4. Tragweitenbetrachtung Die Betrachtungen zu Rolle und Institution starten beide bei dem Punkt der Instinktarmut und der Kompensation dessen, der Weltoffenheit. Beide Systembeschreibungen sind sich einig, dass hieraus eine Bedingtheit des Menschen erschließbar ist. Die Bedingtheit jedes Individuums von bereits vorhandenen Mustern, Formen, Regeln, ähnlich vorhandener Wege und Verkehrssysteme in der Ungewissheit, in dem jeder Schritt ein ungewisser ist. Die Wege garantieren den festen Boden und die Verkehrssysteme beugen Zusammenstösse vor. Diese Normen, Verhaltensmuster, Konventionen sind von den vorhergehenden, sowie den aktuellen Individuen mit geprägt. Schließlich leben wir in Mitverhältnissen, in einer Welt des Wir. Dass, und weshalb das gerade Wiederholte derart beschreibbar ist und beschrieben wurde, hoffe ich in den beiden vorhergehenden Abschnitten im Sinne des jeweiligen Autoren hergeleitet zu haben. Nun möchte ich jedoch zu dem Knackpunkt kommen. In den grundlegenden Punkten sind sich die beiden Betrachtungen einig, doch bei der Tragweitenbetrachtung entfernen sie sich bishin zu direkten Differenzen. Gehlen sieht in der Weltoffenheit das Mängelwesen Mensch, dessen Kreativität lediglich Veränderung von Naturtatsachen ins Zweckdienliche ist. Die Institutionen sind stabilisierende Vorgaben, die eine erfolgreiche Veränderung garantieren, da sie wiederholt Erfolge ermöglicht haben. Das Zweckdienliche reicht bei Gehlen bis in das Zwischenmenschliche. Menschen wollen demnach auf jede Aktion die Reaktion vorhersehen können. Das können sie dank der Determinierbarkeit der habitualisierten und habitualisierenden Institutionen. Jede Abweichung artet in einen Zwang zur Jetztbewältigung aus. In Gehlens System müssten die Individuen eigentlich selber zu Institutionen werden. Meiner Beobachtung nach liegt hier der Knackpunkt und zugleich ein Problem in Gehlens Systembeschreibung. Die Entlastungsfunktion der Institutionen, in der totalitären Art wie Gehlen sie fordert müsste eine Verminderung des Reflexionsverhaltens des Einzelnen mit sich führen. Und das scheint er einerseits auch zu erwarten. So fragt er Adorno in dem Streitgespräch „Ist Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen?“, abgedruckt in : Friedmann Grenz, Adornos Philosophie in Grundbegriffen, Suhrkamp Verlag, ob dieser denn glaube, dass man „die Belastung mit Grundsatzproblematik, mit Reflexionsaufwand, mit tief nachwirkenden Lebensirrtümern[...] allen Menschen zumuten sollte?“(S.250) Adorno bejaht und Gehlen verneint dies. Obwohl man an diesem einzelnen Zitat nicht eine Meinung festmachen sollte, will ich trotzdem näher darauf eingehen, da es Gehlens Betrachtung und deren, meiner Beobachtung nach auftretenden Widersprüche reflektiert. Denn er fragt nicht ob wir es dem Menschen an sich, sondern ob wir es allen Individuen zumuten sollten. Das bedeutet, mit der Gabe der Verkraftungsfähigkeit von Reflexion privilegierte, bzw. belastete Menschen könnten die Last aufgebürdet bekommen und das Kreuz der Reflexion für die Menschheit tragen. Anders könnte ich auch nicht verstehen, wie Menschen die nur von Institutionen geleitet werden zweckdienlich handeln können, die Determinierbarkeit nutzend, wenn sie dieser nicht bewusst sind. Dazu müssen sie reflexiv operieren. Konkret behaupte ich, dass das Bild von einer Gesellschaft das strikt institutionell funktionell operiert, in dem Sinne wie ich Gehlens Institutionsbegriff verstehe und hergeleitet habe, einerseits keinen Platz für reflexiv wahrnehmende Menschen hat. Dies ist auf Grund der exzentrischen Position, wie ich sie bei Plessner verstehe jedoch nicht möglich. Andererseits soll es Reflexion ermöglichen. Gehlen behauptet ja selber, dass gerade durch die entlastende Funktion der Institutionen erst Energien für persönliche, neu zu erfindende Dispositionen frei werden. Und die Institutionen entstehen und vergehen ja wie gesagt durch die Interaktion dieser entlasteten Menschen. Deshalb will ich fairer Weise auch einlenken, dass er in dem Zitat von belastenden, also unnötigen Reflexionen zu sprechen scheint. Doch diese Positionierung scheint er mir emotional zu treffen und nicht institutionell. Durch die ständige Wiederholung von Schlagwörtern, wie Mängelwesen, Belastung durch Jetztbewältigung, Entlastung durch Institutionen, Verunsicherung durch Institutionsabbau und viele mehr zielt er meiner Meinung nach auf die Emotionen. Hauptsächlich auf die Angst. Durch die Einbeziehung des Einzelnen als Teil des Ganzen in die Institutionsentwicklung versucht er meines Erachtens die Primatpositionierung der Institutionen abzuschwächen, die ich bei ihm annehme. Aber ist es nicht durchaus möglich, dass der Mensch die intellektuelle Überlastung und die physische Entlastung [16]auch, oder gerade als reflexives und somit mündiges Wesen meistert? Dieser Frage möchte ich mich mit Hilfe meines Verständnisses von Plessners Rollenverständnis nähern. In diesem Sinne möchte ich an dem Knackpunkt ansetzen. [16]In diesem Zusammenhang würde ich Gehlen gerne vor den Individuen stehen sehen, die 14 Stunden am Tag nicht physisch entlastet waren und die diesen Aspekt als Grund nahmen sich zu Aufständen zu bewegen. Sicherlich gestehe ich den Institution zu behilflich zu sein, dass die fehlende physische Belastung in westlichen Kulturen nur noch verdeckt auftritt und wir nun im Allgemeinen intellektuell belastet werden können. Doch wie er selbst in einem anderen Kontext einräumt: Ideen „brauchen Menschen, die sich für ihre Verbreitung einsetzen, die ihnen bei der Durchsetzung helfen, Menschen, die selbst wieder untereinander diese ihre Wirksamkeit koordinieren.“(a.a.O. S77) In diesem Satz macht er den Menschen stark, als handelndes Wesen, jedoch gelenkt von Institutionen, um die Kraft der Idee zu relativieren, zu schwächen und die Institution zu stärken. Doch der Satz könnte anstatt mit Idee ebenso mit Institution beginnen. Wie gesagt finden wir ebenfalls Normen als Vorzeichnungen, als bereits vorhandene Richtlinien vor, ohne die die Person nicht gebildet würde, da sie nur so ihren sozialen Ort einnehmen kann und eine gewisse Stabilität hat, auf deren Basis weiteres Operieren erst möglich wird. Aber in diesen Vorzeichnungen oder auch Institutionen gefangen, findet der Einzelne seine Möglichkeiten. Wir tun hier nicht nur so, als ob der Mensch tatsächlich handlungsfähig sei und behaupten dann, dass er doch nur Marionette ist. Hier findet der Mensch eine gewisse Sicherheit in der Bildung der Person. Eine Sicherheit die er aber auch nutzt. Sie ist sozusagen die Safezone, in die er sich zurückziehen kann, wenn ein Experiment im Leben misslingt. Hier ist der kleine aber entscheidende Unterschied festzumachen. Beide sehen in dem sichernden der Normen eine Basis zum Handeln. Doch in Plessners Betrachtung ist der Mensch eher zum Handeln animiert und bei Gehlen ist das Handeln eher zweckgebunden. Es soll die Sicherheit aufrechterhalten. Anders gesagt möchte Gehlen die Safezone sozusagen überall um den Menschen herum wissen. Daher wäre jede aus den Institutionsabläufen herausstechende, also auch unnötig gefährdende Handlung unnötig. In anderen Worten sehe ich bei Gehlen die Gefahr, dass aus Angst vor Handlungsunfähigkeit durch Möglichkeitsüberschuss und Unübersichtlichkeit in eine starre Form, im Endeffekt also in eine Handlungsunfähigkeit gesteuert wird. Zum Beispiel legen die Menschen ihre Entscheidung in die Hände von Politikern oder Psychoanalytikern, die ihnen erklären, wie sie sich im Rahmen der Institutionen verhalten können, oder zu verhalten haben, damit sie Probleme bewältigen können. Dadurch entmündigen sie sich und werden entmündigt, da sie sich auf die Vorgaben verlassen, in dem Glauben, so Sicherheit zu erlangen. In den Situationen, in denen die Institutionen erfolgreich erprobt sind, sind die Menschen handlungsfähig. Doch sobald Situationen auftreten, die nicht erprobt sind, können wir die Handlungsunfähigkeit festmachen. Die Personen werden dann nicht selber handeln, sondern auf den Rat der Institutionen zurückgreifen wollen. Wir können heute sehen, dass immer mehr Leute zum Psychoanalytiker und direkt vor Gericht gehen, anstatt die Konfrontation mit den Mitmenschen zu suchen. Die Menschen trauen sich nicht mehr sich dem Problem zu stellen, sondern wollen eine institutionelle Instantlösung. Der Glaube an die eigene Entscheidungsfähigkeit wird dadurch minimiert. Ich will nun auf die Eingangs erwähnte Medium/Form Begrifflichkeit zurückgreifen. Diese will ich ein wenig abgewandelt anwenden. Außerdem möchte ich nun für Rolle und Institution zusammenfassend den Begriff Struktur verwenden. Während ich in dieser Darstellung eine bessere Verständlichkeit meines Gedankengangs zur Tragweite der jeweiligen Perspektive erzielen möchte, erhoffe ich mir damit gleichzeitig zu dem nun nahe liegenden Einwurf Stellung zu nehmen, dass doch auch bei Plessner Handlung nur innerhalb einer Struktur möglich ist, was ja auch weder von ihm noch von mir bestritten wird. Doch somit wäre die Frage der Perspektive im Endeffekt gleichgültig, da die Mündigkeit trotzdem nicht hergeleitet sei, da ja auf Grund von einer Struktur gehandelt wird. Nehmen wir ein Medium P an, das alle potentiellen Aktualitäten pA eines Menschen X beinhaltet. Dieses Möglichkeitsfeld P beinhaltet eine Form A, die Aktualität. Der Einfachheit halber möchte ich dies mit dem gleichsetzten, was uns vorschwebt wenn wir sagen, der Zustand zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Wir können es auch als den engsten Punkt des Trichters betrachten, den ich in der Einleitung erwähnte. Es ist also die Form A in der X anderen Menschen erscheint. Diese Form umgeben weiterhin die es überschreitenden potentiellen Aktualitäten. Und sie hat sie auch in sich, da die Aktualität von der Sache her der Potentialität ausgesetzt ist. Dies ist so, da wir die Gegenwärtigkeit nur in unserem Denken isolieren können. Jede Aktualität ist zugleich Potentialität, doch andersherum ist dies nicht der Fall. Anders gesagt ist jede Aktualität in unserem Denken rigidisierte Potentialität. Für das Gedankenexperiment nehmen wir nun eine Membran um die Form A an. Sie ist die Grenze zwischen der Aktualität, also dem was jetzt tatsächlich, konkret ist und dem was möglich ist, also der Potentialität. Wie ich gerade behauptet habe, ist das „Innere“ mit dem „Äußeren“ verbunden, da die Aktualität nur die Momentaufnahme der Potentialität ist. Stellen wir uns also die Aktualität als den Fokus einer Kamera vor. Die Membran entspricht hier dem Punkt an dem das Sichtbare ins Schwarze übergeht. Das Schwarze ist dann die Potentialität. Weshalb habe ich nun dieses umständliche Bild geschaffen? Ich erhoffe mir damit nun die Tragweiten besser darstellen zu können. Die Aktualität soll hierbei den Raum darstellen, den uns die Rolle bzw. die Institution vorgibt. In Gehlens Verständnis ist dieser Fokus, ist diese Aktualität eingeschränkt. Sie hat ein geringeres Territorium und somit weniger Spielraum zur Verfügung. Die Membran ist unelastisch. Dies ist bei ihm auch zwingend notwendig, da mit abnehmendem Spielraum, und Fokus die Überschaubarkeit, die Lenkbarkeit und somit die Kontrolle zunimmt. Doch es muss eine Voraussetzung erfüllt sein. Sämtliche Aktualitäten müssen den Fokus minimieren, da eine minimierte Aktualität bei einer weniger minimierten auf rigidisierte Potentialitäten stoßen kann, die es nicht kennt und mit denen es nicht operieren kann. Wenn sich nicht alle Menschen an die gleichen basalen Institutionen halten, sind Handlungen notwendig, die nicht institutionalisiert sind, nicht vorgegeben, nicht erprobt sind. Improvisation ist nötig. Erst das was dann geschieht ist meines Erachtens Handeln. Bei Plessner finden wir die Membran elastisch vor. Der Fokus ist somit maximierbar und minimierbar. Improvisation ist möglich. Unbekannte Potentialitäten können untersucht werden. Je nach Aktualität können sie aufgenommen werden oder auch nicht. Gehlen würde das nicht wollen, da dies ja wieder eine Belastung durch Möglichkeitsüberschuss ist. Doch es geht hier darum, dass Plessner Entscheidung ermöglicht, nicht aufzwingt. Davon abgesehen, selbst wenn sich alle Menschen auf die Institutionen verlassen könnten, weil alle Menschen vom Möglichkeitsüberschuss entlastet auf alle Situationen vorbereitet sind, so könnten das doch nur die zwischenmenschlichen Situationen sein. Keine Institution wird nichtmenschliche Umstände entlasten können. Wir werden das Feuer nicht institutionalisieren können, so wenig wie die Sonne, die Gravitation oder die Tiere. Obwohl wir es mit Hilfe der Technik versuchen. Die Auswirkungen dessen können wir langsam immer stärker mitbekommen. Davon abgesehen bin ich der Meinung, es ist unwahrscheinlich, dass es für jede Situation vorgegebene Verhaltensmuster gibt. Daher dürfen wir dem Menschen nicht die Entscheidungsfähigkeit abtrainieren, wie es bei Gehlens Vorschlag jedoch der Fall ist. Der Mensch hat bereits „an Stelle der Macht die Majorität gesetzt, an Stelle der Gewalt das Gesetz, an Stelle der Verantwortung das Abstimmungsverfahren.“[17] Das Verantwortungsbewusstsein ist bereits geschwächt, wir sollten es nicht noch weiter entkräften. Dies können wir bei Plessner wiederum stärken. Dem Handeln geht Entscheidung hervor. Eigene Entscheidung muss der Einzelne verantworten. An diesem Punkt möchte ich mich nun dem erwähnten Einwurf zuwenden. Diese Entscheidung ist im Grunde auch nur institutionell vorgegeben, möchte man meinen. Wie man es dreht und wendet, die Entscheidung ist bereits von der Struktur gefällt. Und selbst in dieser Argumentation kann man die Entscheidung auch der Person zuschreiben, betrachtet man es in der Aktualität, wie ich sie bei Plessner beschrieben habe. Doch auch ich werde eine Voraussetzung benötigen. Den Willen. Wille soll hier bedeuten, was wir im Alltag zu oft vernachlässigen. Das Gefühl des Leibes. Wenn ich mir zum Beispiel vorstelle mein Leben lang am Fliessband zu stehen, oder wenn ich mir vorstelle, auf der Welt muss niemand hungern, dann habe ich ein Gefühl dabei. Es ist nur ein Gefühl, neigt der Eine oder Andere nun zu behaupten. Und für diese Personen ist hier das schwächste Glied meiner Argumentationskette gefunden. Man kann das Gedankenexperiment jedoch weiterführen. [17] Hermann Hesse, Der Steppenwolf, suhrkamp taschenbuch 175, Erste Auflage, S.69 Dann ist das Akzeptieren der Aktualität, wenn sie mit dem Leib übereinstimmt das nach-demWillen-Handeln. Fühlt man sich in der Aktualität unwohl handelt man gegen den eigenen Willen. So banal wie es klingt ist es meiner Meinung nach auch. Ich möchte hierbei darauf hinweisen, dass er mir nicht um eine Stärkung des Bildes Individuum geht, sondern um ein stärkeres Verantwortungsbewusstsein der Personen. Selbst wenn man diesem Bild zustimmt ist damit der Zweifel nicht beseitigt, dass weiterhin die Struktur für das Gefühl zuständig ist, da die Erfahrungen zu einer Tatsache innerhalb einer Struktur gemacht wurden. Richtig. Doch der Zweifel, ob die Perspektive unwichtig ist sollte zumindest geschwächt sein. Sehe ich die Zuständigkeit bei der Struktur, so gebe ich ihr die Verantwortung und gestehe mir Ohnmacht zu. Ich kann mich dann nicht aus dieser Aktualität heraus bewegen und bin nur dass, was als nächstes in diesen Fokus fließen wird. Lasse ich es jedoch zu, dass der Fokus mehr fassen kann, gewinne ich an Möglichkeiten, daran erst an Entscheidungsfähigkeit. Gehlen warnt meiner Beobachtung nach nicht nur vor Entscheidungsüberlastung, sondern damit zeitgleich vor der Last der Verantwortung. Und dass der Mensch die Verantwortung als Last sieht und nicht als etwas Selbstverständliches wird dann bei Gehlen verstärkt. Daher ist der Unterschied der Perspektive wichtig. Auch wenn ich wiederholt zustimme, dass der Einfluss, möglicher Weise sogar der basale Einfluss der Strukturen nicht übersehen werden darf, möchte ich doch auch nicht den Einfluss der Person vernachlässigt wissen. Kurz noch die Anmerkung, dass ich mir der Tatsache bewusst bin, dass der Mensch nicht ohne Grundlage durch das Meer der Potentialität schwimmen kann. Eine völlig freie Aktualität wäre möglicherweise zerstörerisch. Genau diese Grundlage ist die Person bei Plessner. Und ich denke auch daran, dass immer nur aus dem Möglichen geschöpft werden kann. Ich erwähne dies hier ausdrücklich, da ich schon anderorts gedacht hatte es gesagt zu haben und doch angemerkt wurde, dass dieser Gedanke vernachlässigt wurde.