Paul Ricoeur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen

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Paul Ricoeur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen
(La mémoire, l´histoire, l´oubli, Paris, Seil 2000,
deutsche Übertragung durch H.-D. Gondek, H. Jatho, M. Sedlaczek, Wilhelm Fink
Verlag, München 2004)
Thema I: Griechisches
Gedächtnisses (S. 23-79)
Erbe
und
Entwurf
einer
Phänomenologie
des
Zusammenfassung:
In seiner Analyse des Gedächtnisses (im ersten Teil, „Über Gedächtnis und
Erinnerung“, De la mémoire et de la réminiscence, genannt) lässt sich R. durch zwei
Fragen führen: Wovon gibt es Erinnerung? (der Gegenstand des Gedächtnisses) und
Wessen Gedächtnis ist es? (das Subjekt des Gedächtnisses). Der Husserlschen
Phänomenologie treu geht R. von der Intentionalität des Gedächtnisses (was
erinnern wir?) zu seiner Reflexivität über (sich an etwas erinnern heißt immer auch
seiner selbst erinnern).
Die Frage nach dem Gegenstand des Gedächtnisses hat jedoch einen kognitiven und
einen pragmatischen Aspekt, nämlich die mnémé als ein pathos und die anamnésis als
ein aktives Streben. Dieser zweite, pragmatische Aspekt beinhaltet eine Art „Arbeit“
mit dem Gedächtnis, d.h. eine Möglichkeit seines Gebrauchs und Missbrauchs.
Zugleich führt uns dieser pragmatische Aspekt zu der Frage nach dem Subjekt des
Gedächtnisses. Ausgehend von der Frage nach dem Gegenstand des Gedächtnisses,
kommen wir damit über die Wie-Frage zum Subjekt des Gedächtnisses. In drei
Kapiteln dieses Teiles führt also R. seine Analyse von der Erinnerung (souvenir) als
dem Gegenstand des Gedächtnisses über die Arbeit des Sich-erinnerns (réminiscence)
zum Gedächtnis in seiner Reflexivität (mémoire réflechi).
1. Gedächtnis und Einbildungskraft
Die erste Frage nach dem Gegenstand des Gedächtnisses orientiert sich am Problem
des Verhältnisses und der schwierigen Unterscheidung zwischen dem Gedächtnis
und der Einbildungskraft (imagination). Das Vergangene ist nämlich in einem
(visuellen oder auditiven) Bild (image) vergegenwärtigt und damit gerät das
Gedächtnis in eine gefährliche Nähe der Einbildungskraft. Wie das Vergangene vom
Fiktiven zu unterscheiden? Die Untersuchung läuft in drei Schritten: (1) Das
griechische Erbe (Plato und Aristoteles), (2) die Typologie der mnemonischen
Phänomene, (3) die Erinnerung und das Bild (die Gefahr einer Vermischung der
Erinnernung und der Fiktion).
(1) Das griechische Erbe
Platon: Die gegenwärtig anwesende Vorstellung einer abwesenden Sache
1
Platon erörtert das Problem des Bilds (eikón) und der Fiktion (fantasma) im
Zusammenhang mit der Frage nach dem Irrtum in seiner Polemik gegen die
Sophisten (was ist das im Irrtum implizierte Nicht-sein?). R. erinnert vor allem drei
Stellen aus den Dialogen Theaitetos und Sophistes.
Die erste Stelle ist die Metapher des Wachsblocks (kérinon ekmageion) in der Seele, in
dem die Wahrnehmungen und Gedanken als die Siegelringe abgedruckt werden. In
der Seele dauert ihr Bild (eidólon), aufgrund dessen es später möglich ist sie wieder
zu erkennen und hervorzurufen (Tht 191c-e). Der Irrtum kommt durch eine falsche
Verbindung zustande, falls das eidólon mit einer Wahrnehmung verknüpft wird, zu
der es nicht gehört (Tht 193c-d).
Die zweite Stelle ist das Bild der Seele als der eines Taubenschlags (peristereón), in
dem Platon zwischen einem habituellen Besitzen (to kektésthai) und einem aktuellen
Erfassen (to echein) unterscheidet. Es ist nämlich etwas anderes, die Tauben
verschiedener Art zu fangen und zu halten (ihr Eigentümer zu sein), und etwas
anderes, den Taubenschlag zu betreten und eine Taube in die Hand zu nehmen
(aktuelles Ergreifen). Nach dieser Metapher kann der Irrtum schon durch ein
verfehltes Einreihen des neu gefangenen Vogels zu einer falschen Gruppe im
Taubenschlag auftreten (Tht 197b-199b). Die angeführte Unterscheidung zwischen
dem Besitzen und dem aktuellen Erfassen entspricht dem habituellen Aufbewahren
im Gedächtnis und der aktuellen Erinnerung.
Letztlich drittens erörtert R. die Stelle aus dem Sophistes über die zwei Arten der
mimetischen Kunst (hé mimétiké), nämlich einerseits die Herstellung eines Bildes
(eikón), das durch seine Proportionen und Farbe die Ähnlichkeit (eikos) mit der
dargestellten Sache bewahren will, und andererseits die Produktion einer
verschönenden Fiktion (fantasma), die sich durch die nachgeahmte Sache nicht ganz
führen lässt (Sph 235c-236c). Diese doppelte nachahmende Kunst (eidolopoiiké),
nämlich die nachbildende (eikastiké) und einbildende (fantastiké), ist bei Plato zwar
nicht direkt mit dem Gedächtnis verbunden, sie thematisiert jedoch die Gefahr, die
Erinnerung als ein Bild zu verstehen: nämlich die Verwechselung oder Vermischung
der Erinnerung und der Fiktion.
Neben dieser Problematik der Erinnerung und Fiktion, die eng mit dem
Wahrheitsanspruch des Gedächtnisses zusammenhängt, hebt R. vor allem Platons
Metapher des Typos (Eindrucks im Wachsblock) und der verwandten Spur (trace), die
in der weiteren Untersuchung wichtig sein soll (als die Spur der Vergangenheit in
einem Dokument, als die Spur eines Ereignisses im Gedächtnis oder als die
körperliche Spur im Gehirn). Was jedoch bei Plato nicht direkt thematisiert wird, ist
die Beziehung zwischen dem Gedächtnis und der Zeit. Das zeitliche „Voraus“ der
Wahrnehmungen gegenüber ihren Zeichen im Gedächtnis ist nur implizit
vorausgesetzt. Und gerade in diesem Punkt knüpft Aristoteles an.
Aristoteles: „Das Gedächtnis betrifft das Vergangene“
2
In seiner kurzen Abhandlung De memoria et reminiscentia aus den Parva naturalia
widmet Aristoteles je ein Kapitel dem Gedächtnis (mnémé) und dem Sich-Erinnern
(anamnésis). Der erste Ausdruck deckt nach R. eine „einfache Evokation“ (évocation
simple), die ihrer Art nach passiv ist, der zweite bezeichnet ein aktives, gezieltes
Suchen. Der Gegenstand der mnémé ist das Vergangene (to genomenon, 449b15),
deswegen ist in ihr ein Zeitbewusstsein enthalten („vorher“ und „danach“, 450a).
Aristoteles behandelt auch die notwendige Verbindung des Gedächtnisses mit der
Einbildungskraft: ohne die Einbildungskraft wäre das Gedächtnis unmöglich, es hat
nämlich den gleichen Gegenstand wie die Einbildungskraft, nur akzidentell (kata
symbebékos) wird sein Gegenstand ein Objekt des Denkens, insofern nämlich die
Einbildungskraft für das Denken unentbehrlich ist (450a). Ist aber im Gedächtnis die
Sache selbst, oder eine durch die Sache hervorgerufene Affektion (pathos)? Erinnern
wir uns also an die Sache selbst, oder an die Empfindung (aisthésis) als einen
Abdruck (typos) oder eine „Einschreibung“ (grafé). Um diese schwierige Frage lösen
zu können, führt Aristoteles den Begriff Bild (eikón) mit seiner doppelten
Intentionalität ein: Das Bild kann als es selbst oder als ein Hinweis zu etwas
anderem, abwesendem, begriffen werden. Genauso sind auch die Vorstellungen im
Gedächtnis (fantasma) etwas an sich, zugleich aber ein Hinweis zum Anderen: wir
rufen sie selbst hervor und damit auch die Sache, zu der sie hinweisen (450b).
Im Unterschied zu der passiven mnémé (Gedächtnis oder Erinnerung), die auch bei
einigen Tieren beobachtet wird, ist das aktive In-Erinnerung-Rufen (anamnésis =
rappel) eine absichtliche, durchdachte Anstrengung, die nur dem Menschen eigen ist
(453a). Auch zu ihr gehört jedoch ein Zeitbewusstsein: sie betrifft das Vergangene,
dasjenige, das wir erfahren oder erlernt haben (451b), und sie vergegenwärtigt die
Bewegung des Erinnerten und der Zeit (452b). Nur das Vergangene können wir in
Erinnerung rufen, evtl. unter Einbeziehung einer Mnemotechnik. In diesem Sinne
deutet Aristoteles die Platonische anamnésis (Wieder-erinnerung an die
mathematischen Gesetzlichkeiten oder die Ideen, vgl. Menon, Faidon, Faidros). Den
beiden Autoren ist jedoch die „Sokratische Dialektik“ der anamnésis in ihrem Suchen
und Finden gemeinsam.
Als den wichtigsten Beitrag des Aristoteles schätzt R. seine Thematisierung des
Gedächtnisses in seinem Bezug auf das Vergangene und seine Entdeckung des
mnemonischen Bilds in seiner doppelten Intentionalität ein. Das Bild im Gedächtnis
gewinnt damit eine Eigenständigkeit, eine Alterität der Sache gegenüber, zu der es
hinweist.
(2) Entwurf einer Phänomenologie des Gedächtnisses
Eine eigene Analyse des Gedächtnisses will R. nicht anhand der Dysfunktionen,
sondern anhand der normalen, „geglückten“ Ausübung des Gedächtnisses
durchführen. Das Gedächtnis beansprucht da eine gewisse Treue dem Vergangenen
gegenüber, und bezeugt zugleich den vergangenen Charakter des Vergangenen.
Dadurch unterscheidet es sich von der Fiktion.
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Gleich am Anfang gibt R. eine große Mehrdeutigkeit des Gedächtnisses und die
Vielfältigkeit der mnemonischen Phänomene zu, die jedoch im Bezug des
Gedächtnisses auf das Vergangene eine gemeinsame Achse finden. Was die
gegenständliche Hinsicht des Gedächtnisses angeht, müssen wir zwischen dem
Gedächtnis als der Intention (visée) und der Erinnerung als der intendierten Sache
(chose visée) unterscheiden, d.h. zwischen dem Akt des Sich-Erinnerns und den
erinnerten Dingen (dieses Paar entspricht der Unterscheidung noésis-noéma bei
Husserl). Neben dem Singular des Gedächtnisses gibt es eine Pluralität der
Erinnerungen: die Einzelereignisse, die wiederholten Geschehnisse, die Gesichter,
Dinge und memorisierten „Sachverhalte“ (z.B. die Tabellen der unregelmässigen
Verben). Für die Historiographie werden jedoch auch die Einzelereignisse zu
„Sachverhalten“.
Die Vielfältigkeit betrifft jedoch nicht nur die Gegenstände des Gedächtnisses,
sondern auch die Art und Weise, wie sie die Vergangenheit angehen. Aus dieser
Hinsicht unterscheidet R. vier Gegensatzpaare, die den ganzen Fächer der
mnemonischen Phänomene eröffnen.
(a) Das erste Paar, das R. von Bergson übernimmt, wird durch die Habitualität
(Gewohnheit, habitude) und Erinnerung (Gedächtnis, mémoire) gebildet.1 Die
vergangene Erfahrung ist nämlich entweder in die gelebte Gegenwart integriert, oder
ausdrücklich in ihrem Charakter der Vergangenheit erkannt. Es ist z.B. etwas
anderes, ein Gedicht auswendig gelernt zu haben (das jetzt ein Teil meiner
Gegenwart bildet), und etwas anderes, sich an einen Einzelaugenblick der
Memorierung dieses Gedichts zu erinnern. In diesem zweiten Fall geht es nicht um
einen unbewussten Teil der gelebten Gegenwart, sondern um ein In-ErinnerungRufen einer vergangenen Szene. Dieses Bewusstwerden der Vergangenheit fehlt in
der Habitualität, obwohl beide, die Habitualität und Erinnerung, eine Gegenwart des
Vergangenen bedeuten.
(b) Das zweite Paar, die Evokation (évocation) und Suche (recherche) entspricht der
Unterscheidung zwischen mnémé und anamnésis bei Aristoteles. Das evozierte Bild
unterscheidet sich dabei (wahrscheinlich) vom „Abdruck“ der vergangenen Sache
selbst (nach der Metapher Platons). Die anamnésis als ein absichtliches Sich-Erinnern
ist eine Arbeit gegen das Vergessen. R. beruft sich auch auf Bergsons Unterscheidung
zwischen dem „augenblicklich-spontanen“ und dem „mühsamen Erinnern“ (rappel
instantané, resp. laborieux).2 Die Anstrengung (effort) des Sich-Erinnerns, wie jede
geistige Anstrengung, wandelt nach Bergson ein Schema zum Bild um: es führt
nämlich eine schematische Vorstellung mit ineinander liegenden Elementen zur
bildhaften Vorstellung mit nebeneinander liegenden Teilen.
Srv. H. Bergson, Matière et Mémoire. Essai sur la relation du corps à l´esprit
(z r. 1896), Œuvres, Paris 1963, str. 225-235.!!
2 Srv. H. Bergson, Effort intellectuel, in: týž, L´Énergie spiriteulle, Œuvres,
str. 930-959.!!
1
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Die aktive Anstrengung des Erinnerns muss dabei das Hindernis der zeitlichen
Abgelegenheit überwinden. Dadurch tritt in diese Aktivität ein Element des pathos
und der Affektion ein. Das Gedächtnis ist nämlich stets, wenn auch sehr
geheimnisvoll, durch das Vergessen bedroht; deswegen ist das Sich-Erinnern eine
Arbeit gegen das Vergessen und muss ständig einen Widerstand oder eine
Bedrohung bekämpfen. Zur Arbeit des Sich-Erinnerns gehört auch eine
Differenzierung des unterschiedlichen Maßes der Vergessenheit. Wenn wir
(paradoxerweise) wissen, was wir vergessen haben, dann handelt es sich nicht um
ein absolutes Vergessen, das jede Spur der Sache im Gedächtnis gelöscht hat,
sondern nur um eine Schwierigkeit oder Unmöglichkeit das Gesuchte zu evozieren.
Die Arbeit des Sich-Erinnerns ist deswegen ein riskantes Suchen, dessen Resultat
nicht garantiert werden kann.
(c) Das sehr wichtige, dritte Paar bilden die primäre und die sekundäre Erinnerung,
d.h. die Retention und Reproduktion, wie sie bei Husserl analysiert werden.3
Während die Retention ein unreflektiertes Beibehalten des unmittelbar Vergangenen
im folgenden Augenblick ist, setzt die Reproduktion ein Verschwinden und
Zurückrufen des Vergangenen voraus. Wenn ich einen klingenden Ton oder eine
Melodie höre, gehört zu der aktuellen Gegenwart auch Gedächtnis des vergangenen
Augenblicks, das dem Ton seine Dauer und der Melodie ihre Folge verleiht. Ohne
dieses unabsichtliche Beibehalten (die Retention) würden die Augenblicke in ein
unverständliches Durcheinander zerfallen. Dank der Retention können wir den
Beginn, die Dauer und das Ende unterscheiden, und zwar nicht nur in der
Wahrnehmung, die Husserl analysiert, sondern auch in der Affektivität und in der
Handlung. Den Kern der Analyse Husserls bildet die Gegenwart als ein aktueller
Augenblick, ein imaginäres Unterbrechen (arrêt) des Zeitflusses, ein „Jetzt“,
unterscheidbar von dem direkt vergangenen „Jetzt“, das in der Retention noch
gegenwärtig, wenn auch modifiziert bleibt. Die Analyse Husserls geht letztlich von
der Dauer des Objekts zur Dauer des autokonstitutiven Bewusstseinflusses als einer
„Retention der Retentionen“ über, die kein gesetztes Ende hat. Die in der Retention
modifizierte Vergangenheit ist dabei keine Imagination, sondern eine Art
Fortwirkung des unmittelbar Vergangenen (ein Kometenschweif, wie Husserl sagt).
Die Reproduktion als eine Wiedererinnerung des Vergangenen scheint dagegen eine
Art Imagination zu sein, zu der jedoch ein „setzender“ Charakter, eine
„Wiedergegebenheit“ gehört.
(d) Das letzte Paar, das die Diversifizierung der mnemonischen Phänomene zeigt, ist
die Reflexivität und Mundanität (réflexivité-mondanéité), dem im Übergang vom
Gedächtnis zur Geschichte eine besondere Bedeutung zukommt. Ich erinnere mich
nämlich nicht nur an mich selbst als den Erlebenden, sondern zugleich an die
Situationen, in denen ich das Erinnerte erlebt habe. Diese Situationen implizieren
meine eigene Körperlichkeit, die Körperlichkeit der anderen, den gelebten Raum und
Srv. E. Husserl, Die Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren
Zeitbewußtseins, Husserliana X, hg. v. R. Boehm, Den Haag, 1966.!!
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den Horizont der Welt (oder der Welten), innerhalb dessen ich es erlebt habe. Ein
unentbehrlicher Aspekt des Gedächtnisses ist jedoch seine Reflexivität (gegenwärtig
in einem ungleichen Maß schon in den früher erwähnten Gegensatzpaaren): ich
erinnere mich „bei mir selbst“, „in meinem Herzen“ im Sinne einer Innerlichkeit
(inwardness, mit Ch. Taylor gesagt4).
Den Zusammenhang des „Inneren“ und des „Äußeren“ in der Arbeit des
Gedächtnisses analysiert Edward Casey anhand drei „mnemonischen Modi“
(mnemonic modes):5 (i) Reminding, ein Memento oder ein Merkzeichen als eine mehr
oder weniger mechanische Einrichtung gegen das zukünftige Vergessen (etwas
erinnert an etwas anderes, z.B. ein Photo an eine Situation oder eine Person, der
Knoten im Taschentuch an die Pflicht die Katze zu füttern). (ii) Reminiscing, ein InsGedächtnis-Rufen, ist schon mehr aktiv, es ist ein Sprachgeschehen, in dem der
Erzähler oder Verfasser an das Vergangene erinnert (die Memoiren, das erzählende
Wachrufen der gemeinsamen Erlebnisse). (iii) Recognizing ist endlich eine Art
Resultat des Erinnerns und Ins-Gedächtnis-Rufens, nämlich das Wiedererkennen
(reconnaissance), dass es tatsächlich um das vergegenwärtigte Vergangene geht. Das
Vergangene trägt dabei eine doppelte Andersheit – es ist nicht nur abwesend,
sondern auch in der Zeit vorig (es trägt ein unterschiedliches Maß der Fremdheit,
bzw. der Vertrautheit, bzw. geht es um eine Mitte zwischen beiden, nämlich eine
historische Rekonstruktion) – und ist dennoch als das gleiche wiedererkannt. Das
Wunder der Wiedererkennung, der Repräsentation, die das Vergangene als
gegenwärtig darstellt, trägt die doppelte Bedeutung des Re- in diesem Wort, nämlich
des Zurückrufens und zugleich des Wiederbelebens.
Diese Phänomene, die für Casey einen Übergang zwischen dem „Äußeren“ und dem
„Inneren“ (beyond mind und in mind) bedeuten, interpretiert Ricoeur als die
Intentionalität des Gedächtnisses, die eine nicht-reflexive Dimension enthält, nämlich
die Einbeziehung der Körperlichkeit, des Raumes und des Horizontes einer Welt.
Für das körperliche Gedächtnis deckt sich das Paar Reflexivität-Mundanität teilweise
mit dem von Habitualität und Erinnerung, die oben untersucht wurden (z. B. die
meistens unreflektierte Habitualität des Autofahrens, dagegen die reflexive
Erinnerung an eine Verletzung oder eine Krankheit). Das Gedächtnis der Orte ist ein
so
bezeichnender
Gedächtnismodus,
dass
er
als
Grundlage
der
Memorierungstechniken von der Antike bis zur Renaissance dienen konnte. Die
Stabilität der Orte ist eine Stütze des Gedächtnisses, die Erinnerung ist immer mit
einem Ort bzw. Orten verbunden (deshalb ist auch Historiographie immer mit
Geographie verbunden). Die für unser Bewusstsein charakteristische Sukzessivität
impliziert eine Datierbarkeit und Lokalisierbarkeit der Elemente. Der Ort in diesem
Sinne ist jedoch immer mit einem Ereignis „erfüllt“, es ist ein bewohnter Ort. Die
historische Zeit und der geographische Raum sind dabei eine Ebene, die am Weg des
Abstrahierens aus dem gelebten Raum und der gelebten Zeit in den geometrischen
Srv. Ch. Taylor, Sources of the Self, Harvard University Press 1989.!!
Srv. E. S. Casey, Remembering. A Phenomenological Study, Bloomington,
Indiana University Press 1987.!!
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Raum und die objektive Zeit entsteht, in einer Gegenseitigkeit dieser beiden Ebenen,
zwischen denen die historische Zeit und der geographische Raum vermitteln. Der
privilegierte Ort ist der eigene Körper, ihm gegenüber definiert sich die
Körperlichkeit der anderen, und aus dem Zusammenwirken der Körper entstehen
die erinnerungswürdigen Orte, die ihrerseits nicht nur mit der Sache „erfüllt“
werden, an die sie erinnern, aber zugleich als Orientierungspunkte in der
Landschaft, im geographischen Raum dienen. In diesem Sinne phrasieren die
erinnerungswürdigen Ereignisse und ihre erzählende Wiederholung nicht nur den
Raum, sondern vor allem die Zeit (z. B. der liturgische Kalender erinnert an die
Ereignisse in der Geschichte Christi).
Der Fächer der mnemonischen Phänomene, anhand der vier Gegensatzpaare eröffnet
(Habitualität-Erinnerung, Evokation-Suchen, Retention-Reproduktion, ReflexivitätMundanität), zeigt nach R., wie unterschiedlich das Gedächtnis „das Vergangene
betrifft“. Wir haben gesehen, dass es sich nicht immer um eine Erinnerung in Form
eines Bilds handelt, es ist jedoch gerade diese Form, wie das Vergangene
gegenwärtig wird, die für R. am meisten interessant scheint, da eben sie die prekäre
Annäherung des Gedächtnisses an die Einbildungskraft bedeutet. Im letzten Kapitel
seiner Ausführungen über den Gegenstand des Gedächtnisses erörtert daher R. das
Verhältnis zwischen der Erinnerung (souvenir) und dem Bild (image), und zwar unter
Einbeziehung von Husserl, Bergson und Sartre (es war jedoch nicht mehr meine
Aufgabe dieses letzte Kapitel zusammenzufassen).
Einzelproblem: Reflexivität und Intentionalität des Gedächtnisses
Aus diesem breiten Spektrum der Probleme habe ich das letztgenannte Thema der
Reflexivität und Intentionalität (Mundanität) des Gedächtnisses zum Gegenstand
unserer Lektüre gewählt. Es scheint mir nämlich höchst interessant zu fragen, was
dieses Gegensatzpaar eigentlich deckt.
Zur Reflexivität des Gedächtnisses sagt R. mehrmals, dass ich mich immer auch
meiner selbst erinnere, was auch immer ich erinnere. Dies gilt sicher für die eigene
Vergangenheit, wenn ich die eigenen Erlebnisse und Erfahrungen in Erinnerung
rufe. Die eigene Vergangenheit ist eine eigenartige Mischung von Reflexivität und
Intentionalität. Wenn ich mich jedoch an die historischen Daten oder
mathematischen Sätze oder die Tabellen der unregelmäßigen Verben erinnere,
scheint die reflexive Dimension sehr schwach, wenn nicht abwesend zu sein, es sei
denn ich erinnere mich an eine Situation, in der ich sie gelernt habe (der zweite Pol
im Gegensatzpaar Habitualität-Erinnerung), oder ich untersuche die Art und Weise,
wie das Gedächtnis diese Auskunft bewart und zu Verfügung stellt. Im Normalfall
ist jedoch die reflexive Dimension durch die intentionale verhüllt. Sie kommt mehr
zum Vorschein, falls ich im Gedächtnis suchen muss (der zweite Pol im
Gegensatzpaar Evokation-Suchen): da mache ich mir mehr bewusst, dass ich die
verlorene Auskunft in mir selbst suche. Das In-Erinnerung-Rufen (anamnésis) als eine
7
Art Selbstbeziehung lässt den (normalerweise verhüllten) reflexiven Charakter des
Gedächtnisses offenbar werden.
Der reflexive Charakter des Gedächtnisses ist jedoch nicht nur zuerst verhüllt,
sondern auch an sich selbst nicht zugänglich. Ich kann mich meiner selbst nicht
anders erinnern, als dass ich mich an eine Situation, ein Ereignis, eine Beziehung,
eine Aufgabe usw. erinnere. Das Gedächtnis meiner selbst ist also eine
Selbstbeziehung, die immer durch eine Intentionalität vermittelt wird.
Die beiden Pole der Reflexivität und der Intentionalität des Gedächtnisses scheinen
daher gleich ursprünglich, aneinander nicht reduzierbar und durcheinander bedingt.
Dies hängt wahrscheinlich mit der Zeitlichkeit des Gedächtnisses zusammen. Das
Gedächtnis „betrifft das Vergangene“, wie wir von Aristoteles wissen. Es geht nicht
nur darum, dass ich mich nur an etwas in der Zeit vorangegangenes erinnern kann,
aber auch darum, dass das Gedächtnis selbst zeitlich ist und sich selbst gegenüber
immer schon vorangegangen ist. In dem Augenblick nämlich, wo ich meine
Aufmerksamkeit auf mein Gedächtnis selbst richte, ist mein Gedächtnis um diese
Erfahrung „größer“ oder „weiter“. Es wird also in jedem Augenblick breiter, als es
selbst war (zugleich wird es leider auch in jedem Augenblick enger, was wir das
Vergessen nennen; auch dies ist ein Zeugnis von der Zeitlichkeit des Gedächtnisses).
Nicht nur für die Intentionalität, sondern auch für die Reflexivität des Gedächtnisses
gilt daher, dass das Gedächtnis immer das Vergangene betrifft: auch mich selbst,
nicht nur die vorübergegangenen Dinge fasse ich als den Vergangenen (die
Vergangene). Ich kann zwar die Aufmerksamkeit zu mir selbst als dem (der)
Gegenwärtigen richten, der gegenständliche Pol dieser Selbstbeziehung ist jedoch nie
mit der Aufmerksamkeit selbst (dem subjektiven Pol) völlig identisch. Ich bin mir
gegenüber immer ein Stück voran.
Die beiden Dimensionen der Reflexivität und Intentionalität in ihrer gegenseitigen
Beziehung scheinen sogar die ursprüngliche Zeitlichkeit selbst auszumachen. Die
Zeit ist eben diese Beziehung zu mir selbst als dem (oder der) Vergangenen. Zugleich
jedoch, wie schon gesagt, ist es notwendig eine Beziehung zu mir in einer Lage (als
zum Beobachter eines Prozesses, als zum Träger einer Aufgabe usw.), die ihre
Lokalisierung hat. Deswegen gehört zur Zeitlichkeit unentbehrlich auch die
Räumlichkeit. Oder kann ich von der Intentionalität ausgehen und sagen, dass die
Zeit das Bewusstwerden einer Sache in ihrem Prozess und ihrer Lokalisierbarkeit ist.
Auch hier ist die reflexive Dimension mitenthalten (wenn auch verhüllt), da ich die
Kontinuität des Prozesses nicht feststellen kann, ohne die vorige Phase im
Gedächtnis beibehalten und für mich präsent gemacht zu haben. Das Gedächtnis in
seiner Doppeldimension der Reflexivität und Intentionalität scheint damit die
Zeitlichkeit und Räumlichkeit zu implizieren.
Aus dieser Ebene der gelebten Zeit und des gelebten Raums werden am Weg der
Abstraktion die objektive Zeit und der mathematische Raum gewonnen, und zwar
durch die zwischen den beiden liegende und vermittelnde Ebene der historischen
8
Zeit und des geographischen Raums, derer in der Untersuchung R.s eine besondere
Bedeutung zukommt.
Lektüre: deutsch S. 74 (Diese Verbindung) – 78 (Ende des Kapitels); franz. 49 (Ce
lien) – 53.
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Paul Ricoeur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen
(La mémoire, l´histoire, l´oubli, Paris, Seil 2000,
deutsche Übertragung durch H.-D. Gondek, H. Jatho, M. Sedlaczek, Wilhelm Fink
Verlag, München 2004)
Thema I: Griechisches
Gedächtnisses (S. 23-79)
Lenka Karfíková
Erbe
und
Entwurf
einer
Phänomenologie
des
Zusammenfassung:
Teil I: Über Gedächtnis und Erinnerung
(drei Fragen: der Gegenstand, die Ausübung und das Subjekt des Gedächtnisses)
Kapitel 1: Gedächtnis und Einbildungskraft
(die erste Frage nach dem Gegenstand des Gedächtnisses: die gefährliche Nähe
zwischen der Erinnerung als Bild und der Einbildungskraft)
(1) Das griechische Erbe
Platon: Die gegenwärtig anwesende Vorstellung einer abwesenden Sache
(die Metapher des Wachsblocks; die Metapher des Taubenschlags; die doppelte
mimetische Kunst)
Aristoteles: „Das Gedächtnis bezieht sich auf das Vergangene“
(Gedächtnis-mnémé und Wiedererinnerung-anamnésis beziehen sich auf das
Vergangene; die doppelte Intentionalität des Gedächtnisbilds)
(2) Entwurf einer Phänomenologie des Gedächtnisses
Die Intention des Gedächtnisses und die Erinnerungen als das Intendierte (noésisnoéma); vier Gegensatzpaare der mnemonischen Phänomene (die Pluralität der
Weisen, wie das Gedächtnis das Vergangene betrifft): Habitualität-Erinnerung
(Bergson), Evokation-Suchen (Aristoteles, Bergson), Retention-Reproduktion
(Husserl), Reflexivität-Mundanität (Casey).
Einzelproblem:
Reflexivität und Intentionalität (Mundanität) des Gedächtnisses
(Die Reflexivität und Intentionalität des Gedächtnisses sind nicht aneinander
reduzierbar und bedingen sich einander; in ihrer gegenseitigen Beziehung
implizieren sie die Zeitlichkeit und Räumlichkeit.)
Lektüre: deutsch S. 74 (Diese Verbindung) – 78 (Ende des Kapitels); franz. 49 (Ce
lien) – 53.
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