Helfer III

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Helfer III
An der Universität von Princeton wurde im Jahr 1973 ein bemerkenswertes Experiment
durchgeführt. Eine Reihe von Theologiestudenten bekam die Aufgabe, einen kurzen Vortrag
zum Gleichnis vom guten Samariter zu verfassen. Den ausgearbeiteten Vortrag sollte jeder
einzelne dann, auf eine gesonderte Aufforderung hin, in einem bestimmten Gebäude auf
dem Campus abgeben, wo er dann aufgezeichnet würde. Während die Personen einzeln auf
die Aufforderung warteten, ihren Vortrag abzugeben, kam plötzlich jemand hereingeplatzt
und sagte: „Oh, sie sind noch da? Sie sollten schon längst drüben sein! Vielleicht wartet der
Assistent noch – beeilen Sie sich!“ Der betreffende Student hastete los. Im selben Moment
wurde vor der Tür des aufzusuchenden Universitätsgebäudes eine scheinbar hilflose Person
platziert, die sich mit geschlossenen Augen hustend und stöhnend am Boden wand. Man
konnte das Gebäude nicht betreten, ohne diese Person, die sich offensichtlich in größten
Schwierigkeiten befand, wahrzunehmen. Wie reagierten die angehenden Theologen auf
diese Situation? Das Ergebnis war überraschend: Lediglich 16 von den 40
Versuchspersonen versuchten, etwas für die scheinbar hilflose Person zu tun, die übrigen
liefen ohne Halt weiter zu ihrem Termin. Besonders irritierend war, dass sich in einer
anschließenden Besprechung des Vorfalls mit den einzelnen Seminaristen herausstellte,
dass viele derjenigen, die der hilflosen Person nicht geholfen hatten, „nicht einmal bemerkt
hatten, dass da jemand in Not war, obwohl sie praktisch über ihn gestolpert waren.“ (Hunt
1988, S. 77)
Dieses Experiment sagt vor allem etwas darüber aus, dass der Zusammenhang zwischen
Einstellungen und Handlungen viel lockerer ist, als wir gewöhnlich annehmen. Das
Experiment zeigt etwas, was die Alltagserfahrung an sehr vielen Stellen ebenfalls deutlich
macht: dass zwischen dem, was Menschen über sich glauben – über ihre Moral, ihre
Überzeugungen, die Festigkeit ihrer Haltung – und dem, was sie tatsächlich tun, ein
himmelweiter Unterschied besteht. In konkreten Situationen, in denen Entscheidungen und
Handlungen gefordert sind, sind dafür Faktoren ausschlaggebend, die mit ethischen
Erwägungen und moralischen Überzeugungen zunächst mal gar nichts zu tun haben. Da
geht es nämlich um das Erreichen eines Zieles oder die Erfüllung einer Aufgabe und damit
vordringlich um die Frage, wie man diese Aufgabe möglichst effizient erfüllt oder wie man
das Ziel am besten erreicht. Im Fall der angehenden Theologen ging es, als sie die hilflose
Person ignorierten, nicht um die Ethik des Helfens, sondern um die Geschwindigkeit, die sie
einhalten mussten, um ihre Aufgabe zu erfüllen. In den Worten der amerikanischen
Psychologen Darley und Batson, die sich das Experiment ausgedacht hatten: „Wer es nicht
eilig hat, bleibt unter Umständen stehen und versucht, einer anderen Person zu helfen. Wer
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es eilig hat, wird eher weitereilen, selbst wenn er sich eilt, um über das Gleichnis vom guten
Samariter zu sprechen.“ (zit. nach Hunt 1988, S. 77)
Was sagen solche Befunde über die Frage aus, warum manche Menschen in
ausgrenzenden und totalitären Gesellschaften zu Tätern, viele zu Mitläufern und Profiteuren
und nur sehr wenige zu Helfern, Rettern oder Widerständlern werden? Zunächst einmal,
dass es selten eine Frage der Moral ist, für welche Verhaltensweise eine Person sich
entscheidet. Die Funktion von Moral ist nämlich vor allem die, Gemeinschaft zu stiften und zu
sichern: zu uns gehört, wer unsere moralischen Normen teilt. Diese soziale Funktion der
Moral ist aber etwas völlig anderes als die Funktion, die gewöhnlich von ihr erwartet wird:
nämlich handlungsleitend zu wirken, was sie aller Erfahrung nach eben nur höchst selten
leistet.
Viel eher als nach der Moral fällen Menschen ihre Entscheidungen danach, welche
Verhaltensweise ihnen in der jeweiligen Situation als die Sinnvollste erscheint, und was
sinnvoll ist, definiert sich nach ihren Interessen, Bedürfnissen und Möglichkeiten. Dabei muß
man bedenken, dass Menschen ihre Verhaltensweisen und das, was sie für normal und
angemessen halten, mit sich verändernden Verhältnissen ebenfalls verändern. Das kann
man vielleicht am deutlichsten am Beispiel des Nationalsozialismus sehen, wo innerhalb
weniger Monate soziale Umgangsformen etabliert und für normal gehalten wurden, die kurz
zuvor als völlig inakzeptabel, unwürdig und unmenschlich gegolten hätten.
Im März 1933 etwa hätten es die meisten Deutschen wohl für verwunderlich, wenn nicht für
undenkbar gehalten, wenn man Juden verwehrt hätte, öffentliche Parks zu betreten oder
öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen und wenn an jedem Ortsschild gestanden hätte:
„Juden sind hier unerwünscht!“ Nur wenige Jahre später war das alles Teil einer ganz
selbstverständlichen Wirklichkeit, über die sich keiner der Nicht-Betroffenen sonderlich
aufregte. So war es eben. Und weiter: Wenn solche gegenmenschlichen Umgangsformen
zur gesellschaftlichen Wirklichkeit geworden sind, wird es nur noch wenig Aufmerksamkeit
erregen, wenn Menschen aus den für sie bereits eingerichteten „Judenhäusern“ geholt und
an zentralen Stellen gesammelt werden, um sie dann gen Osten zu deportieren. So etwas
wäre Anfang 1933 noch ganz und gar unvorstellbar gewesen, und gewiß hätten die meisten
Deutschen so etwas 1936 auch nicht mit der Gleichgültigkeit hingenommen, wie sie es 1941
taten. Da war es bereits nicht mehr als ein unangenehmer, aber doch nicht ungewöhnlicher
Bestandteil ihres ganz normalen Lebens.
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Wenn man Motive für Täterverhalten auf der einen Seite und Helfer- und Retterverhalten auf
der anderen Seite sucht, verfällt man allzu leicht in den Irrtum, diese Motive in der Biographie
und in der Persönlichkeitsstruktur der Betreffenden zu suchen – so, als gäbe es eben
Menschen, die vor dem Absturz in die Gegenmenschlichkeit gefeit sind, und andere, die
dafür prädestiniert sind. Sicherlich gibt es bessere und schlechtere Menschen, aber
ausschließlich gute sind ebenso pathologische Grenzfälle wie ausschließlich böse
Menschen: beide sind nämlich nicht in der Lage, reflexiv und flexibel mit unterschiedlichen
Situationen und Anforderungen umzugehen. Die übergroße Mehrheit der Menschen
dagegen verhält sich im Leben höchst widersprüchlich, und das aus gutem Grund. Denn
Menschen bewegen sich in modernen Gesellschaften in völlig verschiedenen sozialen
Situationen mit wechselvollen Ansprüchen und Anforderungen an ihre Person – und man
erwartet von ihnen, dass sie sich gegenüber einem Baby anders verhalten als gegenüber
einem Zwölfjährigen und wiederum anders gegenüber einem Erwachsenen, dass sie mit der
Partnerin oder dem Partner anders umgehen als mit Freunden und wieder anders als mit
Kollegen und noch einmal anders mit den Vorgesetzten. Sie zeigen völlig unterschiedliches
Verhalten auf dem Sportplatz, auf der Zuschauertribüne, im Wartezimmer eines Arztes oder
auf dem Behandlungsstuhl eines Zahnarztes. Menschen bewegen sich jeden Tag durch viele
soziale Räume, und in jedem existiert ein anderer Rahmen für das Verhalten, das jeweils als
angemessen betrachtet wird. Jemand, der sich immer gleich verhielte, würde sofort für
verrückt erklärt werden.
Wir sind also in erstaunlichem Maße in der Lage, je nach Situation jeweils unterschiedliches
Verhalten zu zeigen und dabei auch durchaus bestimmte Eigenschaften zu betonen und
andere zu vernachlässigen. Die bisherige, übrigens erstaunlich spärliche Forschung zu den
Helfern und Rettern im Holocaust ist trotz dieser normalen Widersprüchlichkeit von
Menschen lange Zeit von der Vorstellung ausgegangen, dass es so etwas wie den
geborenen Retter geben müsste, der über eine besondere Persönlichkeitsstruktur und
besondere Eigenschaften verfügt. Anders sei nicht erklärlich, wieso diese wenigen
Menschen sich im „Dritten Reich“ dem gegenmenschlichen Zug der Mehrheit
entgegenstellen und sich anders verhalten konnten. Die umfangreichste Studie zur
„Altruistischen Persönlichkeit“ haben Samuel und Pearl Oliner 1988 vorgelegt. Für ihre
Untersuchung interviewten sie 700 Retter, Überlebende und Personen, die weder das eine
noch das andere waren, um herauszufinden, welche Merkmale eine Retterpersönlichkeit von
anderen unterscheiden. Das Problem dieser an sich verdienstvollen Studie ist, dass die
interviewten Retter jene Kriterien erfüllen mussten, die auch in Yad Vashem angelegt
werden, um jemanden als „Gerechten unter den Völkern“ auszuzeichnen – das heißt, diese
Personen mussten aus freien Stücken, unter hohem persönlichen Risiko und unentgeltlich
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geholfen haben. Diese Kriterien lassen zum einen die höchst unterschiedlichen Bedingungen
unberücksichtigt, unter denen jemand zum Helfer oder Retter wird oder überhaupt werden
kann, zum anderen führen sie in einen methodischen Zirkelschluß: denn wenn als Retter nur
altruistische Persönlichkeiten interviewt werden, ist der Schluß nicht überraschend, dass
eine altruistische Persönlichkeitsstruktur die Voraussetzung für Hilfeverhalten ist.
Die soziale Wirklichkeit sieht freilich anders aus, wie die Historiker Wolfgang Benz und
Juliane Wetzel schreiben: „manche Helfer taten es aus Nächstenliebe, aus religiöser
Überzeugung, andere wegen ihrer antifaschistischen Orientierung aus Opposition gegen das
NS-Regime, wieder andere wollten Freunde nicht im Stich lassen und viele andere kannten
ihre Schützlinge gar nicht, kamen aus reinem Zufall in die Situation, plötzlich jemanden zu
verstecken, ohne über die drohende Einweisung in ein KZ oder gar die Todesstrafe
nachzudenken. Es gab auch solche Helfer, die sich persönliche Vorteile verschafften, sei es
durch Geld- oder Sachleistungen“. (Benz & Wetzel 1996, S. 15)
Dass sich Helferverhalten nicht damit erklären lässt, dass gute Menschen helfen und
schlechte nicht, wird besonders deutlich, wenn man sich eines der bizarrsten und traurigsten
Kapitel aus dem Alltag der Verfolgung anschaut: Ab 1943 hatte die Gestapo in Berlin eine
Reihe sogenannter Greifer im Einsatz, die untergetauchte Juden aufspüren und ausliefern
sollten. Die „Greifer“ waren jüdische Frauen und Männer, die ihrerseits hofften, mit ihren
Diensten für die Gestapo der eigenen Deportation und damit dem sicheren Tod zu entgehen,
was freilich eine trügerische Hoffnung war. Die berüchtigste unter ihnen war Stella
Goldschlag, eine höchst attraktive junge Frau, auf deren Konto allein eine zweistellige Zahl
verratener Juden ging. Insgesamt fielen den „Greifern“ einige Hundert untergetauchte Juden
zum Opfer. Welches Persönlichkeitsmuster würde man den „Greifern“ zuordnen? Würden sie
richtig beschrieben sein, wenn man sie als „verräterische“ oder „Spitzelpersönlichkeiten“
bezeichnete? Hier sieht man, dass Menschen ihre Verhaltensweisen nach ihren
Handlungsmöglichkeiten ausrichten müssen, weshalb sich aus dem, was sie tun, nicht
kausal auf ihre Persönlichkeitsstruktur rückschließen lässt. Die Sache wird nicht einfacher,
wenn man weiß, dass sowohl Stella Goldschlag als auch andere „Greifer“ ihre Beziehungen
zur Gestapo auch dafür nutzten, Personen, die ihnen nahestanden, vor Durchsuchungen zu
warnen oder ihnen anderweitig halfen. Welche Persönlichkeitseigenschaften schreibt man
ihnen vor diesem Hintergrund zu?
Und welche Persönlichkeitsstruktur offenbart ein Mann, der eine jüdische Frau bei sich aus
zunächst ganz altruistischen Motiven versteckt, später aber die Situation ausnutzt, um mit ihr
zu schlafen? Welche zeigt die antisemitische Pfarrersfrau, die trotz ihrer Überzeugung Juden
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versteckt, welche der „meschuggene SS-Mann“, der Michael Degen und seiner Mutter hilft?
Welche das NSDAP-Mitglied Robert Holtz, der eine ganze Familie versteckt (alle Beispiel bei
Borgstedt 2004, S. 309)? Was fängt man an mit einer Person wie Wilhelm Kube,
Generalkommissar von Weißruthenien und seiner Biographie und Funktion nach ein absolut
überzeugter Nationalsozialist, Antisemit und Vernichtungstäter in großem Maßstab, der
andererseits aber intensiv um das Leben einiger deutscher Juden kämpfte, dafür zahlreiche
Konflikte in Kauf nahm und in einem Fall auch erfolgreich war?
Und was sagt es aus, dass Hilfe vielfach in sozial randständigen Milieus geleistet wurde –
von Prostituierten, Kleinkriminellen, Schiebern usw.? Sicher wenig über die Bedeutung
altruistischer Persönlichkeitsstrukturen, dafür gewiß einiges darüber, dass soziale
Außenseiterstellungen auch eine größere Bereitschaft zu abweichendem Verhalten mit sich
bringen und insofern auch ein Reservoir für Hilfeverhalten darstellen können.
Es gibt noch einen anderen Aspekt, der es kaum sinnvoll erscheinen lässt, Gründe für
Helferverhalten in altruistischen Persönlichkeitsstrukturen zu suchen: Wenn man als Däne
oder Belgier Juden gerettet hat, befand man sich in Übereinstimmung mit der Mehrheit der
Dänen oder Belgier, wenn man das als Deutscher oder Pole oder Ukrainer machte, tat man
das in krasser Abweichung von dem, was die Mehrheit der Deutschen, Polen oder Ukrainer
dachte und befürwortete. Insofern riskierten Helfer und Retter in Deutschland oder Polen
nicht nur mehr, wenn sie jemandem halfen, sie hatten auch viel weniger sozialen Rückhalt
bei dem, was sie taten. Und logischerweise war es für sie auch viel schwieriger, ihrerseits
Unterstützung und Hilfe für ihre Aktionen zu bekommen. Oder anders gesagt: Was in einem
Land als erwünschtes und normales Verhalten gilt, ist in einem anderen abweichend und
unnormal.
Es ist also ausgesprochen schwierig, dem schillernden Phänomen des Helfer- und
Retterverhaltens auf die Spur zu kommen – und so betrachtet, ist es kein Wunder, dass wir
bis heute so wenig darüber wissen, warum sich manche Menschen in extremen Situationen
altruistisch verhalten, während die meisten anderen das nicht tun.
Vermutlich kommt man dem Rätsel etwas besser auf die Spur, wenn man von zwei sehr
einfachen Annahmen ausgeht: Erstens kann man, wie das Beispiel der Greifer gezeigt hat,
nicht vom Ergebnis des Handelns einer Person auf ihre Persönlichkeit rückschliessen.
Menschen gehen nicht im Ergebnis von Handlungen auf, die aufgrund sehr vielfältiger
Faktoren zustande kommen, von denen nur wenige der freien Wahl der Handelnden
unterliegen. Das bedeutet zugleich, dass sich Verhalten nicht als etwas Statisches
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beschreiben lässt, sondern nur als Prozeß, und in diesen Prozeß gehen neben objektiven
situativen Faktoren eine Reihe von sozialen Bedingungen ein: man richtet nämlich sein
Handeln in viel stärkerem Maße an dem aus, was die anderen tun oder tun werden, als man
das normalerweise wahrhaben möchte. Man kann sich das einfach an der eigenen Erfahrung
klarmachen, dass es einem höchst peinlich ist, wenn man sich aus Unkenntnis,
Ungeschicklichkeit oder Gedankenlosigkeit anders als die Anderen verhalten hat – und wir
alle wissen, dass die Abweichung von dem, was von einem erwartet wird, zu den
unangenehmsten Gefühlen führt, die man sich vorstellen kann. Grundsätzlich ist unser
Handeln viel weniger individualistisch, als wir selbst glauben, und viel mehr orientiert an den
Normen der Wir-Gruppe, zu der wir gehören oder gehören möchten. Deshalb bedarf es
meist einer konkreten oder wenigstens einer gefühlten Übereinstimmung mit einer anderen
Person oder Gruppe, um zum Helfer oder Retter werden zu können.
Die zweite Annahme ist, dass wir nur auf der Grundlage dessen handeln können, was wir
wahrnehmen. Denn erst, was wahrgenommen wird, kann gedeutet werden. Und Deutungen
sind wiederum erst die Grundlage für Entscheidungen, aus denen dann Handlungen folgen.
Das heißt zunächst einmal, dass man überhaupt etwas als Problem wahrnehmen muß, um
sich zu einer Handlung veranlasst zu fühlen. Die meisten der Theologiestudenten im GuterSamariter-Experiment hatten ja deshalb nicht geholfen, weil sie die hilflose Person gar nicht
erst wahrgenommen hatten.
Konkret heißt das, dass die zunehmende Ausgrenzung und Verfolgung der Juden in
Deutschland überhaupt als Problem wahrgenommen werden musste, bevor jemand in die
Verlegenheit kam, sich zu überlegen, ob hier seine Hilfe gefragt sei. Dabei scheiden
zunächst mal alle diejenigen aus dem Kreis der potentiellen Helfer aus, die die Behandlung
der Juden begrüßen oder ihr gleichgültig gegenüberstehen. Und diejenigen, die vielleicht
anderer Auffassung sind, aber keine direkten Beziehungen mit jüdischen Deutschen haben,
haben oft keine realistische Einschätzung ihrer Situation. Victor Klemperer, der als Jude in
Dresden überlebte, zeigt sich jedenfalls in seinen Tagebüchern oft verwundert darüber, wie
wenig die nichtjüdischen Deutschen darüber wissen, welchen Einschränkungen die Juden
ausgesetzt sind und dass ihre Situation buchstäblich von Tag zu Tag beengter und bedrohter
wird.
In der Sozialpsychologie ist viel über den bedrückenden Umstand geforscht worden, dass es
immer wieder vorkommt, dass eine große Zahl von Menschen eine Gewalttat oder einen
Unfall beobachtet, aber niemand einschreitet oder hilft. Dieser sogenannte Zuschauereffekt
beruht darauf, dass die Passivität aller Herumstehenden jeden einzelnen in seiner
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Unschlüssigkeit darüber bestärkt, ob hier seine Hilfe gefordert ist oder nicht – weshalb er
sich dann in der Regel ebenfalls dafür entscheidet, passiv zu bleiben. Zugleich haben diese
Experimente zum Hilfeverhalten gezeigt, dass die Entscheidung zur Hilfe sehr stark davon
abhängig ist, wer Unterstützung benötigt: attraktiven Menschen wird eher geholfen als
unattraktiven; Menschen, die ihren äußeren Merkmalen nach der Wir-Gruppe entsprechen,
zu der man sich selber zählt, hilft man eher als solchen, die man fremden Gruppen zuordnet.
Personen, die – wie zum Beispiel Betrunkene – ihre Notlage selbst verursacht zu haben
scheinen, wird seltener geholfen, als Menschen, die ohne eigenes Zutun in eine üble Lage
geraten sind (Hunt 1988, S. 158).
Man kann sich vor dem Hintergrund solcher Befunde überlegen, was es für die
Hilfebereitschaft der Deutschen bedeutete, wenn Menschen in Not waren, die
antisemitischen Vorurteilen und rassistischer Propaganda zufolge alle negativen
Eigenschaften auf sich zu vereinigen schienen, zunehmend in eine Situation der
Verelendung und Verwahrlosung gebracht worden waren und zudem eindeutig nicht der WirGruppe zugehörig schienen. Und selbst wenn eine Person in einem solchen Klima die Not
der Anderen wahrnahm und sich zum Helfen veranlasst sah, war das immer noch nicht
gleichbedeutend damit, tatsächlich auch einen Handlungsspielraum für das Helfen zu sehen
und sich selbst zuzutrauen, erfolgreich Unterstützung leisten zu können.
Die Demütigung, Ausgrenzung und Beraubung der Juden gehörte so essentiell zur
Wirklichkeit des „Dritten Reiches“, dass sie einfach normal schien – also nicht als etwas, was
für Nicht-Betroffene eine besondere Aufforderung darstellt, aktiv zu werden. Noch heute
erzählen die meisten Zeitzeugen des Nationalsozialismus, dass man ja nicht mitbekommen
habe, was mit den Juden geschah – und aus meiner Sicht handelt es sich dabei nicht
einfach um eine Lüge, sondern um die Wiedergabe einer historischen Wahrnehmungsweise.
Wie man aus der Gedächtnisforschung weiß, wird das, was selbstverständlicher Bestandteil
von Wirklichkeit war, später kein besonderes oder herausgehobenes Element von
Erinnerung. Das Gedächtnis bewahrt nicht das Alltägliche, Routinehafte und Gewöhnliche
auf, sondern das Außergewöhnliche, das also, was besonders schön oder besonders
schlimm war.
Hierzu zwei Beispiele, die andeuten, wie sehr die Verfolgung zum selbstverständlichen Alltag
der Volksgemeinschaft zählte. Im ersten erzählte eine ältere Dame aus Bremen darüber, wie
sie als Kind Kontakt mir russischen Kriegsgefangenen hatte: „Auf dem Gelände stand
damals ein rohes, halbfertiges Gebäude; in dem waren Russen untergebracht. Junge
Burschen, kahlgeschoren, in zerlumpten, alten Kleidern. – Barfuss, auch, wenn es kalt war. –
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Saßen draußen und haben irgendwas geschnitzt. Und wenn wir Kinder in ihre Nähe kamen,
dann sind sie aufgestanden, haben eine Hand durch den Zaun gesteckt, um gleichzeitig mit
der anderen Hand so Bewegungen zum Mund hin zu machen. Wir Kinder konnten damit
nicht viel anfangen und haben gelacht. Weil die so komisch aussahen, so ausgemergelte
Gesichter mit so großen Augen […] Ich hatte keine Angst vor ihnen, bis die Mutter uns sagte,
wir sollten da nicht so nahe herangehen.“ (Betscher 2005, S. 68)
Eine andere alte Dame berichtet über die vorbeimarschierenden Häftlingskolonnen: „Diese
Männer waren natürlich auch in Lumpen gekleidet und sahen für uns Kinder recht lustig aus.
Und unsere Oma, die sagte dann immer zu uns: Wir müssen aufpassen, die Trula-Männer
kommen ja gleich! Wir liefen dann zum Fenster und haben uns gefreut, wenn die da
rumgewühlt haben“ (Betscher 2005, S. 69). Diese Zitate sind einer Studie über den Alltag der
Verfolgung entnommen, die die junge Historikerin Silke Betscher kürzlich verfasst hat. In
ihrer Untersuchung kommen auch Familien vor, die die morgendliche Uhrzeit mit der Frage
ermittelt haben, ob die Häftlingskolonne schon durch sei oder nicht.
In einer solchen gegenmenschlichen Atmosphäre sind Normen des Mitleids und der
Nächstenliebe genauso verschoben wie die Kriterien dafür, welches Verhalten als sozial
erwünscht und welches als abweichend betrachtet wird. Während die Ausgrenzung und
Verfolgung einen immer selbstverständlicheren Teil der nationalsozialistischen Normalität
bildete, wurden andere Wirklichkeitsdeutungen immer seltener, aber es gab sie doch. Sie
konnten zum Beispiel darauf basieren, dass man am Schicksal jüdischer Bekannte oder
Freunde teilhatte oder darauf, dass man selbst Unterstützung und Solidarität in einer heiklen
Situation erlebt hatte. Oder auch darauf, dass man Beispiele eigenständigen Denkens und
Handelns vor Augen hatte, wie es etwa Otl Aicher, der dem Widerstand um die Geschwister
Scholl nahestand, über einen seiner Lehrer berichtet: „Nur wer in einer finsteren Zeit gelebt
hat, weiß, was es bedeutet, vielleicht nur für einen persönlich bedeutet, wenn ein
Biologielehrer vor der Klasse steht und Einführungen in Grundlagen der Naturwissenschaft
gibt und dann folgendes sagt: Die biologische Substanz ist als Materie wertlos. Wenn man in
der einen Hand einen Nationalsozialisten hätte, in der anderen einen Haufen Dreck, so wäre
das – rein biologisch gesehen – ein- und dasselbe.“ (Aicher 1985, S. 35)
Kommen wir damit zum Ausgangspunkt zurück: Den Motiven für Helfer- und Retterverhalten
kommt man deshalb so schwer auf die Spur, weil es immer nur eine verschwindend kleine
Minderheit ist, die sich abweichend verhält, sich die Angehörigen dieser Minderheit aber
nicht durch besondere soziale und persönliche Merkmale vom Rest der Gesellschaft
unterscheiden. Wenn man Helfer- und Retterverhalten verstehen will, muß man die Gründe
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dafür wahrscheinlich woanders suchen als in den Biographien oder in den persönlichen
Motiven der Helfer und Retter. Vielleicht liegen die Gründe dafür, weshalb jemand zum
Helfer oder Retter wird, viel eher auf sozialer als auf persönlicher Ebene – dort nämlich, wo
jemand direkt um Hilfe bittet, dort, wo man zu einem Netzwerk von Personen gehört, das
bereits hilft und nun weitere Unterstützung braucht, oder dort, wo jemand ein Verhalten zeigt,
dem man nacheifern möchte. Kurz gesagt: der Grund dafür, dass sich unter denselben
äußeren Bedingungen gigantische Mehrheiten einer Bevölkerung konform verhalten, auch
dann, wenn diese Konformität gleichbedeutend mit Gleichgültigkeit, Ausgrenzung,
Verfolgung und Beraubung ist, und nur verschwindende Minderheiten sich gegen die
Unmenschlichkeit entscheiden, ist nicht in abstrakten Gründen und Motiven, sondern in der
konkreten Praxis zu suchen. Zufall, soziale Nähe, gefühlte Erwartungen an die eigene
Person, Hilfemöglichkeiten und die Wahrnehmung von Handlungsspielräumen und –
möglichkeiten – solche konkreten Dinge spielen vermutlich eine viel größere Rolle für die
Entscheidung, ob man das persönliche Risiko des Helfens und Rettens auf sich nimmt, als
abstrakte Einstellungen und Überzeugungen.
Für die Forschung bedeutet das, dass man sich in Zukunft viel genauer die Situationen
anschauen muß, in denen Menschen geholfen haben, und nicht bloß die Menschen, die
geholfen haben. Und damit würde auch die Pädagogik eine neue Perspektive gewinnen:
Denn die reinen guten altruistischen Retter, die stillen Helden, wie sie neuerdings genannt
werden, sind als Menschen genauso fern, unerreichbar und abstrakt wie die absolut Bösen
vom Schlage Joseph Goebbles, Rudolf Höss oder Amon Göths.
Der Holocaust ist von psychisch ganz normalen Menschen ins Werk gesetzt und
durchgeführt worden; und auch die Helfer und Retter waren ganz normale Menschen. Wenn
man aus dem Holocaust, dem nationalsozialistischen Vernichtungskrieg oder anderen
Völker- und Massenmorden tatsächlich etwas lernen könnte, dann doch wohl nicht, dass
manche Menschen gut und die meisten anderen böse sind. Sondern man könnte lernen,
dass es an jeder Stelle, an der man sich im Leben befindet, darum geht, Entscheidungen zu
treffen, und dass jede einzelne Entscheidung wiederum Konsequenzen dafür hat, wie man
sich bei der nächsten Frage entscheiden kann und wird. Und man könnte lernen, dass man
Handlungsspielräume für Menschlichkeit auch dort sehen und finden kann, wo die meisten
anderen sich längst für die Unmenschlichkeit entschieden haben.
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