
nur
Gleichgewichtssinn,
Raumorientierung,
Konzentrationsfähigkeit
und
Gedächtnisleistung, sondern auch körperliche Sicherheit und Selbstbewusstsein, reduziere im
Falle gemeinsamer Folkloretänze Ängste vor anderen Kulturen und Tanzgruppen seien
deshalb "Lernfelder für gelebte Demokratie und gesellschaftliches Engagement" (vgl. ebd.),
steht dringlich zu wissenschaftlicher Überprüfung an.
Das Medium Film wird nicht nur klassisch als Aufklärungs-, Anregungs- und
Diskussionsfolie bei Vorführungen (vgl. etwa den seit zehn Jahren vom Kinder- und
Jugendfilmzentrum in Deutschland vorrätig gehaltenen Katalog mit "Videos gegen Vorurteile
und Gewalt" sowie das Datenbank-Projekt www.kino-gegen-Gewalt.bjfev.de), sondern
verstärkt mittels Videotechnik handlungsorientiert eingesetzt. Das bereits seit zehn Jahren
bestehende und mehrfach ausgezeichnete Wuppertaler Jugendvideoprojekt produziert
mittlerweile etwa jährlich 150 Videos, die – auch über ein regelmäßiges Jugendvideomagazin
- von etwa 5.000 bis 8.000 Jugendlichen in Wuppertal und vermittels des bundesweiten
Vertriebs von etwa der Hälfte der entstehenden Produktionen von mehreren 100.000 jungen
Leuten in Deutschland gesehen werden. Es zieht damit hierzulande die meisten
ZuschauerInnen an. Für diverse Städte und Gemeinden hat es Modellcharakter entwickelt.
Jugendvideoproduktionen zu den Themen "Interkulturelles", "Rassismus" und
"Rechtsextremismus" nehmen etwa 10% ein (vgl. von Hören 1996). Interessant erscheint hier
vor allem, dass der anfängliche aufklärerische Impetus der Produktionen immer stärker von
einer pädagogischen Haltung abgelöst wird, die auf authentische kulturelle
Selbstbeschreibungen zielt und die Information und Unterhaltung von Jugendlichen durch
Jugendliche in den Vordergrund rücken lässt. Diese Umakzentuierung folgt der Ansicht, dass
ein solches Vorgehen "größere präventive Wirkung" hat (persönliche Mitteilung von Andreas
von Hören an den Verfasser). Verschiedene Projekte verbinden Musik, Tanz und/oder Theater
mit ihm (neben dem schon erwähnten Projekt "Rap für Courage" bei der Erstellung von
Videoclips z.B. auch die Projekte "Powerplay" und seit Herbst 2001 "Crossover", ebenfalls
unter der Ägide der Spiel- und Theaterwerkstatt Villigst). Erheblich seltener sind
132
Dokumentarfilmprojekte zu Themen des historischen Faschismus zu finden, wie etwa der
Lehrer Thilo Pohle in Rothenburg mit seinen SchülerInnen auf diese Weise Erinnerungen an
die Nazizeit festhält. Wettbewerbe – wie etwa der seit 1988 vom Kinder- und
Jugendfilmzentrum in Deutschland ausgeschriebene Preis "Jugend und Video" und seine
letztjährige Fokussierung auf "Mut-Proben" - fungieren auch im Hinblick auf den Einsatz
dieses Mediums oft als Initialzündungen. Nachhaltige Wirkungen sind allerdings weder für
den Konsum von Filmen mit 'antirassistischem' bzw. gewaltreduzierendem Anspruch noch für
intendierte Einflüsse des Produktionsprozesses auf die daran Beteiligten wissenschaftlich
belegt.
Literaturdiskussion und Textproduktion wird vergleichsweise selten und eher mit formal
höher Qualifizierten angegangen (Ausnahme z.B. das Kinderbuch-Projekt "Was ist los in
Feuerland?"). Beispiele finden sich im Kontext der Arbeit von "Stiftung Lesen", des
"Arbeitskreises für Jugendliteratur" und der Internationalen Jugendbibliothek München. Das
Programm "Wege zur Toleranz" der Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung SachsenAnhalt e.V. umfasst zwischen den Jahren 2000 und 2002 mehrere Teilprojekte. Eines von
ihnen "Teger.de – Texte gegen rechts" fordert Jugendliche und junge Erwachsene zwischen
12 und 27 Jahren dazu auf, Texte (oder auch Songs) in verschiedenster Form – von Gedichten
über Prosa bis zu SMS-Zeilen und Anrufbeantworter-Sprüchen - einzusenden und sie im
Internet veröffentlichen zu lassen. Der Stand der Evaluation ist hier kein anderer als der bei
den schon erwähnten pädagogisch-sozialarbeiterischen Ansätzen von Kultur- und
Medienarbeit. Im Klartext: Auf wissenschaftlichem Niveau ist über Zielerreichung,
Wirksamkeit und Wirkungen keine Aussage zu treffen.
Bei Projekten bildnerischen Gestaltens (vgl. exemplarisch aktuell den "Park der
(Kinder)Kulturen" anlässlich des Welt-Kindertheater-Festivals in Lingen), damit oft
verknüpften Ausstellungen, des (Plakat- und Flyer-)Drucks (vgl. z.B. den "Druck gegen
Gewalt" der Galerie Sonnensegel in Brandenburg; www.sonnensegel.de) – oft in Verbindung
mit Fotografie -, bei Zirkusprojekten oder anderen, z.T. multikulturellen und bzgl. des
Einsatzes diverser Genres, breitgefächerten künstlerisch inspirierten Aktivitäten (wie z.B. bei
dem Projekt "Zeichen setzen" des Bundes deutscher Kunsterzieher oder bei den seit 1993
inzwischen über 300 Mal von "Instant Acts" organisierten Begegnungen und Aufführungen
gegen Gewalt und Rassismus, bei denen ein rd. dreißigköpfiges internationales Ensemble
unauffällige, aber auch z.T. rechtsextrem orientierte und gewaltgeneigte Jugendliche ab ca. 14
Jahren mit Kulturtechniken wie Theater, Batik, Trommeln, Trommelbau, Capoeira,
afrikanischem Tanz, und Graffiti in Kontakt bringt, um über die Ansprache aller Sinne die
Angst vor dem Fremden in die Neugier für das Fremde umzuwandeln) oder bei der
phantasievollen,
Plakataktionen,
Tonbildcollagen,
Internet
und
offlineDiskussionsveranstaltungen verknüpfenden österreichischen Aktion "Das ganz normale Bild"
(vgl. www.geocities.com/Vienna/Choir/5849/dgn/ProBesch.html) ist der Erkenntnisstand
nicht besser, gleichgültig ob es sich im einzelnen um Workshops, Wettbewerbe oder
(Wander)Ausstellungen handelt.
Naheliegenderweise hat im Rahmen medienpädagogischer Arbeit gegen Rechtsextremismus,
Fremdenfeindlichkeit und Gewalt in jüngerer Zeit gerade auch der Umgang mit dem
Computer und dem Internet einen erheblichen Bedeutungszuwachs erfahren. Dieser ist als
Reaktion auf mindestens zwei Entwicklungen zu verstehen: Zum einen erfreuen sich
Computer und online-Aktivitäten gerade bei jungen Leuten rapide steigender Beliebtheit, zum
anderen fühlt man sich durch Websites rechtsextremer Organisationen und sonstiger
rechtsextremer Propaganda und Gewalt(z.B. mittels Computerspielen mit NS-Anleihen
und/oder sonstigen extensiven Gewaltszenarien) sowie Angebote zum download von
133
Rechtsrock und von weiteren Gewalt verherrlichenden Musikstücken herausgefordert. Aktuell
berichtet das nordrheinwestfälische Innenministerium von einer Vervierfachung der Anzahl
der Homepages deutscher Rechtsextremisten im Vergleich zu 1999 auf z.Zt. 1.300. Zwar ist
über die Wirkung solcher Offerten auf das Orientierungsverhalten der NutzerInnen – in
deutlichem Kontrast zu ihrer scharfen Skandalisierung im öffentlichen Diskurs über sie,
speziell in Verfassungsschutzkreisen, - nichts bekannt. Allerdings: Eine neuere, noch sehr
tentative Untersuchung stellt fest, dass doppelt so viele (nämlich 40 %) der Jugendlichen mit
rechtsextremen Tendenzen wie politisch unauffällige Jugendliche Spielkonsolen und Handys
besitzen sowie öfter surfen, chatten und Netzspiele nutzen (vgl. Frindte u.a. 2002). Das
Internet scheint also durchaus dazu geeignet zu sein, gerade diese Jugendlichen anzusprechen.
Die z.Zt. deutschlandweit wohl bekannteste, wesentlich internetbasierte pädagogisch
motivierte und begleitete Initiative ist "Step 21". Sie bietet – breit unterstützt von namhaften
PolitikerInnen, weiteren Prominenten und Unternehmen - jungen Menschen ab ca. 13 Jahren
ein Forum für Ideen und Engagement im Sinne von "Demokratie"entwicklung,
"Weltoffenheit", "Toleranz", "Verantwortung"sübernahme, "Solidarität" und "Zivilcourage"
(diese wie folgende Zitationen aus: www.step21.de). Die Zielsetzung des "Netzwerkes an
Aktionen, Wettbewerben und Begegnungen" beansprucht darüber hinaus die Entwicklung u.a.
von "Sozialkompetenz", Reflexivität, "Orientierungsfähigkeit" und "Medienkompetenz". Eine
der beiden tragenden Säulen bildet die "Step 21-Box". Es handelt sich um ein interaktives
Medienpaket für Jugendliche, das in jugendkultureller Aufmachung Lehr- und
Lernmaterialien bereithält und vor Ort – etwa im Schulunterricht und in der Jugendarbeit oder im Internet eingesetzt werden kann. Die zweite Säule besteht aus dem Step 21-Netz. Sein
inhaltlicher Kern besteht neben eher unterhaltenden Bestandteilen (z.B. "Games", "Comics",
"Movies" und "Music" zum downloaden) vor allem aus Aktions- und Wettbewerbsangeboten,
Workshops bzw. Weiterbildungshinweisen und einer Projektbörse (z.Zt. u.a. mit Vorschlägen
für eine Internet-Zeitung und einen interaktiven "Kalender gegen Rechts"). Zu "Step 21"
gehört auch die Kampagne "fairlink.de", die Jugendliche dabei unterstützen will, "'wachen
Auges' mit dem Internet umzugehen". Unter Begleitung von je 21 jugendlichen
"Toleranzschiedsrichtern" und erwachsenen "Coaches" erfolgt eine "Bestandsaufnahme der
Erfahrungen deutscher Jugendlicher mit Extremismus, Rassismus und Menschenverachtung
im Netz" und die Entwicklung von "Lösungs- und Projektansätzen", die einer ebenfalls zu
erstellenden "Agenda zur Neudefinition der Werte wie Toleranz, Respekt und
Verantwortung" folgen.
Das pädagogische Konzept von "Step 21" setzt auf ein "selbstgesteuertes", "experimentelles",
"problemlösendes" und "handlungsorientiertes" Lernen, vor allem im Umgang mit DilemmaSituationen, in denen "intellektuell, emotional und aktiv – mit Kopf, Herz und Hand" durch
Einbringung individueller Einschätzungen in den Urteilsbildungsprozess der peergroup "um
eine Orientierung gerungen und gestritten wird". "Inszenierend-narrativ" und gleichzeitig
"handwerklich-technisch" möglichst gekonnt sollen in einem "ganzheitlichen Zugang" durch
fragmentarische Vorgaben angestoßene Handlungsverläufe von Geschichten weiterentwickelt
werden. Beteiligte Jugendliche und PädagogInnen werden aufgefordert, durch
Rückmeldungen – wie in der Pilotphase 1999 bereits geschehen – zu einer Verbesserung von
"Step 21" beizutragen. Eine abschließende Evaluation, die die Umsetzung der sehr
ambitionierten Zielkataloge prüfen könnte, liegt nicht vor. Eine Evaluation der "Step 21-Box"
wird z.Zt. an der Universität Münster im Rahmen eines Dissertationsvorhabens durchgeführt.
Neben "Step 21" besteht inzwischen eine Reihe kleinvolumigerer Internetprojekte. Im zweiten
Halbjahr 2001 fand z.B. das Projekt "Rechts rum?" als Innovationsprojekt des Landes NRW
statt (bis Ende 2001 erreichbar unter: www.rechts-rum.org). Es verknüpfte, weil dies die
Macher für "besonders effektiv" (Hermes/Wisser 2002, 275; vgl. auch Hermes 2002) halten,
ein online-Rollenspiel mit face-to-face-Konferenzen am Runden Tisch in sechs Städten
NRWs. Die Zielgruppe waren Jugendliche ab 16 Jahren, die sich in Schul-, VHS- und
134
Jugendarbeitsgruppen zusammengefunden hatten. Sie arbeiteten an Konfliktszenarien,
innerhalb derer sie bestimmten Rollen (JournalistInnen, Kaufleute, Stadtverordnete,
JugendhausbesucherInnen, Diskothekenbetreiber usw.) besetzten und "eine wie auch immer
geartete Einigung im Interessenkonflikt" (ebd., 275) zu Stande bringen mussten.
IDA-NRW nutzt eine alte IDA-Domain, die die antisemitische Seite www.skinheads.de
verlinkt hat, unter dem dort angebrachten Button "...und tschüß..." zu "Aufklärung statt
Verbote - ein Praxisbeispiel zum Umgang mit rechtsextremen Internetseiten" – so auch der
Titel des staatlich geförderten Projekts.
Schul- bzw. unterrichtsbezogen entstanden ist das an einem Dortmunder Gymnasium
bestehende Projekt "Stirn bieten" (vgl. www.stirnbieten.de). Sein "Ziel ist die 'Schule ohne
Intoleranz, Rechtsextremismus, Gewalt und Hass'" (ebd.). Neben einer Linkliste besteht es
aus eine internetgebundenen Plakataktion, bei der SchülerInnen im wahrsten Sinne des Bildes
mit einem Foto von ihren oberen Gesichtshälfte und einem begleitenden Ausspruch Gewalt
die Stirn bieten und gegenüber Extremismus "Gesicht zeigen" können. Ferner werden in z.Zt.
acht Lektionen Unterrichtsanregungen gegeben, die SchülerInnen auffordern, durch
Recherche in bestimmten Internetseiten Fragen und Problemstellungen zu beantworten. Die
Verantwortlichen können "eine große Breitenwirkung" (Fileccia 2002, 271) an ihrer Schule
registrieren, konkrete Auswirkungen sind aber wissenschaftlich bislang unüberprüft geblieben
(wie auch bei Spielen wie dem schon erwähnten "Dunkle Schatten" oder "ploppattack").
Bei der Site "www.exil-club.de" handelt es um eine Plattform (primär) für SchülerInnen, auf
der Publikationen von ExilantInnen abrufbar, diskutierbar und durch eigene Publikationen
von NutzerInnen ergänzbar sind. Angestrebt wird mit ihr neben der Schulung von
Medienkompetenz die Entwicklung von "Toleranzkultur" und die Sensibilisierung für das
Thema Asyl, Minderheiten und Andersdenkende. Angesichts der weitflächigen
Evaluationsdefizite bei kultur- und medienpädagogischen Ansätzen und des
Innovationspotenzials, das gerade dem Internet zukommt, darf man auf die Ergebnisse des
Evaluationsprojekts gespannt sein, das ab Januar 2002 bis 2004 an der Universität Bielefeld
durchgeführt wird.
Ausstellungs- und museumspädagogische Ansätze werden ebenfalls – auch abgesehen von
den im Rahmen einer Gedenkstättenpädagogik (dazu Kap. 3.1.1) verfolgten Projekten (zu
einem Multimedia-Widerstands-Gedenkort-Projekt vgl. auch kurz zusätzlich Kolland/Bach
2001) – für Zwecke der Gewaltreduktion und des Abbaus bzw. der Vorbeugung von
Fremdenfeindlichkeit eingesetzt. Die wenigstens können auf Evaluationen verweisen.
Vergleichsweise umfassend liegen jedoch Auswertungen für den im Rahmen des
Schwerpunkts "Gewaltprävention" angesiedelten BLK-geförderten Modellversuch
"Begegnung mit dem Fremden" vor. Es handelt sich um ein Programm, an dem 1995 und
1996 insgesamt 22 kleinere, nichtstaatliche, oft in kleineren Orten gelegene BadenWürttembergische Museen (u.a. drei jüdische und mehrere Orts- und Heimatmuseen) beteiligt
waren. Für sein Selbstverständnis war essentiell, "Museumspädagogik als ein (!) Element
einer übergreifenden Bildungsinitiative, die sich der Förderung kultureller Toleranz in der
Gesellschaft annimmt", zu verstehen (www.people.freenet.de/afeb/fremd.html; vgl. zum
folgenden auch ebd. die Texte von Ulrich Paatsch zu den Themen "Arbeitsfelder
interkultureller
Museumsarbeit",
"Museen
und
Fremdenfeindlichkeit"
sowie
"Museumspädagogischer Modellversuch Begegnung mit dem Fremden"). In vier
Arbeitsfeldern wurden "Begegnungen mit dem Fremden in der eigenen Geschichte",
"Begegnung mit fremder Kultur", "Begegnung mit dem Fremden in der Kunst",
"Partizipation" im Sinne der Verbesserung der kulturellen Teilhabe von ethnischen
Minderheiten und "Verständigung" angegangen. Als Fazit wird auf der Basis von
Mitarbeitereindrücken, Äußerungen von Beteiligten aus (interkulturellen) Arbeitskreisen, die
Ausstellungen mit vorbereiteten oder praktisch begleiteten, BesucherInnen- und Eltern135
Rückmeldungen von jugendlichen BesucherInnen festgehalten, dass das Aufspüren des
"Eigenem im Fremden" von hohem Stellenwert ist, die biographische Methode
"ausgesprochen aktivierend auf Besucher wirken kann und geeignet ist, eine persönliche
Betroffenheit herzustellen", "erfahrungsorientiertem und entdeckendem Lernen große
Bedeutung" zukommt, ein "Perspektivwechsel" zu ermöglichen ist, der "evtl. 'zu einfache'
Geschichtsbilder in Frage stellt" und "die Begegnung mit dem Fremden in der Geschichte
sehr viel an Wirksamkeit gewinnt, wenn sie begleitet wird von einer Begegnung mit
Menschen fremder Herkunft heute". "Als förderlich erwies sich dabei, wenn schon in der
Ausstellung Schnittstellen für aktuelle Aktionen und kleine Folgeprojekte enthalten waren."
Deutlich wird auch, dass ein interkultureller Ansatz innerhalb von Museums- und
Ausstellungspädagogik sich nicht darin erschöpft, pauschal auch ausländische Zielgruppen
verstärkt anzusprechen, sondern ein "Integrationskonzept" auch auf "kulturelle
Besonderheiten und Voraussetzungen der verschiedenen Nationalitäten" – stärker als im
Modellversuch gelungen - eingehen und langfristig die aufgetretenen Schwierigkeiten
überwinden muss, MigrantInnen in die Gruppierung der Ausstellungsmacher zu integrieren.
In jedem Fall sollte nach den Erkenntnissen aus dem Modellversuch die Kooperation auch mit
pädagogischen Einrichtungen wie Schule und Jugendhilfe gesucht werden, auch wenn eine
Instrumentalisierung von Museumspädagogik für die Erledigung von Aufgaben, die in
anderen Bereichen nicht bewältigt werden, abgelehnt wird: "Wenn vom Museumspädagogen
im Kunstmuseum erwartet wird, daß er ausgleichend auf die Aggressivität von ausländischen
Kindern in einer Flüchtlingsunterkunft wirkt, obwohl die Voraussetzungen dafür nicht
existieren (z.B. wegen der beengten Unterbringung in Kasernenräumen)." Dennoch: "Ein
neues, kommunikatives Museumsverständnis wächst gerade in der praktischen Erprobung
solcher Tätigkeiten in den 'Grenzbereichen' der Museumspädagogik; also: hin zur
Sozialpädagogik, hin zur Ausländerarbeit, hin zur Schule etc.". Freilich halten die
Evaluatoren auch fest, dass bei den von ihnen befragten MuseumsmitarbeiterInnen "nur wenig
darüber reflektiert wird, was Ausstellungen und andere museumspädagogische Aktivitäten
überhaupt erreichen können und sollen.... Erst wenn dies geschieht – also wenn etwas präziser
und sehr viel nüchterner festgehalten wird, was historische Ausstellungen bei
Museumsbesuchern bewirken können – dann wird man auch zu verläßlicheren Aussagen über
den Problemkreis 'Museum und Fremdenfeindlichkeit' kommen". An 15 von 22
Projektstandorten wurde für die BesucherInnen die Möglichkeit zu Feedback in Gestalt des
Ausfüllens von ausgelegten "Meinungskarten" eingeräumt, wobei die methodische
Problematik einer derartigen Nutzerbefragung durchaus erkannt wird. Aus den so
gesammelten Reaktionen von ca. 800 Personen geht ein überwiegend positives Bild hervor.
Allerdings wird die Erreichbarkeit von Zielgruppen bezweifelt, "die tatsächlich zum harten
Kern mit ausländerfeindlichem Bewußtsein und Handeln zählen". Ferner fällt die
vergleichsweise hohe Zahl von Anregungen zu begleitenden Aktivitäten auf. Sie geben zu
erkennen, dass das Museum "als Kultur- und Kommunikationszentrum", als "öffentlicher und
lebendiger Ort" gefragt ist, an dem "neue, auch spielerische Erfahrungen gemacht werden
können". Die Rückmeldungen bestärken somit nicht nur das oben erwähnte "kommunikative
Museumsverständnis", sondern auch die Attraktivität von erfahrungsorientierten,
ganzheitlichen Lernstrategien und von aktivierenden und Begegnung ermöglichenden
Formaten (zur jeweiligen projektspezifischen Resonanz vgl. "Museumspädagogischer
Modellversuch Begegnung mit dem Fremden").
Alles in allem betrachtet zeigt sich auch in Bezug auf die konzeptionelle Richtung medienund kulturpädagogischer Projekte: Auf dem Hintergrund theoretischer Erwägungen und
vereinzelter Bezugnahmen auf empirische Erkenntnisse über die Anfälligkeit für
Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt sowie - in weitaus selteneren Fällen auch über Distanzierungsbedingungen von den genannten Problematiken erscheinen die in
136
diesen Bereichen verfolgten Ansätze durchaus erfolgversprechend. Eklatante Lücken tun sich
allerdings in Hinsicht auf die Evaluation solcher Maßnahmen auf: Was tatsächlich, wie, mit
welcher Reichweite und Nachhaltigkeit, unter welchen Bedingungen erwünschte Wirkungen
erzielt, bleibt im Dunkeln. Wo Evaluation tatsächlich angegangen worden ist, bleiben
methodische Probleme weitgehend ungelöst, so dass von einer Einhaltung wissenschaftlicher
Standards nur mit erheblichen Abstrichen die Rede sein kann.
3.1.10 Geschlechtsreflektierende Ansätze
Die beiden wichtigsten Ziele geschlechtsreflektierender pädagogischer und sozialer Arbeit
gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt liegen darin
 in der Arbeit mit Jungen den Abbau von Vorstellungen und Strukturen maskuliner
Hegemonie zu betreiben und
 in der Arbeit mit Mädchen kritisch den konventionellen weiblichen Sozialisationsstrang
und die Entwicklung von Alternativen dazu in den Mittelpunkt zu rücken.
Diese Zielsetzungen verdanken sich den zentralen Erkenntnissen, die die
geschlechtsspezifisch auswertende Rechtsextremismus- und Gewaltforschung hervorgebracht
hat.
Danach ist unter quantitativen Aspekten ein deutlicher Jungen- und Männerüberhang im
politischen Rechtsaußen-Lager zu registrieren:
 Rd. 2/3 der WählerInnenschaft rechtsextremer Parteien und Listen sind männlich. Dies
gilt nicht nur in jüngerer Zeit, sondern auch schon für die ersten Erfolge von SRP und
NPD in den 50er bzw. 60er Jahren der Bundesrepublik Deutschland. Der Befund ist
daneben auch nahezu gleich für alle Typen von Wahlen (Europa-, Bundestags-, Landtags-,
Kommunalwahlen) und für unterschiedliche Organisationen und Wählervereinigungen
innerhalb des rechtsextremen Spektrums.
 In der Mitgliedschaft rechtsextremer Organisationen bilden Männer bzw. Jungen im
allgemeinen mindestens 3/4 des Potenzials, häufig auch mehr.
 Auf der Funktionärsebene entsprechender Vereinigungen sind sie mit einem noch einmal
deutlich stärkeren Gewicht vertreten. Hier stellen sie meist 85 – 95% der Pöstcheninhaber.
 Innerhalb der unorganisierten Rechtsaußen-Szene, einer Gruppierung, die in den letzten
Jahren nach Verfassungsschutzerkenntnissen stetig anwächst, insbesondere junge Leute
anspricht und sich besonders gewaltbereit und militant geriert, sind fast ausschließlich
(junge) Männer vertreten. Die wenigen weiblichen Szene-Angehörigen werden maximal
auf 10 – 20% des Gesamtaufkommens geschätzt. Dabei ist noch zu berücksichtigen, dass
sie sich eher in den Randbereichen der recht(sextrem)en Subkultur(en) aufhalten, meist
eher über die Freundschaft bzw. Partnerschaft mit jungen Männern angebunden, kaum
einmal als politisch eigenständig denkende und agierende Personen aktiv sind und sich ihr
Dabeisein entsprechend fluktuativ gestaltet.
 Im absoluten 'Härtebereich' von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus, also dort,
wo nachweislich politisch motivierte (oder wenigstens so konnotierte) Gewalttaten
begangen werden, findet sich eine noch erdrückendere maskuline Dominanz: Rd. 95% der
entsprechend orientierten Gewalttäter der letzten Jahre sind männlichen Geschlechts (vgl.
auch Eckert/Willems 1996).
Auf der Einstellungsebene von Fremdenfeindlichkeit finden neuere Untersuchungen hingegen
kaum noch einen zahlenmäßigen geschlechtsspezifischen Unterschied (vgl. z.B. Stöss 2000,
bes. 32), ja registrieren z.T. sogar weibliche Probanden als fremdenfeindlicher (vgl.
zusammenfassend: Boehnke/Baier 2001, 44), so dass der Schritt dazu,
137
Ungleichheitsvorstellungen mit Gewalt zu verbinden und so eine rechtsextreme Orientierung
gleichsam 'im Vollbild' zu dokumentieren, auf Traditionen männlicher Sozialisation
zurückzuführen zu sein scheint (so auch die Einschätzung ebd.).
Ein Vergleich der Qualität rechtsextremer bzw. fremdenfeindlicher Orientierungen bei
Jungen und Mädchen ergibt in Zusammenfassung eigener Forschungsbefunde (vgl. Möller
2000a) phänomenografisch zunächst hinsichtlich der weiblichen Jugendlichen:
 Rechtsextreme Orientierungen werden von Mädchen nicht nur seltener vorgebracht, sie
werden bis auf seltene Ausnahmen (vgl. Bruhns/Wittmann 2001, 2002) von ihnen auch
weniger offensiv-aggressiv und weniger offen gezeigt.
 Mädchen gerieren sich in ihren Ungleichbehandlungsforderungen (z.B. gegenüber
Ausländern) weniger provokativ.
 Entsprechend klingen solche Orientierungen bei Mädchen weniger brüsk. Sie plädieren
bspw. – wie verschiedene Studien zeigen - in deutlich geringerem Maße als Jungen für
eine Parole wie "Ausländer raus!", sprechen sich aber in nahezu gleicher Anzahl wie sie
für die "Verringerung des Anteils der Ausländer in Deutschland" aus.
 Rechtsgerichtete Mädchen begnügen sich eher als gleich orientierte Jungen damit, ihre
Position verbal kenntlich zu machen. Manchmal ist ihr Gewaltdiskurs sogar zugespitzter
(vgl. Bruhns/Wittmann 2001, 2002). Die Schwelle zu politisch verstandener Aktion
scheint für sie höher zu sein.
 Wie damit schon angedeutet, kleiden Mädchen auch ihre Ausgrenzungsforderungen oder
–aktionen im allgemeinen in geringere Härtegrade. Sie formulieren 'weicher' und
(re)agieren weniger vehement.
 Werden von Mädchen Ungleichheitsvorstellungen geäußert, so wird sich im allgemeinen
von ihnen Mühe gegeben, sie auch begründen zu können. Hinzu kommt, dass diese
Begründungen subjektiv mit gleichsam 'moralischen Legitimationen' versehen werden.
Bspw. wird für die Rückführung von AsylbewerberInnen bzw. die Abschaffung des
Asylrechts eingetreten, um „unsere deutschen Penner und Obdachlosen“ mit den dann frei
werdenden finanziellen Mitteln besser versorgen zu können.
 Rechtsextreme Orientierungen bei Mädchen wirken im Vergleich zu denen von Jungen
weniger eskalativ. Dadurch, dass sie kaum oder gar nicht Provokationswert haben
(sollen), wird auch seltener Gegenwehr (z.B. von ausländischen Cliquen) herausgefordert,
über die dann eine Eskalationsspirale in Gang gesetzt werden kann.
 In diesem Zusammenhang spielt eine bedeutende Rolle, dass Mädchen in geringerem
Maße, in geringerer Stärke und insgesamt wechselhafter als Jungen in rechte Cliquen
integriert sind, deshalb auch ihre womöglich vorhandenen einschlägigen, z.B.
fremdenfeindlichen Orientierungen weniger durch Pöbeleien und handgreifliche Aktionen
im Cliquenverbund an den Tag legen. Sie werden so zum ersten weniger auffällig, sind
zum zweiten weniger in die Rituale und Automatismen von Cliquenhändeln involviert
und sehen sich zum dritten weniger gezwungen, in diesem Kontext nach Halt und
Schulterschluss im Kampf zu suchen.
 Die 'rechte' Gewaltakzeptanz hat im Einklang mit dem Geschilderten bei Mädchen fast
immer eine andere Kontur. Dies nicht in dem Sinne, dass sie prinzipiell nicht vorhanden
wäre. Allerdings liegt ihr Schwergewicht auf der Akzeptanz fremdausgeübter Gewalt. Nur
sehr selten suchen Mädchen sich politisch mittels Faust oder Waffe selbst durchzusetzen.
Weitaus eher und mindestens so stark wie Jungen setzen sie auf eine rabiat durchgreifende
Staatsautorität. Oder sie delegieren ihre gewaltsamen Durchsetzungswünsche an ihre
männlichen Altersgenossen. Dabei kann diese Delegation von Duldung über Billigung bis
hin zu Stimulation von männlicher Gewalt als Stellvertretergewalt reichen.
 Bei all dem ist leicht nachvollziehbar, dass weibliche Jugendliche sich kaum handgreiflich
mit männlichen Gegnern anlegen.
138

Dies bedeutet freilich nicht, dass sie nicht Ziel von Ausgrenzungsforderungen wären.
Häufiger und deutlicher als männliche Jugendliche beklagen weibliche Jugendliche die
von Nichtdeutschen ausgehende sexuelle Gewalt bzw. deren Bedrohlichkeit und
konstruieren sie als Ab- bzw. Ausweisungsgrund. Dabei muss offen bleiben, ob sich
hierin der Grad einer realen Bedrohung durch Nichtdeutsche widerspiegelt oder ob damit
eine Ethnisierung von Sexismus betrieben wird. Im letzteren Fall würde ein allgemein
bestehender männlicher Sexismus im Einklang mit einer auch an anderen Fronten der
innergesellschaftlichen Auseinandersetzung erfolgenden Ethnisierung sozialer
Konfliktlagen einseitig auf "Ausländer" attribuiert.
Die Kontur der rechtsextremen bzw. fremdenfeindlichen Orientierungsbestände bei
männlichen Jugendlichen ergibt sich zum einen aus dem im obigen Vergleich implizit
angedeuteten geschlechtsspezifischen Gegenbild, zum anderen aber genauer durch folgende
Phänomene:
 In bemerkenswerter Weise ausschlaggebend für das Entstehen und die Entwicklung
rechtsextremer Selbst-Positionierungen ist bei Jungen die Einbindung in eine
gleichgestimmte Clique. Nicht Cliqueneinbindung an sich, sondern eine bestimmte
Anlage der hier vorfindlichen Gleichaltrigenbeziehungen bietet der Verkoppelung von
Gewaltakzeptanz und Ungleichheitsvorstellungen ein Anwendungsfeld. Die stete
Alltagspräsenz dieser Beziehungen und die hohe Bedeutung, die ihnen von Seiten der
Jugendlichen attribuiert wird, sind geeignet, ein dauerhaftes Verhaltensmuster
aufzubauen, zu verdichten und zu habitualisieren. Der Kern der Beziehungsstruktur liegt
dann darin,
 dass man sich cliquenförmig in (meist größeren) jungendominierten Gruppen
zusammenschließt,
 sich in diesen Verbünden an öffentlichen Orten aufhält,
 sich primär über die Gemeinsamkeit von Aktivitäten und jugendkulturellen Vorlieben
definiert,
 einen traditionellen Männlichkeitsstil interpersonaler Dominanz begleitet von hohem
Alkohol- und Zigarettenkonsum pflegt,
 Territorialkonflikte und ggf. andere interethnische Konkurrenzen mit männlichen
'ausländischen' Jugendlichen violent austrägt.
Nur der letzte Punkt ist der, der 'rechte' Cliquen von anderen gewaltförmig auftretenden
unterscheidet. Das 'Rechtssein' baut sich also im wesentlichen über eine Frontstellung
gegenüber Gruppierungen männlicher ausländischer (oder prima facie "ausländisch"
wirkender) Jugendlicher auf. Sie werden entweder in der Schule oder - häufiger - im
Freizeitbereich als bedrohlich wahrgenommen.

Der Männlichkeitsstil interpersonaler Dominanz besteht dabei darin,
 einen maskulin konnotierten Kampfesmut herauszustellen, bspw. über die
Selbstinszenierung als Beschützer von Schwachen und vorgeblich Verfolgten der
eigenen sozialen bzw. nationalen Einheit,
 die eigene heterosexuelle Potenz demonstrativ unter Beweis zu stellen bzw. bei
tatsächlichen oder vermeintlichen Angriffen auf sie ohne Zögern spontan (mindestens
potenziell) violente Wehrhaftigkeit zu zeigen,
 im Falle eines erlebten Angriffs auf sie, die Familienehre und dabei insbesondere die
Ehre von Mutter und Schwestern stante pede zu verteidigen; dies dadurch, den
wahrgenommenen Angreifer sofort vehement und ggf. unter Androhung oder
Ausübung von Gewalt zurechtzuweisen.
139

Eine politische Färbung erhalten die Gewaltsamkeiten, die als Kraftprotzereien und
Revierstreitigkeiten beginnen, erst damit, dass Ungleichheitsvorstellungen einbezogen
werden. Man ethnisiert z.B. diese Ebene und greift damit auf Wahrnehmungsschemata
zurück, die in einer nationalstaatlich verfassten Gesellschaft wie der deutschen den
Globalisierungstendenzen der Arbeitsmärkte zum Trotz gang und gäbe sind.

Setzt man das Auftreten von Gewaltakzeptanz und das von Ungleichheitsvorstellungen in
ein zeitliches Verhältnis, so zeigt sich deutlich, dass die Entwicklung der letzteren im
allgemeinen bei Jugendlichen gegenüber Gewaltbereitschaft und -tätigkeit nachgängig
sind. Nicht weil Jugendliche bestimmte politische (latente oder manifeste) Überzeugungen
hätten und sie real umsetzen möchten, setzen sie auf Gewalt. Vielmehr statten sie ihre
maskulinistischen, von der Suche nach männlicher Identität bewegten Gewaltförmigkeiten
mit einem zunehmend von ihnen selber politisch gedeuteten Motivationshintergrund und
Legitimationshorizont aus. Von ihnen ausgehend entwickeln sie nach und nach an Schärfe
gewinnende pauschalisierende Bilder von Fremden, weiten ihre Vorbehalte ihnen
gegenüber aus und sind weniger zum Aufbringen von Verständnis ihnen und ihrer
Lebenssituation gegenüber bereit. Dadurch wiederum scheint ihre Gewaltschwelle
gegenüber 'Ausländern' zu sinken, was dann wieder zu einer Vermehrung von
interkulturellen Konfliktsituationen für sie führt.

Offenbar bildet (hier einmal ungeachtet weiterer wichtiger personaler und sozialer
Faktoren des Erfahrungszusammenhangs und seiner durch das Subjekt vorgenommenen
Strukturierung; dazu: Möller 2000a) die rechte Clique einen Kristallisationspunkt in
vielerlei Hinsicht:
 In ihrem Rahmen findet nicht nur die nicht-rechte maskuline Selbstinszenierung mit
den ihnen inhärenten Gewaltförmigkeiten statt, sie bietet auch einen sozialen Rahmen,
in dem sich Mannhaftigkeit mit der der überkommenen Beschützer-Funktion
entlehnten tatkräftigen Sorge um "Recht und Ordnung", mit nationaler Gesinnung und
soldatischen Tugenden (Kameradschaft u.ä.) ausweisen kann. Auf der Suche nach
männlicher Identität und im Interesse an einer Überwindung kindlicher Identität
werden hier in Selbstorganisation Jugendlicher Angebote greifbar, die deshalb
verlockend sind, weil sie traditionelle Männlichkeit auf eine Weise lebbar machen, die
radikal ist und angesichts von mangelnder Selbstsicherheit gerade deshalb
Selbstgewissheit verspricht. Sie suggerieren: Ein rechter Mann ist in jedem Fall ein
echter Mann. Er ist diesbezüglich über jeden Zweifel erhaben.
 Im Cliquenkontext laufen Geschehnisse ab, die eine Vermittlung von
Gewaltakzeptanz und Ungleichheitsvorstellungen begünstigen. Gewalthaltige
interethnische Konfliktaustragungen sind die Ereignisse, über die sie erfolgt.
 Darüber kann eine gesellschaftliche und politische Selbstverortung erfolgen. In
gewisser Weise kommen damit rechte Cliquen der Entwicklungsaufgabe entgegen,
sich ein gesellschaftliches und politisches Werte- und Normensystem anzueignen und
innerhalb dessen handlungsfähig zu werden. Rechte Cliquen bieten einen Standpunkt
an, dessen Einnahme sich im wesentlichen über die Erfüllung von zwei intellektuell
relativ anspruchslosen Voraussetzungen realisieren lässt: die Beteiligung an
interethnischer Gewalt und das Zurschaustellen rechter Symbolik. Kaum irgendwo
anders ist die politische Positionierung so einfach. Denn die Gesellschaft insgesamt,
insbesondere die Medien, erleichtert sie dadurch, dass sie 'rechte' Jugendliche ganz
weitreichend und nahezu vollständig genau über diese beiden Verhaltenselemente
identifiziert. Insoweit kann es nicht ausbleiben, dass man sich als 'rechter Junge' nicht
nur in Gegnerschaft zu Ausländern, primär männlichen ausländischen Jugendlichen,
sieht, sondern auch in Frontstellung gegenüber "Linken" und "Autonomen", wobei
140



deren Definition im Kern über deren Ausländerfreundlichkeit, bestimmte Treffs und
symbolische Ausstattungsmerkmale (lange und/oder gefärbte Haare, "linke"
Rockmusik u.ä.m.) verläuft.
Hier kann die gegenseitige Bestätigung der ihr Angehörigen in ihren Auffassungen
und ihrem Handeln durch Wiederholungstendenzen der immer gleichen
Konflikterfahrungen und darüber Angleichung der jeweiligen Deutungen der
Einzelnen erfolgen. Indem die Clique zum eigentlichen Bezugspunkt der Aktivitäten
und Meinungsbildungen wird - und dies für alle Beteiligten - zieht sie ihre Mitglieder
in ihren Bann.
Die Clique kann als Ort politischer Information fungieren. Eher selten und meist nur
nach einer gewissen Lebensdauer der Gruppe hat diese Information den Charakter
einer gegenseitigen (oder eher von außen heran getragenen) ideologischen
Unterrichtung. Häufiger finden Elemente recht(sextrem)er Kultur (Fahnen, Plakate,
CDs, Aufnäher u.ä.) Eingang. Sie bauen weniger ein ideologisches Gerüst als einen
recht(sextrem)en Symbolraum auf; dies mit mindestens drei Folgen: Zum ersten
verfestigt sich bei den in ihm Befindlichen die politische Selbstpositionierung. Zum
zweiten nehmen auch Außenstehende eine Verdichtung der Rechtsorientierung wahr,
zumal sie ja gerade im allgemeinen gewohnt sind, entsprechende Zuschreibungen über
solche äußeren Signets vorzunehmen. Zum dritten verringert sich durch das
Zusammenspiel beider Prozesse die Wahrscheinlichkeit von gegenseitigem Kontakt,
Kommunikation und damit Verstehen.
Die jugendkulturelle Einbindung in eine rechte Szene und Symbolik verleiht der
Clique somit Stabilisierungskraft. Dies gilt um so mehr, als sich darüber automatisch
Gegnergruppen auftun: Jugendkulturen, die als Feinde wahrgenommen werden,
Rapper z.B., unter denen sich zahlreiche ausländische Jugendliche befinden. Trotz
solcher Homogenisierungstendenzen nach innen kann nicht übersehen werden, dass
nicht nur das rechtsorientierte Weltbild der einzelnen Mitglieder (noch?) nicht
geschlossen ist, sondern auch die Clique insgesamt nicht immer ein Hermetik
aufweist, die anders orientierte Jugendliche nicht duldet.
Suchen wir nach Erklärungen für die hier nur sehr ausschnitthaft in Beschränkung auf einige
besonders wichtige Phänomene wiedergegebene geschlechtsspezifische Kontur und Struktur
rechtsextremer Orientierungen bei Jungen und Mädchen, so stoßen wir alsbald auf die
Vermutung, Ursachen für die festgestellten Differenzen in den Eigenarten
geschlechtsspezifischer Sozialisation suchen zu müssen.
In Hinsicht auf Jungensozialisation und das Ziel des Aufbaus männlicher Identität scheint es,
als wirkten noch weitgehend unverändert überkommene Männlichkeitstraditionen, ja fast
archaisch anmutende geschlechtstypische Leitbilder fort. Sie zielen auf das Erbringen von
Männlichkeitsbeweisen primär auf den von Gilmore (vgl. 1991) für männlich
hegemonialisierte Gesellschaften (dazu: Connell 1999) festgestellten maskulinen
Zuständigkeitsfeldern der Erzeugens von Nachwuchs sowie des Versorgens und Beschützens
der eigenen sozialen Einheit.
Insoweit männliche Jugendlich altersgemäß und sozial noch nicht in der Lage sind, lebendige
Nachweise ihrer Zeugungsfähigkeit zu erbringen, sehen sie sich um so mehr aufgefordert,
etwaige Zweifel an ihrer Potenz sowohl von vornherein auszuräumen als auch ihnen im Falle
ihrer Äußerung strikt entgegenzutreten. Entsprechend wichtig erscheint ihnen meist die
machtvolle Demonstration der eigenen Heterosexualität nach außen. Auf Anwürfe, die ein
diesbezügliches Versagen beinhalten (könnten) (wie in gängigen Beschimpfungen wie "Du
schwule Sau", "Du Wichser") reagieren sie entsprechend prompt reaktant. Eine ethnisierende
Konnotation erhält dieser Mechanismus dann, wenn solche Mutmaßungen und
141
Beschimpfungen in interethnischen Auseinandersetzungen zum Zwecke gegenseitiger
Diffamierung zwischen männlichen Jugendlichen eingesetzt werden uns sie mit ethnischnationalen Zuordnungen amalgamieren ("deutsche Wichser", "schwule Türkensau").
Da die eigenen Fähigkeiten zu Versorgungsleistungen gegenüber den Angehörigen der
privaten Lebensform (z.B. der Familie) im Jugendalter ebenfalls in der Regel noch nicht unter
Beweis gestellt werden können, wird über die Demonstration eines möglichst souveränen
Umgangs mit Werkzeugen und Technik (heute vor allem mit Fahrzeug- und
Informationstechnik) und ihren Erwerb das prinzipielle Vermögen vorgeführt, wertvolle
Gebrauchsgüter in Besitz nehmen und sicher handhaben zu können. Damit können zumindest
die Insignien eines männlichen Erwachsenenlebens vorgewiesen werden. Ihr Nichtbesitz und
die Unfähigkeit, sie – wie auch immer - zu erwerben, kann beim Gegner als Soll auf dem
Konto von Männlichkeitsbeweisen verbucht werden. Ökonomische Ungleichheiten zwischen
Deutschen und Nichtdeutschen können in dieser Weise als Differenzen in der Kompetenzen
oder dem Willen, für die 'Seinen' zu sorgen und damit sozial positiv legitimierte
Männertugenden einzulösen, gedeutet werden.
Beschützen schlägt sich als Charakteristik des männlichen Tätigkeitsspektrums bspw. in der
Männer-Dominanz innerhalb der Streitkräfte oder der Strafverfolgungsbehörden nieder. Da
männliche Jugendliche noch keine Gelegenheit haben, innerhalb dieser sozial akzeptierter
Einrichtungen ihre Beschützerkompetenzen an den Tag zu legen, agieren sie sie vielfach über
Waffensymbolik (u.a. bei Computerspielen) und Territorialkämpfe aus. Der in interethnischen
Cliquenzwistigkeiten von Jugendlichen ausgetragene Kampf um Raum (z.B. um Straßenzüge
und die Vorherrschaft in Wohnvierteln) stellt insofern nichts anderes dar als die Ethnisierung
männlicher Konkurrenz. Auffällig ist nämlich, dass es (nahezu) rein männliche Händel sind,
die hier ausgetragen werden. Auch von ihren Anlässsen, Ritualen und Automatismen her, sind
sie weit eher als Versuche der Erbringung von Maskulinitäts- denn als ethnischen oder
nationalen Zugehörigkeitsbeweisen angelegt.
Die Tendenzen zur Individualisierung von Männlichkeit(en) haben offenbar auf diese
pubertären Auseinandersetzungsformen noch kaum Einfluss, so dass tief verwurzelte
Maskulinitätstraditionen nachwirken können, auf denen Ethnisierungen und Nationalismen
aufbauen können, wenn, vor allem im Freizeit-, Schul- und Wohnbereich, entsprechende
Gelegenheitsstrukturen bestehen.
Fokussieren wir auf 'rechte' Mädchen, so scheinen für sie die Modernisierungen der
Geschlechtervorstellungen stärker durchzuschlagen. Danach wirkt es so, als konkurrierten bei
ihnen Faktoren des traditionellen weiblichen Sozialisationsstrangs mit Anforderungen einer
altersspezifischen Identität, die im Kern auf den – früher nur männlichen Jugendlichen
zugestandenen – Beweis von Eigenständigkeit bezogen ist.
Auf der einen Seite zeigt sich: Im Sozialisationsverlauf auch von 'rechten' Mädchen entfalten
die überkommenen Weiblichkeitszumutungen nach wie vor ihren Einfluss. Der Erwerb einer
geschlechtsspezifischen Identität erfolgt danach über die Internalisierung von Eigenschaften
wie Häuslichkeit, Fürsorglichkeit, Zurückhaltung, Friedfertigkeit, Unterordnung u.ä.m. Der
hohe Wert dieser Elemente für die weibliche Identität wird bereits in der Mädchenkindheit
vermittelt, bestimmt nahezu unverändert auch die biografische Phase der (weiblichen) Jugend
und wird auch dem späteren Frausein zugesprochen. So ist erklärlich, dass Mädchen im
Hinblick auf offen ausgrenzende Positionen und rechtsextreme bzw. fremdenfeindliche
Aktionen weitaus zurückhaltender sind als Jungen und nicht die selbe Rigorosität bei der
Durchsetzung ihrer Ungleichheitsvorstellungen zeigen.
Auf der anderen Seite werden Mädchen in der Jugendphase auch mit Ansprüchen
konfrontiert, die aus dem gesellschaftlichen Auftrag an diese biografische Phase resultieren
und als solche mit den eben erwähnten Anforderungen an die Herausbildung einer
geschlechtsspezifischen Identität des traditionellen Musters konfligieren. Es sind dies
142
Erwartungen, die angesichts einer gewissen Angleichung der Geschlechterlaufbahnen im
Jugendalter nicht mehr auf männliche Jugendliche allein bezogen, sondern relativ
geschlechtsneutral wirksam geworden sind und so heutzutage relativ neu auf die Masse der
Mädchen zukommen: z.B. eigenständig außerfamiliale Kontakte zu erschließen, eigene
Interessen durchzusetzen, offensiv Ansprüche zu stellen, Auseinandersetzungen einzugehen,
kurzum: eine eigenständige Identität vorzuweisen.
Im Spagat zwischen dem konventionellen weiblichen Sozialisationsstrang und seinen
geschlechtsspezifischen Identitätselementen einerseits und den Herausforderungen der
individualisierten Jugendsozialisation mit den Ansprüchen nach altersspezifischer
eigenständiger Identität andererseits werden für Mädchen Handlungs- und
Orientierungsprobleme heraufbeschworen, die schwer zu lösen sind. Dies gilt vor allem dann,
wenn die zwei wichtigsten Sozialisationsinstanzen Schule und Elternhaus als
Akzeptanzstellen oder gar Unterstützerinnen eigenständiger Identität ausfallen, keine
entsprechenden (oder nur unzureichende) Angebote zum Selbstwertaufbau machen und
lebbare Vorbilder für so etwas wie 'postkonventionelle Weiblichkeit' nicht vorhalten. Nach
unseren Forschungen (vgl. näher Möller 2000a) wird dann die Wahrscheinlichkeit hoch, dass
eine Autonomisierung der eigenen Person über drei letztlich wenig tragfähige Wege
angegangen wird: eine unkonstruktive, nur aus der defensive heraus erfolgende Revolte gegen
elterliche und oder schulische Werte, ein Selbstpräsentation als 'sexualisierte Frau' und/oder
eine Selbstpräsentation als Teilhaberin an Jungen-'Autonomie', letztere über die Kopie von
Männlichkeitsmustern im Sinne einer "verqueren Emanzipation" (dazu: Möller 1995b)
und/oder über die spontane und unreflektierte Solidarisierung mit den "eigenen" Jungen (z.B.
der Clique oder Nation) und über das (dadurch zumindest und fast immer nur subjektive)
Gleichwertigkeitserleben z.B. im Cliquenrahmen.
Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit bei Jugendlichen müssen vor diesem
Hintergrund zum einen im Zusammenhang mit ihrer Funktion für die Identitätsbildung
gesehen und zum anderen mit den Differenzierungen männlicher und weiblicher
Identitätsentwicklung erklärt werden.
Erfahrungen mit geschlechtsreflektierenden Ansätzen liegen in Bezug auf 'rechte',
rechtsextrem orientierte und fremdenfeindliche Jugendliche nur sehr vereinzelt vor.
Auch wenn die Dringlichkeit geschlechtsreflektierenden Arbeitens mit 'rechten' Jungen
besonders groß erscheint (s.o.), stellt sich der Eindruck ein, dass, wenn überhaupt der
Anspruch bzw. Versuch geschlechtsreflektierenden Arbeitens erhoben bzw. gemacht wird, er
sich noch am ehesten auf die Zielgruppe der Mädchen/jungen Frauen bezieht (vgl. Lutzebäck
u.a. 1995; Engel/Menke 1995).
Die hierbei gesammelten Erfahrungen sind eher ernüchternd, vor allem aus drei Gründen:
 Zum ersten liegt bei den rechts(extrem) orientierten weiblichen Jugendlichen bzw. bei
weiblichen Jugendlichen, die sich 'rechten' Cliquen zurechnen, ohne sich deshalb
eigenständig entsprechend politisch positionieren zu müssen, eine im Vergleich zu anderen
Mädchen/jungen Frauen nur geringe Bereitschaft zu geschlechtsspezifischen Aktivitäten
vor. Dies scheint im übrigen auch für Mädchen in allgemein gewaltbereiten Gruppen zu
gelten (vgl. Bruhns/Wittmann 2002).
 Zum zweiten - und hier liegt möglicherweise auch ein Grund für ersteres - sind gerade
diese Mädchen vielfach derart in geschlechtshierarchische Verhältnisse innerhalb ihrer
jungendominierten Cliquen und/oder innerhalb ihrer Paarbeziehungen eingebunden, dass
sie sich dem Willen ihrer männlichen Freunde, auf solche Aktivitäten zu verzichten,
unterwerfen.
 Zum dritten sind rechte Szenen und Cliquen nicht nur in der Qualität ihres Sozialklimas,
sondern auch rein quantitativ stark männlich dominiert, so dass für gruppen- bzw.
cliquenbezogene Angebote, die sich spezifisch an weibliche Jugendliche richten, oft
143
überhaupt nur 2, 3 oder 4 Mädchen übrigbleiben, eine Anzahl, die, vor allem angesichts
der sonstigen Schwierigkeiten (s.o.) kaum die Bildung einer mit einiger Dauer bestehenden
Kerngruppe zulässt (vgl. auch Hafeneger u.a. 2002).
Dessen ungeachtet ist durch die Beschäftigung weiblicher pädagogischer Mitarbeiter eine
geschlechtsreflektierende Einzelarbeit, allerdings meist eher punktuell, und auch eine
Begleitung bei Ablöseprozessen möglich und erforderlich.
Geschlechtsreflektierendes Arbeiten mit Jungen und (jungen) Männern (vgl. dazu Möller
1997) hat zwar gegenwärtig in der Konzeptionsdiskussion der sozialen und pädagogischen
Arbeit keinen Exotenstatus mehr, ist aber nichtsdestoweniger in praxi kaum verbreitet. So
gesehen ist die äußerst geringe Erfahrungsdichte mit entsprechenden Ansätzen in Bezug auf
'rechtes' und fremdenfeindliches Klientel nicht allzu verwunderlich. Hinzu kommt: Zwischen
der Fachdebatte um Rechtsextremismus und Gewalt bzw. ihren Akteuren und den in diesem
Feld tätigen männlichen Sozialpädagogen/-arbeitern einerseits und den Protagonisten von
Jungen- und Männerarbeit bestehen z.Zt. noch wenig diskursiv-inhaltliche und personelle
Überschneidungen, gleichwohl die oben skizzierte Problemlage dazu große Veranlassung
gäbe. Außerdem sorgt der enge Konnex von bestimmten Facetten traditioneller Männlichkeit
und Rechtsextremismus, Xenophobie bzw. Ausgrenzungshaltungen dafür, dass die
Bereitschaft, Bezüge der Geschlechtsidentität infrage zu stellen, gerade bei männlichem
Klientel in 'rechten' Szenen und Cliquen kaum vorausgesetzt werden kann.
Das durchaus bei den im Arbeitsfeld beschäftigten Sozialpädagogen vorhandene Bemühen
um geschlechtsreflektierendes Arbeiten mit 'rechten' Jungen und jungen Männern sieht sich
deshalb eher auf situative Interventionen und die Arbeit mit Einzelnen verwiesen.
Entsprechend bedarf sie eines anderen, bislang noch nicht entwickelten Verständnisses von
Geschlechtsreflektion als es sich in der immer noch in den Kinderschuhen steckenden
geschlechtsspezifisch verfahrenden Jungengruppenarbeit abzuzeichnen beginnt.
Die geschilderte Situation fordert nicht zuletzt eine auch in der Arbeit mit anderen
AdressatInnen leider erst jüngst in Gang gekommene Diskussion darüber heraus, inwieweit
und
in
welcher
Weise
in
geschlechtsheterogenen
Zusammenhängen
geschlechtsreflektierendes Arbeiten möglich ist und wie dieser Ansatz stärker als
durchgängiges Arbeitsprinzip denn nur als Arbeitsform verankert werden kann (Möller
2000c).
Insgesamt ist – trotz verbreiteter Einsicht in die Notwendigkeit eines
geschlechtsreflektierenden Arbeitens, nicht nur speziell in Hinsicht auf die Bearbeitung
rechtsextremer Orientierungen bei Jugendlichen, sondern auch bzgl. des pädagogischen und
sozialarbeiterischen Umgangs mit gewaltbereiten und -tätigen Jugendlichen generell – dieser
Ansatz so wenig verbreitet, dass es erst recht nicht verwundert, wenn Evaluationen nicht
vorliegen. Gleichwohl ist er aus theoretischer und empirischer Sicht als außerordentlich
erfolgversprechend einzustufen (vgl. auch Behn/Heitmann/Voß 1995; Dembowski 2000;
Bruhns/Wittmann 2001, bes. 62; Bruhns/Wittmann 2002).
3.1.11 Gewalttherapeutische Ansätze
Gezielt für sozial auffällig, u.a. auch rechtsextrem straffällig gewordene Jugendliche werden
ambulante erzieherische Maßnahmen nach dem KJHG und dem JGG durchgeführt. Indem sie
anstreben, die im Sinne des Resozialisierungsgedankens zumeist kontraproduktiven Folgen
einer Haftstrafe für junge Menschen zu vermeiden, fühlen sie sich dem Hilfe-Paradigma
verpflichtet, selbst wenn sie Verfahren und Techniken einsetzen, die provokativ-konfrontativ
144
angelegt sind. Neben der Weisung, sich einem Betreuungshelfer zu unterstellen (§ 10 Abs. 1
Nr. 5 JGG), der Erziehungsbeistandschaft (§ 30 KJHG) und der intensiven
sozialpädagogischen Einzelbetreuung (§ 35 KJHG) sind vor allem soziale Trainingskurse, der
Täter-Opfer-Ausgleich (nach § 10 Abs. 1 Nr. 6 JGG) und soziale Gruppenarbeit (nach § 29
KJHG) zu nennen. Sie sollen bei der Überwindung von Entwicklungsschwierigkeiten,
schulischen und beruflichen Integrationsproblemen sowie Verhaltensproblemen helfen und
Selbständigkeit wie Sozialkompetenz fördern.
Soziale Trainingskurse sind zumeist auf 3 Monate befristete Maßnahmen, die 10 bis 12
Gruppenabende mit 1 oder 2 Wochenenden oder auch 1-wöchige Kurse im Rahmen eines
Halbjahres umfassen. Als kurzfristige Crash-Kurse wird ihnen wenig Erfolg attestiert, zumal
die Alltagssituation der Jugendlichen durch sie nicht verändert, die Transferproblematik nicht
gelöst und Elternarbeit kaum praktiziert wird.
Soziale Gruppenarbeit meint (idealerweise) die von einer pädagogischen Fachkraft zusammen
mit Ehrenamtlichen über eine Zeit von 1 bis 2 Jahren hinweg begleitete Kleingruppe
Jugendlicher mit einer Betreuungszeit von 4 bis 12 Stunden wöchentlich. Schon aufgrund
ihrer langfristigen Anlage kann sie eher als der Trainingskurs das soziale Umfeld einbeziehen
und z.T. auf lebensweltlichen Gruppenzusammenhängen aufbauen.
In beide Typen hinein fällt u.a. auch das Gruppendynamische Aggressionsschwellentraining
(GAT),
das
im
Saale-Holzland-Kreis
im
Rahmen
eines
Tatbezogenen
Interventionsprogramms für jugendliche Straftäter (TIPRO) von September 1999 bis Mitte
2001 60 Jugendliche zwischen 14 und 22 Jahren durchliefen. Ansatzpunkt ist der auf gut 40
Trainingsstunden angelegte Versuch, durch eine Erhöhung von Selbstaufmerksamkeit und die
Markierung der für das aggressive Verhalten entscheidenden Tatablaufpunkte den Ausbruch
von Aggression zu verhindern. Dazu werden gruppendynamische Prozesse genutzt,
konfrontativ-provokative Methoden eingesetzt und in späteren Phasen auch
Wissensvermittlungen versucht. Bislang liegen nur erste Tests durch den FAF-Test vor. Sie
ergeben positive Effekte bezüglich Erregbarkeit und Spontanaggression, lassen aber das
konkrete Ziel, eine Veränderung des aggressiven Verhaltens, unbeobachtet. Gerade diese
Evaluationsinhalte erscheinen – auch den Verantwortlichen selbst – um so wünschenswerter
als 84% der Absolventen nach Abschluss des Trainings in ein straftatenbegünstigendes
Umfeld entlassen werden (vgl. Jende 2001).
Der Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) stellt den Diversions-Gedanken des Vorrangs der
außergerichtlichen Konfliktregelung, der Vermittlung zwischen Täter und Opfer sowie den
der Wiedergutmachung in den Vordergrund. Formatspezifisch betrachtet legt er das
Schwergewicht auf die Aspekte der Begegnung und der sozialen Unterstützung. Er zielt so
Hilfe für Täter und Opfer gleichermaßen an. Über ein gemeinsames Gespräch und eine
Entschuldigung des Täters, konkrete Arbeitsleistungen des Täters für den Geschädigten,
gemeinsame Aktionen von Geschädigten und Tätern sowie symbolische VersöhnungsGeschenke soll das Entschädigungs- bzw. Wiedergutmachungs-Interesse des Opfers
gesichert, eine Einstellung stigmatisierender Strafverfolgung oder eine Absehung von ihr
erreicht, die Relevanz der Einhaltung gesellschaftlicher Normen verdeutlicht, ein
Perspektivenwechsel ermöglicht und ein gangbares Konfliktregelungs-Modell erlernt werden.
Der Täter-Opfer-Ausgleich wurde im Nachgang zur Etablierung der Viktimologie in den 70er
Jahren seit Mitte der 80er Jahre in Deutschland erprobt und 1990 mit dem 1. JGGÄndG
flächendeckend eingeführt (vgl. v.a. §§ 10, 45 und 47 JGG), im Erwachsenenstrafrecht 1994
ermöglicht (vgl. § 46a, § 49, Abs. 1; § 56b Abs. 2 Nr. 1 und § 59a Abs. 2 Nr.1 StGB), 1999
durch eine Änderung der Strafprozessordnung ausgebaut (vgl. § 153a und §§ 155a und b
StPO) und im Zivilrecht ab 2000, entsprechende Landesregelungen vorausgesetzt, in Kraft
gesetzt. In rd. 400 Einrichtungen wird er in organisatorisch unterschiedlichen Formen bei
145
großen regionalen quantitativen (Fallzahlen) und qualitativen (Orientierung an den TOAStandards der Deutschen Bewährungshilfe) Anwendungsdifferenzen durchgeführt (vgl.
Wandrey 1999). Fast ¾ der Delikte machen Gewalt- und Körperverletzungsdelikte aus; fast
90% werden zu einem erfolgreichen Abschluss geführt. Ebenfalls in ¾ der Fälle kommt es zu
einer persönlichen Begegnung von Täter und Opfer. Es wird noch erheblicher Spielraum der
Zahl der TOAs nach oben gesehen, wenn von Rechtspraktikern davon ausgegangen wird, dass
die Erfahrungen insgesamt positiv sind (vgl. auch Messmer 2000) und dass 15% – 30% aller
anklagefähigen Jugendstrafverfahren durch Schlichtung abgeschlossen werden könnten (vgl.
z.B. Spahn 2001).
Umstritten ist die auch bei leichteren rechtsextremen Propagandadelikten in seltenen Fällen
praktizierte Einschaltung von Diversionsmittlern, wie sie nach der Berliner
Diversionsrichtlinie unmittelbar nach polizeilicher Vernehmung und nur telefonischer
Absprache mit der Staatsanwaltschaft ohne eingehendere rechtliche Prüfung in Kooperation
mit der Jugendhilfe im Interesse an einer schnellen Reaktion auf Straftaten Jugendlicher
möglich ist (vgl. SPI 2001).
Erfahrungen von TOAs mit rechtsextrem bzw. antisemitisch oder fremdenfeindlich
motivierten Tätern liegen jedoch nur in geringer Zahl, meist bezogen auf leichtere
Deliktformen und für Fälle vor, bei denen das/die Opfer vorwiegend Interesse an der
Wiedergutmachung des materiellen Schadens hat/haben. Als Schwierigkeit erweist sich dabei
oft dreierlei: Zum ersten spielt bei den 'Rechten' der ideologische Hintergrund der Taten
insoweit eine oft entscheidende Rolle, als er die Bereitschaft zu Entschuldigung,
Entgegenkommen und Wiedergutmachung erschwert, weil das Subjekt sich – stärker als bei
einem nur instrumentell motivierten Delikt – in einem Zwiespalt sieht zwischen möglicher
Einsicht oder zumindest Zweckverfolgung (Strafvermeidung) einerseits und ideologischer
Überzeugung andererseits. Zum zweiten erweisen sich die Konformitätsverpflichtungen, die
gegenüber der rechtsextremen Gruppe empfunden werden und aufgrund hierarchischer
Gruppenstrukturen dem Delinquenten meist unmissverständlich deutlich gemacht werden, als
Hindernisse für ein erfolgreiches Ausgleichsverfahren. Zum dritten scheint es aber auch
schwierig zu sein, für öffentlich sichtbare Zeichen von Wiedergutmachung
Kooperationspartner bei Organisationen zu finden, die tätiger Reue eines rechtsextrem
motivierten Täters innerhalb ihrer Einrichtung Raum geben können.
PraktikerInnen des TOA berichten dennoch von ähnlichen Erfolgsquoten wie bei nicht
politisch motivierten Tätern. Exaktere evaluative Einschätzungen lassen sich aber aufgrund
der geringen Fallzahlen und fehlender Aufzeichnungen von Fallbearbeitungen nicht anstellen.
Vereinzelt vorliegende internationale Erfahrungen mit Ausgleichsverfahren geben zur
Hoffnung Anlass, sie auch bei schwereren Gewaltdelikten und auch im Falle von
fremdenfeindlichen Auseinandersetzungen einsetzen zu können. Ihr Erfolg ist danach nicht
nur darin zu sehen, dem Täter härtere Strafgrade ersparen und ihn leichter resozialisieren zu
können. Er liegt vor allem auch für das Opfer in dem Umstand, so die Tat besser verarbeiten
zu können (vgl. Roberts 1995; Aertsen 1999; Gotsbachner 1999). Allerdings sind auch
nachträgliche Bedenken von Opfern bekannt. So wird dann auch vor einer Schwächung der
Rechtsstellung des Opfers gewarnt und die letztlich noch mangelhafte Nachweislage im
Hinblick
auf
eine
nachhaltige
Positivwirkung
auf
das
Unrechtsund
Verantwortungsbewusstsein des Täters kritisiert (vgl. Eisenberg 2000).
Das Anti-Aggressivitätstraining (AAT) ist eine sozialpädagogisch-psychologische
Behandlungsmaßnahme für gewalttätige Wiederholungstäter.
Ihr Kern besteht es aus einem 6 Monate währenden Curriculum von wöchentlich zwei ein- bis
dreistündigen Sitzungen. Den zentralen methodischen Ankerpunkt bildet dabei die Technik
des "Heißen Stuhls": Der Klient nimmt auf ihm Platz und erfährt eine stark konfrontativ und
provokativ angelegte Behandlung. Sie besteht darin, dass die betreffende Person mit ihrer Tat,
146
ihrem sonstigen aggressiven Verhalten und den Folgen für die Opfer von Seiten der
Therapeuten wie auch von Menschen, die die Behandlung bereits durchlaufen haben,
konfrontiert wird. Diese Art der Gesprächsführung wird von einfühlsameren
Einzelgesprächen und freizeitpädagogischen Maßnahmen ergänzt.
Das Leitziel des Abbaus aggressiven Verhaltens wird durch die Orientierung an sechs
Lerninhalten umzusetzen gesucht:
1. Einerseits wird die gewalttätige Unterwerfung von Opfern als Mittel des
Selbstwertgewinns des Täters, als "Tankstelle des Selbstbewusstseins" thematisiert.
Andererseits wird verdeutlicht, dass diese Form der Selbstwertsteigerung gesellschaftlich
nicht akzeptiert und deshalb negativ sanktioniert wird. Im Sinne einer Kosten-NutzenAnalyse soll der Täter daher lernen, dass jede weitere Gewalttat Freiheitsverluste
(Haftzeit) mit sich bringen wird.
2. Das Durchgehen von erlebten Situationen, die aggressionsauslösend waren, verfolgt das
Ziel, dem Delinquenten seine individuelle Aggressivitätshierarchie bewusst zu machen,
damit er den verspürten Zwängen gewalttätiger Reaktion in solchen Situationen zukünftig
nicht mehr ausgeliefert ist und mit Handlungsalternativen wie Rückzug aus dem
Geschehen oder Schlichtung einer Eskalation vorbeugen kann.
3. Der Betreffende soll in die Lage versetzt werden, ein Selbstbild aufzubauen, das die
persönlichen Vulnerabilitäten respektiert. Das Idealselbst der Unangreifbarkeit durch
Härte soll mit einem Realselbst konterkariert werden, das die eigene Verletzlichkeit
eingestehen kann.
4. Neutralisierungstechniken, die Schädiger anwenden, um ihre Taten vor anderen und teils
auch vor sich selbst zu legitimieren, sollen als inakzeptable Rechtfertigungsverfahren
verstehbar werden. Eine Konfrontation mit den Opferfolgen soll Schuld- und
Schamgefühle wecken.
5. Dadurch dass Ängste und Schmerzen des Opfers thematisiert werden, soll die
Opferperspektive auch soweit übernommen werden können, dass Empathiefähigkeit
erzeugt bzw. gesteigert wird.
6. Mittels Provokationstestes werden die persönlichen Aggressionsgrenzen im Schonraum
des Behandlungssettings psychodramatisch getestet und desensibilisiert, um Reaktanzen
systematisch bewusst zu machen und darüber abbauen zu können
Das Training begreift sich erstens als Versuch der Förderung von Handlungskompetenz, die
auf Empathie, Frustrationstoleranz, Ambiguitäts- und Ambivalenztoleranz sowie
Rollendistanz aufruhen kann; es könnte die Sinnfälligkeit dieser Zielrichtung
frustrationstheoretisch begründen (vgl. kurz: Schubarth 2000, 16 f.); zweitens als Förderung
prosozialen Verhaltens über die Entwicklung von Fähigkeiten der Perspektivenübernahme
und drittens als Weiterentwicklung des moralischen Bewusstseins in Richtung auf
postkonventionelle Moralvorstellungen im Sinne Kohlbergs.
Theoretischer Hintergrund ist ein lerntheoretisch-kognitives Paradigma. Danach ist
Aggression als ein ubiquitär verbreitetes Verhaltensphänomen aufzufassen, das im Austeilen
schädigender Reize gegen einen Organismus (oder sein Surrogat) besteht. Aus seiner
Beobachtung ist Aggressivität als Bereitschaft zu aggressivem Verhalten ableitbar.
Die Interventionen zur Aggressionsreduktion folgen den Grundsätzen einer konfrontativen
Pädagogik (vgl. auch Redl 1979, 1987; Corsini 1994; Farelly/Brandsma 1994;
Colla/Scholz/Weidner 2001), die sich selbst als ultima ratio versteht. Ein autoritativer Stil mit
deutlichen Grenzziehungen im Sinne einer "klare(n) Linie mit Herz" wird als geeignete
Umgangsweise gerade mit "sozialarbeits- und psychologiegesättigten Mehrfachauffälligen"
betrachtet (vgl. www.prof-jens-weidner.de/konfron/konfron.html), zumal sie im Laufe ihrer
147
Sozialisation Achtung gegenüber durchsetzungsstarken Umgangsweisen entwickelt haben,
Freundlichkeit aber gleichzeitig eher für Schwäche halten..
Der Einbezug von Peers in die Behandlung wird mit dem Prinzip "Jugend erzieht Jugend" in
Verbindung gebracht, für dessen Sinnhaftigkeit die Konzepte von Korczak, Makarenko, Neill
und Ferrainola angeführt werden (vgl. ebd.). Ziel ist es, eine Übereinstimmung von formeller
und informeller Sozialisation zu erreichen.
Die Trainings werden in Deutschland seit 1986 durchgeführt. Zuerst in der Jugendanstalt
Hameln durch eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe (Heilemann u.a.) für 17- bis 25jährige
Insassen entwickelt und in der ursprünglichen Form 'gefahren', wurde der Ansatz in den
Jahren 1989-1991 durch Wolters sporttherapeutisch ergänzt, Ergänzungen die mit dem
Ausscheiden J.-M. Wolters auf kleinere freizeitpädagogische Maßnahmen (Radfahr-Training)
anschließend zurückgebaut wurden, um dann ab 1995 mit dem Ausscheiden J. Weidners und
der (Wieder-)Übernahme durch Heilemann und anderen in ein weiter gestecktes
Trainingsprogramm integriert zu werden, das auch Kurse zu Themen wie Rhetorik,
Schauspiel, Deeskalation, ja sogar Flirten enthielt.
Das AAT fand sie in den letzten Jahren bei steigender Nachfrage auch außerhalb des
Strafvollzugs, etwa in verschiedenen Feldern pädagogischer und Sozialer Arbeit mit leichten
Modifikationen als Anti-Gewalttraining (AGT) bzw. Coolness-Training (CT) Anwendung:
z.B. in der Bewährungshilfe, sozialen Trainingskursen, im Umfeld des Täter-OpferAusgleichs, in der Jugendarbeit, in den Hilfen zur Erziehung, im schulischen Bereich (vgl.
Weidner/Kilb/Kreft 1997). Es wird mit deutlich steigender Tendenz in über 20 Städten
Deutschlands praktiziert. Das Stundenkontingent umfasst (vgl. Kilb/Weidner 2000) meist
zwischen 40-50 Stunden (CT), 69 Stunden (AGT) bzw. 100 Stunden (AAT).
Z.Zt. Sind 60 Fachkräfte nach Durchlaufen einer zweijährigen berufsbegleitenden Fortbildung
im ISS Frankfurt als TrainerInnen zertifiziert; weitere 40 befinden sich in Ausbildung.
Das AAT ist – wenn auch nicht hinreichend, so doch relativ gut – evaluiert.
Erste statistische Auswertungen auf der Basis von Persönlichkeitstests (siehe Weidner 1990,
1993; Wolters 1992, Bauer-Cleve u.a. 1995; Brand-Saasmann 1999) ergaben, dass die
Teilnehmer nach Durchlaufen des Programms „quantitativ und qualitativ weniger aggressiv
handeln werden..., aber – trotz Behandlung – über dem durchschnittlichen Aggressionsniveau
liegen“ (Weidner/Kilb/Kreft 1997, 90). Diese Evaluation wurden allerdings während der
Haftzeit der Trainierten im Pre-/Post-Design durchgeführt.
Neuere Evaluationen durch das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN),
das eine Rückfallstudie zum AAT mit inhaftierten Gewalttätern der Jugendanstalt Hameln
(1987 – 1999) durchführte, und durch das Frankfurter Instituts für Sozialarbeit und
Sozialpädagogik (ISS) zu 18 im Jahre 1999 durchgeführten AATs und CTs bestätigen die
Tendenz, lassen aber auch die vermutete und von Wolters (vgl. 1994, 93f.) explizit empirisch
bestätigt gesehene Überlegenheit dieser Therapieform gegenüber anderen in Strafanstalten
eingesetzten Praktiken bezweifelbar erscheinen.
Durch die ISS-Studie weiß man über die Teilnehmer-Struktur: Das Klientel der Trainings ist
im Bereich von AAT bzw. AGT ausschließlich männlich, ein Umstand der noch eher wenig
konzeptionell berücksichtigt wird (vgl. Weidner 1997). Bei den eher auf Kinder zwischen 10
und 14 Jahren zielenden Coolness-Trainings fällt die statistische maskuline Dominanz etwas
geringer aus. Bei 85% war ein Straftatbestand Grund der Teilnahme. Gut 40% der Teilnehmer
sind Migranten, bei den 21-17jährigen sogar 56% Ausländer. Haupt- und Sonderschüler,
Lehrlinge und Arbeitslose sind überrepräsentiert. Wirkungen werden in dieser Studie über
Rückmeldungen von Teilnehmern, klientennahen Begleitpersonen (z.B. Eltern und
LehrerInnen) und TrainerInnen erhoben. Danach halten sich 55% der Behandelten nach
148
Durchlaufen des Trainings für weniger reizbar und selbstbeherrschter; ein gleich hoher Anteil
von Personen des sozialen Umfelds meint bei den Trainierten eine Gewaltreduktion und
Gewalt vermeidende Konfliktlösungsstrategien erkennen zu können. Auch die TrainerInnen
halten die Methode für hochwirksam, vor allem bei Jugendlichen, die anders nicht mehr zu
beeinflussen sind (bei "Schlägern"), sind sich aber über Langzeitwirkungen nicht sicher. In
jedem Fall plädieren sie für eine Einbettung der Methode in andere Angebote (z. B.: sport-,
theater- und erlebnispädagogische). Mit diesem Postulat kommen sie im übrigen – wenigstens
ein Stück weit – auch einer Kritik entgegen, die den punktuellen, episodenhaften Charakter
von AATs bemängelt und ihre Einbindung in eine normativ prosozial ausgerichtete Lebensund ggf. Lern- und Schulkultur – wie sie etwa bei den Glen Mills Schools zu etablieren
versucht wird (kurz dazu: Ferrainola 1999) – vermisst, die vor allem dann ihre Auswirkungen
zeitigt, "wenn der Vorhang des offiziellen Programms gefallen ist" (vgl. Guder 1999, hier:
329).
Das KFN (vgl. Ohlemacher u.a. 2001) analysierte die Legalbewährung von 73 jungen Leuten,
die seit 1986 das Training durchlaufen haben, nach der Haft (bei nahezu 2/3 der Gruppe
mindest 5 Jahre nach Haftentlassung) durch ein quasi-experimentelles Design mit einer
Kontrollgruppe von "statistischen Zwillingen". Das zentrale Resultat: 63% der Probanden
hatten einen Rückfall, aber nur 37% als Gewaltdelikt, davon etwas mehr als die Hälfte nur
wegen eines Delikts und ebenfalls mehr als die Hälfte schon im ersten Jahr nach der
Entlassung. Damit erreicht man Rückfallzahlen, die ähnlich denen von Glen Mills sind (vgl.
Colla/Scholz/Weidner 2001; vgl. aber auch die wenig schmeichelhafte Rezension des Bandes
und der mit ihm danach betriebenen "geschickten Verkaufsstrategie für AATs" von Förster
2001). Allerdings: Das AAT zeigte sich bzgl. einer Reduktion des Rückfallrisikos nicht
überlegen gegenüber anderen in der JA praktizierten deliktspezifischen Maßnahmen
(Sozialtherapie, Gesprächskreis Tötungsdelikte, andere Betreuung), die Angehörige der
Kontrollgruppe durchlaufen haben (vgl. Kilb/Weidner 2000).
Aus dem AAT heraus wurden auch "Betreuungsangebote" speziell für rechtsextrem
orientierte Jugendanstalts-Bewohner entwickelt. Sie gehen weniger konfrontativ vor.
Informationsvermittlung und Diskussion spielen eine größere Rolle. Zwar sind in einigen
Fällen Differenzierungen in den Meinungsbildern und Szene-Ausstiege beobachtet worden.
Mangels gründlicher Evaluation des Ansatzes bleibt aber offen, inwieweit sie auf diese Arbeit
zurückzuführen sind (vgl. Geretshauser/Lenfert 1993; Geretshauser/Lenfert/Weidner 1993).
Kritisch wird angemerkt, ob man hier die Therapeutisiererei politisch induzierter Sachverhalte
versuche, aufgrund des lerntheoretischen Paradigmas aber an Einstellungshintergründe von
Verhalten kaum heranreichen könne. Daneben wird angefragt, ob nicht eine evtl. erreichte
psychische Stabilisierung von Tätern von ihnen später auch für dissoziales Verhalten genutzt
werden könnte. Aus der Perspektive struktur-, aber auch desintegrationstheoretischer
Analysen muss ferner generell bezweifelt werden, dass kurzzeitpädagogische und individuell
begrenzt ansetzende Maßnahmen nachhaltige Veränderungen in der Führung des Alltaglebens
bewirken können.
3.1.12 Partizipationsförderung
Konzepte zur Förderung politischer und politisch relevanter Partizipation werden prima facie
weniger mit der ausdrücklichen Intention auf den Weg gebracht, Gewalt,
Minoritätenfeindlichkeit und Extremismus zu bekämpfen. Auf der anderen Seite wird in ihnen
149
eine große Chance zur Stärkung von Integrationspotenzialen und Demokratisierung erblickt,
so dass mit ihnen mittelbar durchaus die Hoffnung auf gewaltreduzierende und
extremismusprotektive Funktionen verbunden wird. Insbesondere Projekte mit Kindern und
Jugendlichen werden in diesen Zusammenhang gestellt.
Die in Deutschland und im europäischen Ausland (dazu kurz: Möller 2000b) geführte Debatte
um geeignete Formen politischer Beteiligung von Jugendlichen und Kindern wurzelt in der
unter DemokratInnen breit geteilten und sich in den letzten Jahren vertiefenden Überzeugung,
dass die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an politischen und gesellschaftlichen
Entscheidungsprozessen Selbstverständlichkeit erlangen muss.
Dahinter steht die Auffassung, dass in einer demokratisch verfassten Gesellschaft die aktive
Beteiligung der Bürger und Bürgerinnen unverzichtbar ist und dass die nachwachsende
Generation biografisch möglichst frühzeitig nicht nur kognitives Wissen um demokratischpolitische Verfahrensregeln erwerben, sondern in die Lage versetzt werden soll, Demokratie
möglichst alltagsnah, ganzheitlich und praktisch zu erleben und aktiv mitzutragen.
Mindestens drei wichtige Ziele werden damit verfolgt:
 Zum ersten werden Kinder und Jugendliche als Staatsbürger und Staatsbürgerinnen mit
den ihnen zustehenden Rechten ernst genommen, so dass sie bereits heute an
Entscheidungen beteiligt werden, von denen sie morgen als Erwachsene betroffen sein
werden.
 Zum zweiten ist zu erwarten, dass durch die Mitwirkung der jungen Generation auch eine
Qualifizierung von politischen Entscheidungen und der Arbeit der auf Kinder und
Jugendliche ausgerichteten Institutionen (z.B. Schule, Jugendhilfe) erreicht werden kann,
wenn man Kinder und Jugendliche als ExpertInnen ihrer Lebenswelt mit ihren spezifischen
Sichtweisen und Kompetenzen in Planungen und Entscheidungen einbindet.
 Zum dritten ist eine positive Sozialisationsfunktion im Sinne einer Gewöhnung an
Demokratie und einer auf Erfahrung und daraus erwachsenden Einsicht beruhenden
Übernahme ihrer Werte inauguriert.
Dabei wird von z.T. als problematisch betrachteten neueren Entwicklungszügen im Verhältnis
von Politik und nachwachsender Generation ausgegangen. Zu ihnen gehört u.a., dass bei
gleichzeitig überdurchschnittlich gerade von Jugendlichen bekundeter Bereitschaft zu
sozialem Engagement als "angewandter Liebe zur Welt" (Hannah Arendt)
 konventionelle staatsbürgerliche Formen der politischen Beteiligung (Wahlen, Mitarbeit
in Parteien etc.) zunehmend mit Skepsis belegt werden,
 die Bindungskraft etablierter politisch-weltanschaulicher Organisationen nachlässt,
 die vermehrt in den 80er Jahren auf den Plan getretenen unkonventionellen Organisationsund Beteiligungsformen (Neue soziale Bewegungen, Bürgerinitiativen etc.) inzwischen
ebenfalls an Attraktivität bei jungen Leuten einbüßen,
 politisches Engagement als Folge dessen entweder zurückgeht oder sich nahezu nur noch
von Fall zu Fall bei themenspezifischer Betroffenheit und dann auch entsprechend
kurzfristig andauernd entwickelt und sich so situations- und konjunkturabhängig, eher
punktuell, personell hochfluktuativ und strukturell wenig stabil zeigt,
 erlebnisgesellschaftliche Überformungen des Politischen seine Prägung durch rationale –
oder wenigstens Rationalität beanspruchende – Diskurse zu Gunsten ästhetisierender
Expressivität und symbolisch-kultureller Stilisierung ablösen (vgl. Flaig 1993; Möller
1995a)
 nicht zuletzt in Verbindung damit Politikangebote des Rechtsaußen-Spektrums gerade von
der jungen Generation Zulauf erhalten (vgl. Wippermann 2001) und so
 politische Integration in einer sich weiter differenzierenden und speziell auch
multikulturalisierenden Gesellschaft immer schwieriger herzustellen ist.
150
Grundsätzlich lassen sich zwei Ebenen von Partizipation unterscheiden:
1. Lebensweltpartizipation
Gemäß einem Politikverständnis, für das Handeln auch dann politisch relevant - und in
diesem Sinne "politisch" - sein kann, wenn es nicht explizit in irgendeiner Weise auf die
Strukturen des politischen Systems ausgerichtet ist (vgl. etwa Kaase 1992, 146), liegt
politische Partizipation auch dort vor, wo sich eine Beteiligung gar nicht unbedingt selbst
als politisches Tätigsein begreift und sich nicht auf Felder erstreckt, denen nach allgemein
vorherrschendem Verständnis die Qualität des Politischen zugesprochen wird.
In Bezug auf Kinder und Jugendliche hieße dies, dass von politischem Handeln auch dann
gesprochen werden könnte, wenn sich ihr Tätigsein auf die Regelung von für sie selbst
lebensweltlich relevanten Verhältnissen bezieht. Wenn Kinder und Jugendliche sich also
einschalteten in z.B. die Planung der Angebote und in die konzeptionelle
Weiterentwicklung der Jugendarbeit vor Ort oder in die Prozessentwicklung ihrer Schule,
wären sie politisch partizipativ tätig.
2. Systempartizipation
Mit Systempartizipation ist das Handeln gemeint, das (auch) diejenigen politischen
Strukturen berührt, die über lebensweltliche Verhältnisse hinausreichen und die Regelung
vergleichsweise abstrakterer gesellschaftlicher Verhältnisse betreffen.
In Bezug auf Kinder und Jugendliche betrifft es Angelegenheiten, deren Regelung über
eine Aktivität im unmittelbaren sozialen Nahbereich des Quartiers hinausgeht und nur über
Austausch und Auseinandersetzung mit Angehörigen anderer Lebenswelten, Milieus und
ökologischer Zonen und mittels reflektierender Wahrnehmung außerlebensweltlich
geltender Werte, Normen und Verfahrensweisen zu vollziehen ist: z.B. die Einbettung der
stadtteilorientierten Jugendarbeit in ein städtisches jugendpolitisches Gesamtkonzept,
Verkehrswegeplanung usw.
Kommunalpolitische Modelle gehen in unterschiedlicher Schwerpunktsetzung auf diese
Ebenen ein. Man unterscheidet entweder allgemein Modelle direkter, advokatorischer und
konsultativer Einflussnahme (vgl. Palentien/Hurrelmann 1998, 22) oder noch
praxisorientierter
 institutionalisierte und verfasste,
 offene,
 projektbezogene und inzwischen auch
 internetbasierte Formen.
Institutionalisierte bzw. verfasste Formen enthalten einerseits advokatorische Ansätze
(Kinder- und Jugendbeauftragte, Kinderbüros, verwaltungsinterne Arbeitsgruppen, Kinderund Jugendkommissionen bzw. -ausschüsse etc.) der Vertretung von Kinder- und
Jugendinteressen durch Erwachsene und andererseits Modelle von Jugendräten und –
parlamenten, in denen Jugendliche selbst für ihre Belange aktiv werden.
Bei den offenen Beteiligungsformen handelt es sich um Modelle, die Kinder und
Jugendlichen zu fixen Terminen die Möglichkeit geben, ihre Meinungen, Wünsche und Kritik
gegenüber PolitikerInnen und Verwaltungsbediensteten - gegebenenfalls auch mittels Medien
(z.B. Video) - zu äußern. Diese "Jugendforen", "Jugendhearings", "Kinderparlamente" oder
"Runden Tische" versuchen also primär, den Kindern und Jugendlichen
Artikulationsmöglichkeiten zu verschaffen. Durch die Anwesenheit von PolitikerInnen und
Medien soll sichergestellt werden, dass möglichst viele der Anregungen auch umgesetzt
werden.
151
Als projektbezogene Formen der verbesserten Wahrnehmung der Interessen von Kindern und
Jugendlichen werden solche bezeichnet, die eine kurzfristige, gemeinwesenorientierte
Beteiligung bei konkreten Aktionen und Planungsprozessen ermöglichen. Beispiele sind
Spielplatz- und Schulhofgestaltung, Stadtteilbegehungen, Mitwirkung von Kindern und
Jugendlichen an der Stadtteilsanierung bzw. Stadtteilgestaltung, Verkehrsplanung,
Umweltprojekte, Freizeitangebote etc.
Neue, sich erst in allerersten Ansätzen abzeichnende Formen stellen internetbasierte
Beteiligungsprojekte für Kinder und Jugendliche dar (zusammenfassend dazu: Reif 1999) –
wie sie sich z.Zt. etwa als lokale Projekte in Frankfurt a.M., Offenbach und Esslingen im
Aufbau befinden und bundesweit übergreifend über "step 21" (näher dazu siehe das Kapitel
zu medienpädagogischen Konzepten) anzuschieben versucht werden. Sie liegen – zumindest
potenziell – in einem Schnittbereich von Alltags- und Systempartizipation und vermögen –
jedenfalls theoretisch – direkte Einflussnahme (etwa über digitales Wählen von
Jugend(gemeinde)räten, wie in Esslingen kürzlich erstmals in Deutschland praktiziert) und
konsultative Prozesse miteinander zu verbinden. Sie können so auch verfasste und auf
dauerhafte Mitwirkung angelegte Angebote mit offenen und projektorientierten verknüpfen.
Die Diskussion der Modelle streicht verschiedene Vor- und Nachteile der einzelnen Formen
heraus. Zu den wichtigsten diesbezüglichen Akzentuierungen gehören grob zusammengefasst:
Das Setzen auf direkte Beteiligung von Minderjährigen am politischen Geschehen bringt für
sich in erster Linie das Ernstnehmen von Kindern und Jugendlichen als Staatsbürger und
Staatsbürgerinnen in Anschlag. Die Hauptkritik bezieht sich darauf, in Frage zu stellen, dass
solche Mitwirkung kinder- und jugendgerecht in kinder- und jugendgeeigneten Formen
vonstatten gehen kann.
Advokatorische bzw. verwaltungszentrierte Formen sehen ihren Vorteil vor allem in der
durch sie gewährleisteten Präsenz von dauerhaften verfügbaren Ansprechpartnern, die
aufgrund ihrer Einbindung in Verwaltungshandeln hohe Effektivität vorweisen können.
Kritisch wird in diesen Formen eine tendenzielle Enteignung der Kinder von ihren eigenen
Belangen und ihren darauf bezogenen Vertretungsrechten gesehen, die u.a. auch eine Haltung
politischer Dienstleistungsorientierung unterstützen könne.
Die offenen und projektorientierten Formen reklamieren für sich im Gegensatz zu
advokatorischen Modellen eine Aktivierung der Betroffenen und im Vergleich zu
institutionalisierteren und an Erwachsenengremien angelagerten Formen mehr
Lebensweltnähe und eine kinder- und jugendgemäßere Methodik. Andererseits können sie
keine dauerhafte Beteiligung installieren, fehlt ihnen die systematische Anbindung an die
Institutionen der Kommunalpolitik und/oder sind aufgrund ihrer Informalität kaum in der
Lage, die Kontrolle über die Umsetzung von geäußerten Anliegen in die Hände der beteiligten
Kinder und Jugendlichen zu legen.
Befürworter der Jugend(gemeinde)räte argumentieren vor allem damit, ein Modell zu
favorisieren, dass Jugendlichen in systematischer Weise und dauerhaft kommunalpolitische
Mitwirkung garantiert und dabei über effektiv nutzbare Zugänge zu den kommunalpolitisch
wichtigen Erwachsenen-Gremien verfügt. Die Kritik verweist auf die Formalisierung der
Beteiligung (förmliche Wahlen, Sitzungs"kultur" etc.), die einem unkonventionellen
jugendlichen Politikverständnis und der Zeitperspektive von Jugendlichen nicht entspreche,
auf die Mittelschichtszentriertheit der faktisch durch das Modell Angesprochenen
(Stichworte: Gymnasiastenüberhang, wenig Jugendliche ausländischer Herkunft,
Unterrepräsentation von Mädchen), auf den Vorenthalt wichtiger Mitwirkungsrechte,
bisweilen gar auf eine Instrumentalisierungsgefahr der Jugendlichen für die
Selbstdarstellungswünsche von PolitikerInnen ("babykissing") oder für die Rekrutierung
politischer Jugendorganisationen und Parteien (vgl. auch Hermann 1996; Metzger 1996).
152
Die Nutzung des Internets gilt einerseits als Zukunftsoption. Die Verbreitung und leichte
Zugänglichkeit dieser Technik sowie das Vorhandensein entsprechender Medienkompetenz
vorausgesetzt, verspricht sie, Partizipationschancen dadurch auszuweiten, dass sie ein
räumlich unabhängiges, zeitlich selbstbestimmtes, inhaltlich den Eigeninteressen folgendes,
neue Kollektivbezüge schaffendes und auch in der Form des Ausdrucks eigengestalterisches
Agieren erlaubt. Vorbehalte betreffen u.a. Zugangsprobleme, die die vorhandene soziale
Ungleichheit in der Ausstattung mit moderner Technik und in ihrer Handhabungskompetenz
betreffen, Befürchtungen, dem Verzicht auf face-to-face-Kontakte Vorschub zu leisten und so
letztlich eine Individualisierung des politischen Handelns mit zu bewirken sowie Klagen über
den tendenziellen Vorenthalt von Erfahrungen politischer Auseinandersetzungen aus erster
Hand.
Eine genaue quantitative Übersicht über kommunale Kinder- und JugendpartizipationsModelle gibt es für Deutschland z.Zt. leider nicht. Immerhin unterhalten nach einer allerdings nicht repräsentativen - Umfrage unter 158 bundesdeutschen Städten und
Gemeinden knapp 30% der Städte und Gemeinden Beteiligungsformen wie Jugendforen, parlamente oder –räte (vgl. Lennep 1998). Die größer angelegte, nämlich rd. 400 Städte und
Gemeinden einbeziehende und aktuellere Befragung des Deutschen Jugendinstituts kommt
gar auf 38%, dabei überdurchschnittliche 48% in Klein-, 79% in Mittel- und 93% in
Großstädten (vgl. Bruner u.a. 1999). Etwa ein Fünftel der Modelle erlaubt ein längerfristiges
Engagement (vgl. ebd.).
Hinzu kommen in – wegen ihrer Projektform - stark wechselnder und schon deshalb kaum zu
ermittelnder Anzahl noch stärker in den Alltag von Kindern und Jugendlichen integrierte
Beteiligungsmodelle in Kindertagesstätten, Schulen und Jugendverbänden (vgl. näher Bruner
u.a. 2001) sowie erste Internetprojekte. Erwartet werden kann, dass die Zahl der Projekte
durch die von der Bundesregierung im letzten Jahr ausgerufene Bundesinitiative
"Beteiligungsbewegung" in kurzer Zeit deutlich ansteigt und inhaltlich neue Impulse erhält.
In diesen Kontext gehört auch das Projekt "Ich mache Politik" (vgl. www.ich-machepolitik.de), das im wesentlichen dreierlei will:
 Jugendlichen ein "offenes Ohr" leihen.
Dazu werden Gesprächsforen mit PolitikerInnen anberaumt (erstmals am 5.11.2001 mit
BundespolitikerInnen) und "Politiktage" (im März 2002 in Berlin zum Kennenlernen von
Bundespolitik) organisiert.
 Politische Beteiligung von Jugendlichen qualifizieren.
Dafür finden an unterschiedlichen Orten in Deutschland verschiedene Aktions- und
Projekttage statt.
 den politischen Tatendrang junger Leute unterstützen und fördern.
Deshalb werden Projektideen gesammelt und über das Internet verbreitet.
Die Erfahrungen mit Beteiligungsmodellen für Kinder und Jugendliche werden bei je nach
Standpunkt und Interessenlage unterschiedlicher Bewertung einzelner Modellansätze
insgesamt überwiegend positiv gesehen (vgl. z.B. Lennep 1998; Möller 1999b; Bruner u.a.
1999, 2001). Über Erfahrungs- bzw. Sachberichte und Dokumentationen (vgl. z.B.
Hafeneger/Klose/Niebling 2001) hinausreichende Auswertungen liegen allerdings kaum vor.
Eine Ausnahme bildet die Untersuchung zur "Wirkung und Qualität" von 152
projektorientierten Beteiligungsaktionen in Schleswig-Holstein (z.B. in Hinsicht auf
Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen in Stadtgestaltung, Verkehrs- und
Freizeitraumplanung usw.). Genauer formuliert handelt es sich allerdings allenfalls um von
Fachkräften vermutete, bestenfalls unsystematisch beobachtete Wirkungen. Auf der Basis
eines Rücklaufs von 97 von Projektverantwortlichen (nicht von Kindern und Jugendlichen
153
selbst!) ausgefüllten und retrospektiv Einschätzungen für bereits abgeschlossene Projekte
einholenden Fragebögen und ergänzenden 38 Interviews in sechs Projekten wird eine positive
Bilanz gezogen. 30% der Projekte sehen sich u.a. auch als Beitrag zu
"Präventionsmaßnahmen in der Kommune", wobei der inhaltliche Bezugspunkt der
Prävention allerdings offen bleibt. Im Verhältnis 1:3 glauben die Antwortenden dieses Ziel
eher nicht (24%) oder eben doch (76%) umgesetzt zu haben. Eher meint man mit den
Projekten etwas für das "Erleben von Demokratie" (92%) und "von Einflussmöglichkeiten im
kommunalen Raum" (89%) sowie für den Erwerb und die Weiterentwicklung "sozialer und
politischer Kompetenzen" getan zu haben (vgl. Friedrich u.a. 2002a; Friedrich u.a. 2002b).
Im wissenschaftlichen Sinne verlässlichere themenspezifische Evaluationen zu gewalt- bzw.
extremismuspräventiven oder –reduktiven Funktionen existieren z.Zt. nicht. Einzelne
Erfahrungsberichte von insgesamt wenig zahlreichen Beteiligungsprojekten mit ausdrücklich
gewaltpräventivem Anspruch kommen – allerdings methodisch unzureichend und von den
OrganisatorInnen selbst erstellt – ebenfalls zu positiven Ergebnissen. So wird von
vandalismusreduzierenden Funktionen partizipativer Schulhofumgestaltung berichtet (vgl.
Mitbrodt/Ahnemann 2001, wobei sich allerdings der Eindruck einstellt, dass eher - oder
wenigstens auch - die Vermittlung von "Rädelsführern" in Jugendhilfemaßnahmen und ihre
"Vereinzelung", also Maßnahmen gegen Leitfiguren von entscheidender Bedeutung waren).
Ferner wird konstatiert, dass die Übergabe von Verantwortung an Jugendgruppen, die vorher
als "Banden" stigmatisiert wurden, zu entsprechend verantwortlichem Umgang mit
überlassenem Material (bspw. mit einem Streetball-Korb) führt. Allerdings werden bei
Vorliegen eines konkreten Konflikts ergänzende "Vier-Augen- und Familiengespräche" für
erforderlich gehalten (vgl. ebd.).
In Bezug auf die in dieser Expertise fokussierte Thematik erscheint trotz des völlig
ungenügenden Forschungsstandes immerhin die Erkenntnis erster Analyen (s.o.)
heraushebenswert,
 dass die beteiligten Kinder und Jugendlichen soziale und politische
Selbstbildungsprozesse durchlaufen,
 sie ihr Selbstwertgefühl und ihr Selbstbewusstsein aufgrund der erlebten Anerkennung
ihrer Person zu entwickeln und zu stärken scheinen,
 eine produktive demokratische Gesprächskultur einüben können,
 Verschiedenheit zu akzeptieren lernen,
 Solidarität und Gemeinschaft erleben,
 Verantwortung übernehmen und
 Kompromissfähigkeit und gewaltfreie Konfliktschlichtung erlernen.
Partizipationserfahrung kann insofern in der Tat als "Grundlage der Demokratie" (Bruner u.a.
2001, 88) verstanden werden, zumal damit Lernprozesse in Gang gesetzt werden, die solche
Kompetenzen und Mechanismen der Erfahrungsstrukturierung und sozialen Interaktion
stärken, die aus theoretischer und empirischer Sicht der Gewalt- und
Rechtsextremismusforschung zu den protektiven bzw. distanzierenden Faktoren gezählt
werden (vgl. Frey/Haußer 1987; Schwind/Baumann u.a. 1990; Olweus 1991, 1997; Tennstädt
1991; Tennstädt/Dann 1992; Klosinski 1993; Böhnisch 1994; Fend 1994; Smith/Sharp 1994;
Balser/d'Amour 1995; von Borries 1995; Hopf u.a. 1995; Petermann u.a. 1997; MenschikBendele/Ottomeyer 1998; Möller 2000a, 2001; Lutz 2000, Schubarth 2000).
Positive Entwicklungen sind aber an bestimmte Voraussetzungen gebunden, die die Qualität
von Beteiligungsmodellen betreffen. So unterschiedlich sie auch im einzelnen akzentuiert
werden (vgl. z.B. Deutscher Bundesjugendring 1995; Landesjugendring Baden-Württemberg
1997; Hermann 1997, 1998; Landeswohlfahrtsverband Baden 1998; Tiemann 1998;
154
Stange/Wiebusch 1998; Forum Kinder- und Jugendpolitik 1999; Möller 2000b, Bruner u.a.
2001), gelten übereinstimmend mindestens die folgenden Erfolgsbedingungen:
 Es ist eine Pluralität von Kinder- und Jugendperspektiven sicherzustellen (etwa in
Hinsicht auf die Berücksichtigung ethnischer, geschlechtsspezifischer und
bildungsspezifischer Differenzen), und es sind altersangemessene Formen der Ansprache
zu wählen.
 Die Beteiligungsquote partizipationsgewohnter Jugendlicher übertrifft nach empirischen
Erfahrungen mit dem Jugendgemeinderatsmodell (vgl. Hermann 1996, Metzger 1996)
deutlich die der partizipationsungewohnten Jugendlichen. Daraus folgt, dass es auch im
Interesse der Förderung von Jugendpartizipation ist, lebensbiographisch betrachtet
möglichst
frühzeitig
Beteiligungserfahrungen
einzuräumen.
Förderung von
Jugendpartizipation erfolgt auch durch die Förderung von Beteiligungsmodellen für
Kinder.
 Es ist sicherzustellen, dass die Gegenstände bzw. Inhalte und Themen politischer
Beteiligung von den zu Beteiligenden selbst bestimmt werden.
 Es sind Arbeitsformen zu wählen, die eine altersangemessene Passung besitzen und der
angestrebten sozialen Vielfalt der Beteiligten gerecht werden.
 Kinder- und Jugendbeteiligung kennt keinen Königsweg. Gerade die Vielfalt an
unterschiedlichen Beteiligungsformen für unterschiedliche Lebens- und Interessenlagen
ist zu fördern. Daraus folgt dann aber auch, die Vernetzung verschiedener
Beteiligungsmodelle voranzutreiben (vgl. dazu den praxisorientierten und im Stuttgarter
Modell ansatzweise umgesetzten Vorschlag eines "Partizipationsmix" bei Möller 1999b)
 Wo von Erwachsenen das Interesse an Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen
geäußert wird, muss diese Mitwirkung auch mit faktischen Einflussmöglichkeiten
verbunden sein. Beteiligungsmodelle haben Kindern und Jugendlichen Befugnisse und
kommunalpolitisch relevante Rechte zu übertragen. Wenn Rechte übertragen werden,
kann von einer Institutionalisierung der Beteiligung nicht abgesehen werden. Angesichts
der Institutionen- und Institutionalisierungsdistanz der jungen Generation lautet die
Grundregel allerdings: Soviel Institutionalisierung wie nötig, soviel Informalisierung wie
möglich.
 Beteiligungsmodelle sollten von Anfang an sicherstellen, dass ihre Qualität gesichert
bleibt bzw. fortentwickelt wird. Im Falle von Modellen mit neuartiger Struktur sollte eine
wissenschaftliche Begleitung erfolgen. Alle Modelle bedürfen einer sozialpädagogischen
Begleitung, die die Einhaltung der fachlichen Standards von Kinder- und
Jugendbeteiligung überwacht und durch eigene Aktivitäten praktisch garantiert.
 Systempartizipation von Kindern und Jugendlichen muss auf alltagsdemokratischen
Erfahrungen von Lebensweltpartizipation aufruhen. Wer also Systempartizipation auf
demokratischem Wege ermöglichen möchte, muss auch für Alltagsdemokratie und
Lebensweltpartizipation Sorge tragen. Einmal-Aktionen verpuffen.
3.1.13 Kampagnen, Wettbewerbe, Aktionen
Seit den ersten Höhepunkten rechtsextremistischer Übergriffe zu Beginn der 90er Jahre wurde
eine lange Reihe von Kampagnen, Wettbewerben und Aktionen ins Leben gerufen. Ihre
Vielzahl ist inzwischen kaum noch zu überblicken (vgl. im einzelnen
www.jugendwettbewerbe.com). Sie fordern Einzelne oder Gruppen, zumeist Jugendliche oder
Kinder, auf, Toleranz zu üben oder sogar gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit
und Gewalt und für Demokratie und Toleranz aktiv zu werden.
Zum Teil sind sie schlichte Sticker-, Button-, Plakat- bzw. Spotkampagnen wie z.B. die
Kampagne "Du willst Respekt. Ich auch", die nach dem Muster kommerzieller Reklame –
155
nicht selten über den Einsatz von Sport- und Show-Stars als Vorbildfiguren - einen WerbeEffekt für Toleranz und Fairness im Umgang miteinander erzielen sollen. Auch wenn nicht
unterstellt werden muss, dass sie mehr die Betriebsamkeit und political correctness ihrer
Betreiber öffentlichkeitswirksam dokumentieren sollen: Wie weit ein darüber
hinausreichender Impetus der Demokratieförderung positiv aufgenommen wird, bleibt
fraglicher als bei der Produktwerbung, denn der Kauf eines Waschmittels oder eines
Schokoladenriegels berührt kaum grundlegende Überzeugungssysteme. Theorien
differentiellen Lernens können zwar theoretisch-abstrakt die Sinnhaftigkeit des Angebots von
positiven Lernmodellen für eine Herauslösung aus antisozialen Gruppen unterstreichen (vgl.
Möller 1999a, Schubarth 2000, 31 ff.). Genauere empirische Evaluationen bestimmter
Darstellungen von Vorbildfiguren in Öffentlichkeitskampagnen zur Reduzierung
fremdenfeindlicher Einstellungen in der Bevölkerung liegen aber nicht vor (vgl. Wagner u.a.
2001, 287).
Den Paradigmen gestalterischen und erfahrungsbezogenen Lernens verbunden, regt ein
anderer Teil aber auch - formativ betrachtet - meist über mediale oder durch Multiplikatoren
(v.a. Lehrpersonen) realisierte Ansprache zu eigentätiger Aktion und/oder zu noch mehr
produktions- und/oder rechercheorientierten Prozessen (Wettbewerbe, Kampagnen) an. Sie
setzten dabei darauf, dass über diesen Weg der Aktivierung und Erfahrungsproduktion auch
Wissensaneignung erfolgt und dass deren Sinnhaftigkeit den Lernenden durch ihre Einbettung
in den Projektzusammenhang unmittelbar einleuchtet.
Beispiele für Kampagnen und Wettbewerbe sind "Demokratisch handeln", der seit 1990
veranstaltete Wettbewerb von Theodor-Heuss-Stiftung und Akademie für Bildungsreform,
"Fairständnis" als die von den Innenministern ab 1993 durchgeführte "Aufklärungskampagne
gegen Fremdenfeindlichkeit und Extremismus", die "Fair-play-Initiativen" von Bund,
Ländern und Sport, der seit 1998 vergebene CIVIS-Rundfunkpreis mit u.a. einer eigenen
Jugendjury, die von Jugendlichen produzierte Beiträge prämiert, der vom bundesweiten
"Bündnis für Demokratie und Toleranz" und Partnern (Dresdner Bank, Aufbau-Verlag, ab
2002 auch der DFB) seit 2001 ausgeschriebene "Victor-Klemperer-Jugendwettbewerb", der
Wettbewerb "Du gegen rechts", bei dem der Bundestagspräsident die Schirmherrschaft
übernommen hat, der seit 1999 bestehende Wettbewerb "Demokratie leben" oder auch der
vom Bundespräsident gemeinsam mit der Bertelsmann-Stiftung aktuell gestartete
"Wettbewerb zur Integration von Zuwanderern". Sie haben mehr oder weniger das gleiche
Muster, weshalb im folgenden nur ein schon älteres, längerfristig angelegtes und evaluiertes
Kampagnen-Beispiel sowie ein ebenfalls schon seit den frühen 90ern durchgeführter und auf
Erfahrungsauswertungen zurückgreifender Wettbewerb und zwei aktuelle Beispiele für
Wettbewerbe etwas genauer beschrieben werden sollen.
Die von einer Werbeagentur mit Kosten von 10 Mio. DM (bis Ende 1995) umgesetzte
"Fairständnis"-Kampagne zielte im wesentlichen auf zweierlei: zum einen auf Aufklärung
über Extremismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus und zum anderen
auf Wertebildung im Sinne der Vermittlung von Werten wie Achtung vor dem Leben
überhaupt, der Menschenwürde, den Rechten anderer und dem Recht auf Unversehrtheit
sowie Toleranz gegenüber Fremden und Ächtung von Gewalt als Mittel der Konfliktlösung
außerhalb des staatlichen Gewaltmonopols. Als Zielgruppen wurden Jugendliche, speziell
auch potenzielle Täter und deren Sympathisanten, und MultiplikatorInnen in den Blick
genommen. Inhalt der Kampagne war die Verbreitung von jugendgemäßen Materialien und
Medien wie Plakaten, Postern, Stickern, Fotoromanen, Hörfunk- und TV-Spots, Postkarten,
bedruckten T-Shirts etc. sowie einem Computerspiel ("Dunkle Schatten"). Daneben wurden
themenspezifische Bildungsmaßnahmen, vor allem mit MultiplikatorInnen aus dem
schulischen Bereich zur Vorstellung der Materialien und zur Klärung der Bedingungen ihres
156
Einsatzes im pädagogischen Bereich, sowie länderspezifische Aufklärungs- und
Sensibilisierungsmaßnahmen (z.B. Wanderausstellungen) durchgeführt. Eine Evaluation
erfolgte, wurde aber erst im Dezember 1993 in Auftrag gegeben und in der ersten Hälfte des
Jahres 1996 durchgeführt (Inhaltliches dazu s.u.).
Das Förderprogramm "Demokratisch handeln" wendet sich seit 1990, im Laufe seiner
Existenz von einer wachsenden Zahl von Bundesländern unterstützt, schwerpunktmäßig an
Schulklassen und Schülergruppen und fordert sie zur Einsendung von Beiträgen auf, die auf
den drei Ebenen von Unterricht, Schulleben und Gestaltung des Verhältnisses von Schule zu
der sie umgebenden Gemeinde beispielhaft demokratische Erziehung mit praktischen Lernen
verbinden. In einer jährlichen mehrtägigen "Lernstatt" werden ausgewählte Projekte
eingeladen, zur öffentlichen Präsentation ihrer Arbeiten ermuntert, ausgezeichnet und in
Kontakt mit PolitikerInnen und anderen Projekten gebracht. Daneben werden Porträts
interessanter Projekte unter best-practice-Gesichtspunkten öffentlich und fachöffentlich
publiziert (vgl. Beispiele in Beutel u.a. 2001; Beutel/Fauser 2001). Der erst nachträglich
konstruierte (vgl. Beutel/Fauser 2001, 34) wichtigste theoretische Bezug des Ansatzes des
Förderprogramms leitet sich aus dem Pragmatismus John Deweys ab. Danach ist Lernen
erfahrungsgeleitete "generative Praxis" und basiert auf der Verbindung von Handeln und
Reflexion. Schule sei deshalb als sozialer Erfahrungsraum aufzufassen, als die "Keimzelle"
einer "Gesellschaft im Wachsen und Werden". Hier sei in einer "vereinfachten Umwelt"
"Demokratie als Lebensform" spürbar (ebd. 28ff.). Die grundlegende These des
Förderprogramms kann hier anknüpfen: "Für politische Bildung und Demokratie ist es
unerlässlich, den Unterricht durch ein praktisches Lernen mit eigenem Tätigsein und durch
eigene Erfahrung zu erweitern und zu bereichern" (ebd., 34). Es bedarf für ein "wirkliches
Verständnis des Politischen" aus dieser Perspektive der unmittelbaren "Erfahrung von
Interessengegensätzen und Interessenausgleich, von Widerständen und Niederlagen, von
öffentlicher Auseinandersetzung und Rechenschaft, von Überzeugen und Überzeugtwerden,
von Mehrheitssuche und Minderheitenschutz" (ebd.). Das gemeinschaftliche (genauer:
"kooperativ individualistische") Engagement "für die Lösung von Aufgaben des
Gemeinwesens" (ebd., 35) und nicht die individuelle Höchstleistung – wie oft bei anderen
schulnahen Wettbewerben - steht deshalb im Mittelpunkt. In diesem Kontext werden auch die
Chancen für Gegensteuerungen zu "Gewalt, Rassismus und Rechtsextremismus bei
Jugendlichen" (ebd.) gesehen. Da "gilt, dass Gewalt und rechtsradikale oder
fremdenfeindliche Tendenzen bei Jugendlichen immer auch als mögliche Folgen fehlender
Erfahrung der Zugehörigkeit, mangelnder Anerkennung und ungenügender Aufklärung zu
sehen sind" (ebd.), könne die Projekterfahrung mit ihrer "Verbindung von Zugehörigkeit,
Mitwirkung, Anerkennung und Verantwortung" (ebd.) für Schüler und Schülerinnen
Gegengewichte bilden.
Der "Victor-Klemperer-Jugendwettbewerb" richtet sich an Gruppen, Klassen und
Einzelpersonen zwischen 16 und 21 Jahren und fordert sie zur Erstellung von Texten Videos,
Fotoromanen, Comics usw. zu einem Themenfeld auf, das mit dem Namen Victor Klemperers
verbunden werden kann, 2001 unter dem Motto "Kreativ für Demokratie und Toleranz", 2002
unter dem Motto "WIR gewinnt – aktiv für bürgergesellschaftliches Engagement".
Insbesondere werden Arbeiten zur NS-Zeit, zu Zivilcourage, zu Ausländerintegration und, vor
allem in 2002, Berichte und Aktionen bürgerschaftlichen Engagements für einen
demokratischen und toleranten Umgang erwartet. Hauptpreise sind Studienwochen in Berlin,
London und Auschwitz. Die bisherigen Erfahrungen werden von den Veranstaltern als positiv
eingeschätzt, weil die Resonanz mit 20.000 jungen Teilnehmern und Teilnehmerinnen
"überwältigend" war und der Wettbewerb als "gelungener Anstoß (betrachtet wird), sich mit
Fragen der Diskriminierung, der Ausgrenzung und der Fremdenfeindlichkeit zu befassen
157
sowie Gegenmaßnahmen zu ergreifen" (www.buendnis-toleranz.de/Aufgaben-und-Ziele.571.8206/.htm, 2).
Der "Wettbewerb zur Integration von Zuwanderern" soll vom 31.01.2002 bis zum 10.05.2002
laufen und wird von prominenten, selbst positiv Zuwanderschaft biographisch verkörpernden
Botschaftern wie u.a. der Pop-Gruppe "Bro 'Sis" und dem Boxer Vladimir Klitschko
unterstützt. Er richtet sich an Gruppen, Vereine, Verbände, Organisationen, Initiativen und
Netzwerke, die möglichst vernetzt, nachhaltig und kompetent erfolgreiche Ideen und Projekte
integrierten Zusammenlebens umsetzen. Als Preise winken für 10 Gewinner je 7.500 Euro
und eine Einladung zu einem Abschlussfest ins Schloss Bellevue am 22.08.2002 (vgl.
www.integrationswettbewerb.de).
Abgesehen von Erfahrungsberichten und Selbsteinschätzungen der Veranstalter existieren
unabhängige Evaluationen, aus denen neben einfach zu erhebenden Ergebnissen auch
Wirkungen von Wettbewerben, Kampagnen und Aktionen hervorgehen, m. W. kaum. Als
Erfolg wird meistens ein hoher Bekanntheitsgrad des Wettbewerbs, der Kampagne bzw. der
Aktion, eine hohe Teilnehmerzahl und die von einer Jury bewertete Kreativität der
eingesandten Arbeiten ausgewiesen. Festzuhalten bleibt indes, dass ein hoher
Bekanntheitsgrad nicht linear auf eine hohe Wirkung im Sinne der intendierten Ziele
schließen lässt (diese kann im ungünstigsten Fall sogar kontraproduktiv sein), eine hohe
Teilnehmerzahl zwar als Beleg für eine breite Streuung von inhaltlichen Anregungen gelten
kann, aber nichts über die Tiefe und Nachhaltigkeit dieser Anstöße und ihren Transfer in das
Alltagsleben der Teilnehmenden aussagt und die Kreativität der eingesandten Arbeiten eher
ihre äußere Form und Aufmachung, längst nicht in jedem Fall aber auch die Ernsthaftigkeit
und Intensität, mit der gearbeitet wurde, widerspiegelt. Gerade inhaltlich-qualitative Aspekte
der Implementierung gewonnener Erfahrungen in das Alltagsverhalten lassen sich durch die
gängigen Jury-Urteilsverfahren fast nie überprüfen. Hinzu kommt eine anzunehmende hohe
Selektivität der Rezeption: Wer von vornherein positiv der Intention der Kampagne
gegenübersteht, wird sie eher beachten als jemand, der ihren Inhalt skeptisch oder gar mit
Abneigung betrachtet. Bereits rechtsextrem Orientierte werden daher wohl kaum in dieser
Weise angesprochen werden können.
Ebendies ist auch ein zentrales Ergebnis der Evaluation von "Fairständnis". Diese vom
Deutschen Jugendinstitut durchgeführte Untersuchung – wegen des verspäteten Beginns
leider nur als ex-post-Analyse – stützt sich auf eine Auswertung von 827 beim BMI
eingegangenen Zuschriften, überwiegend von Jugendlichen, teils aber auch von LehrerInnen
und anderen MultiplikatorInnen, von 420 zufällig ausgewählten Beurteilungen und
Kommentaren zum Computerspiel "Dunkle Schatten" sowie von 104 Telefoninterviews mit
MultiplikatorInnen und ihre darin abgegebenen Einschätzungen über die Wirkungen der
Kampagne bei der Zielgruppe der Jugendlichen. Neben dem schon erwähnten Resultat,
gewaltbereite und fremdenfeindliche Jugendliche nicht unmittelbar erreicht zu haben, weil das
Material bei dieser Zielgruppe kaum Interesse fand und der "pädagogische Zeigefinger" (zu)
offensichtlich vorgehalten wurde, wird sogar festgestellt, in dieser Gruppierung eher
Ablehnung als Nachdenklichkeit produziert zu haben. Stattdessen erreichte man eher die
Bestätigung des eigenen Standpunkts und die Aktivierung von Engagement bei bereits
sensibilisierten jungen Leuten. Aus den MultiplikatorInnen-Interviews geht hervor, dass auch
nach deren Einschätzung die erwünschten Wirkungen bei rechtsextrem und fremdenfeindlich
orientierten Jugendlichen nur dann zu erzielen sind, wenn man sich ihren Problemen
zuwendet und langfristig mit ihnen arbeitet (vgl. Kiefl 1999).
158
Keine Evaluation im engeren Sinne, aber eine quantitativ angelegte Erfahrungsauswertung
existiert zum Förderprogramm "Demokratisch handeln". Aus ihr lassen sich auch einige
Befunde zur Bearbeitung des Themenfelds Gewalt und Rechtsextremismus ersehen. Danach
sind von den zwischen 1990 und 1999 eingegangenen knapp 1.500 Einsendungen rd. ein
Viertel auf die (inhaltlich weit abgesteckte) Themengruppe "Asyl, Gewalt, Minderheiten,
Krieg/Frieden" bezogen – mit zunehmender Tendenz in den letzten Jahren und
Überrepräsentanz der Einsendungen aus den östlichen Bundesländern. Auch wenn im
Anschluss an die oben angeführten Ursachenzuschreibungen (mangelnde Partizipation,
Zugehörigkeit, Anerkennung und Aufklärung) aus theoretischer Sicht die Einschätzung
angeführt werden kann, "Schülerinnen und Schülern Verantwortung für die Gestaltung des
Schulalltags und auch des Unterrichts zu übertragen,.... ist der wichtigste Präventionsbeitrag
gegen Gewalt und Extremismus (Sturzbecher 2001, S. 6)" und so "ein direkter
Zusammenhang zwischen Demokratie lernen in der Schule und Gewaltabstinenz" (ebd., 77)
angenommen wird, bleibt mangels Wirksamkeitsprüfung offen, inwieweit die erhofften
Effekte tatsächlich eingetreten sind. Wenn einerseits zu Recht davon ausgegangen wird, dass
politisches Lernen längerfristiger Prozesse bedarf, andererseits die Quote der
Wiederbewerbungen bei 17,6% liegt und auch nicht absehbar ist, ob die
Wettbewerbsteilnahme nicht gemeldete weitere Projekte und/oder profilbildende
Schulprogramme in nachhaltiger Weise angestoßen hat, bleiben gewalt- und
extremismusreduzierende Wirkungen unklar.
In dieser Hinsicht führt auch die strukturierte, aber nicht repräsentative Bestandsaufnahme
von über 2000 Projekten (offensichtlich 1.800 von ihnen aus der Datenbank von
"Demokratisch handeln") nicht weiter, die von Beutel u.a. (2001) unter dem Gesichtspunkt
der Auswahl von "best-practice"-Modellen der Gewaltprävention zwischen Juli 2000 und
März 2001 durchgeführt wurde. Die Recherche mündet im Ergebnis in jene Erkenntnisse, die
im oben beschriebenen Erfahrungszusammenhang des Förderprogramms "Demokratisch
handeln" als relevant erachtet werden. Ist noch nachvollziehbar, dass angegeben wird, auf
"instruktive", "originelle" und "eindrucksvolle" Bespiele für schulische Reaktionen auf
Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus gestoßen zu sein, so bleibt fraglich,
nach welchen Kriterien unter ihnen "viele erprobte...Ansätze" ausgemacht, vor allem aber
inwiefern sie als "wirksame" eingestuft werden konnten (ebd., 23), wurden doch weder von
den RechercheurInnen selbst Evaluationen unternommen, noch erkennbar vorhandene
Evaluationen berücksichtigt. Die Beurteilungskriterien für "best practice" – "Lernqualität",
"Institutionelle Qualität", "Aktualität", "Originalität" (ebd., 7) - bleiben wohl auch deshalb
recht unbestimmt und können den Vorwurf relativ willkürlicher Festlegung auf sich ziehen.13
13
"Best practice"-Kriterien sind nicht nur hier wenig ausgearbeitet. Im Gegensatz zu dem unübersehbar
starken Trend, Praxisprojekte entsprechend zu kategorisieren (vgl. z.B. auch MaReG und die Zwischenberichte
zum Civitas-Programm), sind die Bewertungsmaßstäbe, unter denen dies geschieht, unverhältnismäßig schwach
elaboriert und 'weich'. Offenbar sind die Referenzpunkte, nach denen Praxis eingeordnet werden könnte, zu
wenig ausgearbeitet. Hier scheinen deutlich Probleme auf, die in mindestens drei Feldern liegen:
Zum ersten ist der Stellenwert der Ausrichtung von Praxis an den vorhandenen Erkenntnissen der Forschung zu
Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt zu klären. Zu überprüfen ist dabei, inwieweit für 'gute'
oder sogar 'ausgezeichnete' Praxis (neudeutsch: "good practice" und "best practice") nachzuweisen ist, dass sie
dem aktuellen Stand sowohl der theoretischen als auch der empirischen Forschung entspricht, ja vielleicht sogar
in einem Diskurszusammenhang mit ihr steht, in dem Praxisanregungen und –erfahrungen als Befruchtungen
wissenschaftlichen Forschens wirksam werden können. Um in diesem Problemfeld Klärungen herbeizuführen,
erscheint es unerlässlich, das Verhältnis von Theorie und Praxis zureichender zu bestimmen als dies bislang der
Fall ist.
Zum zweiten sind die Bezüge von Praxis zu dem auch themenunspezifisch bedeutsamen allgemeinen diskursiven
und operativen Rahmen sowie zu praktikablen konzeptionellen Vorgehensweisen, die die zentralen
Bezugswissenschaften, also vor allem Erziehungswissenschaft und Sozialarbeitswissenschaft, entwickeln, näher
zu bestimmen. Hier wäre zumindest auf den Ebenen von Orientierungen an Paradigmen, Strategien, Formaten
159
So ergibt sich aus pädagogischer Sicht als entscheidende Frage, wie es gelingen kann,
positive Kampagnen-, Aktions- und Wettbewerbserfahrungen auf Dauer zu stellen, um im
besten Fall und vermutlich eher bei jüngeren Jugendlichen tatsächlich gegebene
Initiativzündungen nicht verglühen zu lassen. Welche Unterstützungsmöglichkeiten außer
symbolischer Anerkennung und Preisgeldern, die für die weitere Arbeit eingesetzt werden
können, können Auslober noch zur Verfügung stellen? Eine Antwort auf diese Fragestellung
wird um so dringlicher, als sich angesichts zunehmender Zahlen rechtsextremer und
fremdenfeindlicher Vorkommnisse der Eindruck einstellen kann, dass gut gemeinte
Kampagnen, Wettbewerbe und Aktionen wenig bis gar nichts fruchten und mehr der
medienwirksamen Selbstdarstellung ihrer Träger als einer Veränderung antidemokratischer
Auffassungen und Verhaltensweisen dienlich sind. Jedenfalls gilt: "Gelder..., die in
Öffentlichkeitskampagnen gegeben werden, sind nicht damit zu rechtfertigen, dass solche
Kampagnen besonders hilfreich im Sinne der Reduktion fremdenfeindlicher/antisemitischer
Einstellungen sind" (Wagner u.a. 2001, 303). Gründliche Evaluationen der Ergebnisse von
Kampagnen und Wettbewerben erscheinen dringend geboten.
3.1.14 Stärkung und Vernetzung zivilgesellschaftlicher Strukturen
Vernetzung ist ein vorwiegend innerhalb des Gestaltungsparadigmas seit einigen Jahren
gebräuchliches Modebegriff der pädagogischen und sozialarbeiterischen Diskussion. Hinter
ihm verbirgt sich eigentlich zweierlei: Zum einen der Anspruch, die sog. KlientInnen
untereinander in Verbindung zu bringen, zum anderen die Forderung nach Verknüpfungen
zwischen Organisationen bzw. informellen Gruppen und ihren Aktivitäten.
Obwohl sich die Karriere des Terminus wohl der Diskussion um soziale Netzwerke, ihre
Analyse und ihre sozialpolitische und –arbeiterische Stabilisierung über Netzwerkarbeit in
einer zunehmend von Individualisierung und Auflösungstendenzen von Sozialität geprägten
Gesellschaft verdankt (vgl. Diewald 1990; Dewe/Wohlfahrt 1991; Röhrle 1994; Putnam 1995,
2002; Bullinger/Nowak 1998 Keupp 2000; Otto 2000), meint er in praxi weniger die
Bemühungen, AdressatInnen sozialer und pädagogischer Arbeit zur Vermeidung von
Vereinzelung und zur Erzielung verbesserter sozialer Einbindung miteinander zu vernetzen.
Häufiger und manchmal sogar ausschließlich wird unter ihm die Herstellung und Absicherung
von Kooperationsbeziehungen zwischen Fachkräften unterschiedlicher Handlungsfelder, ggf.
noch erweitert um engagierte Laien in Projekten und Initiativen bzw. um Vertreter der Politik,
verstanden.
Vernetzungsbestrebungen im Kontext von Rechtsextremismus-, Gewalt- und
Fremdenfeindlichkeitsbekämpfung folgen ganz weitgehend diesem eingeschränkten, aber
vorherrschenden Verständnis. In ihrem Mittelpunkt steht die Absicht, professionell,
konventionell-politisch und bürgerschaftlich Engagierte zusammenzubringen, damit sie ihre
Aktivitäten und Maßnahmen aufeinander abstimmen und zu gemeinsamen Planungen
voranschreiten können. An dieser Stelle liegt der Berührungspunkt mit dem den einschlägigen
Aktivitäten formatverleihenden Anspruch, zivilgesellschaftliche Strukturen aufbauen zu
helfen bzw. vorhandene zu unterstützen. Dabei vertraut man offenbar implizit auf das
kritische Potenzial aktiver Öffentlichkeitsbildung, das dem Begriff der "Zivilgesellschaft" im
und konzeptionellen Grundorientierungen (hierbei mindestens an Zielen, Inhalten und Methoden) Klarheit über
die Bedeutung eines Bezuges auf sie zu schaffen.
Zum dritten ist dringlich der Stellenwert von Evaluation abzuklären. Hier existiert eine weitflächige tabula rasa.
Sie beeinträchtigt die Rationalität von Einordnungs- und Einstufungsvorhaben praktischer Maßnahmen
erheblich. Sollten nicht Kriterien wie Zielerreichung, Wirksamkeit, Wirkung, Effizienz u.ä.m. entscheidend in
den Bewertungsprozess von Praxis eingehen? Müsste dies nicht um so mehr geschehen, je stärker großer Wert
auf Nachhaltigkeit gelegt wird?
160
Gegensatz zu dem der "bürgerlichen Gesellschaft" attribuiert wird (vgl. Sachße 2002) und
kann sich darauf berufen, dass nach einem inzwischen klassischen Verständnis neben Vielfalt
und Autonomie zivilgesellschaftlicher Strukturen die Zivilität des Verhaltens ihrer Mitglieder,
also Gewaltlosigkeit und Toleranz, als drittes ihrer Merkmale angeführt wird (vgl. Dahrendorf
1992).
Eine entsprechende Zielrichtung schlägt sich nicht nur in den zahlreichen "Runden Tischen",
"Netzwerken", "Dokumentations- und Informationsstellen" sowie "Bündnissen für
Demokratie und Toleranz" oder ähnlich betitelten Zusammenschlüssen Engagierter auf
Bundes- Länder-, regionaler und kommunaler Ebene nieder. Sie prägt insbesondere auch
explizit die Arbeit der vor allem im Osten Deutschlands inzwischen aktiven und dort auch
unter diesem Namen antretenden "Mobilen Beratungsteams".
Die ersten Einrichtungen dieser Art wurden bereits 1996 im Land Brandenburg gegründet.
Die neuen Civitas-finanzierten Einrichtungen in Trägerschaft von RAA bzw.
Sozialpädagogischem Institut (in Berlin), der Ev. Akademie und der RAA (in MecklenburgVorpommern) mit Regionalbüros in Greifswald, Waren und Schwerin, des Dresdner Büros
für freie Kultur- und Jugendarbeit, einem Zusammenschluss von 26 Mitgliedsvereinen (in
Sachsen) mit Regionalbüros in Pirna, Wurzen und Neukirchen und dem von Kirchen, DGB
und anderen Organisationen getragenen Verein MoBiT (in Thüringen) mit Regionalbüros in
Erfurt, Gotha und Saalfeld versuchen neben z.T. vorliegenden Eigenerfahrungen als
Initiativen aus Vorlaufphasen von dem dort gewonnenen Erfahrungsschatz zu profitieren. Ihr
Ziel besteht im wesentlichen darin, eine demokratische Kultur, vor allem im lokalen und
regionalen Raum, so zu fördern, dass die Sensibilisierung für offene oder verdeckte Formen
von Rassismus und sonstiger Ausgrenzung von Minderheiten geschärft wird, ein Klima von
Weltoffenheit und Toleranz entsteht, die Verantwortung für das Gemeinwesen entwickelt und
zivilcouragiertes Einschreiten gegen rechtsextreme Tendenzen gestützt wird. Zielgruppen
finden sich somit primär in jenem Bevölkerungssegment, das sich selbst der in Opposition zu
rechtsextremen Bestrebungen stehenden, demokratischen Öffentlichkeit verbunden fühlt.
Insbesondere handelt es sich um:
 in die Kommunalpolitik eingebundene Verantwortungsträger,
 MultiplikatorInnen (z.B. Lehrpersonen, ErwachsenenbildnerInnen, Fachkräfte der
Sozialen Arbeit) und
 bürgergesellschaftliche Initiativen und Organisationen.
Durch das Angebot von thematisch-inhaltlicher Information, methodischen Ressourcen,
Analyse, Dokumentation, Beratung, Moderation, Fortbildung und Vernetzung sollen die
demokratischen Kräfte des Gemeinwesen in die Lage versetzt werden, Bestrebungen der
Etablierung kultureller Hegemonie durch die Rechtsextremen kompetent und konsequent
entgegentreten zu können.
Wegen der noch kurzen Laufzeit der meisten Projekte ab Sommer bzw. Herbst 2001 lässt sich
über Effekte noch nichts aussagen. Unabhängig davon lässt sich aus der Sicht der bisherigen
Praxis, bspw. auch derjenigen mit dem 25 Mio. DM Programm für die Kommunen in NRW
(s.o.), feststellen:
Die Beratung von Kommunen bei der Bekämpfung von Rechtsextremismus und der
Aktivierung von demokratischen Kräften der Selbsthilfe erscheint dringend geboten. Eine auf
die konkrete Situation vor Ort bezogene, lebensweltnahe Qualifizierung und Beratung von
pädagogischem und sozialarbeiterischem Personal sowie von zivilgesellschaftlichen
Gruppierungen muss allgemeine Analysen und Informationsveranstaltungen unbedingt
ergänzen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass der Einsatz von Fördergeldern eher willkürlich
und mehr oder minder beliebig erfolgt, innovative Ansätze der 'Basis' unvermittelt bleiben,
161
daher konventionelle, auf die aktuelle Problemlage von Rechtsextremismus nur unzureichend
bezogene Strategien gleichsam 'blind' weiter'gefahren' werden, Aktivitäten nicht auf
Kontinuität hin angelegt werden und damit letztlich der intendierte Effekt zu verpuffen droht.
Die Stärkung zivilgesellschaftlicher Selbstorganisationsformen gewinnt dabei in
Ostdeutschland insofern besondere Bedeutung, als die allgemeinen Quoten bürgerschaftlichen
Engagements hier – wohl als Nachwirkung eines international festzustellenden West-OstGefälles
zwischen
liberal-marktwirtschaftlich
und
sozialistisch/kommunistischplanwirtschaftlich verfassten Staaten (vgl. Offe 2002, 279) – deutlich geringer ausfallen (vgl.
Rosenbladt 2000, 29) und daher eine nachholende Entwicklung zu vollziehen ist. Der Ansatz
der Mobilen Beratungsteams erfüllt insofern einen deutlich sichtbaren Bedarf.
Allerdings gilt wohl auch: "Zivilgesellschaftliches Engagement... schafft (bestenfalls; Zusatz
d. Verf.) eine politische Kultur, in der sich fundamentalistische Lösungen nicht entwickeln
können", aber es "liefert uns kein 'Rezept' gegen Extremismus und Gewalt" (Keupp 2001, 12).
Anders formuliert: Die Schaffung und Stabilisierung demokratischer zivilgesellschaftlicher
Strukturen ist kein Allheilmittel, sondern erscheint geeignet, eine bestimmte Funktion
innerhalb einer sinnvollen Gesamtstrategie zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und von
sozialer Desintegration in seinem sozialen background zu erfüllen. Insbesondere besteht die
Gefahr, dass bei einer einseitigen Zuspitzung des Engagements auf die Etablierung von sog.
Gegenöffentlichkeit 'gegen rechts' die unmittelbare Ansprache der rechten Problemträger aus
dem Blick gerät, die in der Civitas-Förderrichtlinie für MBTs immerhin angedeutet ist
("Erstkontakt für ausstiegswillige rechtsextreme Jugendliche und Vermittlung von
professionellen Ausstiegshilfen für Angehörige der rechtsextremen Szene"). Nicht nur dass
Organisationstätigkeiten obsiegen könnten: Der Vernetzungsgedanke erstreckt sich dann auch
nicht mehr auf die soziale Vernetzung von Betroffenen. Eben diese aber erhält aus jener
Analyse ihre Berechtigung, die soziale Desintegrationserscheinungen und Verluste nichtpartikularistischer sozialer Einbindung wie demokratiekompatibler Anerkennung als Faktoren
von Wendungen nach rechts ausmacht. Die Strategie der Vermittlung funktionaler
Äquivalente für Problemverhalten ist aus erziehungs- und sozialarbeitswissenschaftlicher
Sicht für eine nachhaltige Durchsetzung von Veränderungsinteressen unhintergehbar.
3.1.15 Aussteigerprogramme
Für Rechtsextremisten, die sich aus ihrer Szene lösen wollen, halten der Bund und die Länder
Aussteigerprogramme vor. Daneben besteht eine private Initiative namens "Exit", die beim
Zentrum Demokratische Kultur eingerichtet ist und von der Illustrierten "stern" finanziert
wird.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz startete im April 2001 sein Aussteigerprogramm. In
seinem aktiven Teil hat es eine bundesweite Telefon-Hotline (0221/79262) sowie eine EmailAdresse für vertrauliche Kontaktaufnahmen geschaltet. Nach Verfassungsschutzangaben hat
man im ersten halben Jahr ca. 730 Anrufe gezählt, unter ihnen zumeist Medienvertreter,
Pädagogen und Eltern, aber nur 160 potenzielle Aussteiger. Mit "bis zu 70" von ihnen soll es
"intensive Gespräche" gegeben haben, wobei "ein Teil" der Ausstiegswilligen die Szene
bereits verlassen hat (vgl. www.verfassungsschutz.de). Im Regelfall handelt es sich um junge
Männer zwischen 18 und 30 Jahren. Zu zwei Dritteln kommen die Anrufer aus dem Westen,
zu einem Drittel aus dem Osten Deutschlands (einschl. Berlin).
Ein aktiver Teil des Programms sieht die direkte Ansprache von Führungsfiguren und
langjährigen Kadern vor, von denen vermutet wird, sie seien zu einem Bruch mit der
rechtsextremen Szene bereit. Diese müssen dann ein persönliches Gespräch mit einem
162
Mitarbeiter des Verfassungsschutzes in Köln oder Berlin durchführen, das die Ernsthaftigkeit
der Ausstiegsabsicht belegen soll.
Aussteiger bekommen ausdrücklich keine Ausstiegsprämie, sondern allenfalls Hilfen bei
Arbeits- und Wohnungssuche und bei einem evtl. erforderlich werdenden Umzug angeboten.
Daneben haben die Länder aufgrund eines Beschlusses der Innenministerkonferenz vom Mai
2001 – mit einer Ausnahme - eigene Aussteigerprogramme, vor allem für Ausstiegswillige,
die im weitesten Sinne zu den Sympathisanten und 'Mitläufern' gezählt werden. Sie sind von
Land zu Land jeweils unterschiedlich angesiedelt und werden verschieden gehandhabt. In
ihrer jeweiligen Typik werden sie im folgenden selektiv-exemplarisch vorgestellt:
In Bayern unterhält der Landesverfassungsschutz schon seit Februar 2001 ein Beratungs- und
Hinweistelefon (01802000786) für Ausstiegsinteressierte und sucht auch von sich aus
aufgrund von Hinweisen potenzielle ausstiegsbereite Rechtsextremisten auf. Gespräche mit
gegenwärtig ca. 30 ernsthaft Interessierten wurden in einigen Fällen zu einem erfolgreichen
Abschluss gebracht.
Sachsen hat ebenfalls als Ergänzung zum Bundesprogramm beim Verfassungsschutz eine
Hotline eingerichtet (0351/655655655), wo sich sowohl Aussteiger melden können, als auch
Hinweise aus der Bevölkerung auf rechtsextreme Umtriebe gesammelt werden. Letztere
sollen "das Abgleiten von Mitläufern und Sympathisanten in die ideologischen
Vereinnahmungen
des
Rechtsextremismus
verhindern"
helfen
(www.sachsen.de/de/bf/verwaltung/verfas-sungsschutz/aktuelles/index.html).
Niedersachsens "Aussteigerhilfe Rechts" existiert seit dem 1. November 2001 und ist beim
Justizministerium angesiedelt. Eine zentrale Anlaufstelle koordiniert die Arbeit. Im
Mittelpunkt stehen Hilfestellungen zum Ausstieg für Straftäter, die in Justizvollzugsanstalten
einsitzen und kurz vor der Haftentlassung stehen, zu Geldstrafen verurteilt wurden oder
Bewährungsauflagen unterliegen sowie für einschlägig Beschuldigte in laufenden
Strafverfahren. Zwei Szene-erfahrene Sozialarbeiter stehen dafür zur Verfügung. Ein
Kontakttelefon gibt es nicht.
Rheinlandpfalz besitzt ein Aussteigerprogramm, das zum einen eine Hotline (0800/4546000)
für einen ersten anonymen Kontakt Ausstiegswilliger bietet, zum anderen aber auch
gleichzeitig für Fragen von am Thema Rechtsextremismus allgemein Interessierter zur
Verfügung steht. Über das im Landesjugendamt angesiedelte Projekt "(R)AUSwege" sollen
gezielt junge Menschen, die auf der Suche nach Alternativen zu rechtsextremer
Selbstverortung sind, angesprochen, Eltern beraten und LehrerInnen und SozialarbeiterInnen
informiert und unterstützt werden. Ein konkretes Konzept existiert aber noch nicht.
Nordrhein-Westfalen verfolgt ein Programm, das eine Arbeitsteilung zwischen
Verfassungsschutz und Jugendarbeit vorsieht. Wer hier als Ausstiegsinteressierter die
zugleich auch als "Zentrale Anlauf- und Informationsstelle für Bürger und Bürgerinnen"
eingerichtete "Helpline" (0180 3 100 110) anruft oder sich auf anderweitigem Wege, bspw.
durch Kontaktaufnahme aus Strafanstalten heraus, aus eigenem Antrieb meldet, wird
entweder – sofern es sich nicht nur um einen offensichtlichen 'Mitläufer' handelt und/oder die
Person älter als 27 Jahre ist – vom Verfassungsschutz weiter betreut oder – bei jüngerem
Klientel, sofern es nicht der organisierten Aktivistenszene entstammt – an
Betreuungsmöglichkeiten weiterverwiesen, die über die Aktion Jugendschutz NRW als
koordinierende Stelle zur Verfügung gestellt werden. Zur Zeit wird überlegt, mit welchen
163
Qualifikationen die sie tragenden Fachkräfte aus unterschiedlichen Regionen des Landes
ausgestattet werden müssen.
In Baden-Württemberg hat im Rahmen eines zunächst auf ein Jahr befristeten Probelaufs das
Landeskriminalamt die Federführung für das Aussteigerprogramm. Nach seinen Angaben
fallen potenziell 1.180 Personen zwischen etwa 14 und 32 Jahren in die Zielgruppe, darunter
auch Sympathisanten, die noch keine Straftaten begangen haben, aber z.B. als Mitglieder oder
Sympathisanten der rechten Skinhead-Szene polizeilich beobachtet werden. Ca. 500 von
ihnen wurden mittlerweile kontaktiert. Finanziert aus Eigenmitteln wird die sog. BIG-REX
(Beratungs- und Interventionsgruppe gegen Rechtsextremismus) eingesetzt, die gegenwärtig
aus 4 Stamm- und 15 Ergänzungsbeamten besteht - unter ihnen auch Diplompsychologen und
–pädagogen – und die in Abstimmung mit örtlichen Polizeidienststellen und im
Zusammenwirken mit örtlichen Jugendsozialarbeitern die Herauslösung junger Leute – im
Schwerpunkt von 16- bis 20jährigen – aus dem rechten Spektrum erreichen soll. Bei Bedarf
wird u.U. nach Absprache zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft die Einstellung von
Verfahren Ausstiegswilliger, in Zusammenarbeit mit Jugendämtern Diversion, der Schutz
gegen Repressalien aus der rechten Szene (z.B. durch auswärtige Unterbringung) und die
Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm zur Erhöhung der Ausstiegsmotivation bzw. der
Aussagebereitschaft angeboten. Die Gewinnung von Aussteigern als Ausstiegsmultiplikatoren
gilt als wünschenswert.
Ein Erfahrungsbericht wird erst Mitte Juli 2002 vorliegen. Bisherige Erfahrungen zeigen aber
zumindest dreierlei:
 dass allein die Schaltung von Telefon-Hotlines und Websites wenig bewirkt, weil sich
hier weitaus mehr Medienvertreter u.a. am Thema Interessierte als wirklich
Ausstiegsinteressierte Rechtsextremisten melden,
 dass ohne ein aktives Aufsuchen Gefährdeter die Zahl der zu Erreichenden gering bleiben
wird,
 dass aus polizeilicher Sicht eine Zusammenarbeit mit Jugendbehörden und eine
sozialarbeiterische Begleitung Ausstiegsinteressierter unabdingbar ist.
Sachsen-Anhalts Programm ist ebenfalls beim LKA angesiedelt und geht ähnlich offensiv vor
wie das von Baden-Württemberg. D.h. Zielgruppen sind neben vereinzelt oder wiederholt in
Erscheinung getretenen Straftätern und Kameradschaftsangehörigen auch Sympathisanten der
Szene. Sogar bloße Besucher bei Skinhead-Konzerten müssen mit Beobachtung und
polizeilicher Ansprache ihrer Erziehungsberechtigten rechnen. Auch eine Einschaltung von
Jugendbehörden ist beabsichtigt.
Bis zum Frühsommer 2001 führte das LKA des Landes ca. 200 Gefährderansprachen durch,
wobei man 100 Personen antraf, von denen man wiederum die Hälfte zu Gesprächen
motivieren konnte. 13 Personen teilten mit, keine Straftaten mehr begehen bzw. ganz aus der
Szene aussteigen zu wollen.
Die private Initiative "Exit" wurde im August 2000 gegründet. Hinter ihr stehen vor allem der
ehemalige Polizeibeamte Bernd Wagner – jetzt Leiter des Zentrum Demokratische Kultur und der Szene-Aussteiger Ingo Hasselbach.
Vorbild ist das schwedische Modell, das wiederum auf den Erfahrungen des von 1995 bis
1997 entwickelten und dann förmlich gestarteten norwegischen Modells beruht (vgl. Bjorgo
2001; Bjorgo/Halhjem/Knudstad 2001). Dieses Modell begann dadurch, dass 1995 und 1996
in Oslo und Kristiansand eine rechtsextreme Jugendszene mit Mitgliedern von z.T. 13 Jahren
oder sogar jünger zunehmend polizeiauffällig wurde. Daraufhin schlossen sich einige Eltern
dieser Jugendlichen zu einem Eltern-Netzwerk zusammen und suchten die Beratung von
Fachleuten, mit denen zusammen ein Projekt entwickelt wurde, das, staatlich unterstützt, aber
164
bei der Nicht-Regierungs-Organisation "Eltern für Kinder" angesiedelt, vorrangig drei Ziele
verfolgte:
 Jugendliche bei Ablöseprozessen zu unterstützen,
 Eltern Betroffener primär auf lokaler Ebene zusammenzuführen und
 Professionelle mit Wissen über rechtsextreme und gewaltorientierte Cliquen und
Methoden sozialer Arbeit mit ihnen zu versorgen.
Die Eltern haben in dem Konzept eine zentrale Position inne. Sie wird in der Methode der
strukturierten Eltern-Kind-Professionellen-Konversation deutlich: Nachdem der betreffende
Jugendliche von einem pädagogischen oder polizeilichen Professionellen zu einem
freiwilligen Gespräch mit seinen Eltern eingeladen wurde und beide Seiten darüber aufgeklärt
wurden, was das Beibehalten des inkriminierten Verhaltens für Konsequenzen nach sich
ziehen würde, wird die Motivation für das politisch abweichende Verhalten des Jugendlichen
geklärt, nach funktionalen Äquivalenten gesucht und insgesamt eine Reorientierungsphase in
Gang gesetzt, in der die Eltern eine wichtige begleitende Rolle spielen und in die auch andere
Einrichtungen (Schule, Sozialarbeit) involviert sind.
Die Erfolge sind ermutigend: Von den 100 in das Programm einbezogenen Jugendlichen mit
130 Elternteilen konnten 90% aus der rechten Szene herausgelöst werden. Freilich arbeitete
das norwegische Projekt – wie auch ein davon inspiriertes, noch stärker präventiv ausgelegtes
finnisches Projekt - mit eher jüngeren und noch wenig in der Szene verankerten Jugendlichen.
Es kann sicher auch davon profitieren, dass die Größenordnung der aktiven rechtsextremen
Szene in Norwegen mit rd. 100 – 150 Personen ausgesprochen klein und daher eine
kontinuierliche Ansprache, ideologische Verankerung und dauerhafte Involvierung junger
Leute selten bzw. unwahrscheinlich ist.
Ältere, stärker und länger rechtsextrem involvierte Zielgruppen erreichte demgegenüber der
schwedische Ableger des norwegischen Projekts. Er ist situiert in einem Staat, indem es mit
rd. 3000 Rechtsextremen mindestens 20 mal so viele Neo-Nazis gibt wie in Norwegen. Das
Modell startete Mitte 1998 rund um den schwedischen Neo-Nazi-Aussteiger Kent Lindahl
(vgl. 2001) und andere Abtrünnige und kann deshalb auch vergleichsweise stark auf PeerBeratung fußen. Es arbeitet unmittelbar mit den Ausstiegsinteressierten, die sich bei ihm
melden.
Seine Evaluation fällt außerordentlich positiv aus (vgl. NCCP 2001, auch
www.bra.se/web/material): Bis Mitte 2001 hatte es insgesamt 133 Personen – meist im Alter
zwischen 18 und 25 Jahren - in einer 6- bis 12monatigen Betreuung. 125 von ihnen trennten
sich von ihren rechten Kumpanen. Obwohl dieser Erfolg auch ganz wesentlich darauf
zurückgeführt wird, dass hier mit ehemaligen Szene-Angehörigen als Ausstiegsberatern Leute
mit nahezu demselben Erfahrungshintergrund und entsprechend hoher Glaubwürdigkeit zur
Verfügung stehen, gilt eine stärkere Professionalisierung und Anbindung der Arbeit an andere
lokale Akteure wie soziale Einrichtungen als wünschenswert.
Das – wie erwähnt am schwedischen Vorbild orientierte – deutsche "Exit"-Modell betreibt
keine aufsuchende Arbeit in Szenen, in denen Ausstiegswillige vermutet werden, sondern
baut auf die Eigeninitiative von Ausstiegsinteressierten, die sich telefonisch oder über E-Mail
melden. Mit einem multiprofessionellen Team aus 6 ganzen und einer halben Stelle werden
z.Zt. (Mitte Januar 2002) rd. 90 Fälle bearbeitet, die aus 120 – 140 Anfragen resultieren und
ungefähr zu zwei Dritteln 'Mitläufer' und zu einem Drittel Angehörige der Kern-Szene
betreffen. Die meisten sind zwischen 17 und 27 Jahre alt und männlich. Zumeist handelt es
sich um Fälle aus dem Westen Deutschlands oder aus Berlin, vermutlich deshalb, weil hier
der Ausstiegsdruck vergleichsweise stärker sein dürfte als im Osten.
Das Vorgehen umfasst drei Schritte:
165



Zunächst wird abgeklärt, ob eine Gefährdung vorliegt oder der Ausstieg auch ohne
Begleitung vollzogen werden kann.
In einem zweiten Schritt, der bei den meisten notwendig wird, wird ein Treffen
ausgemacht, bei dem eine inhaltliche Auseinandersetzung um die politische Ideologie und
die politische Ausstiegsmotivation stattfindet. Ggf. erfolgen weitere Gespräche dieser Art.
Der dritte Schritt kümmert sich um die Wiedereingliederung des Ratsuchenden. Es wird
ein so genannter "Helferplan" erstellt, der die individuelle Betreuung anleitet.
Die Arbeit ist zeitintensiv, da Bedrohungen nicht selten sind und Arbeits- und
Wohnungssuche 'konspirativ' erfolgen müssen.
Neben der direkten Arbeit mit der Zielgruppe Rechtsextremer wird eine Stärkung des sozialen
Umfelds betrieben, um den Ausstiegsdruck zu erhöhen bzw. beizubehalten. Dies geschieht
zum einen über die Stabilisierung einer demokratischen Gegenkultur – hier sieht das Zentrum
Demokratische Kultur seine Hauptaufgabe – und zum anderen über Exit-Eltern-Initiativen,
die z.Zt. in 3 Regionalgruppen in Niedersachsen, Berlin und Baden-Württemberg organisiert
sind.
Nahezu ein Drittel der Ausstiegsinteressierten konnte Exit inzwischen nach eigenen Angaben
zu einem vollständigen Bruch mit ihrer extremistischen Vergangenheit und zum Aufbau eines
neuen Lebens bewegen.
Gegenüber den Aussteigerprogrammen der staatlichen Stellen verweist "Exit" Deutschland
auf die Differenz
 viel glaubhafter als diese ausschließen zu können, dass eine Weitergabe von Daten an
staatliche Kontrollorgane erfolgt,
 sich ausdrücklich auch mit der rechtsextremen Ideologie von Szeneabtrünnigen
auseinander zu setzen, auf eine Re-Demokratisierung der politischen Auffassungen Wert
zu legen und nicht nur – wie bei Polizei und Verfassungsschutz vermutet wird – das
Interesse an Gewaltreduktion, die auch ohne Einstellungsänderung vonstatten gehen kann,
zu verfolgen,
 ein echtes Interesse am Ausstieg dadurch voraussetzen zu können, dass dem Aussteiger
der erste Schritt der Ablösung durch die selbst gewählte Kontaktaufnahme zu "Exit"
zugemutet wird und
 auf die im Team repräsentierten Peer-Erfahrungen und sozialarbeiterische Kompetenzen
zurückgreifen und daneben Laienhelfer aktivieren zu können, die bei der Re-Integration in
Arbeit und bei der Gewährung von Wohngelegenheiten behilflich sein können.
Eine abschließende Einschätzung kann angesichts der kurzen Laufzeiten der Programme und
fehlender Evaluation nicht gegeben werden. Gleichwohl deutet sich an:
 Rechtsextreme, die aussteigen wollen, ohne sich Strafverfolgungen ausgesetzt sehen zu
wollen, werden im Regelfall kaum geneigt sein, sich ohne weiteres ausgerechnet an die
Sicherheitsbehörden zu wenden, um bei ihrem Vorhaben Hilfe zu bekommen.
 ExpertInnen wissen längst, dass mit der Schaltung von Hotlines und Websites wenig
Erfolg verbunden ist. Ohne sozialarbeiterische Kompetenzen der psycho-sozialen
Begleitung Ausstiegswilliger versandet ein Ausstiegsprogramm, bevor es richtig
begonnen hat.
 Es bedarf keines ausgeprägten wissenschaftlichen Spürsinns, um konstatieren zu können,
dass Zahlenangaben über Kontakte und Ausstiegsbetreuungen wenig aussagekräftig sind.
Sie sind abhängig von dem, was im einzelnen unter "Hilfe", "Betreuung", "Begleitung"
oder ähnlichen Begriffen verstanden wird und sie sind letztlich nicht nachprüfbar.
 Ausstiegshilfe für rechte Kader ist ungeheuer zeitintensiv. Es stellt sich die Frage, ob
Aufwand und Ertrag in einem akzeptablen Verhältnis stehen, wenn man gleichzeitig
registrieren muss, dass jene Altersgruppe, die das Rekrutierungs- und damit auf Dauer
166


auch Stabilisierungsreservoir rechtsextremer Kameradschaften und Organisationen
darstellt und mit der man in Norwegen ausgesprochen gute Erfahrungen bezüglich der
Effektivität von Ausstiegshilfen gemacht hat, fast gar nicht erreicht wird: die Gruppe der
jüngeren Jugendlichen, die noch wenig in der rechten Szene und ihrer Ideologie
verwurzelt sind und daher eher pädagogischen und sozialarbeiterischen Einflüssen
zugänglich sind.
Bei diesen jüngeren Nachwuchs-Gruppierungen aus der Rand- und Sympathisanten-Szene
erscheint es gänzlich unwahrscheinlich, ohne aufsuchende Strategien Sozialer Arbeit zum
Erfolg zu kommen.
Wie vor allem das baden-württembergische und sachsen-anhaltinische Beispiel deutlich
macht, muss die Diskussion über grundsätzliche Möglichkeiten und Grenzen der
Zusammenarbeit von Polizei und Jugendarbeit geführt werden, gerade auch aus der
fachlichen Sicht Sozialer Arbeit. Augenscheinlich überschneiden sich hier professionell
beanspruchte Zuständigkeitsbereiche in kaum noch transparenter Weise. Wo Beratung
aufhört und staatliche Kontrolle anfängt, ist kaum noch durchschaubar. Wie sollen sich
polizeilich übernommene sozialpädagogische Aufgabenstellungen mit dem Erfordernis
vertragen, Betroffene über das strafprozessuale Auskunftsverweigerungsrecht
aufzuklären? Bürger- und datenschutzrechtlich bedenklich erscheint die Ausweitung des
polizeilich-kontrollierenden Blicks auf Jugendliche, die bei bestimmten Szene-events
(z.B. Konzerten) auftauchen, ohne deshalb als faktische oder potenzielle kriminelle
Gefährder von Sicherheit und Ordnung an den Tag treten zu müssen. Verschärft gilt dies
für das Aufsuchen von Eltern und anderer Erziehungskräfte im Umfeld dieser
Jugendlichen. Muss man gewärtigen, dass hier unter dem Deckmantel von
sozialarbeiterischer Tätigkeit Jugendkulturen polizeilich ausgeleuchtet werden können?
Muss man in Umsetzung der polizeilichen Absicht, die von der Polizei Angesprochenen
an soziale Einrichtungen weiterzuvermitteln, vielleicht gar befürchten, Soziale Arbeit
werde als verlängerten Arm ordnungspolitischer Interessen instrumentalisiert, damit
letztlich aus Sicht ihrer Klientel delegitimiert und ihrer Hilfefunktion beraubt?
3.1.16 Opferberatung
Vor allem in Ostdeutschland existieren – in der Mehrzahl über Civitas angeschoben und
insofern erst seit kurzem – Beratungsstellen für Opfer rechtsextremer Gewalt (Adressen unter
www.opferperspektive.de). Es handelt sich im einzelnen um Einrichtungen in
Neubrandenburg, Wurzen, Erfurt, Potsdam, Leipzig, Berlin, Dessau und Magdeburg, z.T. mit
weiteren regionalen Untergliederungen in Borna, Dresden, Gardeleben, Gera, Görlitz,
Halberstadt, Halle, Neubrandenburg, Rostock, Weißenfels und Wismar.
Die Einrichtungen werden tätig, wenn außer der subjektiven Deutung der Opfer – zumeist
AusländerInnen oder nicht-rechte deutsche Jugendliche - plausible Indizien für eine
rechtsextreme Motivation bestehen. Sie bieten entweder auf Eigeninitiative hin durch
aufsuchende, niederschwellige Arbeit oder bei selbst aufgenommener Ratsuche von Opfern
vor allem:
 Hinweise auf rechtliche Möglichkeiten (evtl. z.B. Nebenklage),
 Unterstützung bei der Zeugensuche,
 Begleitung bei Behördengängen und bei Gerichtsverfahren,
 Vermittlung von ärztlicher und psychotherapeutischer Hilfe,
 materielle
Unterstützung
über
Ressourcen
wie
gesetzliche
Opferentschädigungsleistungen, Opferfonds, Prozesskostenhilfe und
 Kontaktaufbau zu Initiativen der Opferunterstützung vor Ort.
167
Außerdem betreiben sie die Vernetzung solcher Initiativen und leisten Dokumentations- und
Öffentlichkeitsarbeit, im Falle der Einzelfall-Publikation nur in Absprache mit dem Opfer.
Konzeptioneller Ansatzpunkt ist das Bemühen, den Weg "von der Analyse der
Tätergesellschaft zur Förderung von Solidarisierungsprozessen mit den Betroffenen" zu gehen
(so in der Selbstdarstellung von "Opferperspektive", einer schon seit Mitte 1998 arbeitenden
'Vorreiter'-Organisation in Brandenburg; vgl. – auch zum folgenden -:
www.kamalatta.de/opferperspektive/Opferperspektive.html). Die Parteinahme für die von
rechter Gewalt Betroffenen soll diese aus der passiven Opferrolle herausführen sowie
Ohnmacht und Angst abbauen. Von kleinen symbolischen Gesten spontaner Anteilnahme bis
zu konkreten praktischen Hilfen ist es das Ziel, dem Opfer seine Eingebundenheit in soziale
Zusammenhänge zu bezeugen und Selbstsicherheit und Selbstbewusstsein wiederherzustellen.
Mittels Öffentlichkeitsarbeit sollen über die einzelfallbezogene Arbeit hinaus Ignoranz,
Gleichgültigkeit und Verleugnung abgebaut, politische Sensibilisierungen erzielt, ein Klima
der Einschüchterung verhindert, Solidarisierungsprozesse im sozialen Umfeld mit den
Opfern, aber Entsolidarisierungsprozesse mit den Tätern ausgelöst, Bündnisse gegen
Ausgrenzung aufgebaut, demokratische Strukturen gestärkt und rechte Machtpositionen
geschwächt werden. Bestrebungen zum Aufbau rechtsextremer Hegemonie soll so gerade in
den ostdeutschen Ländern konsequent entgegengetreten werden. "National befreite Zonen" als
"No-Go-Areas" für potenzielle Opfer sollen verunmöglicht werden.
Bei den UnterstützerInnen fällt dabei als Lernprozess ab, entweder die eigene
Engagementbereitschaft 'gegen rechts' und darüber hinaus für die Sicherung demokratischer
Verhältnisse generell bei sich zu entdecken – dies gilt insbesondere für Jugendliche aus der
demokratischen Jugendszene - oder die "emotionale Verwurzelung antifaschistischer
Überzeugungen" über das tatsächliche Praktizieren von Auffassungen zu stärken und "das
Problem Rechtsextremismus nicht nur von der rational-analytischen Seite aus zu betrachten"
(ebd., 6). In jedem Fall wird auch Gelegenheit gesehen, den "Gesamtzusammenhang
zwischen rassistischer Gewalt, rassistischen Einstellungen und institutionalisierter
Diskriminierung deutlich" (ebd.) werden zu lassen.
Indem die Opferunterstützung als "Teil einer möglichen antifaschistischen Strategie" (ebd. 7)
begriffen wird, wird das sie leitende Paradigma der Hilfe in den Kontext eines
Gestaltungsparadigmas gestellt, für die die aktive Sicherung einer demokratischen
Zivilgesellschaft zentral ist, insbesondere im lokalen Raum durch die Aktivierung der hier
vorhandenen Strukturen, u.a. auch die Sensibilisierung der zuständigen Behörden und
FunktionsträgerInnen. Beratung erhält insofern die Formate persönlicher Unterstützung und
struktureller Verbesserung (vgl. zum obigen auch exemplarisch das Konzept von ABAD
Thüringen e.V. und im Überblick die Förderleitlinien und den Zwischenbericht für "Civitas",
v.a. 45-78). Eine entsprechend enge Zusammenarbeit erfolgt mit den Mobilen
Beratungsteams.
Generelle, dabei situativ ggf. zu modifizierende Handlungsempfehlungen für potenzielle
Opfer wie sie Polizeidienststellen, aber auch Mediations-ExpertInnen (vgl. z.B. Korn/Mücke
2000) abgeben (weglaufen, den Täter nicht provozieren, Hilfe aus der Umgebung anfordern,
mit vertrauten Personen die Situation aufarbeiten, durch Anzeige vor Wiederholung schützen,
gefährliche Orte vermeiden), können als hilfreich bewertet werden, wenngleich sie im
wissenschaftlichen Sinne in ihrer Effektivität bislang nicht evaluiert wurden.
Wegen der Neuartigkeit des Ansatzes der Opferberatungsstellen liegen noch keine
evaluativen Auswertungen für ihn vor. Die Projekte befinden sich zumeist noch in der
Startphase, haben zwar die unmittelbare Beratungsarbeit schon begonnen, sind aber noch
stark mit Fragen der Selbstorganisation, der Öffentlichkeitsarbeit (Sich-Bekannt-Machen), der
eigenen lokalen und regionalen Vernetzung und der Weiterbildung bzw. Supervision der
168
eigenen MitarbeiterInnen, die nicht zuletzt wegen der hohen Kompetenzanforderungen und
der eigenen psychischen Belastung als außerordentlich wichtig eingestuft wird (vgl. auch
Zwischenbericht "Civitas", 46; Rommelspacher u.a. 2002), befasst. Erfahrungen der schon
etwas länger arbeitenden Stellen in Brandenburg und Leipzig belegen den Bedarf an
Beratung. So berichtet Brandenburg von einer Zahl an Betreuungen von ca. 100 Fällen p.a..
Zudem wird deutlich, dass mit der Etablierung der Beratungsstellen sich zunehmend auch
Beratungsbedarfe zeigen, u.a. deshalb, weil Betroffene erst allmählich von der Möglichkeit
der Beratung erfahren. Erschwerend kommt hinzu, dass psychosoziale und juristische
Fachkompetenz innerhalb von Beratungsstellen in den neuen Bundesländern generell noch
Mangelware ist und Kooperation daher nur eingeschränkt möglich ist (vgl. auch ebd.).
Aus theoretischer und empirischer Sicht bietet sich eine speziell auf rechtsextreme Straftaten
bezogene Opferberatung grundsätzlich vor allem dort an, wo entsprechende Straftaten gehäuft
auftreten, die von ihnen betroffenen Minoritätengruppierungen von den vorhandenen
unspezialisierten Beratungsstellen aufgrund höherer Zugangsschwellen, ihres stationären
Charakters, Sprachproblemen von AusländerInnen o.ä. nicht oder nur unzureichend erreicht
werden und zudem Mängel an bzw. in zivilgesellschaftlichen Strukturen zu konstatieren sind.
Dies ist vorwiegend in den neuen Bundesländern der Fall. Die Verbindung von Hilfe- und
Gestaltungsparadigma lässt den Ansatz aussichtsreich erscheinen. Er vermeidet eine
individualisierende Sichtweise, indem er Übergriffe als Extremform weiter verbreiteter
Diskriminierungsarten auffasst und die Bearbeitung eben dieser Hintergründe in sein
Aufgabenspektrum mit einbezieht. Die Frage, was mit Tätern oder potenziellen Tätern
jenseits von staatlicher Repression zu geschehen hat, lässt er allerdings ebenso unbeantwortet
wie vorerst die nach einer Gewähr für die Nachhaltigkeit zivilgesellschaftlichen Engagements
für Minderheitenschutz und Demokratisierung.
3.1.17 Soziale
Arbeit
mit
MigrantInnen,
Antidiskriminierungsarbeit
interkulturelle
Ansätze
und
Der pädagogische und sozialarbeiterische Umgang mit den Phänomenen der multikulturellen
Gesellschaft – ein Begriff der etwa seit Anfang der 80er Jahre in Deutschland geläufig ist –
hat sich innerhalb der letzten zwei Dekaden zunehmend von der Blickverengung auf eine
problemgruppenzentrierte
Sozialarbeit
mit
MigrantInnen
befreit.
Die
sog.
"Ausländerpädagogik"
bzw. "Ausländersozialarbeit" wurde
–
trotz mancher
Beharrungstendenzen der Praxis der Migrationssozialdienste – nicht nur terminologisch von
der Perspektive "interkultureller Arbeit" in den Hintergrund gedrängt. So unterschiedlich auch
im einzelnen die theoretischen und praktischen Inhalte des "Interkulturalitäts"-Begriffs oder
auch Absetzungen von ihm ausfallen, so bringt seine Verwendung in der Debatte dennoch den
weitreichenden Konsens zum Ausdruck, dass Autochthone und Allochthone gleichermaßen
Zielgruppen einer sozialen und pädagogischen Arbeit sind, die sich gegenseitige Achtung,
Anerkennung, Toleranz und Integration über kulturelle Unterschiede hinweg zum Ziel setzt.
Dahinter steht die Erkenntnis, soziale Integration innerhalb multikulturell zusammengesetzter
Gesellschaften nicht über die bloße Assimilation der Eingewanderten erreichen zu können.
Vielmehr wird vorausgesetzt, dass die Herstellung von Gemeinsamkeit, oder wenigstens einer
Basis für ihre Entwicklung, nicht ohne Veränderungen auch der Aufnahmegesellschaft
möglich ist. Dürfte in dieser Hinsicht in Bezug auf die pädagogischen und
sozialarbeiterischen Herausforderungen der multikulturellen Gesellschaft, zumal im Zuge von
sich weiter ausbreitender Globalisierung, unter Fachkräften mehr oder weniger
Übereinstimmung herrschen, so stellen sich einzelne Ansätze interkultureller Arbeit äußerst
heterogen dar.
169
In einem Spannungsfeld zwischen Begegnungs- und Konfliktpädagogik sind im Interesse an
ihrer Sortierung mit Auernheimer (2000) vier Motive interkultureller Ansätze festzustellen:
Ein erstes Motiv kreist um die Bearbeitung von Fremdheitserfahrung und rückt die
Verstehensproblematik in den Mittelpunkt. Eine (re-)konstruktivistischer Ansatz bringt dabei
in Anschlag, dass Kulturen und Personen als "Sinnsysteme" ihre Beziehung zu anderen
Systemen über Identitätsarbeit einerseits und Grenzziehungen andererseits bewerkstelligen
müssen. Eine "Auflösung der Sinngrenzen", die durch Eigenheiten z.B. der Zeit- und
Raumauffassungen, der Geschichte, der Entwicklungslogik und der jeweiligen
Wahrnehmungstraditionen zu Stande kommen, kann danach nicht das Ziel sein. Nicht die
Negation von Fremdheitsgefühlen führt weiter. Eher kommt es zur Erzielung von Verstehen
auf die "Anerkennung von Grenzerfahrung" bei gleichzeitiger systeminterner Dauerreflexion
und didaktisch deshalb auf Prozesse der Rekonstruktion von Selbst- und Fremd(heits)bildern
an (vgl. Holzbrecher 1997; Schäffter 1997).
Ein zweiter Motivkreis versteht interkulturelle Arbeit als Pädagogik, Soziale Arbeit bzw.
Politik der Anerkennung. Es wird Bezug genommen auf gesellschaftstheoretische Analysen,
die eine Individualisierung der Lebensführung in modernen Gesellschaften konstatieren. D.h.
Individuen werden in zunehmendem Maße mit der Aufgabe konfrontiert, als Einzelwesen ihre
personale und soziale Identität zu klären. Soziale, kulturelle und politische Verortung
erwächst danach nicht mehr gleichsam naturwüchsig aus den strukturellen Vorgaben
lebensweltlicher Milieus und anderer kollektiver Bindungen bzw. aus Glaubens- und
Überzeugungssystemen. Auf der Voraussetzung der Differenzakzeptanz aufbauend, aber über
sie hinaus gehend, gilt es deshalb, die Anerkennung des Rechts des bzw. der anderen (handele
es sich um Personen oder Kulturen) ins Zentrum pädagogischer und sozialarbeiterischer
Bemühungen zu rücken.
Das Konzept der antirassistischen Erziehung markiert einen dritten Motivkomplex. Einerseits
warnt es davor, Differenzbestimmungen bis hin zu Stereotypisierungen überzubetonen und so
angebliche, vielleicht aber längst real überholte (wenn überhaupt jemals existente) kulturelle
Eigenheiten festzuschreiben. Andererseits kommt es ohne die Voraussetzung einer Differenz
zwischen unterdrückten und dominanten Kulturen nicht aus, wenn es rassistische Strukturen
und Verhaltensweisen in den kolonialistisch-imperialistisch bzw. kapitalistisch geprägten
Gesellschafen des Westens aufdecken und abbauen will. Deutlicher als andere Ansätze
bezieht es die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft in den Prozess des Zurückdrängens von
ethnisch-kultureller sozialer Ungleichheit und Diskriminierung ein.
Ein vierter Ansatz setzt stärker auf den interkulturellen Dialog. Bei aller Anerkenntnis von
Differenz sind demnach vor allem die gemeinsamen Bezugspunkte und Interessen
verschiedener Kulturen herauszuarbeiten (vgl. Nieke 1995).
Auf dieser Linie liegt etwa auch das Angebot des Berliner Anne Frank Zentrums für
interkulturelle Unterrichtsprojekte. Die Materialien "Das bin ich – international" (für 4- bis
8jährige), "Das sind wir" (für 9- bis 12jährige) und "Das sind wir (2) – Das schaff ich schon"
(für 13- bis16jährige) operieren mit einer Vielfalt an Methoden und Techniken (z.B.
Lesebücher, CDs, Videos, Handpuppen, Lehrerhandbüchern, Karteikarten) und wollen, statt
angebliche "typische Merkmale" der Angehörigen ethnischer Gruppierungen und
Problemthematisierungen, die nicht selten auf Abwehrreaktionen stoßen, in den Vordergrund
zu rücken, die Stärkung positiver Individualität und gegenseitiger Achtung von Kindern und
Jugendlichen betreiben, indem sie die Kinder und Jugendlichen ermutigen, ihre Persönlichkeit
so darzustellen wie sie selbst es möchten. So soll eine positive Wahrnehmung von kultureller
und weltanschaulicher Vielfalt möglich werden, der das Erleben der Komplexität und der
Einmaligkeit von Individuen zu Grunde liegt. Konkrete Erfahrungen von Kindern und
Jugendlichen aufgreifend, sollen Gemeinsamkeiten und Solidarisierungspotenziale erkennbar
und positive Beziehungen von jungen Menschen unterschiedlicher Herkunft so angeregt
werden, dass sie sich nicht mehr dazu gedrängt sehen, das Wir-Gruppengefühl entlang
170
ethnischer Grenzen aufzubauen (vgl. kurz: van Dijk/Metzalar 1995; für ein vergleichbares,
speziell aber für multilinguale Gruppen und transnational einsetzbares, eher auf Erwachsene
zielendes Bildungskonzept, das die Bearbeitung von Sprachvielfalt ins Zentrum rückt, vgl.
auch International Network 2001).
In jedem Fall werden als Ergebnisse interkulturellen Lernens individuell und kollektiv
Veränderungsschritte in Richtung auf die Entwicklung von interkultureller Kompetenz
angestrebt. Sie beinhaltet eine Dialogfähigkeit, die ebenso auf der Anerkennung von
Differenz wie auf der Bereitschaft zur Verständigung über Grenzen hinweg fußt und allen
Beteiligten die Dauerreflexion ihrer Identitätsverständnisse und ihrer damit
zusammenhängenden Abgrenzungsbestimmungen abverlangt. Insoweit ist es folgerichtig,
wenn die UNESCO-Weltkommission "Kultur und Entwicklung" dazu auffordert, "Modelle
interkultureller Erziehung von der Primarschule bis zur Hochschule einzuführen... das
Bewußtsein für kulturellen Pluralismus...und für den Bedarf nach interkulturellem Dialog zu
schaffen" (Deutsche UNESCO-Kommission 1997, 62). Ebenso konsequent und dazu
vertiefend ist das Postulat, die Grundlagen für entsprechende Haltungen bereits in der
Kindheits- und Jugendsozialisation zu schaffen. Dazu gehört die Aufwertung von
allgemeinem sozialen Lernen zur Entwicklung von Fähigkeiten wie Offenheit im
interpersonalen
Umgang,
Perspektivenwechsel,
Empathie,
Ambivalenzund
Ambiguitätstoleranz, Rollendistanz, gewaltfreie Kooperations- und Konfliktfähigkeit,
Verantwortungsübernahme schon ab dem Vorschulalter (vgl. exemplarisch: Böhm 2001)
sowie die Entwicklung interkultureller (Hoch-)Schulkultur und interkultureller Curricula,
mindestens in der vierfachen Dimensionierung von Selbstreflexionsschulung,
multiperspektivisch basierter Verständigung, politischer Bildung und innerschulischen
infrastrukturellen Maßnahmen, Aktivitäten, die in Organisationsleitbildern wie einem
"Schulprogramm" niederlegbar sind. Interkulturelle Kompetenz ist so gesehen "bei Licht
betrachtet nicht anderes als eine besonders differenzierte, um die kulturelle Komponente
erweiterte Sozialkompetenz" (Grosch/Leenen 2000, 39).
Damit wird deutlich, dass weder die Formate der Unterrichtung noch solche der Begegnung,
die in der interkulturellen Arbeit vorherrschend sind, ohne weiteres zielführend sind. Denn für
Formate der Unterrichtung gilt, dass die kognitiven Prozesse, die sie anzustoßen
beabsichtigen, nur dann erfolgreich sind, wenn sie zum einen auf einem emotional
entspannten sozialen Klima und lernförderlichen affektiven Motivkomplexen aufruhen
können und zum anderen lebensweltorientiert ansetzen und durch handlungsorientierte
Möglichkeiten für praktische Erfahrungen ergänzt werden (vgl. dazu auch die Empfehlungen
"Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule" der Kultusministerkonferenz vom
25.10. 1996 sowie Niedersächsisches Kultusministerium 2000, 66-83 und die dortige
Betonung der Relevanz von Empathieentwicklung und Perspektivenwechsel, umgesetzt in
Handreichungen für konkrete Unterrichtsmodelle). Im Hinblick auf interkulturelle
Begegnungen gilt als gesichert, dass sie die pädagogisch und sozialarbeiterisch gewünschten
Effekte nur unter Einhaltung bestimmter Bedingungen mit sich bringen. Zu ihnen gehört (vgl.
Allport 1954; Brewer/Miller 1984; Thomas 1994; Wagner/Avci 1994; Pettigrew 1997, 1998;
Jonas 1998; Slavin/Cooper 1999; Wittig/Molina 2000; Dollase 2001):
 die Freiwilligkeit des Kontaktes,
 die Statusgleichheit der sich Begegnenden,
 die Möglichkeit der Wahrnehmung des jeweils Anderen als Individuum und nicht nur als
austauschbarer Vertreter seiner Gruppe,
 die Verfolgung den Partikularinteressen übergeordneter gemeinsamer Ziele,
 die Betonung der Mitgliedschaft aller Beteiligten in einer gemeinsamen Gruppe (z.B. bei
kooperativem Gruppenunterricht in Schulen positiv evaluiert; vgl. Wagner/Avci 1994;
Slawin/Cooper 1999),
171


hinreichende Gelegenheiten für den Aufbau persönlicher Beziehungen und
die normative Unterstützung des Kontaktes durch das institutionelle und sonstige Umfeld,
relevante Autoritäten bzw. das politisch-soziale Klima.
Dabei gilt es freilich, die transnationalen Muster der Selbsteingliederung der Angehörigen
von Migrantenkulturen zu berücksichtigen, die die dualistische Gegenüberstellung von
einheimischen Deutschen auf der einen und nichtdeutschen Einwanderern auf der anderen
Seite obsolet werden lassen. Wo (vornehmlich junge) "Menschen eigene Migrationsprojekte"
kleinräumig und/oder szeneförmig entwickeln (Beispiele: "Wir sind Frankfurter Türken" und
deutsch-türkischer HipHop mit afroamerikanischen Anleihen), produzieren sie kulturelle
Pluralisierungen jenseits globalisierter Einheitskultur: "Die kulturelle Praxis der
Einwanderungsgesellschaft hält sich weder an die ethnischen Sortierungsmuster der
etablierten Multikultur, noch lässt sie sich in einen interkulturellen Anpassungsdialog
zwingen" (Römhild 2002, 11).
Die Vielfalt an pädagogischen Theorie- und Praxisansätzen, die sich als "interkulturell"
verstehen (dazu im Überblick z.B. Interkulturelles Lernen 2000), wäre unter diesen Kriterien
kritisch zu prüfen.
Hinzu kommt, dass Anerkennung und Integration ethnisch-kultureller Minderheiten nicht
alleine Fragen von Bildung und Erziehung sind. Ohne infrastrukturelle Arbeit sind
Anerkennungsdefizite nicht zu beseitigen und Integrationshindernisse nicht aus dem Weg zu
schaffen. Gleiche Zugänge zu Arbeit, Wohnung und anderen relevanten materiellen Gütern zu
eröffnen und die Teilhabe an politischen Entscheidungen zu vergrößern, ist deshalb ein
wesentliches Ziel von Fachkräften in der Migrationsarbeit zum Abbau von Diskriminierungen
und zur Verbreiterung interkultureller Kompetenzen, nicht allein in den Bereichen von
Verwaltung und Beratung (vgl. zu konkreten Umsetzungen exemplarisch: Der
Ausländerbeauftragte 2001 und das Modellprojekt "Transfer Interkultureller Kompetenz
(TiK)"; vgl. www.Tik-iaf-berlin.de).
Antidiskriminierungsarbeit ist in Deutschland im Gegensatz zu z.B. den Niederlanden,
Großbritannien oder Schweden wenig etabliert. Aus Vorläuferinitiativen Ende der achtziger
und im Verlaufe der 90er Jahre entstanden, besteht sie bis heute nur aus vereinzelten
Initiativen und Anlaufstellen für von Diskriminierung Betroffene. Ohne dass endgültige
Aufgabenbeschreibungen, Arbeitsprinzipien und Standards bereits existierten, zählt sie zu
ihren Aufgabengebieten vor allem die Einzelfallberatung der von Diskriminierung
Betroffenen, präventive Maßnahmen mittels Informations- und Sensibilisierungskampagnen,
das Arrangement von interkulturellen Begegnungen, das Angebot von interkulturellen und
antirassistischen Trainings etc. sowie die Einflussnahme auf politische Rahmenbedingungen
durch die Beratung von Politik, Verwaltung, Institutionen und zivilgesellschaftlichen
Gruppierungen (vgl. Clayton/Wehrhöfer 2001). Handlungsfelder lassen sich vor allem in vier
sich überschneidenden Bereichen ausmachen:
Zum ersten strebt Antidiskriminierungsarbeit eine rechtliche Gleichbehandlung zur
Fortentwicklung der Demokratisierung der Gesellschaft an. Sie kann sich dabei neuerdings
einerseits auf die Richtlinienpolitik der EU stützen, mit der Art. 13 des Amsterdamer
Vertrages von 1997 umgesetzt wird (vgl. näher Fn. 2), und sie kann andererseits die
Umsetzung dieser Richtlinien in nationales Recht bis spätestens Ende 2003 erwarten.
Angestrebt werden von ihr aber auch eine Revision des Staatsangehörigkeitsgesetzes, die
Ausweitung von Minderheiten- und Bürgerrechten sowie Liberalisierungen in den Bereichen
asylrechtlicher, ausländerrechtlicher und zuwanderungsrechtlicher Regelungen. Nicht zuletzt
erhofft man sich von einem deutschen Antidiskriminierungsgesetz gesetzliche Grundlagen für
die
systematische
und
flächendeckende
Einrichtung
von
Stellen
für
Gleichbehandlungsbeauftragte
bzw.
Ombudsfunktionen
sowie
von
172
Antidiskriminierungsbüros, auch wenn ein erster Entwurf der Bundesregierung dazu vom
Dezember 2001 dies (noch?) nicht vorsieht.
Zum zweiten werden Verbesserungen im Bereich von Bildung und Ausbildung angezielt. Sie
sollen bewirken, dass die Schwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen in den Bereichen
des allgemeinen und des beruflichen (Aus-)Bildungssystems verringert und abgebaut werden.
Verwiesen wird auf ungleiche Chancenstrukturen, die z.B. dazu führen, dass etwa doppelt so
viele ausländische SchulabgängerInnen wie deutsche SchulabgängerInnen die Schule ohne
Abschluss verlassen, dass die Beteiligung ausländischer Jugendlicher an der Berufsausbildung
um etwa 25% unter der der deutschen liegt und MigrantInnen in Maßnahmen der Fort- und
Weiterbildung unterrepräsentiert sind (Ansätze finden sich z.B. in der Verabschiedung von
schulischen Antidiskriminierungscodes nach niederländischem Vorbild; vgl. Nowitzki 2000).
Zum dritten werden beschäftigungsorientierte Maßnahmen propagiert, die die Situation von
MigrantInnen in Arbeit und Beruf sichern sollen. Dazu gehören insbesondere Erweiterungen
der Zugangschancen zum Arbeitsmarkt, Abbau von Diskriminierungen am Arbeitsplatz, eine
Ausweitung der Partizipation von Beschäftigten und der Abbau der überproportionalen
Betroffenheit ausländischer ArbeitnehmerInnen von Arbeitslosigkeit überhaupt und von
Langzeitarbeitslosigkeit im besonderen. Eine zunächst europaweite Einführung von
Mindestnormen soll Konkurrenzdruck und der Gefahr einer Verschlechterung der
Arbeitsbedingungen vorbeugen bzw. entgegenwirken.
Zum vierten sollen Maßnahmen ergriffen werden, die das multikulturelle Zusammenleben im
Alltag unterstützen. Migrations- und Einwanderungspolitik soll gleichsam auf kommunale
Ebene heruntergebrochen werden. Dazu gehört, stadtplanerische Vorhaben auf die
Erfordernisse einer multikulturellen Gesellschaft einzustellen, Zugänge von Nichtdeutschen
zum Wohnungsmarkt zu verbreitern, die Gettoisierung von Wohnvierteln zu vermeiden,
interkulturelle Ansätze der Sozialen Arbeit, besonders auch in der Kinder- und Jugendarbeit
zu stärken, Beratungsmöglichkeiten vorzuhalten, Teilhabemöglichkeiten für Minderheiten an
der Gestaltung von Rahmenbedingungen des Alltagslebens wie am Prozess der politischen
Entscheidungsfindung zu vergrößern und individuell oder institutionell diskriminierende
Behandlungen in Behörden abzubauen. Umsetzungsversuche werden über kommunale
Antidiskriminierungscodes angestrebt (vgl. Nowitzki 2000). Sie liegen ferner auch in
Ansätzen der Qualifizierung von VerwaltungsmitarbeiterInnen wie bei den jüngst insgesamt
positiv evaluierten "Trainings für Toleranz und Weltoffenheit", die in Zusammenarbeit der
LAG für politische und kulturelle Bildung in Brandenburg e.V. und IDA mit u.a.
Behördenvertretern in Brandenburg durchgeführt und ausgewertet wurden, vor (nähere
Informationen bei IDA). Modellhaft sind auch die in Berlin, Frankfurt und im Land
Brandenburg durchgeführten Trainings mit Polizeibeamten. Im Rahmen des seit 1996/97
durchgeführten NAPAP-Projektes mit neuen beteiligten Ländern werden hier in Kooperation
von Polizei, Bund gegen ethnische Diskriminierung in Deutschland e.V., der
Trainingsoffensive e.V. und der Ausländerbeauftragten mehrtägige Trainings in der Aus- und
Fortbildung von PolizistInnen durchgeführt und erfreulicherweise auch evaluiert (vgl. Bund
gegen ethnische Diskriminierung 2002; Die Ausländerbeauftragte 2000; Kretschmer o.J.;
Weiß 1999, 2001a, b). Die Auswertungen ergeben, dass die mit Elementen aus verschiedenen
Bildungsprogrammen, u.a. "Betzavta", und aus Kompetenztrainings operierenden, vor allem
auf eine Erweiterung der Fähigkeiten zu Selbstreflexion, Perspektivenwechsel, Empathie und
interkultureller Kommunikationsfähigkeit zielenden Trainings notwendig sind, auch wenn sie,
vor allem anfänglich, von großen Teilen der in der Ausbildung zu ihnen verpflichteten
Teilnehmerschaft skeptisch bis ablehnend betrachtet werden und man sogar eine implizite
Stigmatisierung von Polizeikräften als pauschal ausländerfeindlich allein in ihrer Existenz
erblickt. Die Evaluation bleibt zwar – eingestandenermaßen – recht oberflächlich, und lässt
"kein einheitliches Bild der Wirkung auf die Schüler (gemeint sind PolizeischülerInnen; d.
Verf.) gewinnen" (z.B. Weiß 2001a, 13), aber doch immerhin erkennen, dass die angezielten
173
Qualifizierungen unumgänglich sind, intensiviert und verbreitert werden müssen und auch der
gewählte Ansatz prinzipiell gewinnbringend und (z.B. in Hinsicht auf eine von den
TeilnehmerInnen gewünschte größere Praxisrelevanz für den Polizeiberuf) weiter
entwicklungsfähig ist. Abgesehen von den Anstrengungen der Grund- und WeiterQualifizierung von Verwaltungs- und Polizeibeamten: Zur Durchsetzung der Gesamtaufgaben
in voller Breite wird die Herstellung und Stabilisierung zivilgesellschaftlicher Strukturen von
bürgerschaftlichem Engagement und die Stärkung der demokratischen Öffentlichkeit für
erforderlich gehalten, die ein Klima von Toleranz und gegenseitiger Akzeptanz sicherstellen
sollen. Gesetzt wird auf Kampagnen zur Verbreitung eines öffentlichen Bewusstseins der
Nichtdiskriminierung,
Sensibilisierung
für
Diskriminierung,
entsprechende
Selbstverpflichtungserklärungen von Politik und Betrieben und Anerkennung von kultureller
Pluralität (vgl. Netz gegen Rassismus, für gleiche Rechte 2000).
Neben Vereinbarungen zum Abbau und zur Vorbeugung von Diskriminierungen in Arbeit
und Beruf, insbesondere der Verabschiedung und Einhaltung von entsprechenden
innerbetrieblichen
Gleichbehandlungsgrundsätzen,
wird
Antidiskriminierungsarbeit
gegenwärtig in professionalisierter Form in erster Linie von Projekten der
Antidiskriminierungsarbeit getragen wie sie sich am fortgeschrittensten in Deutschland z.Zt.
in den Antidiskriminierungsstellen bzw. Antidiskriminierungsbüros manifestieren.
Bundesweit existieren allerdings - aufgrund des schon erwähnten Fehlens von gesetzlichen
Regelungen – nur wenige dieser Stellen. Am weitesten entwickelt ist das Arbeitsfeld in NRW
wo
sich
z.Zt.
zehn
Anlaufstellen
mit
Beratung
und
drei
andere
Antidiskriminierungseinrichtungen bzw. –initiativen in einem "Netzwerk für
Chancengleichheit, gegen Diskriminierung ethnischer Minderheiten" zusammengeschlossen
haben. Hier liegen auch bereits erste Evaluationen der Arbeit vor.
Eine Untersuchung des Landeszentrums für Zuwanderung (vgl. Clayton/Wehrhöfer 2001)
untersuchte neun Einzelprojekte, die im Rahmen der landeseigenen "Maßnahmen gegen
Diskriminierung und zur Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus" von
1997-1999 mit rd. 700.000 DM p.a. modellartig gefördert wurden (und zum Teil heute wie
einige andere kleinere Projekte der Antidiskriminierungsarbeit über das Förderprogramm
"Maßnahmen und Initiativen gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung
sowie zur friedlichen Konfliktregelung in Stadtteilen mit besonderem Erneuerungsbedarf"
weiterhin seitens des Landes gefördert werden). Ziele der Antidiskriminierungsprojekte waren
und sind einerseits die Durchführung von Analysen zu Erscheinungsformen und Ursachen
von Diskriminierung, andererseits und im Schwerpunkt aktive Maßnahmen der Beratung und
Prävention. Die zentralen Evaluationsergebnisse laufen darauf hinaus, "die öffentliche
Förderung von Antidiskriminierungsarbeit nachdrücklich zu befürworten" (ebd., 74). Dabei
werden spezialisierte Antidiskriminierungsstellen auch deshalb als sinnvoll angesehen, weil
sie "ein anderes Klientel (erreichen) als die bisherigen Migrationsfachdienste" (ebd., 63). Im
einzelnen wird u.a. festgestellt:
 Die (allerdings nicht repräsentative) Auswertung von 215 gemeldeten und
Diskriminierungsfällen ergibt, dass "in den weitaus meisten Fällen ... nicht Einzelpersonen
als Verursacher von Diskriminierung, sondern öffentliche (41,4 Prozent) und private
Institutionen (23,3 Prozent) verantwortlich gemacht" (ebd., 43) werden. 14 Nur in 29% der
14
Dabei waren Mehrfachnennungen möglich.
Unter "Diskriminierung" wird von den Evaluatorinnen in Übereinstimmung mit der europäischen
Rechtsprechung "die Anwendung unterschiedlicher Regeln auf vergleichbare Situationen" bzw. die "Anwendung
derselben Regel auf unterschiedliche Situationen" verstanden. Neben der "unmittelbaren Diskriminierung", die
vorliegt, "wenn eine Person aufgrund ihrer Rasse oder ethnischen Herkunft in einer vergleichbaren Situation eine
weniger günstige Behandlung als eine andere erfährt, erfahren hat oder erfahren würde" (Richtlinie 2000/43/EG)
wird auch die "mittelbare Diskriminierung" einbezogen, die dann gegeben ist, "wenn dem Anschein nach
neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die einer Rasse oder ethnischen Gruppe angehören, in
174



Fälle wurden Einzelpersonen beschuldigt; die meisten Diskriminierungsfälle wurden im
Bereich von Behörden verzeichnet. Am häufigsten werden "Herkunft" und
"Staatsangehörigkeit" als Diskriminierungsgründe genannt. Der Befund macht deutlich,
wie wichtig die Falldokumentation ist, um die Weiterentwicklung der Arbeit
voranzutreiben. Nach niederländischen Erfahrungen ist erwartbar, dass solche
Dokumentationen auch ausweisen werden, dass die Zahl der erfassten Fälle in dem Maße
steigt, wie Antidiskriminierungsstellen etabliert und in der Öffentlichkeit bekannt gemacht
sind. Die z.Zt. erfassten Fälle werden daher als "Spitze eines Eisbergs" (ebd., 68) gesehen.
Auswertungen zur Beratungspraxis weisen aus, dass die Bearbeitungen von Einzelfällen
einerseits eine "relativ hohe Zahl von 'ungelösten' Fälle(n)" aufweisen. Dies kann damit
erklärt werden, dass gesetzliche Grundlagen fehlen, die den BeraterInnen gegenüber
Behörden und beschuldigten Einzelpersonen den Rücken stärken könnten, die Arbeit
selbst relativ neu ist, Ausbildungsangebote und Qualifikations- wie Qualitätskriterien
fehlen und auch nicht – wie etwa in Belgien – die Drohung mit einem Gerichtsverfahren
den Beschuldigten in eine Mediation drängen kann. Andererseits wird vermutet, dass
Ratsuchende nicht unbedingt das Anliegen haben, eine Unterstützung zu erhalten, die über
ein Gespräch mit der Fachkraft hinausgeht. Nicht alle wollen weitergehende Schritte
tätigen. Möglicherweise ist die Eröffnung eigener Handlungsräume durch das Gespräch
wichtiger als die Einleitung konkreter Maßnahmen durch die Fachkraft.
Für den Bereich der präventiven Maßnahmen wird konstatiert, dass sich hier die
"Zielerreichung" "nur schwer überprüfen" (ebd., 56) und sich die "Effektivität solcher
Aktivitäten" "nicht ohne weiteres messen" (ebd., 70) lässt: "Die Erwartungen... sind hoch,
ihnen sind aber in ihrem Wirkungsgrad Grenzen gesetzt ... Oft fehlt eine klare Vorstellung
davon, wie genau die durchgeführten Maßnahmen zum Abbau bzw. zur Vorbeugung
antirassistischer Diskriminierung (gemeint ist offenbar: rassistischer; K.M.) beitragen
sollen. Einmal durchgeführt, werden die einzelnen Aktivitäten selten systematisch auf ihre
Wirksamkeit hin ausgewertet. Die oft beabsichtigten Einstellungs- und
Verhaltensänderungen können kaum durch punktuelle pädagogische und psychosoziale
Maßnahmen erreicht werden" (ebd., 57). In dieselbe Richtung verweist die Evaluation
hinsichtlich des Stellenwerts von interkulturellen Begegnungen: "Letztlich bleibt es
unklar, wie diese Maßnahmen im Sinne des Abbaus von Vorurteilen wirken. Die
Wirkungsforschung zeigt hier noch deutliche Forschungslücken, die ausgefüllt werden
müssen (vgl. Jonas 1998: 151). Darüber hinaus ist auch der Transfer von entsprechenden
Forschungsergebnissen in die Praxis bislang unzureichend" (ebd., 59). Dagegen gewinne
"der Aspekt der Qualitätssicherung und der Wirksamkeit an Bedeutung": "Eine
systematische Auswertung solcher Maßnahmen könnte hier zu ihrer Optimierung
beitragen" (ebd., 70).
Die Qualifizierung von Antidiskriminierungsfachkräften wird als verbesserungsbedürftig
betrachtet. Und weil gilt: "Eine konzeptionelle Basis der Arbeit der
Antidiskriminierungsprojekte ist nicht erkennbar, wird aber als notwendig für die
Wirksamkeit der Aktivitäten erachtet" (ebd., 61), wird eine "klare und verbindliche
konzeptionelle Grundlage" zu entwickeln gefordert sowie die Vernetzung mit ähnlichen
Einrichtungen und die Kooperation mit Bildungseinrichtungen, Behörden usw. propagiert,
besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren
sind durch ein rechtmäßiges Ziel gerechtfertigt, und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und
erforderlich" (ebd.). Zurecht wird nicht nur in diesem Kontext, sondern auch darüber hinaus in der deutschen
Fachdiskussion darauf hingewiesen, dass der Begriff der "Rasse" in den europäischen Texten für den deutschen
Diskurszusammenhang irreführend ist und statt "Diskriminierung aufgrund von Rasse" o.ä. eher von
"rassistischer Diskriminierung" gesprochen werden sollte, weil das Adjktiv sich auf das Substantiv "Rassismus"
beziehen lässt, und damit einen Begriff zum Referenzpunkt macht, der gerade die Unhaltbarkeit des sog.
"Rasse"-Begriffs thematisiert.
175
um auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen von Antidiskriminierungsarbeit, auch
gerade im lokalen Raum, Einfluss nehmen zu können.
Auf der Grundlage dieses in seinem Umfang bundesweit einmaligen Evaluationsprojektes von
Antidiskriminierungsarbeit haben die nordrhein-westfälischen Antidiskriminierungsprojekte
ein Konzept zur Struktur der Antidiskriminierungsarbeit in Nordrhein-Westfalen vorgelegt,
das Modellcharakter auch für andere Bundesländer beanspruchen kann und im Rahmen der
Diskussion um ein deutsches Antidiskriminierungsgesetz und die möglicherweise darin
aufzunehmenden
Regelungen
zur
flächendeckenden
Errichtung
von
Antidiskriminierungsstellen Aufmerksamkeit auf sich zieht. Das Konzept sieht eine regionale
Verteilung von Antidiskriminierungsstellen für einen Umkreis von etwa 100 km (dies sind für
NRW bspw. acht Büros) mit jeweils zwei dezentralen Zweigstellen und einer zentralen
Koordinations- und Vernetzungsstelle vor. Die drei zentralen Arbeitsbereiche werden mit
Beratungsarbeit, Öffentlichkeitsarbeit/Antidiskriminierungstraining und Vernetzungsarbeit
umschrieben. Die Kosten werden mit ca. 2,3 Mio. DM p.a. berechnet (vgl. Diskriminierung
2000)
Der sowohl in der Evaluation des Landeszentrums für Zuwanderung als auch in diesem
Konzept betonte Gedanke der Vernetzungsarbeit kann sich auf eine vom Verband der
Initiativgruppen in der Ausländerarbeit (neu: Verband für interkulturelle Arbeit) (VIA e.V.)
vom 01.12.2000 bis 30.11. 2001 durchgeführte, EU-finanzierte Studie stützen, die die
Bedeutung horizontaler Vernetzung regionaler Beobachtungsstellen gegen Diskriminierung
evaluierte, ihren hohen Stellenwert feststellt und insbesondere die Möglichkeit der
Etablierung von Qualitätsstandards und von eigenständigen Profilen dieser Stellen auf diesem
Wege betont (vgl. VIA 2002).
Antidiskriminierungsarbeit in spezialisierten Stellen anzusiedeln und nicht den
Migrationsfachdiensten zuzuordnen, erscheint sinnvoll, wenn man erste, allerdings noch sehr
tentative und nicht repräsentative Studien zu deren Umgang mit Diskriminierungserfahrungen
ihres Klientels zugrundelegt. Nach der vom Landeszentrum für Zuwanderung bei 20
Einrichtungen vorgenommenen Befragung der Sozialberatung für MigrantInnen (vgl.
Bach/Clayton/Tunc 2000) zeichnet sich ab, dass diese generell wenig offensiv mit den ihnen
zugetragenen Diskriminierungstatbeständen umgehen, vor allem dann, wenn die Beratungen
nicht bei freien Trägern angesiedelt sind, sondern in kommunale Verwaltungsstrukturen
eingebunden sind; ein Befund, der wenig verwundert, wenn man feststellt (s.o.), dass die
meisten Diskriminierungen in Behörden erlebt werden. Außerdem erfassen sie diese nicht
systematisch und formulieren auch "keine adäquaten Mindestanforderungen bzw.
Qualitätskriterien" (ebd., 12).
Ähnliche Ergebnisse erbringt eine bei 18 Bielefelder Beratungseinrichtungen durchgeführte
fragebogengestützte Exploration (vgl. Mecheril u.a. 2001). Man muss bei zwei Dritteln von
ihnen eine "konzeptuelle Abstinenz" (ebd., 300) registrieren und stellt "eine geringe
Bedeutung" des Themas "Diskriminierung" fest. Erfahrungen werden danach eher auf dem
Hintergrund des Theorems "kultureller Differenz" gedeutet als mit realer sozialer
Ungleichheit in Verbindung gebracht. Dominanzsensibilität wird vermisst.
Allerdings gehen die Wohlfahrtsverbände neuerdings in die Offensive. So hat der Deutsche
Caritas Verband (DCV) mit immerhin 1.200 MitarbeiterInnen in der Migrationsarbeit im
Herbst 2001 ein bis zum 15.11.2002 laufendes Projekt aufgelegt, in dem ein externes Institut
unter dem Arbeitstitel "Blick nach innen" eine Ist-Analyse über den verbandsinternen
Umgang mit Vorurteilen, Ausgrenzung und Diskriminierung anstellen soll, um "Strategien
zur Überwindung von betriebsinternen Ausgrenzungen" und "Qualitätsmerkmale für die
interne Organisationsentwicklung... im Hinblick auf Antidiskriminierungsstrategien zu
entwickeln"
sowie
damit
die
Installation
(einer)
verbandseigenen/r
176
Antidiskriminierungsstelle(n),
Antidiskriminierungsbeauftragten
und/oder
Antidiskriminierungshotline voranzutreiben (vgl. Deutscher Caritasverband o.O. o.J.).
Darüber hinaus wird an vier lokalen Standorten der Migrationsarbeit des Verbandes (Vechta,
Brandenburg, Saarlouis und Görlitz) ab Herbst 2001 bis 30.09.2004 das Projekt "Caritas –
Offener Umgang mit Fremden, Gleichstellung und Partizipation in der Arbeitswelt"
durchgeführt. Drei wesentliche Ziele sind die Ansprache von Jugendlichen und jungen
Erwachsenen, die "anfällig für fremdenfeindliches Gedankengut sind oder bereits der rechten
Szene angehören", das Angebot von MultiplikatorInnenschulungen (Antirassismus-,
Deeskalations- und Zivilcouragetrainings, Konfliktmanagement, gender training,
interkulturelle Sensibilisierung) und die Verabschiedung von Selbstverpflichtungscodes und
Betriebsvereinbarungen innerhalb der Caritasverbände (vgl. Das Projekt o.O. o.J.).
Der Kölner Diözesanverband führt seit 2001 ein längerfristiges, fünfphasiges "Projekt
Antidiskriminierungsarbeit" durch, dessen Phase 1 (Bestandsaufnahme entsprechender
Aktivitäten des Verbandes) abgeschlossen ist und dessen zweite Phase noch andauert (bis
September 2002). Nach der Bestandsaufnahme der typischen AntidiskriminierungsMaßnahmen der Caritas-Migrationsdienste ergeben sich 135 Maßnahmen, von denen
allerdings nur 77 eindeutig AD-relevant waren und mehr als die Hälfte in den Bereichen der
Information und der Begegnung angesiedelt sind. Öffentliches Eintreten gegen
Diskriminierung (9 Maßnahmen), Erfassen von Diskriminierungsfällen (6) und Intervenieren
bei Diskriminierungsfällen (4) machen allerdings gerade einmal 15% der Aktivitäten aus. So
bleibt der eingeschränkte Antidiskriminierungsbegriff zweifelhaft, auf dem die Einschätzung
fußt,
dass
innerhalb
der
Caritas-Sozialdienste
bereits
"Beachtliches
an
Antidiskriminierungsarbeit geleistet" würde und nur "die Verankerung von
Antidiskriminierungsarbeit im Bewusstsein und Selbstverständnis der Migrationsdienste und
ihrer MitarbeiterInnen" "noch steigerungsfähig" sei (vgl. Migrationsarbeit 2001).15
3.2
Fazit
Eine zusammenfassende Sicht auf die – wie im einzelnen herausgearbeitet – durchaus
heterogene 'Landschaft' pädagogisch bzw. sozialarbeiterisch akzentuierter konzeptioneller
Ansätze der Rechtsextremismus-, Fremdenfeindlichkeits- und Gewaltbekämpfung in
Deutschland, lässt sich wohl am ehesten dann gewinnen, wenn nach einer Einschätzung der
Quantität solcher Herangehensweisen in einem ersten Schritt in einem zweiten Schritt über
die einzelnen Ansätze hinweg ihre Gesamt-Qualität zu klären gesucht wird. Dabei erscheint es
angezeigt, die Analyse an drei Prüfkriterien auszurichten: Zum ersten ist die
sozialwissenschaftliche Referenz entsprechender Pädagogik und Sozialer Arbeit dahingehend
zu klären, inwieweit sie auf theoretische Erkenntnisse und empirische Befunde der thematisch
einschlägigen Forschung Bezug nimmt und wichtige Konzeptionsbestandteile wie Ziele,
Inhalte und Methoden daran orientiert. Zum zweiten ist dasjenige zu bündeln, was sich an
Bezugnahmen auf die allgemeinen diskursiven und operativen Rahmungen, welche die
Fachdebatte der Leitdisziplinen von Erziehungswissenschaft und Sozialarbeitswissenschaft
auch außerhalb der themenspezifischen Diskussion entwickelt, in paradigmatischen
Grundlegungen, strategischen Zielsetzungen und Formatierungen findet und in
konzeptionellen Ausarbeitungen bzw. Praxen niederschlägt. Zum dritten ist im Hinblick
sowohl auf themenspezifische Studien als auch auf allgemeinere disziplinäre Debatten zu
15
In der "Arbeitshilfe" zu Phase 2 (Seite 3) findet sich im Abschnitt über die Zielbestimmung sogar die
Formulierung: "Es soll den MitarbeiterInnen deutlich werden, dass bereits in der Vergangenheit quantitativ und
qualitativ Wertvolles an Diskrimnierungsarbeit geleistet wurde – lediglich nicht unter diesem Label. (Die Inhalte
sind heute unter dem Etikett Antidiskriminierungsarbeit gefragt und förderfähig. Deshalb sollte der Begriff zum
alltäglichen Handwerkszeug werden, die Inhalte des Begriffs als Antidiskriminierungsarbeit 'verkauft' werden.)".
177
bilanzieren, wie weit Evaluationen, Evaluationsplanungen oder zumindest Bedarfe danach
vorliegen. In einem abschließenden dritten Schritt sind dann kurz die zu ziehenden
Konsequenzen und weitere Perspektiven zu bündeln.
Quantitativ betrachtet ergibt unsere Analyse eine auf den ersten Blick erfreuliche Vielfalt an
konzeptionellen Herangehensweisen. In ihnen schlägt sich eine Fülle an durchaus
verschiedenen Ausgangspunkten und Ideen nieder. Nachdem bis weit in die 90er Jahre hinein
der
pädagogische
und
sozialarbeiterische
Umgang
mit
Rechtsextremismus,
Fremdenfeindlichkeit und der in diesem Umfeld auftauchenden Gewalt vorwiegend
spezialisierten Segmenten bestimmter Arbeitsfelder (vor allem z.B. Maßnahmen der
historischen Bildung über den Nationalsozialismus und – eher als Folge der Ineffektivität
historisierender Aufarbeitungsversuche und/oder der Ausgrenzung Betroffener aufsuchenden Strategien im Rahmen von Jugendarbeit) zugewiesen wurde, wächst in den
letzten Jahren in verschiedenen pädagogischen und sozialarbeiterischen Handlungsfeldern die
Bereitschaft, über Strategien des Umgangs mit der Problematik innerhalb des eigenen
Arbeitsgebietes nachzudenken und entsprechende Ansätze zu entwickeln. Ob man dafür eher
ein Abgehen von der Zentrierung der fachöffentlichen Diskussion auf die Organisationen des
rechtsextremen Spektrums und sich verbreiternde Erkenntnisse über den "Extremismus in der
Mitte der Gesellschaft" verantwortlich macht, darin schlicht Umleitungseffekte einer
zunehmend projektorientierten Förderpolitik ausmacht oder noch andere Gründe erkennt:
Festzuhalten bleibt, dass nicht nur konkrete Maßnahmen und Projekte zahlreicher geworden
sind, sondern sich auch die Breite konzeptioneller Herangehensweisen ausgedehnt hat. Die
Problematik ist damit ein Thema geworden, an dem man in nahezu keinem Arbeitsfeld von
berufsmäßiger Pädagogik und Sozialer Arbeit mehr vorbeikommt.
Sicherlich wird der Anstieg der fachöffentlichen Aufmerksamkeit der gesellschaftlichen
Bedeutung der im Hintergrund stehenden Desintegrations-/Integrationsdynamik besser
gerecht als die lange betriebene Zuweisung der 'Arbeit gegen rechts' und gegen Gewalt zu den
Sphären von Strafverfolgung und Politik, allenfalls noch ihre Gettoisierung in eher
marginalen Sektoren der Profession (Soziale Arbeit mit rechtsextremen Jugendlichen). Er
reflektiert – bewusst oder unbewusst -, dass die in Rede stehenden Probleme Symptome für
gesellschaftliche Krisen sind, die den Kernbestand der Demokratie betreffen. Die gegenwärtig
zu konstatierende – wenn auch leider weiterhin deutlich medienkonjunkturabhängige - Breite
des professionellen Engagements und die sich darin dokumentierende Bereitschaft der
Professionellen und ihrer Institutionen, über die möglichen Ansatzpunkte einer Sicherung von
Integrationspotenzialen und der Verhinderung von politischer und sozialer Desintegration im
eigenen Arbeitsbereich nachzudenken, entspricht deshalb – grob betrachtet - der Dimension
der Problematik.
Damit ist allerdings nicht gesagt, dass die vorhandenen Ansätze und konkreten Maßnahmen
ausreichten. Mangelmeldungen sind auch schon unter rein quantitativen Gesichtspunkten
angebracht. Wenn aber qualitative Aspekte noch hinzugezogen werden, kommt man nicht
umhin, zu konstatieren, dass mindestens acht Handlungsfelder sich erheblich unterentwickelt
darstellen.16 Teils handelt es sich dabei um einrichtungsbezogene Arbeitsfelder, teils um eher
konzeptionell denn institutionell begründete Arbeitsgebiete:
1. Eltern- und Familienbildung
Zahlreiche theoretische und empirische Studien zur Anfälligkeit für rechtsextreme
Orientierungen, minderheitenfeindliche Einstellungen und Gewalt verweisen immer
wieder auf die zentrale Bedeutung, die der Sozialisation und Erziehung in der Familie
16
Dass hier gerade auf acht Handlungsfelder eigegangen wird, heißt nicht, dass in anderen Feldern die
Bedarfe als gedeckt anzusehen sind. Sie treten nur hier aus der Perspektive der vornstehenden Analysen
besonders krass hervor.
178
zukommt (vgl. zusammenfassend: Möller 2000, 2001; Noack 2001; Boehnke/Baier 2001,
bes. 66ff.). Bereits in der Kindheits- und Jugendphase werden offenbar die Fundamente
gelegt, auf denen gewaltfreies Handeln und Wertschätzung demokratischer Verfahren des
Interessenausgleichs aufbauen können. Umgekehrt sind hier auch bereits
Gefährdungskonstellationen zu registrieren, die dem Aufbau von Affinitäten zu
Ungleichheitsvorstellungen und Gewaltakzeptanz Vorschub leisten bzw. ihren Abbau
erschweren oder gar verunmöglichen. Deshalb ist neben politischen Unterstützungen für
Familien und familienähnliche private Lebensformen die Qualifizierung von Eltern für
ihre Erziehungsarbeit von herausgehobener Bedeutung. Realiter ist hier allerdings eine
weit aufklaffende konzeptionelle Lücke unübersehbar. Es fehlt nicht nur an
Maßnahmeangeboten. Vor allem bleibt die Frage unbeantwortet, wie Erwachsenenbildung
an diejenigen Teilnehmergruppierungen herankommt, von denen man gemeinhin meint,
"dass sie es besonders nötig haben". Obwohl man ihn seit Jahrzehnten registriert und
beklagt, ist der Mittelschichtsbias, der die einschlägigen Institutionen kennzeichnet,
bislang kaum abgebaut worden. Abhilfe wird hier nur zu gewinnen sein, wenn Angebote
strikt lebensweltorientiert an TeilnehmerInneninteressen und -bedarfe ansetzen. Um
solche, auf dem Papier weit verbreiteten Postulate real umzusetzen, bedarf es vor allem
neuer Zugangsweisen. Sie sind nicht ohne die starke Orientierung an den Themen und
Problemen des Gemeinwesens und ohne mobile Ansätze zu erschließen.
2. Soziale und pädagogische Arbeit mit Kindern
Auch wenn Jugendliche jene gesellschaftliche Gruppierung bilden, deren Angehörige
besonders deutlich als Gewaltakteure und als Träger von aggressiv getönten
Ungleichheitsvorstellungen in Erscheinung treten: Es liegen ernstzunehmende
theoretische und empirische Hinweise darauf vor, dass Formen von Gewaltakzeptanz
generell und Dispositionen zu Ausgrenzungshaltungen gegenüber Minderheiten im
speziellen in Sozialisationserfahrungen wurzeln, die bereits in der Kindheitsphase
gemacht werden (vgl. z.B. Noack 2001). Demographischen Entwicklungen geschuldet,
zählen Kindergärten, Kindertagesstätten und Horte zu den multikulturellsten
Einrichtungen des gesellschaftlichen Bildungs- und Betreuungssystems für die junge
Generation. Als illusionär erweist sich die Ansicht, durch lebensgeschichtlich möglichst
frühzeitigen, bloßen interethnischen Kontakt ließen sich ethnisch-kulturelle Konfliktlagen
reduzieren. Eher scheinen sie sich insgesamt betrachtet lebensbiographisch 'nach vorn' zu
verlagern, zumal davon auszugehen ist, dass erwachsene Betreuungspersonen ihre
eigenen, mangels auf sie abgestimmter Angebote großenteils unreflektiert bleibenden
Deutungen und Haltungen bewusst und unbewusst auf Kinder sozialisatorisch übertragen.
Einer themenspezifischen Arbeit mit Kindern kommt neben Angeboten der
ErzieherInnen- und Elternbildung daher innerhalb und außerhalb von Einrichtungen eine
hohe Bedeutung zu. Dies gilt um so mehr, als davon auszugehen ist, dass die
Erfolgsaussichten pädagogischer und sozialarbeiterischer Prävention mit der
Frühzeitigkeit ihres Einsetzens steigen. Im Vergleich zur Relevanz der in diesem Bereich
liegenden Arbeitsfelder nimmt sich die Anzahl und Intensität entsprechender Aktivitäten
und Konzepte viel zu bescheiden aus. So wie der Gewalt- und RechtsextremismusDiskurs aus der Verengung auf eine Jugend-Debatte zu lösen ist, um Sensibilisierungen
für die Anfälligkeiten von Erwachsenen und für die Notwendigkeiten von adäquat
adressatenbezogenen Gegenmaßnahmen der Erwachsenenbildung zu erzielen, so ist er
auch unumgänglich um die Perspektive auf Kinderproblematiken und auf entsprechende
pädagogische und sozialarbeiterische Ansätze zu erweitern.
3. MultiplikatorInnenbildung
179
An
Fortund
Weiterbildungsangeboten
zum
Themenbereich
Rechtsextremismus/Fremdenfeindlichkeit/Gewalt für professionelle PädagogInnen und
SozialarbeiterInnen herrscht gegenwärtig von der Anzahl her kaum noch Mangel.
Inhaltlich wird freilich oft – wie dies auch in manchen der o.e. Befragungen von
TeilnehmerInnen entsprechender Angebote deutlich wird – ein mangelnder Praxisbezug
beklagt. Daneben muss vor allem aber festgestellt werden, dass themenspezifische
Weiterbildungsveranstaltungen für nicht-pädagogisches Personal bzw. für Ehrenamtliche
fehlen. Zu denken ist hier insbesondere an VerwaltungsmitarbeiterInnen und
PolizistInnen, aber auch an ÜbungsleiterInnen und FunktionärInnen in Vereinen und
Sportclubs. Wünschenswert wäre, dass angesichts des großen Integrationspotenzials, das
gerade bei letztgenannten schlummert, aber auch wegen der zunehmend an die Oberfläche
tretenden Problematiken um Gewalt und ethnisch-kulturelle Konflikte (vgl. vor allem
Kap. 3.1.8) diese Lücken geschlossen würden. Dazu bedürfte es ebenfalls einer deutlichen
Ausweitung von gemeinwesenorientierten Perspektiven und aufsuchenden Strategien der
Anbietereinrichtungen.
4. Beratung
kommunaler
Akteure,
zivilgesellschaftlicher
Vereinigungen
und
pädagogischer/sozialarbeiterischer Einrichtungen
Wie die Nachfrage nach Mobilen Beratungsteams in den neuen Ländern, aber auch
diejenige nach dem "Team Z" in Baden-Württemberg deutlich macht, ist eine
Unterstützung kommunaler Akteure, zivilgesellschaftlicher Vereinigungen und
Angehöriger pädagogischer und sozialarbeiterischer Einrichtungen, die nicht auf die
'Arbeit mit Rechten' oder die Abarbeitung ethnisch-kultureller Konfliktlagen spezialisiert
sind, dringend geboten. Was vor allem gebraucht wird, ist eine Vor-Ort-Beratung, die auf
konkrete Situationen, ihre Bedarfe und ihre Problemlagen bezogen sein kann und darauf
zielt, Plattformen der Information, Kommunikation und Kooperation zu entwickeln und
zu stabilisieren, auf denen die lokalen Akteure vernetzt tätig werden können. Da unter
Hinweis auf die Nachfragesituation im Lande Baden-Württemberg und die – leider
unbefriedigt gebliebenen Bedarfe bei nordrhein-westfälischen 1-DM-pro-EinwohnerInProgramm, hier vor allem aus kleineren Kommunen - davon auszugehen ist, dass die sich
in den neuen Ländern zeigenden Beratungsbedarfe nicht nur für Ostdeutschland typisch
sind, müssen auch in den westlichen Bundesländern entsprechende Beratungsangebote in
den Regionen vorgehalten werden. Im Hinblick auf pädagogische Institutionen wäre es
wünschenswert, wenn Lehrer und Lehrerinnen wüssten und sicher sein könnten,
präventiv, vor allem aber auch im konkreten Konfliktfall Hilfe bei in ausreichender Zahl
verfügbaren SchulpsychologInnen und speziell zuständigen und ausgebildeten Kollegen
und Kolleginnen erhalten zu können. Entsprechende Stellen wären zu schaffen bzw.
vorhandene Ressourcen inhaltlich zu qualifizieren und auszubauen. Die Kooperation mit
sozialpädagogischer Kompetenz ist dabei geradezu unvermeidlich.
5. Erweiterung des Verständnisses von schulischem Lernen
Noch (viel zu) selten, sind innerhalb von Schule pädagogische Selbstverständnisse
verbreitet, die die eigene Einrichtung bzw. das eigene Arbeitsfeld nicht nur i.e.S. als
wissensvermittelnde Lehranstalt bzw. als Medium des Qualifikationserwerbs für den
Arbeitsmarkt begreifen. Die Konzentration auf Unterrichtungsformate wird den breiter
ausgreifenden Herausforderungen, die heute an Schule herangetragen werden, nicht mehr
gerecht. Sie sieht sich mit einem erweiterten Bildungs-, Erziehungs-, ja z.T. sogar
Qualifizierungsauftrag für die Lebensgestaltung konfrontiert. Dass Konzepte des sozialen
Lernens Eingang finden, Methoden von Mediation und gewaltfreier Konfliktregelung
erprobt werden, Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe aufgenommen wird und
schulumfassende Entwicklungsprogramme verfolgt werden, kann als Hinweis darauf
180
gewertet werden, dass die breitere Aufgabenstellung durchaus erkannt wird. Allerdings
sind noch viel zu wenige Schulen entsprechend aktiv. Öffnungen von Schule zum
Gemeinwesen erfolgen (zu) häufig nur aus Projektanlässen heraus und sind noch in (zu)
seltenen Fällen Standard der Alltagsarbeit. Insbesondere fehlt es gegenwärtig deutlich an
außerunterrichtlichen Aktivitäten (Sport, Jugendkultur, Musik etc.). Dabei gelingt es oft
gerade über sie, Schule als einen für Jugendliche lebenswerten Lebensbereich erscheinen
zu lassen, wo Selbstwertressourcen auch jenseits der zentralen und notenbewerteten
Leistungsbereiche anzuzapfen sind. Erfahrungsgemäß (vgl. Möller 2000a, 2001a) können
derartige Stabilisierungen des Selbstwerterlebens und der Identitätssuche Distanzierungen
von Gewalt und rechtsextremen Orientierungen entscheidend stützen bzw. diesen von
vornherein vorbeugen. Solange Anerkennungen nur in den klassischen
Fächerzuordnungen entsprechenden Leistungsbereichen erwerbbar sind, sind im Falle
ihres Zerfalls (dauerhaft schlechte Noten, Sitzenbleiben, Zwang zum Schulabgang) keine
Bezüge für anderweitigen innerschulischen Anerkennungserwerb mehr vorhanden. Damit
werden Belastungen der Frustrationstoleranz von Schülern und Schülerinnen
heraufbeschworen, die bei zunehmendem gesamtgesellschaftlichen Leistungsdruck – und
zwar im Sinne des Zwanges, die eigene Integration in gesellschaftliche 'Normalität' über
die Dokumentation von individuell benoteter Leistung und zertifizierter
Leistungsfähigkeit zu zeigen – immer schwerer individuell zu tragen sind. Stellt man nun
aber das Anwachsen der Wahrscheinlichkeit von Vereinzelungstendenzen und eine
geringe Rissfestigkeit von sozialen Netzen in der sich individualisierenden Gesellschaft in
Rechnung, so werden in zunehmendem Maße aggressive Entladungen des aufgestauten
Drucks denkbar; dies zumindest soweit sie nicht anderweitig verhindert oder aufgefangen
werden. Auch in dieser Hinsicht muss sozialpädagogische Kompetenz in die Schule
geholt werden, sowohl durch den 'Import' entsprechender Fachkräfte mittels Sozialarbeit,
als auch durch eine Beseitigung der eklatanten und den heutigen Voraussetzungen des
Lehrberufs nicht mehr gerecht werdenden Vernachlässigung sozialpädagogischer
Komponenten in der Lehrerausbildung. Schul- und hochschulpolitisch sind die für solche
Umorientierungen des pädagogischen Verständnisses erforderlichen Rahmenbedingungen
zu garantieren.
6. Gemeinwesenentwicklung
Nicht nur für Schule, auch für andere soziale und pädagogische Einrichtungen gilt, dass
die Orientierung am Gemeinwesen auszubauen ist. Diese Empfehlung ist Ausfluss der
Erkenntnis, dass die Ursachen von Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt
vielfältig sind und aus einem Geflecht von Bedingungsfaktoren bestehen. Der
Forschungsstand belegt, dass es wenig Sinn macht, auf der Suche nach Verantwortlichen
den Schwarzen Peter zwischen Familie, Schule, Arbeitsbereich, Medien, Politik u.a.m. hin
und her zu schieben. Daraus aber folgt, dass erfolgversprechende Bearbeitungen der
Problematiken nur durch konzertierte Aktionen der Akteure dieser Arenen zu
bewerkstelligen sind. Deshalb ist in der Tat eine Vernetzung unerlässlich. Sie kann sich
aber nicht nur darauf beschränken, Institutionen in Austausch zu bringen,
Kooperationszusammenhänge zwischen ihren Angehörigen zu stiften und Aktivitäten
inhaltlich und terminlich aufeinander abzustimmen. Sie sieht sich vor allem vor die
Aufgabe gestellt, tragfähige Formen von sozialem Mit-, Neben- und notfalls auch
Gegeneinander zu entwickeln. Je mehr individuelle Lebensbewältigung von Prozessen der
Globalisierung, Differenzierung, Individualisierung und Pluralisierung geprägt wird und
damit nicht mehr auf die Fungibilität der überkommenen Mechanismen und Formen
sozialer (Ein-)Bindung vertrauen kann, um so deutlicher kristallisiert sich die
Notwendigkeit heraus, zumindest dort, wo diese Prozesse mit subjektiv erlebten oder
objektiv existierenden Verlusten an Orientierungs-, Urteils- und Handlungssicherheit
181
verbunden sind, auch professionell die Rekonstruktion und ggf. auch Konstruktion des
Sozialen zu betreiben. Angesichts dessen, dass eine Menge von ethnisch-kulturellen
Konflikten im unmittelbaren Lebens- und Wohnumfeld aufbricht und - unbearbeitet
bleibend – Ungleichheitsvorstellungen und Gewaltakzeptanz Vorschub leistet (vgl. ebd.),
kommt der Entdeckung und Entfaltung sozialer und kultureller Ressourcen im Stadtteil,
Dorf bzw. Wohnviertel erhöhte Bedeutung für Gegensteuerungen zu. Noch viel zu selten
reagieren Kommunen und Wohnungsbaugesellschaften - meist begrenzt auf
Neuaufsiedlungsgebiete
–
mit
der
Einrichtung
und
Förderung
von
Gemeinwesenentwicklungsprojekten.
7. Geschlechtsreflektierendes Arbeiten
In Kap. 3.1.10 musste resümierend festgestellt werden, dass geschlechtsreflektierendes
Arbeiten einerseits ein gänzlich unverzichtbares Konzept pädagogischer und sozialer
Arbeit (im übrigen nicht nur) 'gegen rechts' und gegen Gewalt ist, es an praktischen
Umsetzungen aber erheblich mangelt, insbesondere in der Arbeit mit Problemträgern.
Diese Unterbelichtung zieht insbesondere in Kindergarten, Schule und Jugendhilfe, aber
auch in der Familien- und Eltern- sowie sonstigen Erwachsenenbildung fatale
Konsequenzen, nämlich ein Weiterbestehen, wenn nicht Verschärfungen der Problemlage,
nach sich. Die Behebung dieser Defizite in der konzeptionellen Orientierung von
pädagogischen und sozialen Einrichtungen ist nicht nur eine Frage der individuellen
Interessen und der Aufmerksamkeitszuwendungen ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen.
Vielmehr muss sie auch und in erster Linie als eine der institutionellen Ausrichtung und
der Ausbildung sowie der Weiterqualifizierung der Professionellen betrachtet werden. In
dieser Hinsicht ist im Interesse ursachenbezogener Strategien gegen Jungen- und
Männergewalt und des erheblichen maskulinen Überhangs in rechtsextrem orientierten
Szenen und Organisationen nicht weiter hinnehmbar, dass innerhalb der LehrerInnenausund -fortbildung geschlechtsreflektierendes Arbeiten innerhalb und außerhalb des
Unterrichts im Gegensatz zu analogen Ansätzen der Mädchenbildung so gut wie gar nicht
zum Thema gemacht wird. Vergleichbares gilt, wenn auch nicht in dieser Zuspitzung, für
die Aus- und Weiterbildung von Erziehern und von Sozialpädagogen und Sozialarbeiter.
Hier kommt noch stärker als bei etwa der Grundschullehrerausbildung hinzu, dass
männliche Auszubildende im Erzieherberuf bzw. männliche Studierende in
Studiengängen der Sozialen Arbeit ganz deutlich in der Minderheit sind (in Hinsicht auf
Sozialwesen beträgt ihr Anteil etwa 25% der Studierenden), so dass rein quantitativ schon
schlechte Voraussetzungen vorliegen. Geklärt werden muss, wie gleichstellungspolitisch
eine Förderung von Männern für soziale Berufe umzusetzen ist. Spätestens im Zuge und
bei Gelegenheit von gender mainstreaming müssen die Problem- und Bedarfslagen von
Jungen und Männern auch in den Institutionen der Pädagogik und der Sozialen Arbeit
stärker als bisher gängig Beachtung finden und geeigneten Bearbeitungen zugeführt
werden.
8. Förderung der politischen Partizipation von Kindern und Jugendlichen
Um antidemokratischen Orientierungen vorzubeugen und Verantwortungsgefühl und
Gemeinsinn zu schulen, werden Maßnahmen und Projekte der Partizipationsförderung
auch im Kontext der pädagogischen und sozialarbeiterischen Bearbeitung von Gewalt,
Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit unternommen. Hier zeigt sich zum einen,
auch unabhängig von dem Interesse an Extremismus- und Gewaltprävention bzw. –
reduktion, dass eine zufriedenstellende Systempartizipation auf Erfahrungen von
Alltagspartizipation aufruhen muss, gerade auch schon bei Kindern und Jugendlichen. In
dieser Hinsicht bleiben nicht nur viele mögliche Ansatzpunkte ungenutzt; zu denken ist
bspw. an die (modifizierte Re-)Etablierung von Selbstverwaltungsstrukturen in
182
Jugendzentren, an Ausweitungen schulischer Mitbestimmung und an Chancen
kommunalpolitischer Beteiligung. Es zeigt sich auch, dass ohne eine – freilich
zurückhaltend operierende - (sozial)pädagogische Begleitung durch Fachkräfte,
Minderjährige ihre Partizipationsanliegen nicht oder kaum durchzusetzen vermögen (vgl.
Möller 1999b, 2000b). Es bestehen also hier große und bisher unbefriedigte Bedarfe an
fachlicher Unterstützung und Begleitung.
Fokussieren wir nun stärker auf die qualitativen Aspekte der gefundenen Konzepte und prüfen
wir sie nunmehr in der Gesamtschau hinsichtlich ihrer Bezüge auf den Stand der
themenspezifisch einschlägigen Forschung, auf die Fachdebatten der Leitdisziplin(en) und auf
ihre Evaluation!
Insgesamt lässt sich der Eindruck wohl kaum von der Hand weisen, dass die theoretischen
Referenzen der Praxiskonzepte im allgemeinen eher wenig ausgearbeitet sind.
Theorien über die Ursachen von Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt
werden offenbar noch am umfassendsten innerhalb der Begründungszusammenhänge von
Historischer Bildung (hier insbesondere das Autoritarismus-Konzept und seine
Weiterentwicklungen; vgl. zur Kritik noch einmal Kap. 3.1.1), aufsuchender Arbeit (hier vor
allem individualisierungstheoretische Erkenntnisse), Anti-Gewalt-Programmen in Schulen
(vor allem beim Olweus-Programm) und bei den – allerdings kaum existierenden –
geschlechtsreflektierenden Ansätzen (Bezugnahme auf theoretische Überlegungen zur
geschlechtsspezifischen Sozialisation) zur Kenntnis genommen. Seminareinheiten zur
Demokratie- und Toleranzerziehung weisen zwar auch theoretische Basierung auf. Diese ist
allerdings – wie auch die auf eine demokratische Schulentwicklung abhebenden umfassenden
Schulentwicklungskonzepte - stärker demokratietheoretisch grundiert. Konzepte des
allgemeinen sozialen Lernens begründen sich eher mit lerntheoretischen einerseits und
identitäts- und persönlichkeitstheoretischen Überlegungen andererseits, können aber die
Kompatibilität der letztgenannten mit theoretischen Erkenntnissen der Forschungen zu
Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt in Anschlag bringen und insoweit ihre
Einsetzbarkeit zu Zwecken der Gewalt- und Ausgrenzungsreduktion und –prävention
vorbringen. Besonders schwach fallen die theoretischen Bezüge zumeist bei erlebnisabenteuer- und sportpädagogischen Ansätzen, bei den kultur- und medienpädagogischen
Konzepten sowie bei Kampagnen, Wettbewerben und Aktionen aus. Auch die anderen
Konzepte sehen sich jedoch gezwungen, ihren jeweiligen Ansatz zu großen Teilen über
alltagstheoretische Deutungen zu legitimieren. Daher kommt man vielfach über das Niveau
relativ theorieferner Plausibilisierungsversuche nicht hinaus. Bezeichnenderweise liegen
Theoriereferenzen – soweit vorhanden – auch zumeist auf der Ebene der Zielbeschreibungen
und damit in den vergleichsweise abstrakten Elementen von Konzeptualisierungen vor. Sie
verblassen bis zur Unkenntlichkeit, wo Konkretisierungen gefordert sind und es mehr um das
'Eingemachte' geht, also bei der Darlegung von Inhalten, stärker aber noch bei Methoden,
Verfahren und Techniken.
Dies gilt auch – eher sogar noch verschärft – für die Bezugnahme auf empirische Befunde.
Nur in Ausnahmefällen wird der Stand der Forschung als Ausgangspunkt genommen
(besonders stringent und konkret intendiert z.B. bei dem Projekt "Unsere Schule...").
Ansonsten kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass empirisch-wissenschaftliche
Befunde bestenfalls im nachhinein legitimatorisch als Belege für ein auch ohne sie zu Stande
gekommenes Konzept, mehr noch: für einzelne seiner Bestandteile, primär – wie erwähnt –
für Zielabsicherungen, angeführt werden. Noch öfter werden Praxiskonzepte erst gar nicht
stringent auf Forschungsergebnisse bezogen. Sie scheinen insofern eher in den Traditionen
der konzeptionellen Ausrichtung der jeweiligen Einrichtungen und/oder in den
Qualifikationsprofilen und Interessen ihrer Mitarbeiterschaften, wenn nicht gar in Vorgaben
183
projekt- und themenzentrierter Förderpolitik zu gründen; ein Eindruck, der sich gerade im
Kontext des Xenos-Programms mit seinen arbeitsmarktorientierten Projekten einstellen kann.
Verantwortlich für dieses Nebeneinander von Theorie und Praxis scheinen im wesentlichen
zwei Punkte zu sein:
Zum ersten müssen theoretische und empirische Studien sich den Vorwurf gefallen lassen,
den Themenkreis Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt ganz weit
überwiegend in problemzentrierter Engführung anzugehen. Mit anderen Worten: Es dominiert
die Suche nach Ursachen für Problemverhalten. Demgegenüber fehlt es an Forschungen, die
die Bedingungen von Problemfreiheit oder wenigstens von relativer Problemferne
untersuchen. Gerade für die sozialarbeiterische und pädagogische Praxis dürften Antworten
auf die Frage, was Distanz zu oder Abwendungen von antidemokratischen Einstellungen und
Problemverhalten bewirkt, viel weiterführender sein. Analoges gilt allgemeiner für die
Untersuchung
von
Desintegrationsund
Integrationspotenzialen
sowie
Anerkennungsbeziehungen.
Damit hängt der zweite Punkt zusammen. Zum zweiten nämlich resultieren die
Schwierigkeiten der Bezugnahme auch aus einem in seiner Funktion ungeklärten, ja häufig in
konkreten Forschungszusammenhängen nicht einmal bestehenden Verhältnis von Theorie und
Praxis. Fehlender, eher zufälliger im Rahmen von PraktikerInnenfortbildung ablaufender und
dann meist auf einseitige Informationsfunktionen reduzierter Kontakt zwischen
TheoretikerInnen und PraktikerInnen führt zu mangelhaften Kommunikationsbeziehungen,
die wiederum Kooperationsbezüge in weite Ferne rücken lassen. Deshalb stehen auch
grundlagenorientierte Forschungsansätze und anwendungsrelevante Studien in einem
deutlichen Missverhältnis, in dem letztere ins Hintertreffen geraten sind. Zweifelsfrei sind
gründliche Grundlagenkenntnisse unerlässlich, um pädagogische und sozialarbeiterische
Strategien und Konzepte mit ihnen fundieren zu können. Dies darf aber nicht dazu führen,
dass das Interesse der Praxis an Praxisorientierung und Anwendungsrelevanz zur Seite oder
auf die lange Bank geschoben wird. Mit einer solchen Strategie begibt sich Forschung
derjenigen Anstöße, die sie aus Praxisfragestellungen heraus befruchten können.
Insofern bringt es die Diskussion nicht weiter, aus der Sicht der Wissenschaft die Theorieund Empirieferne der Praxis zu beklagen oder sich aus der Sicht von Praxis über die
Abgehobenheit von Forscherinnen und ihre Elfenbeinturm-Mentalität zu beschweren. Aus
relativer Kontaktlosigkeit und aus der Defensive wechselseitiger Distanzierung führt nur die
Aufnahme kooperativ angelegter Theorie-Praxis-Diskurse heraus. Dazu bedarf es allerdings
auch der Setzung von förderlichen Rahmenbedingungen durch die Politik. Dies betrifft die
Forschungsförderung, es betrifft aber auch die Ermöglichung, Initiierung und Stützung von
Zusammenarbeit
im
Kontext
politischer
Programme
der
Gewaltund
Rechtsextremismusbekämpfung. Die vorliegenden Programme sind an dieser Stelle noch
unzureichend entwickelt.
Paradigmatische und strategische Orientierungen, die Debatten über geeignete
Formatierungen und konzeptionelle Ansatzpunkte pädagogischer und sozialarbeiterischer
Maßnahmen spiegeln sich durchaus in den einschlägigen Konzepten wider. Ja, es scheint
sogar, als hätte dieser Arbeitsbereich innerhalb der letzten ca. 10 Jahre sogar prägend auf
Grundorientierungen pädagogischer und Sozialer Arbeit Einfluss genommen.
1. Im Kontext der Rechtsextremismus- und Gewaltdebatte ist der gesellschaftliche
Stellenwert von Jugend- und Sozialarbeit als Bearbeitungsinstanz von gesellschaftlichen
Konflikten gestiegen. Insbesondere haben sich die Gewichte im Verhältnis von
Jugendhilfe und Justiz verschoben. Gerade das Gewalt- und Rechtsextremismus-Problem
hat deutlich werden lassen, dass allein mit Mitteln wie Parteiverboten, Ausbau der Polizei
184
und Strafverschärfungen wenig auszurichten ist. Kriminalisierung, Etikettierung und
Stigmatisierung jugendlicher Akteure politisch konturierter Gewalt zeitigen vielfach
kontraproduktive Folgen und kappen bestenfalls die organisatorisch und ideologisch
verhärteten Spitzen des Problem-Eisbergs, lassen aber ursachenbezogene Strategien,
Breitenwirkungen, Resozialisierungsgedanken und Präventionsgesichtspunkte außer acht.
Diese Einsicht erscheint z.Zt. unumkehrbar, auch wenn immer wieder neu aufflammende
Repressionsrhetorik (z.B. anlässlich des NPD-Verbots-Verfahrens oder einzelner
Vorkommnisse rechtsextremer Gewaltsamkeit) das Gegenteil zu belegen scheint,
Rotstiftpolitk in der Regelversorgung Erreichtes bedroht und die unzureichende
Evaluation pädagogischer und Sozialer Arbeit Delegitimationsgefahren heraufbeschwört.
2. Die Breite der oben skizzierten Konzeptvarianten im pädagogischen und
sozialarbeiterischen Umgang mit dem Gewalt- und Rechtsextremismus-Problem hat
einerseits
einer
intraund
interdisziplinären
Akzeptanzausweitung
von
Methodenpluralismus Bahn gebrochen; andererseits beinhaltet sie markante
Akzentsetzungen in Richtung auf mehr Prozessorientierung, Ganzheitlichkeit,
Alltagsnähe, Erfahrungsbezug, Handlungsorientierung und Aktionsbezug des Lernens.
Darin eingeschlossen deutet sich ein verstärktes Ansetzen an kulturell-ästhetischen und
symbolischen Praxen an. Es spiegelt die fortschreitenden konsum- und jugendkulturellen
Ausdifferenzierungen wider, die auch vor der Sphäre der Politik nicht haltgemacht haben.
Demgegenüber muss das Paradigma der Wissensvermittlung deutliche Einbußen
hinnehmen. Pädagogische Aufklärungsattitüden werden zunehmend abgelegt und rein
informatorische Veranstaltungen werden seltener. Kognitiv-argumentativ verkürzte
Überzeugungsversuche
verspüren
konzeptionellen
Gegenwind.
Moralische
Urteilsfähigkeit kann weiter als unverzichtbar gelten, von oben herab moralisierend
vermittelt, wird sie jedoch zunehmend als aussichtslose Zeigefinger-Pädagogik betrachtet.
Besonders eindrücklich sind diesbezüglich die Diskussionen um und die
Schlussfolgerungen für eine historisch adäquate Aufarbeitung des Nationalsozialismus.
Formate der Unterrichtung werden zwar, vor allem in der Schule (innerhalb des regulären
Unterrichts) und in der Erwachsenenbildung (im Design von Vorträgen,
Podiumsveranstaltungen etc.) durchaus noch bemüht, sie werden aber zunehmend durch
konzeptionelle Favorisierungen solcher des Trainings (z.B. in personalen und sozialen
Kompetenzen oder von StreitschlichterInnen), der Begegnung, der Recherche oder
anderer stärker selbstgesteuerter Formate ergänzt und zumindest im Bereich der
außerschulischen Jugendbildung auch verdrängt.
3. Die Debatte über die Ursachen von Rechtsextremismus, Ausgrenzungshaltungen und
Gewalt hat deutlich werden lassen, dass zwar infrastrukturelle Tätigkeit verstärkt werden
muss, dies aber keinesfalls dazu führen darf, die Arbeit mit dem Individuum zu
vernachlässigen. Theoretisch und empirisch ist kaum zu übersehen, dass die Anfälligkeit
für Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus im Einzelfall mit unzureichend
entwickelten personalen und sozialen Kompetenzen zusammenhängt. Deshalb erscheint es
folgerichtig, den Hebel hier anzusetzen. Allerdings handelt es sich bei den auf dem Markt
befindlichen Konzepten im Regelfall um kurzzeitpädagogische Trainingsformate. Bei
ihnen erscheint zum einen die Nachhaltigkeit von erwünschten Effekten zweifelhaft und
zum anderen zu wenig bedacht, durch welche zusätzlichen Maßnahmen ein
Alltagstransfer bzw. überhaupt eine kompetenzentwicklungsfreundliche Sozialisation
sichergestellt werden kann.
4. Rechtsextremismus- und Gewalt-Projekte haben den i.w.S. lebensweltorientierten
Konzepten, die schon der Achte Jugendbericht favorisiert, nachhaltige Schubkraft
185
verliehen. Die Aufwertung von aufsuchenden Ansätzen wie z.B. der Mobilen
Jugendarbeit hat den Integrations- gegenüber dem Ausgrenzungsgedanken gestärkt,
Bedürfnisorientierung krude Problemzentrierungen und -entsorgungsillusionen ablösen
lassen und eine Lanze für alltagsnahe und sozialraumorientierte Cliquen- statt klassischer
pädagogischer Gruppenorientierung gebrochen (vgl. Krafeld 1992). Selbst wenn in
jüngerer Zeit die (sozial)pädagogische Arbeit in rechten Szenen, vornehmlich in
Ostdeutschland, in Verruf geraten ist, so bleibt die Förderung von Integrationspotenzialen
auch in der Arbeit mit politisch Desintegrierten der zentrale Bezugspunkt. So gesehen ist
es als sehr problematisch zu bewerten, wenn der durchaus sinnvoll erscheinende Ansatz
des
Aufbaus
politisch-sozialer
Integrationsformen
bzw.
der
Stärkung
zivilgesellschaftlicher Strukturen demokratischen Interessenausgleichs als Konterpart
unmittelbarer Arbeit mit 'rechten' Jugendlichen statt als deren notwendige Ergänzung
betrachtet wird. Insofern ist es auch folgerichtig, wenn Gemeinwesenarbeit bloßer
Therapeutisierung entgegengesetzt, langfristig angelegte Konzepte – jedenfalls
theoretisch, nicht unbedingt praktisch - im Vergleich zu bloßer Anlass-Pädagogik
priorisiert und die Bedeutungen von Präventionsanstrengungen sowie von Kinder- und
Jugend-Partizipation gesteigert werden. Das Gestaltungsparadigma sieht sich gegenüber
einem bloß einzelfallbezogen altruistisch motivierten Hilfeparadigma im Aufwind, wie
etwa auch gerade die konzeptionelle Anlage jenes Konzepts zeigt, das auf den ersten
Blick noch am ehesten vom Gedanken erster Hilfe getragen wird: die Opferberatung. Sie
hat die Einzelfallhilfe um Öffentlichkeits- und Gemeinwesenarbeit erweitert.
5. Insoweit die Geschlechterdifferenzen der Anfälligkeit für Rechtsextremismus ebenso wie
für Gewalt erheblich sind, kann nicht verwundern, dass einschlägige Maßnahmen und
Projekte nahezu zwangsläufig auf die Relevanz geschlechtsreflektierender Arbeit stoßen.
Nachdem lange Zeit die Debatten um Rechtsextremismus und Gewalt sowie die um
geschlechtsbezogene Pädagogik getrennt voneinander verliefen, werden zunehmend seit
etwa 1991 Verbindungen hergestellt. Auch wenn sich die Praxis der RechtsextremismusProjekte in Bezug auf geschlechtsspezifische Arbeit insgesamt noch defizitär darstellt, so
wird doch deren Bedeutsamkeit nachdrücklich unterstrichen. Dies gilt in erster Linie für
Jungenarbeit. Die Einschätzung folgt offensichtlich vor allem der Einsicht in die
Notwendigkeit einer Pädagogik der funktionalen Äquivalente. So wie sie auch im Rahmen
einer noch geschlechtsundifferenziert verfahrenden aufsuchenden Arbeit in rechten
Szenen und Cliquen 'hinter' das problematische Verhalten der Adressaten zu blicken
sucht, so nimmt sie Gewalt und extremistische Inszenierung auch als ungelenken Umgang
mit verspürtem geschlechtsspezifischen Anforderungsdruck wahr und versucht
insbesondere für juvenil-maskuline Identitätsbildungsprozesse über Violenz Alternativen
für Selbstwert-, Zugehörigkeits-, Teilhabe- und Anerkennungsgewinn zu entwickeln (vgl.
auch Möller 2002c). Freilich müssen politisch Rahmenbedingungen geschaffen werden,
die die eher noch abstrakten Relevanzzuschreibungen an geschlechtsreflektierendes
Arbeiten in konkrete Maßnahmen zu transformieren gestatten.
6. Der Einsicht folgend, dass Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit nicht
auf monokausale Ursachen zurückzuführen sind, werden arbeitsfeldbezogene
Abschottungen zwischen den Sozialisationsinstanzen und -institutionen immer fraglicher
und erhalten Bestrebungen der Vernetzung sozialer Hilfsangebote und Kontrollformen
Auftrieb. Dies gilt um so mehr, als die milieugebundenen Unterstützungs-Netzwerke des
marginalisierten Klientels im Zuge von Individualisierungsfolgen vielfach zerstört sind
bzw. werden und auf Ersatz drängen. Daher ist der Praxis-Zusammenhang der
Rechtsextremismus- und Gewalt-Projekte nicht zufällig auch Hintergrund für das Konzept
"milieubildender Jugendarbeit" (vgl. AGAG-Informationsdienst 2/1993, 69 ff.; Böhnisch
186
1994, 1997) und kann in Korrespondenz mit der auch in anderen Themenfeldern
anstehenden Verstärkung zivilgesellschaftlichen Engagements stehen. Wohl nirgendwo
sonst werden Formate der Strukturverbesserung von Lebensbedingungen konsequenter
innerhalb pädagogischer und sozialarbeiterischer Kontexte verfolgt. Entsprechend können
sie sich hier in Richtung auf politisches Handeln öffnen.
7. Insofern für die Fachperspektive auf die Problematik offenliegt, dass rechtsextrem
Orientierte nur SymptomträgerInnen von Problemlagen sind, die viel breiter in der
Gesellschaft streuen, ist die Konfrontation mit den Grenzen pädagogisierender
Bearbeitungsformen unausweichlich. Rechtsextremismus- und Gewalt-Projekte
entwickeln daher einen Druck auf die (Re-)Politisierung der Jugend- und Sozialarbeit
bzw. der Pädagogik. Da sie Rechtsorientierung auch auf fehlende politische Partizipation
zurückführen müssen, führen sie die Notwendigkeit der Erweiterung von
Beteiligungsrechten Jugendlicher, der Verfolgung von politischen EinmischungsStrategien und der Mitentwicklung einer "integrierten Kommunalinfrastrukturpolitik"
(Bundesministerium 1990, 16) vor Augen.
8. Nach einer Phase der Personalisierung von Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und
Rechtsextremismus, wurde gerade von den in einschlägigen pädagogischen Projekten
tätigen Mitarbeitern dieser Mechanismus als Verleugnungs- und Ablenkungsmanöver von
zumeist subtil vorhandenen oder rechtlich verankerten Formen struktureller bzw.
systemischer Gewalt in der Gesamt-Gesellschaft erkannt. Konsequenz ist eine
Sensibilisierung für eine über die Jugendarbeit weit hinausreichende Kultur der
Gewaltlosigkeit. Sie betrifft, da der moderne Rechtsextremismus seinen
Kristallisationspunkt aus i.w.S. Fremdenfeindlichkeit bezieht, naheliegenderweise
insbesondere die Regelung des multiethnischen und multikulturellen Konfliktpotenzials.
Konzepte interkulturellen Lernens und der Antidiskriminierungsarbeit stellen sich gerade
dieser Aufgabenstellung, wobei gerade letztere auch sehr klar strukturelle Verbesserungen
über politische Einmischungen anzielt.
"Was wirkt denn nun wirklich?" – Wer diese Frage stellt, sieht sich in seiner Hoffnung auf
Klärung durch Evaluationsstudien enttäuscht. Nicht einmal vorsichtiger formulierte
Ansprüche, wie z.B. Grade der Zielerreichung festzustellen, werden in einem auch nur
halbwegs hinreichendem Maße wissenschaftlich valide in ihrer Realisierung und
Realisierbarkeit überprüft. Dies gilt für Einzelmaßnahmen wie für Programme, für letztere
allerdings noch verschärft.
Evaluationsstudien zu Anti-Gewalt-Programmen gehören nach wie vor zu den knappsten
Gütern der gesamten Gewaltforschung. Lösel u.a. (1990, hier: 24) sowie Remschmidt u.a.
(1990, hier: 273ff.) kritisieren schon vor über 10 Jahren im Hinblick auf die
Wirkungsevaluation von gewaltbezogenen Präventions- und Interventionsmodellen in
Deutschland, dass sie nur äußerst selten durchgeführt wird und es an systematischer,
methodisch kontrollierter Evaluationsforschung einen "deutlichen Mangel" gibt. Im Hinblick
auf den pädagogischen Umgang mit aggressiven Jugendlichen existieren bis zum Beginn der
90er Jahre in Deutschland allenfalls Erfahrungsberichte (vgl. vor allem Kraußlach 1981),
nicht jedoch Wirkungsanalysen, die auf der Basis einer unabhängigen Begleitforschung in
einem quantitativ- oder qualitativ-empirischen Sinne erstellt sind. Auch heute noch herrschen
auf diesem Marktsegment Erfahrungsberichte vorwiegend aus pädagogischen Bereichen, die
mit entsprechendem Klientel besonders intensiv befasst sind, also Streetwork und Mobiler
Jugendarbeit, teilweise auch Jugendhausarbeit, vor (vgl. zusammenfassend bzw.
auszugsweise dazu: Becker/Simon 1995; Koch/Behn 1997; Stickelmann 1996; LAG Mobile
Jugendarbeit 1997; Deinet/Sturzenhecker 1998). Naturgemäß sind sie meist unsystematisch
187
und methodisch wenig anspruchsvoll. Darüber hinausgehende evaluative Arbeiten sind – wie
oben im einzelnen mit Bezug auf verschiedene Konzepte markiert – äußerst dünn gesät.
Methodisch betrachtet stehen auch sie selten auf festen Füßen. Bisweilen ist eher
Dokumentation drin, wo Evaluation draufsteht. Hinzu kommt, dass generell die
Nachhaltigkeit von Effekten so gut wie gar nicht untersucht wurde.
Speziell in Hinsicht auf politische Gewalt von rechts sieht die Forschungslage noch düsterer
aus. Man kommt wohl fast nicht umhin, der aktuell von Wagner u.a. (2001) gemachten
Feststellung
beizupflichten
"Evaluierte
Maßnahmen
zur
Prävention
fremdenfeindlicher/antisemi-tischer Gewalt gibt es nicht" (ebd., 323) und diese Aussage auch
auf andere Formen rechtsextremer Gewaltsamkeit ausdehnen zu müssen.
In Bezug auf Forschung über die Wirkung von pädagogischen Anstrengungen bei der
Bearbeitung von rechtsextremen Orientierungen, also auch in Bezug auf Einstellungen und
geistige Haltungen unterhalb gewaltförmigen Handelns, gilt zusammenfassend auch heute
noch wenigstens die vorsichtig formulierte Erkenntnis: "Rechtsextremismusforscher haben es
bisher versäumt, auszuloten, mit welcher Wahrscheinlichkeit konkrete Maßnahmen Wirkung
zeigen". Forschung ist "bisher kaum darauf gerichtet, effiziente Gegenstrategien zu
entwickeln" (Winkler/Jaschke/Falter 1996, 19). Offensichtlich liegt dies daran, dass sie weit
mehr ursachenanalytisch interessiert ist. Darin allerdings zeigt sich eine Gewichtung, die sich
angesichts des konkreten Problem- und Handlungsdrucks nicht länger aufrecht erhalten lässt.
Evaluationsforschung tut not.
4.
Zum
Stellenwert
des
Forschungsverbundes
"Stärkung
von
Integrationspotenzialen
einer
modernen
Gesellschaft"
und
zu
Forschungsdesiderata aus der Perspektive der Analyse pädagogischer und
sozialarbeiterischer Praxis
4.1
Zum Rahmenkonzept
Der Forschungsverbund verbindet die Analyse von sozialen Destruktionsphänomenen wie
Gewalt, interethnischen bzw. interreligiösen Feindseligkeiten, Fremdenfeindlichkeit und
anderen Diskriminierungsformen, Entsolidarisierung sowie Rechtsextremismus mit der
Identifizierung von sozialen Integrations- und Desintegrationsfaktoren. Er nimmt seinen
theoretischen Ausgangspunkt mehrperspektivisch, methodenplural und multidisziplinär bei
der Integrations-/Desintegrationsdynamik und den durch sie geprägten Krisenphänomenen.
Damit setzt er bei Problematiken an, die zum einen aus theoretischer und empirischer Sicht
der einschlägigen Forschung erfolgversprechend für die Eruierung von Anfälligkeits- und
Distanz(ierungs)faktoren sind und die zum anderen aus der Sicht von Pädagogik und Sozialer
Arbeit Kernaufgaben ihrer professionellen und institutionellen Orientierungen betreffen. So
lässt sich Soziale Arbeit nach ihrem modernen professionellen Selbstverständnis nicht mehr
hinreichend durch Problemgruppenzentrierung, Benachteiligtenorientierung und Defizitansatz
definieren (vgl. Möller 2002a). Sie ist vielmehr substanziell als grundlegende "Arbeit am
Sozialen" zu verstehen. Insofern soziale Probleme sich tendenziell entmarginalisieren und
nicht mehr oder minder allein bestimmte gesellschaftliche Gruppierungen, vornehmlich eben
Randgruppen, betreffen, ist sie zunehmend auch auf die sog. "Mitte der Gesellschaft"
bezogen. Sie weitet deshalb auch ihre Präventionsfunktionen aus und kommt nicht erst dann
zum Einsatz, wenn Probleme sozialer Desintegration vehement auf den Plan treten und
gänzlich unübersehbar auf ihre Lösung drängen. Selbst ungeachtet dessen intendiert sie auch
bei offensichtlich problembelastetem Klientel die Vermittlung funktionaler Äquivalente für
solche Befriedigungsformen von Integrations- und Anerkennungsbedürfnissen, die individuell
188
und sozial schädigend sind. Aufgrund dessen ist sie verstärkt auf der Suche nach sozialen
Integrationspotenzialen und auf Forschungsleistungen angewiesen, die eben diese zu
identifizieren gestatten. Die Anlage des Forschungsverbunds verspricht dieses Desideratum
einzulösen, indem das Augenmerk auf Dimensionen der individuell-funktionalen System- und
der gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Sozialintegration und die in diesem Kontext
stehenden Anerkennungsprobleme gelegt wird (vgl. Heitmeyer 2001, bes. 17 ff.). Der dabei
eingestellte Fokus auf Zugänge, Teilnahmechancen, Zugehörigkeiten und entsprechende
Anerkennungen erscheint aus erziehungs- und sozialarbeitswissenschaftlicher deshalb gut
justiert, weil in der Vermittlung und Qualifizierung darauf bezogener Ressourcen und
Möglichkeiten wichtige problemprotektive und –reduzierende Chancen ausgemacht werden.
Der Mehr-Ebenen-Ansatz reflektiert, dass Pädagogik und Soziale Arbeit sich nicht in der
face-to-face-Auseinandersetzung mit dem 'Klientel' im Mikrobereich gesellschaftlichen
Lebens erschöpft, sondern sich gezwungen sieht, auch infrastrukturell gestaltend auf der
Meso- und Makro-Ebene Einfluss zu nehmen. Zwar liegt die Makro-Ebene im allgemeinen
außerhalb der unmittelbaren Reichweite pädagogischer und Sozialer Alltagsarbeit, arbeitet sie
sich aber andererseits notgedrungen an langfristigen und aktuell wirksam werdenden
Strukturproblemen ab, so dass der allenthalben verbreitete Anspruch auf ursachenbezogenes
Handeln nicht ohne Kenntnisse über die von ihnen bewirkten Prozesse und nicht ohne
Überlegungen zu politischen Einmischungen eingelöst werden kann. Die in Sektor I des
Forschungsverbundes zu betreibende Aufhellung struktureller Hintergrundprozesse kann
deshalb der ursachenadäquaten Auslegung (sozial)pädagogischer Programme und
Maßnahmen dienlich sein.
Aus der theoretischen und empirischen Perspektive ursachenbezogener Forschung (vgl. dazu
ausführlicher: Möller 2000, 2001; Boehnke/Baier 2001; Minkenberg 2002) geht hervor, dass
institutionelle
und
sozialräumliche
Gelegenheitsstrukturen
(Sektor
IIb
des
Forschungsverbundes), kollektive Mobilisierungspotenziale in der Bevölkerung (Sektor IIc)
und das Verhalten von Deutungs-, Kontroll- und Mobilisierungsakteuren (Sektor IIa)
individuelle Lernprozesse sowie kollektive Orientierungs- und Verhaltensweisen (Sektor III)
entscheidend prägen. Daher erscheint es sinnvoll, wie der Forschungsverbund dies tut,
Projekte mit entsprechenden Fragestellungen einzubinden, nicht zuletzt um die auch aus
pädagogischer und sozialarbeiterischer Erfahrung heraus als relevant einzustufenden
"verdeckten Varianten" der Unterminierung von Kernnormen freizulegen (vgl. Heitmeyer
2001, 21) und die Einzelprojekte auf den 3 Ebenen miteinander weitmöglichst kooperativ zu
verzahnen. Er öffnet damit in gewisser Weise die Einzelprojekte durch die Möglichkeit zu
Bezugnahmen aufeinander, initiiert Konvergenzanstrengungen und 'zwingt' die einzelnen
Studien in die Gesamtverantwortung. Die avisierten Themen-, Konstrukt-, Methoden-,
Instrumenten-, Daten- und Interpretationskooperationen sowie die regionalen und
sozialräumlichen Feldkontakte untereinander ermöglichen Komplementaritäten, die außerhalb
eines Verbundes unerreichbar blieben. Aus der Sicht pädagogischer Praxis lässt sich damit die
Erwartung einlösen, nicht nur fragmentarisch neue Erkenntnisse über Teilphänomene,
sondern auch Antworten auf Anschlussfragen, die aus bestimmten Forschungsergebnissen
resultieren können, erhalten zu können. Die Themenauswahl in den einzelnen Sektoren des
Verbundes erscheint zwar in gewisser Weise willkürlich und den jeweiligen Interessen der
beteiligten Forscher und Forscherinnen zu folgen. Nichtsdestoweniger akzentuieren die
Themen Problembereiche, die aus der Sicht pädagogischer und sozialarbeiterischer Praxis
hohe Relevanz beanspruchen können. Sie fokussieren auf Prozesse, Institutionen und
Personengruppierungen, deren Studium entweder wichtige Hintergrundprozesse klären helfen
oder die – dies ist die Mehrzahl – die unmittelbare Arbeit an der 'pädagogischen Front'
betreffen (z.B. Schule, Angstzonen, Skinheads, Opfer).
189
Vor dem Hintergrund der zu konstatierenden Defizite in der Theorie-Praxis-Kooperation ist
es erfreulich, dass der Forschungsverbund Wert auf Anwendungsrelevanz legt und einzelnen
PraxisvertreterInnen wie Praxisinstitutionen "eine aktive Rolle" (Heitmeyer 2001, 38)
zugesteht. Die vorgesehenen ExpertInnen-Interviews in manchen Projekten und
Wissenschafts-Praxis-Workshops (vgl. ebd., 41) bieten allerdings nicht mehr als Ansätze
dafür. Aus erziehungs- und sozialarbeitswissenschaftlicher Perspektive, vor allem aber aus
der Sicht von Praktikern und Praktikerinnen der pädagogischen und Sozialen Arbeit wäre es
wünschenswert, wenn auch die Einzelprojekte des Verbundes breiter und verstärkt
Kooperationen eröffnen würden, wie dies in einigen Fällen bereits geschieht. Dabei erscheint
es wichtig, PraktikerInnen bereits in der Phase der Felderschließung und der
Konzeptualisierung der Erhebungen zu beteiligen, sie im weiteren Verlauf kontinuierlich zu
Konsultationen einzuladen und nicht allein anschließend für sie (ggf. Zwischen)Ergebnispräsentationen anzubieten. So wäre zu gewährleisten, die Forschungsanlage durch
Praxisanregungen 'aufladen' und Praxiskooperation auch als eventuelles Korrektiv innerhalb
der Forschungsprozesses fruchtbar werden lassen zu können.
Die in den voranstehenden Kapiteln geleistete Aufarbeitung des Forschungsstandes zu
pädagogischen und sozialarbeiterischen Programmen und Konzepten zur Bearbeitung von
Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus sah sich gezwungen, deutschlandweit
das fast gänzliche Fehlen sowie nicht unerhebliche Schwächen der wenigen und zudem z.T.
nur im Ausland vorhandenen Evaluationsstudien zu diagnostizieren. Aus diesem Grund lässt
sich die ursachenanalytische Ausrichtung des Forschungsverbundes und seine Aussparung
von Evaluationsforschung bedauern. Andererseits bietet die strikt kooperative und
konvergenzfokussierende Anlage des Forschungsverbundes gute Chancen dafür, den Ertrag
der der Komplexität des Untersuchungsgegenstands schwer gerecht werdenden
Einzelforschungen deutlich zu übertreffen. Außerdem bietet er Themen, die in z.T. weit
aufklaffende Forschungslücken und Leerstellen stoßen (z.B. Angstzonen, Skinhead-Studie,
Eliten, Sport, Gefängnisse) und gleichzeitig Praxisbereiche berühren, in denen
MitarbeiterInnen unter hohem Handlungsdruck stehen. Insofern macht es wenig Sinn, ihre
Ersetzung durch evaluativ ansetzende Forschungen zu fordern.
Allerdings stellt sich auf der anderen Seite die Situation von Evaluationsforschung geradezu
desaströs dar. Im Sinne rationaler politischer Steuerung erscheint es kaum noch
verantwortbar, Gelder in mehrstelligem Millionenumfang in Programme und Maßnahmen zu
leiten, deren Effektivitätsnachweise, sofern überhaupt abgefordert und vorgelegt, mehr auf
dem Level von Alltagsplausibilisierungen geführt als wissenschaftlich basiert werden.
Öffentlichkeit und Eltern haben ein naheliegendes Interesse daran, erfolgversprechende
Umgangsweisen von eher nutzlosen oder sogar kontraproduktiven Strategien trennen zu
können. Und auch für die Praxis ist es wenig befriedigend, Jahr für Jahr entweder mehr oder
minder 'more of the same' zu produzieren oder innovative Wege zu gehen, die vielleicht
MitarbeiterInnen und AdressatInnen unspezifischen "Spaß" machen, aber nicht bzw. kaum zu
erkennen geben, wohin sie tatsächlich führen.
Deshalb ist zu überlegen, ob nicht die Öffnungsklausel (vgl. Rahmenkonzept) dafür genutzt
werden sollte, auch solche Studien ein- bzw. anzuschließen, die sich auf Evaluation von
Praxis beziehen. Wie eine derartige Einbeziehung bzw. ein 'Andocken' aussehen könnte, sollte
dann spätestens bis zum 'ersten Meilenstein' geklärt werden.
4.2
Zu den einzelnen Projekten17
17
Vgl. zum folgenden eingehender bei Bedarf: Interdisziplinärer Forschungsverbund "Stärkung von
Integrationspotenzialen einer modernen Gesellschaft". Antrag zur Förderung des Forschungsverbundes durch
das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Bielefeld 2001
190
Projekt 1 (Thome) zeichnet die Entwicklung der Gewaltkriminalität auf dem Hintergrund des
sozialen Wandels und politischer Konfliktkonstellationen international vergleichend zwischen
Deutschland, England und Schweden zwischen 1950 und dem Jahr 2000 nach. Es zielt darauf
ab, Indikatoren zusammenzustellen und neu zu konstruieren, die es erlauben, "normale" und
"pathologische" Integrationsformen zu identifizieren. Die im einzelnen verfolgte
Indikatorenliste beinhaltet trotz der makrotheoretischen Anlage der Studie Aspekte, deren
Praxisrelevanz hervortritt. Dazu gehören bspw. Vertrauen in politische Institutionen,
Partizipationsbereitschaft, Wertorientierungen und Erziehungsziele, Freizeit- und
Konsumverhalten, Lebensstile, Mitgliedschaft in freiwilligen Vereinigungen, soziale
Einsamkeit, Zeit für Gespräche mit Eltern und Freunden, Umsätze bei bestimmten
Computerspielen und Hinweise auf die Entstrukturierung der Jugendphase. Es handelt sich
dabei um Faktoren, die innerhalb der Reichweite pädagogischer Beeinflussung liegen bzw.
z.T. gezielt von Konzepten der Gewaltbekämpfung angegangen werden (etwa im Rahmen von
Projekten der Partizipationsförderung die Steigerung von Partizipationsbereitschaft). Wenn
Makro-Mikro-Verbindungen darin vermutet werden, dass ein durch bestimmte strukturelle
Entwicklungen beförderter Mangel an Selbstkontrolle bzw. an Handlungskompetenz die
Kriminalitätsbelastung einer Gesellschaft ansteigen lassen, deutet sich ein vielversprechender
Ertrag für die pädagogische und sozialarbeiterische Praxis an, zumal bestimmte der in Kap.
3.1 diskutierten Konzepte speziell auch auf die Qualifizierung von individueller
Selbstkontrolle abheben (besonders deutlich etwa Anti-Aggressivitätstrainings und Konzepte
der Schulung von personalen Kompetenzen und des allgemeinen sozialen Lernens). Aus
erziehungs- und sozialarbeitswissenschaftlicher Perspektive und im Interesse an
Anwendungsrelevanz erscheint aber besonders interessant, dass erwartet wird, auch
Vorschläge für die Sozialberichterstattung gewinnen zu können.
Gleichwohl bleibt auch nach Projektabschluss zu prüfen, inwieweit makrotheoretisch
herausgearbeitete Zusammenhänge auch im Mikrobereich zutreffen bzw. ob und ggf. wie sie
sich auf Gruppen- und individueller Ebene umsetzen. Dabei sind dann auch die Einflüsse des
Mesobereichs zu berücksichtigen. Aus erziehungs- und sozialarbeitswissenschaftlicher wie –
praktischer Sicht sind in diesem Rahmen gerade solche institutionellen Strukturbildungen,
Programme und Maßnahmen interessant, die in ihrem professionellen Zuständigkeitsbereich
liegen.
Projekt 2 (Dörre) setzt ebenfalls makrotheoretisch an. Zentraler Gegenstand ist hier aber der
Arbeitsmarkt. Untersucht wird, inwieweit prekäre Beschäftigungsverhältnisse als Ursachen
von sozialer Desintegration und Rechtsextremismus in Frage kommen. Dementsprechend
fahndet die Studie nach Verunsicherungen, Bindungsverlusten, Ohnmachtgefühlen und
Erfahrungen sozialer Missachtung und stellt dabei Zonen der Prekarität solchen der
Integration und der Entkoppelung gegenüber. Sie sucht jedoch darüber hinaus auch nach
Formen der Selbsttätigkeit, Selbstorganisation und solidarischen Bewältigung, die Hinweise
auf Ansatzpunkte für eine Revitalisierung der sozialen Bindungskraft von Erwerbsarbeit
liefern könnten. Fünf Dimensionen werden dabei vorzugsweise berücksichtigt: Einkommen,
Sinnstiftungsfunktion von Arbeit, die Qualität von Sozialbeziehungen am Arbeitsplatz, die
Lang- bzw. Kurzfristigkeit von Lebensplanung, die Konsistenz bzw. Inkonsistenz von Status
und die Grade an Vertrags(un)sicherheit. Das Vorhaben erschließt damit ein Themenfeld, das
bspw. im Kontext des Xenos-Programms von zentraler Bedeutung ist. Es lässt Ergebnisse
erwarten, die ohne sonderlich schwierige Transferierungsarbeiten in die (sozial)pädagogische
Begleitung der darin vorgesehenen Maßnahmen einfließen können. Dies auch deshalb, weil
forschungsmethodisch ein qualitatives Verfahren gewählt wird, das den subjektiven Umgang
mit Prekaritäts-, Entkoppelungs- und Integrationserfahrungen einzufangen vermag.
191
Befruchtend dürften Projektergebnisse auch auf die betriebliche Sozial- und
Antidiskriminierungsarbeit und die gewerkschaftliche Bildungsarbeit zur Thematik wirken.
Um solche Transferleistungen verstärken zu können, wäre zu überlegen, ob nicht auch
ExpertInnen-Interviews mit Professionellen aus diesen Bereichen bereichernd wären. Das
Vorhaben bietet eine Reihe von Anschlussstellen zu Projekten, die sich nicht zentral auf
Fragen der Arbeitsmarktintegration beziehen, andererseits aber von Kooperationen mit dem
Projekt und von seinen Ergebnissen bei der Interpretation der eigenen Daten profitieren
dürften.
Projekt 3 (Rucht/Imbusch) untersucht das Verhalten von Wirtschaftseliten in Bezug auf eine
Übernahme von Verantwortung für die Verhinderung und Beseitigung zerstörerischer Folgen
sozialer Desintegrationsprozesse. Es nimmt damit auf der Meso-Ebene eine Gruppierung in
den Blick, die vor allem unter Deutungs-, Kontroll- und Mobilisierungsaspekten von Belang
ist, allerdings bislang fast gar nicht in den Fokus der Rechtsextremismus-,
Fremdenfeindlichkeits- und Gewaltforschung gerückt wurde. Auch wenn die Unterstellung
eines diskursprägenden Einflusses aufgrund des registrierbaren Glaubwürdigkeitsrückgangs
von Eliten im allgemeinen durchaus strittig ist, kann ihnen eine bedeutsame
Multiplikatorenfunktion zugesprochen werden. Damit erscheint die Frage spannend,
inwieweit sie in der Lage und willens sind, das Klima für Integration und Desintegration über
öffentliche Äußerungen und im Rahmen berufsständischer Organisationen insgesamt, in erster
Linie aber auch gerade innerhalb ihrer Betriebe, zu bestimmen. Anzunehmen ist, dass auf
ihrer Seite Strukturgestaltungskompetenzen vorhanden sind, die etwa die interethnischen
Beziehungen von Beschäftigten am Arbeitsplatz entscheidend formen können. Geklärt wird,
inwieweit sie wahrgenommen und genutzt werden, welche Motive hinter entsprechenden
Initiativen und Aktivitäten stehen, welche Muster sich zeigen, unter welchen Bedingungen
sowohl ein auf Integration zielendes Engagement als auch ein Desintegration duldendes oder
gar verschärfendes Handeln zu Stande kommt und welche Erfahrungen sowohl mit dem einen
wie dem anderen bisher gemacht wurden. Das Projekt zielt damit auf Forschungsergebnisse,
die auch von außerwissenschaftlichem Interesse sind, etwa in der Debatte um die
Zuwanderung. Sie berühren die Arbeitsbereiche von Pädagogik und Sozialarbeit vor allem
dort, wo sie unmittelbar in betrieblichen Zusammenhängen (z.B. betriebliche Sozialarbeit)
oder in beruflicher Aus- und Weiterbildung angesiedelt sind. Indem das Projekt in seiner
Konzentration auf unternehmerische Figuren als Komplementärstudie zu der auf
Arbeitnehmer bezogenen Studie von Dörre aufzufassen ist, ergeben sich nicht nur interessante
Anschlussstellen der Projekte untereinander, sondern weist Projekt 3 in ähnlicher Weise wie
Projekt 2 Erkenntnispotenziale auf, die vor allem für (sozial)pädagogische Arbeit im Rahmen
von Xenos- und anderen arbeitsmarktbezogenen oder auch berufsschulbezogenen
Maßnahmen interessant sind. Anregungen sind darüber hinaus aber auch – ähnlich wie bei
Projekt 2 – für die betriebliche Antidiskriminierungsarbeit, die gewerkschaftliche
Bildungsarbeit und eine auf ArbeitnehmerInnen bezogene Erwachsenenbildung erwartbar.
Projekt 4 (Neckel) widmet sich der Untersuchung negativer Klassifikationen. Darunter sind
stigmatisierende Elemente der symbolischen Ordnung einer Gesellschaft zu verstehen, die in
zwei Typen existieren können: als graduelle Unterscheidungen oder als kategoriale
Klassifikationen. Letztere erheben in Gestalt von Ungleichwertigkeitsvorstellungen den
Anspruch auf Exklusivität von Zugängen, Teilnahmechancen und Teilhaberechten. Sie
verteilen darüber auch Anrechte auf soziale Wertschätzung. Das Projekt untersucht in
sozialräumlichem Zuschnitt in drei Stadtteilen mit unterschiedlicher Ressourcenausstattung
und unterschiedlichen Integrationsgraden ("abgehängt", "durchmischt", "gehobene Lage") das
Zustandekommen solcher Klassifikationen unter den fünf Dimensionen ihres materialen
Inhalts (1), ihrer formalen Struktur (2), den Kontextbedingungen der Adressierung (3), den
192
Prozessverläufen praktischer Aushandlungen (4) und ihren sozialen Folgen (5). Es spitzt
damit anerkennungstheoretische Fragen auf soziologisch beobachtbare Felder zu. Methodisch
sind ethnographische Feldforschung sowie Einzel- und Gruppeninterviews mit Angehörigen
verschiedener innerhalb der Stadtteile wohnhafter Sozialgruppen (z.B. Sozialhilfeempfänger,
Arbeitslose, Ausländer, aufwärts und abwärts sozial mobile Personen) vorgesehen. Aus
erziehungsund
sozialarbeitswissenschaftlicher
wie
aus
pädagogischer
und
sozialarbeitspraktischer Sicht erscheint gerade die integrierte Sozialraumperspektive
ertragversprechend. Insbesondere sozialräumliche Ansätze, Strategien infrastruktureller
Arbeit und politischer Einmischung sowie Ansätze von Netzwerkarbeit benötigen Hinweise
darauf, an welchen Stellen Einflussnahmen nötig und aussichtsreich sind.
Der Ertrag des Projekts ist jedoch auch davon abhängig, dass es gelingt, genau jene Faktoren
zu eruieren, die graduelle von absolut verfahrenden Klassifizierungsprozessen unterscheiden.
Projekt 5 (Eckert u.a.) thematisiert Gruppenauseinandersetzungen von Jugendlichen in
lokalen Kontexten. In sozialräumlich-kontrastierendendem Zuschnitt auf "abgehängte" Viertel
einerseits und "privilegierte" Stadtteile andererseits werden die Konflikte,
Desintegrationserfahrungen, Integrationspotenziale und Interaktionsmuster innerhalb und
außerhalb von Jugendcliquen in Gegenüberstellung von gewaltarmen und gewaltaffinen
Gruppierungen herausgearbeitet. Es bearbeitet damit ein Untersuchungsfeld, das mit dem
praktischen Arbeitsfeld von Offener und Mobiler Jugendarbeit bzw. Streetwork große
Kongruenzflächen aufweist. Gleichzeitig handelt es sich um eine u.a. durch die Gruppe um
Eckert selbst bereits vergleichsweise gut ausgeleuchtete Problematik. Neue Erkenntnisse von
unmittelbarer Praxisrelevanz sind vor allem dann zu erwarten, wenn mindestens drei
Zusammenhänge eingehender untersucht werden: zum ersten die gender-Perspektive (vor
allem die Frage qualitativ unterschiedlicher Betroffenheiten von sozialer Desintegration und
unterschiedlicher
Nähen
zu
Gewalt,
Selbstkontrollmechanismen,
gewaltfreien
Konfliktregelungskompetenzen und Integrationspotenzialen zwischen Jungen und Mädchen;
hierbei erscheint auch die Frage von Bedeutung, inwieweit für Kämpfe um maskuline
Hegemonie, die Cliquenhändel häufig stark prägen, echte "Konflikte" vorausgesetzt werden
müssen oder den Streitigkeiten nicht vielmehr die Konfliktsuche zu Grunde liegt); zum
zweiten die ethnisch-kulturelle Formierung (hier vor allem auch die Auswirkungen ethnischkulturell bestimmter Männlichkeitsdefinitionen und Ehrbegriffe, u.a. mit Bezug auf
Differenzen von Verwurzelungen im christlich-europäischen und islamischen Kulturkreis);
zum dritten die Einflussbedingungen intermediärer Instanzen im Sozialraum, hier
insbesondere auch von Schule und Jugendarbeit, auf Konfliktlösungsmuster. Während sich
Erkenntnisse über den ersten und zweiten Gesichtspunkt für die breiten Leerstellen
geschlechtsreflektierenden Arbeitens und interkultureller Jugendarbeit fruchtbar machen
ließen, wäre die Erhellung von Bedingungsmomenten, die im Einflussbereich intermediärer,
vor allem pädagogischer Instanzen liegen, für Antworten auf ungelöste Fragen sowohl der
jeweils adäquaten Problemzuwendung der Institutionen als aber auch der Intensität, Inhalte
und Formen anzustrebender inter-institutioneller Vernetzungen hilfreich. Das Projekt könnte
sich damit ein Stück weit in Richtung auf Evaluationsfragestellungen bewegen.
Projekt 6 (Minkenberg) versucht, Repressionswirkungen auf rechtsextreme Gruppen zu
identifizieren. Es weist damit stärker als andere Projekte des Verbundes evaluative Momente
auf, ist aber nicht auf Interventionen von Pädagogik und Sozialarbeit bezogen. Vielmehr wird
untersucht, wie staatliche Repression (Parteien-, Versammlungs- und Vereinsverbote,
Polizeieinsätze etc.) und soziale Ächtung (Gegenmobilisierungen durch zivilgesellschaftliche
Zusammenschlüsse, Elitenverhalten, Positionierungen (innerhalb) der öffentlichen Meinung)
auf Gewaltniveau und Gewaltbereitschaft, auf die Intensitäten der Verfolgung rechtsextremer
Ideologie sowie auf Ausstiegsprozesse einwirken. Gleichwohl die Studie keine unmittelbar
193
pädagogischen und/oder sozialarbeiterischen Fragestellungen verfolgt, kann ihr eine hohe
Bedeutung auch für sie zugesprochen werden. Diese Einschätzung stützt sich auch darauf,
dass methodisch neben Auswertungen von Literatur und statistischem Material zentral auf
eine qualitative Längsschnittanalyse abgestellt wird, die Angehörige von rechtsextremen
Parteien sowie des rechtsextremen Bewegungsspektrums einbezieht. Die Studie bietet damit
zum einen Anschluss an die Untersuchung von rechtsextrem orientierten Gruppierungen, die
sich eher im unorganisierten und vergleichsweise weniger ideologisch motivierten Bereich
finden (wie den Skinheads oder informellen Cliquen; vgl. Projekt 17 und 5) und die mit den
Mitteln von aufsuchender Sozialarbeit und Pädagogik nicht unerreichbar zu sein scheinen
(vgl. Kap. 3.1.7). Dass der Fokus dabei (wie bei Projekt 17) auch auf Ausstiegsprozesse
eingestellt wird, stellt gewinnbringende Komplementaritäten der Projekte in Aussicht. Das
Vorhaben vermag zum anderen (und auch gerade wegen des letztgenannten Aspekts)
voraussichtlich wichtige Informationen für die Anlage bzw. Optimierung von
Aussteigerprogrammen zu liefern und damit zu versprechen, konzeptionelle Unsicherheiten
aufzufangen, die gegenwärtig unübersehbar sind (s. Kap. 3.1.15).
Für Bestrebungen zivilgesellschaftlicher Vernetzungen (vgl. dazu Kap. 3.1.14) und eines
Ausbaus der Demokratieerziehung (vgl. Kap. 3.1.2 und 3.1.5), für medienpädagogische
Ansätze (vgl. Kap. 3.1.9), öffentliche Kampagnen, Wettbewerbe und Aktionen (vgl. Kap.
3.1.13), aber auch für die infrastrukturelle Seite der Opfer- und Antidiskriminierungsarbeit
(vgl. Kap. 3.1.16 und 3.1.17) ist es wünschenswert, möglichst differenziert auch neue
Erkenntnisse über verschiedene Formen und die Funktionen sozialer Ächtung zu erhalten.
Projekt 7 (Häußermann) untersucht, inwieweit die Fragmentierung von Städten die
Problemdefinitionen und Politikvorstellungen ihrer EinwohnerInnen bestimmt und wie die
soziale
Unterschiedlichkeit
von
Quartieren
in
den
Wahrnehmungen
und
Entscheidungsprozessen von PolitikerInnen repräsentiert ist. Dazu werden telefonische
Befragung von BewohnerInnen in "abgehängten" und privilegierten Stadtteilen in vier
Vergleichsstädten sowie Leitfaden-Interviews mit PolitikerInnen und Quartiers-ExpertInnen
durchgeführt. Über die beiden im Projektantrag genannten, eher auf politisches Handeln
bezogenen praxisorientierten Lösungsvorschläge hinaus – die Prüfung, inwieweit eine Politik
des sozialen Ausgleichs überhaupt noch erwartet werden kann und wie die mit
Repräsentationslücken verbundenen Ausgrenzungs- und Diskriminierungsmechanismen
behoben werden können – können auch wichtige Hinweise für eine sozialräumliche und auf
Gemeinwesenentwicklung hin angelegte Pädagogik bzw. Sozialarbeit erwartet werden. Aus
pädagogischer und sozialarbeiterischer Sicht wäre ein Einbezug von Professionellen in
sozialen und pädagogischen Einrichtungen in die Befragungen interessant, um mögliche
Übereinstimmungen oder Differenzen zwischen ihren Perspektiven zu PolitikerInnen- und
BewohnerInnen-Sichtweisen einzufangen und ggf. auch gemeinwesen- bzw.
quartiersbezogene Konzepte zu eruieren. Weiterführend erscheint auch vor allem für
marginalisierte Stadtgebiete durch eine kontrastierende Auswahl von Vierteln mit besonders
hoher und besonders niedriger Rechtsextremismusproblematik herauszuarbeiten, wo
demokratieförderliche,
gewaltverhindernde
und
extremismusreduzierende
Steuerungspotenziale liegen und dabei gezielt auch die Rolle pädagogischer und sozialer
Einrichtungen in den Blick zu nehmen.
Projekt 8 (Bergmann) beschäftigt sich mit so genannten "Angstzonen", also mit
Sozialräumen, in denen Rechtsextreme politisch-kulturelle Hegemonie erobert haben.
Analysiert werden sie unter drei Dimensionen: Sozialräumlich wird zum ersten der
Entstehungsprozess und die Funktionsweise solcher Zonen durch Interviews mit lokalen
Akteuren und Auswertungen von lokalen Medien und thematisch einschlägigen anderen
Dokumenten untersucht; zum zweiten werden die politisch-strategischen Überlegungen in der
194
rechtsextremen Publizistik herausgearbeitet; zum dritten wird die massenmediale Diskussion
des Phänomens nachgezeichnet und auf ihre Einflüsse sowohl auf die rechtsextreme Szene als
auch auf die Sphäre der demokratischen Politik und der Öffentlichkeitsarbeit untersucht. Das
Projekt greift ein bislang erst in allerersten Ansätzen wissenschaftlich angegangenes Thema
auf, das gleichwohl für mehrere pädagogische und sozialarbeiterische Konzepte von hoher
Bedeutung ist: in erster Linie für aufsuchende Arbeit, Opferberatung, zivilgesellschaftliche
Stabilisierungen von Gegenstrukturen, Maßnahmen zur Deeskalation und Förderung der
Zivilcourage, Aussteigerprogramme (vgl. hierzu im einzelnen die entsprechenden
Unterkapitel von Kap. 3.1), aber auch generell für eine sozialraum- und
gemeinwesenorientierte Perspektive sozialer und pädagogischer Arbeit.
Auch hier empfiehlt es sich, die gender-Perspektive bzw. speziell jungen- und
männerforscherische Interpretamente aufzugreifen, weil der enorme maskuline Überhang in
der Gruppierung der Produzenten von Angstzonen unübersehbar ist und
geschlechtsreflektierende Konzepte davon sicherlich profitieren könnten. Wünschenswert
erscheint auch hier, mittels Interviews die Deutungen von VertreterInnen pädagogischer und
sozialarbeiterischer Einrichtungen einzuholen, nach den spezifischen professionellen
Interventions- und Präventionspotenzialen sowie den Erfahrungen mit ihrer Aktivierung und
ggf. auch nach registrierten Wirkungen zu fragen und die Befunde mit den Deutungen der
anderen Befragten abzugleichen.
Projekt 9 (Helsper/Krüger) spannt sein Untersuchungsfeld unmittelbar in einem
pädagogischen Arbeitsgebiet, der Schule nämlich, auf. Es verfolgt in einem mehrfach
abgestuften quantitativen und qualitativen Erhebungs-Design im Kern die hier ablaufenden
Anerkennungsprozesse und studiert sie in ihrer Beziehung zu Rechtsextremismus,
Fremdenfeindlichkeit und Gewalt bei Jugendlichen zwischen 14 und 16 Jahren. Entsprechend
sind Befunde zu erwarten, die schulbezogene Konzepte, insbesondere die meist noch eher in
Entwicklung
befindlichen
schulumfassenden
Programme,
aber
auch
die
Kooperationsbeziehungen von Schule mit Sozialer Arbeit, in erster Linie mit kommunaler
Jugendarbeit, betreffen. Sie können mit dieser thematischen Ausrichtung versprechen,
Erkenntnisse zu produzieren, die die in diesem Kernbereich der pädagogischen Arbeit mit
Jugendlichen bestehenden, nicht unerheblichen Unsicherheiten im adäquaten Umgang mit den
genannten Problemen zu reduzieren helfen.
Empfehlenswert ist es, durch eine intensive Nutzung der im Antrag angedeuteten
Kontrastierungen, die Perspektive weit auch für Integrations- und Anerkennungspotenziale
einer "guten Schulkultur" zu öffnen, die sich in der Lage zeigen, Schutzwirkungen gegenüber
Gewalt, Ausgrenzungsverhalten und extremistischen Orientierungen zu entfalten. Denn
pädagogische Praxis vermag mehr von Verweisen auf positive Mechanismen und Strukturen
als von ausschließlich defizitorientierter Forschung zu profitieren.
Projekt 10 (Kühnel) analysiert Phänomene von Fremdenfeindlichkeit und ethnische Konflikte
im Strafvollzug. Auch dies ist trotz damit zusammenhängender sich deutlich zuspitzender
Problematiken im Strafvollzug ein nahezu unbeackertes Forschungsfeld. Entsprechend wird
ein qualitatives Anforschungsverfahren gewählt, das problemzentrierte Interviews mit
Insassen und Bediensteten vorsieht.
Aus sozialarbeitspraktischer Sicht verspricht das Vorhaben vor allem, hilfreiche Erkenntnisse
über Ursachen von Fremdenfeindlichkeit und ethnischen Konflikten im Strafvollzug und
Ansatzpunkte für Gegensteuerungen zu eruieren. Es kann damit wichtige Grundlagen für die
Straffälligenhilfe bieten. Zudem kann es zur Qualifizierung der noch kaum spezifisch auf
interethnische Konflikte, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus ausgerichteten AntiAggressivitäts-Trainings (vgl. Kap. 3.1.11) dienlich sein und Überlegungen zur Anlage von
sport- und erlebnispädagogischen Ansätzen (vgl. Kap. 3.1.8) mit Straftätern zugute kommen.
195
Indem es mit kulturvergleichendem Anspruch Angehörige unterschiedlicher Ethnien
einbezieht und Interaktionsdynamiken im Hintergrund der Entstehung bzw. Stabilisierung von
Ausgrenzungshaltungen studiert, wird das Vorhaben nicht nur minderheitenfeindliche
Orientierungen deutscher Staatsangehöriger, sondern auch Ausgrenzungsverhalten von NichtDeutschen erheben und damit auch Hinweise für den sozialarbeiterischen Umgang mit
'problematischen' Ausländern geben können.
Projekt 11 (Soeffner) beschäftigt sich mit den Deutungsmustern und Handlungspraktiken bei
interkulturellen Konflikten im Fußballbereich. Es zielt auf die Ermittlung des Spektrums
vorhandener Integrations- und Assimilationsformen. Das Projekt bezieht sich konkret auf fünf
Milieus des Fußballsports: die Ideologie und Praxis der Integrationspolitik des DFB, ethnisch
gemischte Vereine des Profifußballs, eben solche des Amateurfußballs, Vereine in ethnischer
Selbstorganisation und Fußballangebote im Rahmen des Schulsports. Dazu werden textliche
und audio-visuelle Dokumente, selbst durchgeführte Interviews in Vereinen und im
Schulsport sowie ethnographische Beobachtungen ausgewertet.
Aus erziehungs- und sozialarbeitswissenschaftlicher Sicht wie aus der Perspektive
entsprechender Praxisansätze füllt das Projekt eine breite Lücke im Kenntnisstand über
faktische und denkbare Integrationsfunktionen des Sports auf. Wie im Kap. über
sportpädagogische Ansätze (vgl. Kap. 3.1.8) näher dargelegt, fehlt es an Wissen darüber,
unter welchen Konstellationen Sport tatsächlich, solche ihm vielfach zugeschriebenen
positiven Funktionen erfüllen kann. Die zu erwartenden Befunde vermögen deshalb
höchstwahrscheinlich Sportverbänden und der Sportpädagogik im allgemeinen, insbesondere
aber wohl der Arbeit von Fußballfan-Projekten wichtige Anregungen zu liefern. Bedeutsam
erscheint in diesem Zusammenhang auch gerade der Einbezug des Schulsports, so dass durch
die Präsenz des Projekts in einem pädagogischen Arbeitsfeld demgemäss praxisnahe
Verwertungen der produzierten Erkenntnisse vorgenommen werden können.
Projekt 12 (Rippl/Boehnke) untersucht, ob und ggf. inwieweit die Osterweiterung der
Europäischen Gemeinschaft als Mobilisierungsschub für Intoleranz, rechte Einstellungen und
Diskriminierungstendenzen wirksam werden kann. Angenommen wird, dass die mit der
Erweiterung in Teilen der Bevölkerung verbundenen Verunsicherungen und Ängste ein
entsprechendes Mobilisierungspotenzial beinhalten. Vermutet wird aber auch, dass positive
Einschätzungen vorhanden sind und deshalb auch sie eingeholt werden sollten. Angezielt ist
eine international vergleichende, repräsentative Studie mit Deutschland, Tschechien und
Polen.
Das Vorhaben fokussiert auf eine Thematik und ein Untersuchungsfeld, das auf den ersten
Blick eher wenig pädagogisch bzw. sozialarbeiterisch relevante Erkenntnisse erwarten lässt.
Dafür scheint es stärker Befunde erheben zu können, die für Fragen der politischen Steuerung
von Bedeutung sind. Andererseits liegen deutliche Hinweise aus der pädagogischen und
sozialarbeiterischen Praxis darauf vor, dass Ressentiments und Ausgrenzungsverhalten
zunehmend gegenüber Neo-ImmigrantInnen spürbar wird, während bereits lang in
Deutschland lebende und 'angepasste' AusländerInnen durchschnittlich eher akzeptiert
werden. Vorbehalte betreffen insbesondere Menschen aus Osteuropa. Ausmaß und
Zusammenhänge von Bedrohungsgefühlen und Ausgrenzungsbestrebungen näher bestimmen
zu können, liegt deshalb im Interesse einer auch auf diese Gruppierungen ausgerichteten
interkulturellen Arbeit. Auch die soziale Arbeit mit AussiedlerInnen kann davon profitieren.
Projekt 13 (Dollase) thematisiert Islambilder in der multikulturellen Gesellschaft
Deutschlands, wählt aber einen Ansatz, der die bei Nicht-Muslimen vorhandenen Bilder vom
Islam in einem multilateral bestimmten Netzwerk wechselseitiger Wahrnehmungen im
Kontext auch von Bildern des Christentums bei Muslimen verortet und somit auch letztere
196
untersucht. Beabsichtigt ist eine quantitative Studie mit großer Probandenzahl (N = 5000). An
der gesellschaftspolitischen, aber auch speziell integrationspolitischen Relevanz des Themas
der Studie kann spätestens nach dem 11. September 2001 kein Zweifel bestehen.
Aus der Perspektive dieser Expertise ist zu begrüßen, dass es sich um eine
Mehrstichprobenuntersuchung handeln wird, die nach Praxisinstitutionen stratifiziert ist. D. h.
dass Stichproben gezielt u.a. ErzieherInnen in Tageseinrichtungen für Kinder, Lehrkräfte in
Schulen, SchülerInnen, Studierende und Lehrende in Hochschulen sowie SozialarbeiterInnen
und SozialpädagogInnen einbeziehen. Sie sollen sowohl ihre eigenen religiösen Bilder
abgeben, als auch als ExpertInnen für Beobachtungen in ihren jeweiligen Praxisfeldern zu
Rate gezogen werden. Damit werden unmittelbar steuerungsrelevante Settings von Pädagogik
und Sozialer Arbeit zum Gegenstand gemacht. Zur Erhöhung der Anwendungsrelevanz
werden des weiteren bereits bekannte Integrationspotenziale einerseits und
Mobilisierungspotenziale für rechtsextremistische Tendenzen andererseits näher zu
konkretisieren gesucht. Deshalb wird gezielt nach dem Wissensstand über den Islam bzw. das
Christentum, die Ursachen und das Ausmaß der Symbolakzeptanz bzw. Toleranz, Kontaktart
und –ausmaß zwischen den Angehörigen der unterschiedlichen Religionen, Gemeinsamkeiten
in der Wertestruktur, Faktoren der Salienzminderung und Anerkennungsressourcen gefragt.
Diese praxisorientierte Anlage lässt erwarten, mit den erhobenen Daten nicht nur
defizitorientiert Fehlentwicklungen benennen, sondern darüber hinaus Ansatzpunkte für
positive Weichenstellungen für wechselseitige Anerkennungen bzw. für interreligiösen
Toleranzaufbau identifizieren zu können. Neben Empfehlungen für die Gestaltung der
Strukturen pädagogischer bzw. sozialarbeiterischer Einrichtungen und Projekte ist zu
erwarten, aus den Forschungsresultaten auch weiterführende Anregungen für konkrete
pädagogische Konzepte, insbesondere solche des interkulturellen Lernens und der
Antidiskriminierungsarbeit (vgl. Kap. 3.1.17) sowie der Toleranzerziehung (vgl. Kap. 3.1.2)
beziehen zu können.
Projekt 14 (Heitmeyer/Willems) zielt auf eine prototypische Weiterentwicklung der
Dunkelfeldstudien zum Bereich der fremdenfeindlichen und interethnischen Gewalt. Sie wird
darin gesehen, die bislang quantitativ verfahrende Dunkelfeldforschung methodisch durch
eine Kombination von quantitativen und qualitativen Untersuchungsanteilen zu optimieren.
Damit wird nicht nur ein innerwissenschaftliches Interesse verfolgt, sondern auch
ausdrücklich darauf hingearbeitet, der Dunkelfeldforschung stärkere Anwendungsrelevanz zu
verleihen. Das Vorhaben konzentriert sich dafür auf eine Analyse solcher städtischer
Sozialräume, in denen die Bevölkerung ethnisch-kulturell heterogen zusammengesetzt ist,
weil auf der Grundlage vorliegender Untersuchungsergebnisse davon ausgegangen wird, dass
sich gerade in multiethnischen städtischen Problemgebieten Desintegrationserfahrungen
häufen, positive gesellschaftliche Anerkennungen ausbleiben und deshalb interethnische
Konfliktlagen anwachsen. Im Fokus steht die Altersgruppe der 14- bis 16jährigen. Ergänzt
werden Erhebungen bei dieser Probandengruppierung von Gruppendiskussionen mit
relevanten Sozialgruppen der ausgewählten Stadtteile, kollektiven Akteuren und potenziellen
Opfergruppen sowie von ExpertInnen-Interviews.
Das erziehungs- und sozialarbeitswissenschaftliche wie –praktische Interesse an dieser Studie
liegt zum einen in der Erhöhung der Anwendungsrelevanz der bisherigen
Dunkelfeldforschung, die in der Tat durch einen Einbezug qualitativer Verfahren erwartet
werden kann. Zum anderen ist erfreulich, dass u.a. Lehrkräfte und SozialarbeiterInnen bzw.
SozialpädagInnen als StadtteilexpertInnen befragt werden sollen. Wünschenswert wäre es,
weitmöglichst nicht nur ihre Beobachtungen und Deutungen zur jeweiligen Konflikt- und
Viktimisierungslage bzw. Opfersituation einzuholen, sondern darüber hinaus auch nach
Ansätzen, die in den entsprechenden pädagogischen Handlungsbereichen bereits
unternommen wurden und nach den Erfahrungen in ihrer Verfolgung zu forschen; dies um die
197
hier liegenden Integrations- und Konfliktbearbeitungspotenziale detaillierter ausloten zu
können, ein Anspruch, der einlösbar erscheint, weil mit ihm noch nicht die für die Anlage des
Projektes überzogene Erwartungshaltung echter Evaluationsleistungen verbunden ist. Die
Projektbeschreibung gibt zu erkennen, dass Untersuchungsergebnisse für sozialräumlich
orientierte Pädagogik und Soziale Arbeit, hier insbesondere für die Jugendarbeit, von hoher
Relevanz sind. Substanzielle Bereicherungen stehen aber vor allem für pädagogische
Konzepte der Opferberatung (vgl. Kap. 3.1.16) sowie des Aufbaus und der Stabilisierung
zivilgesellschaftlicher Strukturen im Gemeinwesen (vgl. Kap. 3.1.14) in Aussicht.
Projekt 15 (Böttger) stellt eine qualitative Längsschnittstudie mit zwei Erhebungsschnitten (N
= 30 1. Welle, N = 20 2. Welle) zur Untersuchung der Erfahrungen von Opfern
rechtsextremistischer Gewalt dar. Es geht dabei um die Prozesse des Opferwerdens und der
Bewältigung der Viktimisierungserfahrung. Gezielt wird nach verschiedenen CopingStrategien gesucht.
Das Projekt nimmt sich eines in Deutschland nahezu gänzlich unerforschten Themenbereichs
an, indem spezifisch auf Opfer rechtsextremer Gewalt geblendet wird. Gleichzeitig werden –
vor allem angeschoben durch das Civitas-Programm – Stellen für die Beratung solcher Opfer
eingerichtet, die dringend weiterer konzeptioneller Fundierung bedürfen (vgl. Kap. 3.1.16).
Der Studie ist deswegen schon aufgrund ihrer thematischen Ausrichtung hohe Praxisrelevanz
zuzusprechen. Die angestrebte Längsschnittqualität der Daten ermöglicht, der
Prozesshaftigkeit der Bewältigungsversuche gerecht zu werden und auch in dieser Hinsicht
die Unterstützungsprozesse, die von MitarbeiterInnen solcher Einrichtungen abverlangt
werden können, mit hilfreichen Erkenntnissen über Verläufe der individuellen Bearbeitung
von rechtsextrem motivierten Straftaten durch die Opfer auszustatten. Die qualitative
Methodik birgt gut nutzbare Chancen auf eine praxisnahe Verwendung der erzielten
Ergebnisse. Um die Spezifik der Bewältigung rechtsextremer Viktimisierung
herauszuarbeiten, wäre allerdings ein Vergleichsdesign ratsam, in das auch die Untersuchung
der Bearbeitungsverläufe von Opfern anderer Gewaltstraftaten einbezogen wird.
Projekt 16 (Nunner-Winkler) will zur Lösung der Frage beitragen, unter welchen
Bedingungen die Anerkennung moralischer Normen vor sich geht. Unterschieden wird
zwischen moralischen Wissensbeständen und Anwendungskompetenzen, die durch
Inhaltslernen erworben werden als kognitiver Dimension und moralischer Motivation, die
durch biographisches Erfahrungslernen aufgebaut wird, als motivationaler Dimension.
Untersucht werden die Ausprägungsformen beider Dimensionen, vor allem aber auch die Art
und Weisen ihres Zusammenspiels bezogen auf ca. 200 16jährige Jugendliche
unterschiedlicher Schulformen mittels eines qualitativen, in erster Linie auf leitfadengestützte
Interviews beruhenden Erhebungs- und Auswertungsverfahrens. Forschungsleitende
Hypothese ist, dass demokratieabträgliche Orientierungen und Verhaltensweisen nicht
hinreichend auf defizitär entwickelte Persönlichkeitsstrukturen zurückzuführen sind. Sie
werden vielmehr auch als Ausfluss abweichender normativer Überzeugungen, also auch
moralischer Vorstellungen und ihrer Realisierung interpretiert.
Der erziehungswissenschaftliche und (sozial)pädagogische Ertrag des Vorhabens deutet sich
schon in den erwähnten Vorannahmen an: Näher untersucht werden soll, wie weit jeweils
Wissensvermittlung und Erfahrungslernen reichen, d.h. welche demokratieförderlichen und
extremismusvermeidenden bzw. –reduzierenden Funktionen ihnen zugesprochen werden
kann. Das Projekt bewegt sich damit im Zentrum der erziehungswissenschaftlichen
Paradigmendiskussion (s.o.). Das Aufgreifen der Moral-Fragestellung koppelt inhaltlich nicht
nur an die vor allem auch außerhalb von Fachkreisen geführte öffentliche Debatte über einen
angeblichen Werte- und Moralverlust an, sondern legt auch eine Thematik frei, die in
zahlreichen pädagogischen und sozialarbeiterischen Praxiskonzepten – meist verdeckt –
198
präsent ist, etwa in Konzepten der historischen Bildung, der Demokratie- und
Toleranzerziehung, der Entfaltung personaler und sozialer Kompetenzen, der Förderung von
Zivilcourage, oder der Gestaltung des öffentlichen Klimas, bspw. in Schule und
Gemeinwesen. Vor diesem Praxishintergrund kommt der Studie ein besonders hoher
Stellenwert zu.
Projekt 17 (Möller) analysiert Ein- und Ausstiegsprozesse von Skinheads. Angelegt als
qualitativer Längsschnitt über zwei Erhebungszeitpunkte hinweg untersucht es
schwerpunktmäßig Einstiegsprozesse in einer Gruppierung von jüngeren, etwa 13- bis
16jährigen Jugendlichen und Ausstiegsprozesse bei Skins im Alter zwischen ca. 20 und 24
Jahren. Ziel ist es, herauszufinden, welche Funktionen Elemente der Skinheadkultur für einen
Affinitätsaufbau zu rechtsextremen Orientierungen erfüllen und zu prüfen, unter welchen
Bedingungen einschlägige jugendkulturelle Abwendungen erfolgen, Distanzierungen von
rechtsextremen Orientierungen vorgenommen und beide Typen von Ablösungsprozessen
miteinander in Verbindung gebracht werden.
Das Projekt greift mit der Konzentration auf rechtsgerichtete Skinheads inhaltlich eine
Thematik auf, die im öffentlichen Bewusstsein immer wieder mit Phänomenen von
Rechtsextremismus verbunden wird, ja die sie geradezu metapherartig abzubilden scheint. In
krassem Gegensatz zu der Menge der medial verbreiteten Bilder von Skins steht hingegen das
Wissen um die Szene. Nahezu ausschließlich ist man auf Einschätzungen der
Sicherheitsbehörden, vor allem des Verfassungsschutzes angewiesen. Sie können indes
wissenschaftlichen Standards keinesfalls genügen. Fundierte Erkenntnisse sind aber um so
notwendiger als aus Sicht der pädagogischen und sozialarbeiterischen Praxis eine Strategie
des 'Rechtsliegenlassens' von Skinjugendlichen nicht angezeigt ist. Statt Ignoranz und
Ausgrenzung solcher Jugendlichen aus den Sphäre von Pädagogik und Sozialarbeit sind
aufsuchende Strategien zu empfehlen, jedenfalls soweit es sich nicht um organisierte Kader
handelt (vgl. dazu Kap. 3.1.7). Zudem ist zu klären, wie in Schule und Jugendhilfe generell
mit diesem Klientel adäquat umzugehen ist, welche Potenziale möglicherweise in sport- und
erlebnispädagogischen Ansätzen stecken (vgl. Kap. 3.1.8) oder auch verschiedene andere
Konzepte, etwa Anti-Aggressivitäts-Trainings (vgl. Kap. 3.1.11) bieten können. Insofern die
Prävention von antidemokratischen Gefährdungen von großem Gewicht ist, macht es
uneingeschränkt Sinn, im Interesse rechtzeitigen Eingreifens die Einstiegsprozesse der
Jüngeren detailliert kennen zu lernen. Die Fokussierung auf Ausstiegsprozesse wird zu
erkennen geben, wie positive Weichenstellungen auch durch Pädagogik und Soziale Arbeit
mit Skins unmittelbar und in ihrem Umfeld, etwa auch durch Aktivierung
zivilgesellschaftlicher Gegenstrukturen (vgl. Kap. 3.1.14), bewirkt werden können. Ferner
dürfte sie wichtige Hinweise für die Arbeit mit straffällig gewordenen rechtsextremen und für
die Anlage von Aussteigerprogrammen (vgl. 3.1.15) samt ihrer konkreten Durchführung
erbringen.
4.3
Fazit
Eine resümierende Einschätzung der Anlage des Forschungsverbunds aus einer
praxisorientierten Perspektive von Erziehungs- und Sozialarbeitswissenschaft ergibt:
Der projektierte Forschungsverbund stellt einen in seinem Zuschnitt und seiner absehbaren
Durchführung vielversprechenden Versuch zur konzentrierten Bündelung von
Erkenntnisfortschritten zum Themenbereich interethnische Konflikte, Rechtsextremismus,
Fremdenfeindlichkeit und Gewalt dar.
Das Rahmenkonzept entwickelt ein tragfähiges Konzept. Es zeichnet sich vor allem dadurch
aus, die zentralen Untersuchungsgegenstände konsequent auf Fragen der politisch-sozialen
199
Desintegration bzw. Integration sowie der Anerkennung resp. ihres Zerfalls zu beziehen.
Damit sind gemeinsame Grundfragestellungen markiert, auf die die in den einzelnen
Projekten produzierten Ergebnisse aus ihrer jeweiligen Teilthematik heraus antworten
können. Mit der zentralen Rolle der Desintegrations-/Integrationsdynamik als inhaltlicher
Brücke, ja als gemeinsamem Band zwischen den Projekten wird ein Referenzpunkt in den
Mittelpunkt gerückt, der nicht nur nach dem bisherigen empirischen und theoretischen
Forschungsstand beanspruchen kann, die wesentlichen Verursachungsmomente der zu
untersuchenden Problematiken zu markieren. Er liegt vor allem auch im Zentrum erziehungsbzw. sozialarbeitswissenschaftlichen Interesses und pädagogischer und sozialarbeiterischer
Praxis. Anerkennungserwerb und Problemlagen der Sozialintegration bilden geradezu die
Kernsubstanz ihrer Arbeit, zumal im Kontext der Bearbeitung von Rechtsextremismus,
Minderheitenfeindlichkeit und Gewalt.
Das Konzept bindet Makro-, Meso- und Mikroanalysen zusammen. Es löst damit ein
Desiderat der Praxis pädagogischer und Sozialer Arbeit ein, das darin besteht, die eher in
gesellschaftlichen Mikro- und Mesobereichen verorteten eigenen Zuständigkeiten nicht
isoliert von gesamtgesellschaftlichen Prozessen zu betrachten und sich nicht mit der
Erwartung konfrontiert sehen zu wollen, unmittelbar, kurzfristig, punktuell, ortsgebunden und
in Feuerwehrfunktion 'Lösungen' für Probleme bewerkstelligen zu sollen, deren Ursachen
größtenteils außerhalb des alltäglichen professionellen Handlungsbereichs zu suchen sind.
Pädagogische und Soziale Arbeit sind auf politische Rahmenbedingungen angewiesen, die ein
ursachenbezogenes und effektives Arbeiten ermöglichen müssen. Insofern ist gerade die
integrierende Verbindung von mikro-, meso- und makrotheoretischen Sichtweisen von hohem
Interesse. Dies gilt auch gerade für die hier in Rede stehenden Problem- und Konfliktlagen.
Pädagogik und Soziale Arbeit können wichtige, ja entscheidende Beiträge zu ihrer
Beseitigung bzw. Reduktion leisten. Dennoch: Ihre Arme sind zu kurz, um sozialstrukturelle
Weichenstellungen vornehmen zu können, ohne die die eigenen Anstrengungen Symptomkur
bleiben.
Deshalb erweist sich auch ratsam, neben langfristigen Strukturproblemen institutionelle und
sozialräumliche Gelegenheitsstrukturen sowie Mobilisierungspotenziale, sowohl innerhalb
der Bevölkerung insgesamt, als auch hinsichtlich ausgewählter Deutungs-, Kontroll- und
Mobilisierungsakteure, anzuzielen, wie dies das Konzept vorsieht. Beispielsweise stellt die
außerschulische Arbeit mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen immer wieder fest, dass sie
nur vernetzt mit Aktivitäten Sinn macht, die auch andere AdressatInnen (z. B. Erwachsene)
einbezieht bzw. von anderen Institutionen (z.B. von Schule und in Kooperation mit ihr)
betrieben wird: Solange sich in Schule, im Elternhaus und im Sozialraum insgesamt keine
Änderungen einstellen und von Jugendlichen medial wie im unmittelbaren Nahraum ein
politisches Klima wahrgenommen werden kann, das Gewalt und Ausgrenzungsverhalten
begünstigt oder ihm wenigstens nicht oder kaum entgegentritt, fehlt Jugendarbeit die
Unterstützung. Daher ist es wichtig, dass Möglichkeiten ausgelotet werden, wie eine Kultur
der Gewaltfreiheit und des demokratischen Interessenausgleichs in den Institutionen und über
zivilgesellschaftliche Initiativen generell aufgebaut und stabilisiert werden kann. Ansätze zur
Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen, wie sie seit kurzem verstärkt verfolgt werden, und
anderweitige Konzepte, die auf die 'Mitte der Gesellschaft' zielen, benötigen entsprechende
Hinweise aus der Forschung.
Das Rahmenkonzept legt auf den Ausweis von Anwendungsrelevanz Wert. Erziehungs- und
Sozialarbeitswissenschaft sind stark anwendungsorientierte Disziplinen. Aus ihrem
Blickwinkel ist deshalb dieses Bemühen erfreulich. Es erhält zusätzliche Bekräftigung durch
den oben dargestellten Stand der politischen Programme und der (sozial)pädagogischen/arbeiterischen Konzeptentwicklung, bei denen fehlende Anbindungen an den
wissenschaftlichen Diskurs offensichtlich sind. Die Theorie-Praxis-Kommunikation zu
verbessern, ist deswegen ein dringliches Desiderat. Die vorgesehenen PraktikerInnen200
Workshops sind deshalb zu begrüßen. Allerdings ist zu bedenken, ob sie ausreichen.
Empfehlenswert erscheint die Einrichtung eines Theorie-Praxis-Zirkels, der die
Anwendungsrelevanz des Projektverbundes durch seine kontinuierliche kritische Begleitung
sicherstellen könnte. Er sollte sich aus Mitgliedern des Verbundes und interessierten
PraktikerInnen zusammensetzen, wobei die Überlegung zu verfolgen wäre, ob nicht für die
Zusammenarbeit von Verbundforschung und pädagogischer bzw. sozialarbeiterischer Praxis
ein eigener Kreis von Interessierten etabliert werden sollte. Dabei sind jedoch auch die
begrenzten Zeitkapazitäten der im Verbund tätigen WissenschaftlerInnen zu berücksichtigen.
Die einzelnen Projekte thematisieren Untersuchungsgegenstände, die deutlich entweder
Leerstellen des Wissensbestandes zu verringern bzw. zu verkleinern gestatten (unverkennbar
z. B. Ein- und Ausstiegsprozesse von Skinheads oder ethnische Konflikte im Strafvollzug)
oder sind auf Themen bezogen, die absehbar neue Konfliktlagen in den Blick nehmen (etwa
EU-Osterweiterung, Islambilder). Sie produzieren Wissen, das gerade auch die vom
Programm "Jugend für Demokratie und Toleranz" vorgenommen Akzentsetzungen mit
bedeutsamen Hintergrundinformationen ausstattet. Die methodischen Anlagen lassen
Ergebnisse von praxisorientiertem Gehalt erwarten. In keinem Projekt dominiert ein
innerwissenschaftliches Interesse. Der direkte oder indirekte Bezug auf Praxisfelder, in den
PädagogInnen und SozialarbeiterInnen tätig sind, gewährleistet die Produktion von solchen
Erkenntnissen, die in einer Weise praxisverwertbar sind, die keine sonderlich großen
zusätzlichen Transferleistungen erforderlich macht.
Dazu tragen auch die vielfältigen Komplementaritäten bei, die bei den Projekten
untereinander bestehen und die unbedingt genutzt werden sollten. Die Anlage des Verbunds
ist auch in dieser Hinsicht anspruchsvoll. Sie stellt u.a. wechselseitige Deutungsanschlüsse in
Aussicht, die ansonsten nicht möglich wären, verlangt aber den MitarbeiterInnen auch
Leistungen ab, die bei Einzelförderungen nicht anfallen und die Arbeitskapazitäten nicht
unerheblich strapazieren.
Gleichwohl könnten manche Projekte durch eine Erweiterung von Fragestellungen an
Praxisorientierung gewinnen (s.o.).
Von den zu diesem Zeitpunkt konzipierten Projekten des Verbundes oder zumindest einem
Teil von ihnen Evaluationsforschung zu verlangen, hieße, das Gesamtkonzept
misszuverstehen, die einzelnen Projekte zu überfrachten oder bis zur Unkenntlichkeit zu
modifizieren und damit das ganze Vorhaben aus den Angeln zu heben. Aus erziehungs- und
sozialarbeitswissenschaftlicher Sicht kann daran keinerlei Interesse bestehen, weil die Studien
– wie erwähnt – auf klar erkennbare Forschungslücken fokussieren, in ihrem kooperativen
Kontext wichtige wissenschaftliche Fortschritte bringen werden und/oder neuartige
Konfliktlagen untersuchen. Dennoch ist der Stand der wissenschaftlichen Evaluation von
pädagogisch und sozialarbeiterisch akzentuierten Programmen und Konzepten der
Verhinderung und Reduktion von Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit so
stark unterentwickelt18, dass sich eine Ergänzung der Untersuchungsperspektive des
Verbundes geradezu aufdrängt. Zu entscheiden gilt, ob sie durch eine Erweiterung des
Konzepts im Rahmen des Verbundes oder in engem Anschluss, etwa in Form eines
zeitversetzt parallel arbeitenden Evaluationsforschungsverbunds erfolgen soll und kann. In
jedem Fall erscheint es sinnvoll, in enger Anbindung an oder Einbindung in den
Forschungsverbund die mit dieser Expertise begonnene Bilanzierung von
Programmentwicklung, Konzepten und ihrem jeweiligen Evaluationsstand in geeigneter
Weise fortzuschreiben, um zum einen eine kontinuierliche Übersicht zu gewährleisten und
18
Aufgrund von Einzelhinweisen stark zu vermuten, wenn auch hier nicht im strengen Sinne zu belegen,
ist, dass der Stand der Evaluation anderweitiger, hier nicht eingehend untersuchter Maßnahmen der Gewalt- und
Extremismusbekämpfung (etwa der von Polizei und Verfassungsschutz verantworteten) nicht weiter entwickelt
ist, so dass hier ähnliche Kenntnislücken aufzufüllen sind.
201
zum anderen auch - noch stärker als es im Rahmen dieser Arbeit möglich war - systematisch
internationale Evaluationserfahrungen mit einzubeziehen.
5.
Zusammenfassung
Ziehen wir eine auf zehn Punkte begrenzte Gesamtbilanz der im Voranstehenden angestellten
Analysen, so ist resümierend zunächst für die Anlage von politischen Programmen mit
pädagogischer und sozialarbeiterischer Ausrichtung (vgl. im folgenden die Punkte 1. – 5.),
dann für die in verschiedenen Handlungsfeldern verfolgten pädagogischen und
sozialarbeiterischen Konzepte samt ihrer fachdiskursiven Grundlegungen und Anstöße (vgl.
die folgenden Punkte 6.-8.) sowie schließlich für die Bedeutung des Forschungsverbundes vor
dem damit skizzierten Hintergrund, aber auch an Schlussfolgerungen (Punkte Nummer 9.-10.)
festzuhalten:
1. Die in Deutschland politisch Verantwortlichen zeigen sich bis auf einige Ausnahmen
insgesamt betrachtet weder gleichgültig noch untätig im Hinblick auf die Problematiken
von Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Gewalt sowie hinsichtlich der in ihrem
Hintergrund stehenden Integrations-/Desintegrationsdynamiken, insbesondere in Gestalt
von ethnisch-kulturellen Konfliktlagen. Die Ein- und Ansicht, dass es sich hierbei nicht
um gesellschaftlich marginale Probleme handelt, ist zwar unter ihnen nicht
uneingeschränkt und bruchlos verbreitet, jedoch nimmt offenbar das Wissen um die
Notwendigkeit und Unausweichlichkeit der Konzipierung von mehr als punktuellen
Gegenmaßnahmen zu. Dies gilt mindestens soweit, wie entsprechende öffentliche
Erklärungen als Belege dafür interpretiert werden und die Kritik an dem Umstand
zurückgestellt wird, dass diese Bekundungen in vielen Fällen erst durch medial verbreitete
Gewaltvorkommnisse, sonstige Anlässe und Skandalisierungen hervorgerufen werden.
2. Auch jenseits von Verlautbarungspolitik, moralischen Appellen und Resolutionsrhetorik
zeigt sich eine in den 90er Jahren gewachsene Bereitschaft, politische Steuerungen
vorzunehmen, die Gewaltförmigkeiten und antidemokratische Umtriebe zu unterbinden
beabsichtigen. Dabei gewinnt die Überzeugung an Boden, nicht allein auf repressive
Maßnahmen vertrauen zu können, sondern auch weiter ausgreifend sowohl Erziehung und
Bildung zu intensivieren als auch noch genereller für die Gestaltung einer gewaltfreien
und demokratische Formen des Interessenausgleichs pflegenden Sozialität einzutreten.
Die in den 90er Jahren aufgelegten Bundesprogramme stehen für diese Sichtweise; dies
auch dann, wenn – besonders deutlich für AgAG - die Vermutung nicht von der Hand zu
weisen ist, mit ihnen teilweise zusätzlich auch das eher themenunspezifische Interesse am
Aufbau von Sozialarbeitsstrukturen in den neuen Ländern verfolgen zu wollen. Die
Existenz von Landesprogrammen bzw. –aktivitäten dokumentiert, dass keine
Verleugnungsstrategie verfolgt wird.
3. Das schlichte Vorhandensein von Ansätzen der politischen Bekämpfung von
Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt beweist freilich noch nicht, dass
die politische 'Hilflosigkeit des Antifaschismus' überwunden oder die Fassungs- und
Ratlosigkeit angesichts bestimmter Gewaltexzesse verschwunden wäre. Und auch die
Höhe der Mittel, die unter entsprechenden Haushaltstiteln verausgabt werden, sagt wenig
über die Rationalität der damit vorgenommenen oder zumindest intendierten politischen
Steuerungen aus. Unterstellungen, bei entsprechenden Aktionen und Programmen handele
es sich um nicht mehr als Geschäftigkeit vorschützenden Aktionismus und symbolische
Politik, sind von Seiten politischer VertreterInnen solange kaum mit gegenteiligen
202
Beteuerungen bei Seite zu drängen, wie nicht ausweisbar ist, dass die politischen
Konzepte, für die man sich entschieden hat, wohl begründet sind und – besser noch – mit
hoher Erfolgsaussicht auch greifen werden.
4. Eine kritische Analyse des aktuellen Bundesprogramms und der in den einzelnen Ländern
verfolgten politischen Handlungskonzepte kann einerseits eine erfreuliche Anzahl und
Breite von Aktivitäten registrieren. Sie lässt hervortreten, dass die Problematiken von
Gewalt und Extremismus und Aspekte ihrer Gefährdungslagen durchaus ernst genommen
werden, wenn auch eine Ankoppelung einschlägiger politischer Initiativen und
Fördermaßnahmen an die Konjunkturen der medialen Debatte unübersehbar und damit die
erforderliche Gründlichkeit der politischen Auseinandersetzung wieder in Frage gestellt
ist. Andererseits fallen die Reaktionen in ihrer Quantität und Intensität bei
unterschiedlichen Regierungskoalitionen und von Land zu Land recht unterschiedlich aus,
so dass weder der Stellenwert der zu Grunde liegenden gesellschaftlichen Konflikte noch
die Dringlichkeit und Tiefe ihrer Bearbeitungsformen einheitlich eingeschätzt werden. Die
Differenzen können nicht nur auf unterschiedliche weltanschauliche Orientierungen und
politische
Grundauffassungen
der
jeweiligen
(Regierungs-)Verantwortlichen
zurückgeführt werden. Sie sind auch das Resultat eines ungeklärten Stellenwerts
wissenschaftlicher Beratung von Politik.
5. Die bei aller demonstrativen Absetzung von (rechts)extremistischen Politikformen und
Organisationen in der etablierten Politik verbreiteten unterschiedlichen Einschätzungen
und Bekämpfungsweisen resultieren offenbar nicht zuletzt auch aus einer noch
unzureichenden
Berücksichtigung
wissenschaftlicher
Erkenntnisse
und
Herangehensweisen bei der politischen Analyse und Planung von Gegenmaßnahmen. Die
vorliegenden politischen Programme und Förderkonzepte bedienen zwar durchaus
relevante Handlungsfelder und vermögen theoretisch erfolgversprechende Konzepte zu
stützen, blenden aber a) wichtige Handlungsfelder weitgehend aus und bleiben b) bislang
in ihrer Bezugnahme auf Evaluation höchst defizitär.
So geraten etwa durch die Akzentuierung des Xenos-Progamms auf Felder von Arbeit und
Berufsausbildung Arbeitsfelder wie Kindertageseinrichtungen, Schulen oder auch die
Eltern – und allgemeine Erwachsenenbildung aus dem Blick, ein Umstand, der den
empirisch festzustellenden Gefährdungslagen im Sozialisationsprozess nicht gerecht wird.
Wo – wie in Teil 2 des Bundesprogramms "Jugend für Toleranz und Demokratie" - auf
Jugendarbeit bezug genommen wird, werden Unterstützungen für das Aufsuchen 'rechter'
und gewaltorientierter Problemträger vermisst. Das Civitas-Programm bleibt bisher auf
die ostdeutschen Länder beschränkt, obwohl ähnliche Bedarfe (z. B. Beratung
kommunaler Akteure) wie hier auch in den Ländern der alten Bundesrepublik vorhanden
sind. (Weiter-)Qualifizierungen von Programm-MitarbeiterInnen wie darüber hinaus für
MultiplikatorInnen (z.B. in Sportclubs und sonstigen Vereinen) bleiben unterentwickelt.
Neben solchen Lücken ist auf zwei weitere kritische Punkte hinzuweisen: Fast nirgendwo
können durch die geförderten Angebote die tatsächlichen Bedarfslagen gedeckt werden
(Beispiel: Streitschlichterprogramme in Schulen). Und: Es droht eine Verprojektierung
pädagogischer und Sozialer Arbeit - besonders gravierend im Bereich von Jugendarbeit,
aber auch darüber hinaus -, die die Relevanz der Regelförderung für die langfristige und
auf Kontinuität und vorausschauende Prävention hin angelegte Stabilisierung der
Identitätsentwicklung von Kindern und Jugendlichen und des Sozialen überhaupt zu
verkennen droht. Aus erziehungs- und sozialarbeitswissenschaftlicher Perspektive sind
solche Tendenzen eindeutig kontraproduktiv.
Evaluationswissen erfährt auf zweierlei Weise zu wenig Berücksichtigung: Zum ersten
können sich – mangels vorliegender wissenschaftlicher Erkenntnisse - die inhaltlichen
203
Förderkriterien kaum an Evaluationsbefunden ausrichten. Zum zweiten sind zwar wenigstens bei den Bundes(teil)programmen – Evaluationen der Gesamtprogramme
vorgesehen, kämpfen sie aber mit erheblichen Startschwierigkeiten, die dazu führen
werden, dass ihre Reichweite erheblich eingeschränkt werden wird, weil sie nicht mehr
den gesamten Zeitraum der Laufzeit abdecken können. Außerdem sehen die
Antragsrichtlinien die Evaluation von Einzelmaßnahmen nicht als deutliche Empfehlung
oder gar als Regel vor, so dass nur ein geringer Anteil von Maßnahmen evaluiert wird.
Ein wesentliches Manko, das diese Kritik hervorrufen kann, ist in der Unterschätzung und
mangelhaften Förderung von Evaluationsforschung insgesamt zu sehen.
6. Das Spektrum pädagogischer und sozialarbeiterischer Praxiskonzepte lässt hinsichtlich
seiner Breite wenig zu wünschen übrig. Es enthält neben eher traditionellen
Anknüpfungen eine Fülle von teilweise recht phantasievollen und experimentellen
Innovationen. Sie impliziert eine kaum noch zu überblickende Vielfalt von einzelnen
Maßnahmen und Projekten. Vor allem in der Kinder- und Jugendarbeit, hier allerdings mit
deutlicher Gewichtung auf Jugendarbeit, haben sich – zumeist ausgehend von schon
vorhandenen institutionellen und professionellen Vorkenntnissen im Umgang mit
bestimmten Zielgruppen, didaktischen Herangehensweisen, Methoden, Instrumentarien
und Medien – Ansätze entwickelt, die offensichtlich fast alle gut angenommen werden.
Hier zeigen sich nicht nur paradigmatische Verschiebungen von der Wissensvermittlung
in Richtung auf Erfahrungslernen und Aneignung sowie vom Hilfe-Ethos in Richtung auf
den Gestaltungsdiskurs, sondern auch strategische Umorientierungen weg von
kognitivistisch verengten Konzepten zu Gunsten von ganzheitlichen Settings,
Qualifizierungen personaler und sozialer Kompetenzen, Vermittlungen funktionaler
Äquivalente, infrastruktureller Arbeit, politischer Einmischung, Sozialraumorientierung,
Milieubildung, Netzwerkarbeit und Partizipationsförderung. Lebenswelt-, Teilnehmer-,
Ressourcen- und Handlungsorientierung gewinnen an Bedeutung. Inzwischen obsolet
gewordene Zentrierungen auf klassische Formate pädagogischer und Sozialer Arbeit
werden durch Formatierungen abgelöst, die weitgehend ein selbstgesteuertes Lernen
ermöglichen, Aktionsorientierung beinhalten und u.a. Elemente von Recherche,
Produktion und Strukturverbesserung beinhalten. Ihnen folgen Designs, die Muster der
Informationsvermittlung etwa durch projekt- und workshopförmige Angebote ablösen.
Mehr noch: Es scheint, als habe in den vergangenen Jahren gerade der pädagogische und
sozialarbeiterische Umgang mit dem Gewalt- und Extremismusproblem solche
paradigmatischen, strategischen und operativen Umsteuerungen nicht bloß reflektiert,
sondern selbst nicht unwesentlich mitbewirkt.
Auf der anderen Seite verbleiben zahlreiche Initiativen, Maßnahmen, Projekte und
Aktionen punktuell. Dies betrifft in erster Linie auch ihre zeitliche Dimensionierung.
Kontinuierliche und langfristig angelegte thematische Zuwendungen und Abarbeitungen
oder gar strukturell-institutionelle Justierungen auf die Bearbeitung von Gewalt und die
Entwicklung von Integrations- und Demokratiepotenzialen sind keineswegs gang und
gäbe. Sie wiederum sind unverzichtbar, weil politisch-soziale Desintegration,
Gewaltorientierungen und politische Haltungen bekanntlich nicht 'von heut auf morgen'
entstehen, sondern auf strukturellen Gegebenheiten im Zusammenspiel mit in bestimmter
Weise aufgeschichteten Sozialisationserfahrungen beruhen. Folgerichtig lassen sich
nachhaltige Effekte nicht von Einmal- bzw. Kurzfrist-Aktionen erwarten. Ebenso wenig
sind sie realistischerweise von isoliert bleibenden Aktivitäten einzelner Träger oder
einzelner Handlungsfelder zu erhoffen, so dass ihre Effektivität auch entscheidend von
ihrer gegenseitigen Öffnung füreinander und ihrer Vernetzung abhängt.
204
7. Trotz der genannten Innovationen haben sich die von ihnen implizierten Tendenzen längst
nicht in allen pädagogischen und sozialarbeiterischen Feldern mit gleicher Kraft
durchgesetzt. Kindertageseinrichtungen werden noch wenig in pädagogische Konzepte
der Demokratieschulung und der Anerkennungspädagogik einbezogen, Schulisches
Lernen folgt alles in allem noch stark überkommenen Mustern. Weiterhin dominiert das
Unterricht(ung)sprinzip, der 45-Minuten-Takt wird allenfalls einmal anlässlich von
Projektwochen und ähnlichen Sonderveranstaltungen aufgelöst, Kooperationen mit
anderen Trägern und fachlichen Kompetenzen (z.B. denen von Sozialarbeit) und
Öffnungen zum Gemeinwesen gehören noch längst nicht zum Standard der Alltagsarbeit.
Gewalt, Fremdenfeindlichkeit, Extremismus und interethnische Konflikte kommen
zumeist allenfalls als Unterricht(ungs)thema vor, ihre lebensweltlichen Dimensionen
bleiben in dem Maße außen vor, wie auch insgesamt Schule und Lebenswelt von Schülern
und Schülerinnen – nicht nur in deren Einschätzungen - voneinander abgeschottete
Bereiche bleiben. Ansätze wie Mediation und Streitschlichtung, Schulsozialarbeit,
Qualifizierung personaler und sozialer Kompetenzen und Schulentwicklungsprogramme
gehören noch längst nicht zur Regelpädagogik.
In der Eltern-, Familien- und allgemeinen Erwachsenenbildung hat sich insgesamt wenig
getan, obwohl zum Teil und längst nicht überall vor allem Trainings- und
Begegnungsformate neben solche der Unterrichtung getreten sind. Die zentrale
Bedeutung, die diesen Feldern in Hinsicht auf die familiale Sozialisation, aber auch in
Hinsicht auf Deutungs- und Mobilisierungspotenziale in der Bevölkerung und von
MultiplikatorInnen zukommt, dokumentiert sich in ihnen viel zu schwach. Aufsuchende,
gemeinwesenorientierte und mobile Strategien werden schmerzlich vermisst.
In allen Handlungsfeldern wird zwar die Relevanz geschlechtsreflektierenden Arbeitens
inzwischen mehr oder minder durchgängig bekundet, konkrete Konsequenzen werden
aber gerade für das in Hinsicht auf Gewaltphänomene und extremistische Bestrebungen
besonders belastete männliche Klientel in verschwindend geringem Ausmaß gezogen. An
dieser Stelle zeigen sich 'blinde Flecken', die der empirisch deutlich hervortretenden
Gefährdungslage von Jungen und Männern nicht im geringsten entsprechen.
8. Die in Kap. 3.1. im einzelnen dargelegten Praxiskonzepte werden von den sie tragenden
MitarbeiterInnen und Institutionen durchweg als erfolgreich bzw. erfolgversprechend
eingeschätzt. Eine genauere Analyse erweist zwar nicht gegenteilige Wirkungen, entlarvt
die Kriterien solcher Bewertungen aber als extrem 'weich' bzw. oberflächlich – ählich im
übrigen wie die Grundlagen bisheriger "best-" und "good-practice"-Einstufungen.
Validität könnte ihnen zugesprochen werden, wenn die Konzepte a) ihren Anschluss an
wissenschaftlich-theoretische Einsichten nachweisen könnten, b) in adäquater Reaktion
auf empirische Befunde entwickelt würden und c) wissenschaftlichen Standards
genügende Evaluationen vorweisen könnten. Allerdings sind derartige Bezugnahmen
selten, erfolgen – wenn überhaupt – meist implizit, punktuell und zu Zwecken
nachträglicher Legitimation, wirken wenig stringent und sind vor allem von einem
eklatanten Defizit an Evaluationserkenntnissen gekennzeichnet. Das letztgenannte betrifft
sowohl den Rekurs auf Ergebnisse, die der eigenen Konzeptionsentwicklung vorgängig
sind, als auch wissenschaftlich tragfähige Auswertungen der jeweiligen Konzeptionen
selbst. Das Manko ist auch eine Folge vernachlässigter Qualitätsentwicklungsprozesse in
den Projekten und Einrichtungen. Diese Schwachstelle wiederum ist nicht allein auf ein in
dieser Hinsicht unterentwickeltes Professionsverständnis oder unzureichende
Kompetenzen der Selbstevaluation zurückzuführen, sondern stellt auch eine Konsequenz
von unzureichender Ressourcenausstattung und fehlenden förderungspolitischen
Empfehlungen bzw. Vorgaben dar.
205
9. Der Forschungsverbund "Integrationspotenziale" ist nicht geeignet, die angemahnten
Evaluationsdefizite zu beseitigen. Dies ist weder sein Anspruch noch kann ein derartiges
Unterfangen bei seiner Anlage erwartet werden. Der Verbund verspricht aber, die
ursachenanalytische Basierung von praktischen Handlungskonzepten zu verbessern. Er
stößt in deutliche Wissenslücken vor, die abzubauen für zahlreiche Praxisfelder (z.B.
Arbeit mit Opfern, Strafgefangenen, Skinheads, arbeitsmarktbezogene Projekte) von
großer Wichtigkeit ist, um empirisch fundierte, rationale Gegenstrategien zu planen und
Konzepte theoriegestützt auszulegen. Schließlich kann er auch als Beitrag dazu verstanden
werden, die zumal aus erziehungs- und sozialarbeitswissenschaftlichem Blickwinkel zu
postulierenden Theorie-Praxis-Transfers anzugehen. Praxisanregungen werden von ihm
um so mehr ausgehen, wie die einzelnen Studien des Projektes ihre Fragestellungen auch
in Hinsicht auf Anwendungsrelevanz schärfen und das Rahmenkonzept die Intention
umsetzt, über Theorie-Praxis-Kooperationen wechselseitige Anstöße zu bewirken.
10. Um die pädagogische und sozialarbeiterische Praxis des Umgangs mit Gewalt,
Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und ethnisch-kulturellen Konflikten weiter zu
qualifizieren und auch den Forschungsverbund in den Kontext solcher Qualifizierungen
einzubinden, ist zu empfehlen, Praxis, Forschungsverbund und Evaluationsforschung eng
miteinander zu verknüpfen. Damit konkrete Ansätze pädagogischer und Sozialer Arbeit
stärker auf theoretische und empirische Erkenntnisse - sowohl ursachenanalytischer als
auch evaluativer Provenienz - Bezug nehmen können und umgekehrt wissenschaftliche
Untersuchungen mehr von Hinweisen aus der Praxis profitieren können, bietet sich in
einem ersten Schritt an, innerhalb des Verbundes oder eng an ihn angelagert eine Art von
'Beobachtungsstelle' einzurichten (in gewisser Weise ähnlicher den nationalen
Beobachtungsstellen für Rassismus). Ihr kämen im wesentlichen drei Aufgaben zu:
 den mit dieser Expertise begonnenen Überblick über pädagogische und
sozialarbeiterische Praxiskonzepte fortzuschreiben, weiter zu systematisieren und
stärker auch auf internationale Erfahrungen hin auszudehnen,
 den ebenfalls mit dieser Expertise gelieferten ersten Überblick über den Stand von
Evaluation kontinuierlich auf dem laufenden zu halten und auch hier verstärkt
internationale Ansätze (z.B. aus den USA, aber auch anderen europäischen Ländern)
zu sichten sowie
 Ansätze für Evaluationsforschung zum Themenbereich zu entwickeln bzw.
vorhandene Überlegungen und erste Erfahrungen systematisch aufzugreifen und dabei
auch insbesondere die methodische Diskussion voranzutreiben, die in Deutschland
gerade in den letzten Monaten – nicht zuletzt über Evaluationsvorhaben im Rahmen
von Xenos, Civitas und anderen Kontexten – verstärkt in Gang gekommen ist; dies
vorrangig auf der
 Ebene der Evaluation von politischen Programme, auf der
 Ebene der Evaluation von Einzelprojekten, ggf. auch Institutionen, und auf der
 Ebene von Einzelmaßnahmen.
Eine solche Stelle könnte auch über ihren Bezug zum Forschungsverbund hinaus
Scharnierfunktion innerhalb des themenspezifischen Theorie-Praxis-Verhältnisses
einnehmen, insoweit sie in die Lage versetzt würde, Aufgaben im Bereich der Organisation
von Kooperation, Vernetzung und Austausch (Theorie-Praxis-Workshops etc.) sowie der
Fortbildung (z.B. (Selbst-)Evaluations-Workshops für PraktikerInnen) zu übernehmen. Sie
wäre u.U. auch in ein noch zu entwickelndes Fortbildungskonzept für Mitarbeiter und
Mitarbeiterinnen in Projekten des Bundes (vor allem Xenos, Entimon, Civitas)
einbeziehbar.
206
Summa summarum: Pädagogik und Soziale Arbeit stehen im Umgang mit Problemen wie
Diskriminierung, Gewalt, Ausgrenzungsorientierungen, Extremismus und Erfahrungen von
sozialer und politischer Desintegration sowie Anerkennungszerfall keineswegs auf
verlorenem Posten. Sie können keine Patentrezepte bieten, beinhalten aber exklusive Chancen
für Zugriffe auf Potenziale, die individuell und sozial destruktiven Folgen solcher
Problemlagen und Prozesse entgegenarbeiten können. Die zukünftige Sicherung einer
humanen Republik ist fundamental darauf angewiesen, diese Potenziale zu identifizieren und
zu stärken. Dafür ist eine Absicherung und Qualifizierung pädagogischer und Sozialer Arbeit
vonnöten. Dies wiederum setzt eine praxisorientierte und anwendungsbezogene Forschung
voraus, durch die zum einen bestehende Leerstellen im vorhandenen Wissen um Ursachen
von Affinitätsaufbau zu wie von Distanzierung von Gewalt und extremistischen
Orientierungen geschlossen werden und zum anderen erheblich zu steigernde Anstrengungen
unternommen werden müssen, die Qualität, Leistung und Wirksamkeit pädagogischer und
Sozialer Arbeit wissenschaftlich einzuholen und zu optimieren.
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