Lutherische Spiritualität

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OKR Dr. Hannelore Reiner: Lutherische Spiritualität
Einstieg:
Um es gleich vorweg klar zu sagen: Spiritualität ist für unsere evangelische Kirche
zunächst ein fremdes Wort. Es ist Latein und die lateinische Sprache ist bekanntlich
nicht die unsere…
Dazu kommt, dass spirituell und Spiritualität heute in aller Munde ist, ja fast ein
Modewort geworden und längst nicht mehr auf den Raum der Kirchen beschränkt.
Das erschwert lutherischen ChristInnen zusätzlich den Zugang.
Vielleicht haben wir gerade deswegen in unserer evang. Kirche A.B. in Österreich
(lutherisch nennen wir uns nicht so gern, weil wir uns auf das Evangelium gründen so
wie alle anderen ChristInnen auch und nicht auf Martin Luther) ein Jahr der
Spiritualität ausgerufen, um uns selber klar zu werden, was für uns Spiritualität
bedeutet, wie sie ausschauen könnte und ausschauen soll, was wir darunter
verstehen. Darum bin ich auch dankbar, dass Sie in dieser Tagung die ganze Vielfalt
der ökumenischen Ausdrucksformen von Spiritualität aufzeigen. Ich denke jeder und
jede wird sich von dieser oder jener Tradition ein Stück mitnehmen können für die je
eigene Frömmigkeit.
Martin Luther hat einmal die schöne Formulierung geprägt, die ich gerne immer
wieder zitiere. Er meinte: „Der Glaube muss ins Leben gezogen werden.“ Genau das
verstehe ich, verstehen wir als evangelische ChristInnen unter Spiritualität.
1) Der Glaube kommt aus dem Hören
„Den Glauben ins Leben ziehen“, das setzt voraus, dass dieser Glaube erst einmal
da sein muss, dass er geweckt werden muss. Paulus schreibt im Römerbrief, Kap.
10, Vers 17: „Der Glaube kommt aus der Predigt.“ Im Griechischen steht hier: „Der
Glaube kommt aus dem Hören“, gemeint ist das Hören des Evangeliums. Damit ist
und bleibt die Hl. Schrift, das geschriebene und tradierte Wort Gottes Grundlage
unserer lutherischen Spiritualität. Aber diese ist nicht eingeschlossenen zwischen
zwei Buchdeckeln zu denken sondern wird immer im Vertrauen auf Gottes Geist
lebendig gemacht, übersetzt und interpretiert in die jeweilige Zeit und für die Fragen
jeder neuen Menschengeneration als eine „viva vox evangelii“, als eine lebendige
Stimme des Evangeliums. Das geschieht im Raum unserer Kirche klassisch in der
Predigt in jedem Gottesdienst. Mag sein, dass wir diesen Teil der sonntäglichen Feier
in der Vergangenheit überbewertet haben – wir sind als evangelische ChristInnen
seit etlichen Jahrzehnten dabei, die Abendmahlsfeier neu für uns entdecken –
dennoch muss und wird die Predigt zentraler Ort im Gottesdienst bleiben. Daneben
gibt es das Hinhören auf die Stimme des Evangeliums im Ersten und Zweiten
Testament, freilich auch in Bibelrunden und Hauskreisen, was den Vorteil hat,
vielerlei Stimmen und Meinungen zu einem Text zu hören und dabei selber zu
manchmal überraschend neuen Sichtweisen zu gelangen.
Nicht zuletzt geschieht dieses Hinhören auch in der persönlichen Bibellese. Viele
gerade ältere Gemeindeglieder beginnen oder beenden ihren Tag mit einem
Kalenderblatt, auf dem ein Bibelwort steht, verbunden mit einer kurzen Auslegung.
Ich habe mir angewöhnt, den Tag mit den beiden Bibelworten aus dem
Losungsbüchlein der Herrenhuter Brüdergemeinde zu beginnen (Hinweis auf Blatt!).
Ich lese mir diese Worte selbst halblaut vor bzw. sie werden am Frühstückstisch
vorgelesen, und versuche wenigstens eines der beiden auch tagsüber zu behalten.
Das Wort geht gleichsam mit mir und hilft mir, inmitten der vielen Wörter, die an
meine Ohren dringen, und auch derer, die ich selbst zu anderen sage, immer wieder
mit dem einen Wort verbunden zu sein, sodass es in mir weiter klingt….
Das gelingt umso besser, je mehr ich mir des Morgens dafür Zeit nehme. Nun bin ich
Frühaufsteherin und habe aus diesem Grund einen gewissen Vorteil.
In der Zeitschrift des kath. Bibelwerks Linz habe ich folgenden Text gefunden, der
genau das anspricht, was ich unter dieser morgendlichen Meditation verstehe:
Einmal am Tag, da solltest du ein Wort in deine Hände nehmen, ein Wort der
Schrift. Sei vorsichtig, es ist so schnell erdrückt und umgeformt, damit es
passt. Versuch nicht hastig zu „melken“, zu erpressen, damit es Frömmigkeit
absondert. Sei einfach einmal still. Das Schweigen, Hören, Staunen ist bereits
Gebet und Anfang aller Wissenschaft und Liebe. Betaste das Wort von allen
Seiten, dann halte es in die Sonne und lege es an dein Ohr wie eine Muschel.
Stecke es für einen Tag wie einen Schlüssel in die Tasche, wie einen
Schlüssel zu dir selbst.
Überhaupt scheint es ein Kennzeichen lutherischer Spiritualität zu sein, in allen
großen Übergängen des Lebens ein begleitendes Bibelwort mit auf den Weg zu
bekommen. Das beginnt bei der Taufe mit dem Taufspruch, setzt sich fort im
Bibelwort, das zur Konfirmation mitgegeben wird, bis hin zum Trauspruch und dem
Schriftwort, das die Grundlage der Beerdigungsansprache bildet. Es hat mich als
Gemeindepfarrerin immer wieder erstaunt, wie geschätzt die Konfirmandenscheine
sind, auf denen das Bibelwort aufgeschrieben ist, oder auch wie sehr sich Eltern und
Paten Gedanken machen, welches Wort sie ihrem Kind und Täufling mit auf den
Lebensweg geben wollen. Manchmal wird in unseren Reihen etwas abfällig über
diese Spruchfrömmigkeit gesprochen und dies mit gewissem Recht, dann nämlich,
wenn der Kontext des Wortes völlig außer Acht gelassen wird und der Umgang mit
dem Bibelwort dem mit dem Horoskop gleicht. Aber ich denke, dass letzterem
eingedenk, das begleitet werden und sich begleiten lassen von einem einzelnen
Bibelwort ein Geschenk ist, dessen guter Gebrauch durch einen möglichen
Missbrauch nicht aufgehoben ist.
2) Der Hl. Geist befreit von der Angst
Auf die lebendige Stimme des Evangeliums zu hören, bedeutet aus der Kraft einer
guten und befreienden Botschaft zu leben. Das zählt für mich auch ganz wesentlich
zur lutherischen Spiritualität. Martin Luther war schon Doktor der Hl. Schrift und lebte
dennoch nach seinen Aussagen noch immer in Ängsten und Zwängen. Erst als ihm
die Botschaft von der Gerechtwerdung des Menschen vor Gott durch Christus
aufgegangen ist, intellektuell aber ebenso in seinem Herzen, also spirituell, dann
hatte er auch den Mut, vor Kaiser und Reich zu diesem neu geschenkten Glauben zu
stehen.
Evangelische Frömmigkeit unterscheidet sich von manchen fundamentalistischen
Praktiken (die durchaus in unseren Gemeinden auch anzutreffen sind)durch die
Freiheit von jeglichem Zwang. Der Geist Gottes ist kein Geist, der das Fürchten lehrt,
sondern einer, der uns täglich sein „Fürchte dich nicht!“ zusagt. Ich hatte als kleines
Kind, wie wohl viele andere Kinder, Angst vor der Dunkelheit und den Geräuschen
der Nacht. Meine Eltern haben mit mir Abend für Abend Lieder aus dem Gesangbuch
gesungen. Ich habe die meisten Lieder auf diese Weise und durch das Singen im
Gottesdienst gelernt, nicht durch die Schule und den Religionsunterricht. Lieder von
Paul Gerhardt oder auch Bonhoeffers „Von guten Mächten“ (Beiblatt), unterstützt
durch die Kraft der Musik und der Melodie, vermögen auf wundersame Weise zu
trösten, zu beruhigen und Vertrauen zu stiften. Ganz ähnlich kenne ich das vom
Lesen und Beten der biblischen Lieder, der Psalmen. Das ist ein Schatz, für den ich
dankbar bin. Denn es sind Lieder und Texte gegen die Angst, die mir dann in den
Sinn kommen, wenn mir selbst zum Fürchten zumute ist. Wir haben versucht, diese
Kraft auch unseren Kindern weiterzugeben, damit auch sie in Freiheit darauf
zurückgreifen können, wenn sie es brauchen oder wollen. Als Krankenhauspfarrerin
habe ich des öfteren mit schwer kranken und sterbenden Menschen im Krankenhaus
gesungen, Abendlieder oder auch andere Lieder aus dem Gesangbuch. Musik hat
eine ganz eigene Möglichkeit, zum Innersten eines Menschen vor und durch zu
dringen.
3) Gemeinschaftlich erfahrene Spiritualität
Ich stamme aus alten evangelischen Bauernfamilien Oberösterreichs. In meiner
Kindheit war es in mancher dieser Familien noch ganz selbstverständlich, dass am
Abend die Familie nach dem Essen noch um den Tisch sitzen blieb und eine kleine
Hausandacht gehalten wurde. Die Gebete waren ritualisiert und jeder konnte sie
auswendig. Ich habe sie als Kind im Tonfall der Erwachsenen mitgesprochen, auch
wenn ich vom Inhalt her kaum etwas verstanden habe. Aber ich spürte den Ernst, mit
dem die Erwachsenen bei der Sache waren. Eines dieser Abendgebete ist auch auf
dem Blatt abgedruckt. Ich kenne heute kaum noch Familien, die eine solche Andacht
halten. Aber ich habe dieses Gebet immer wieder bei Totenandachten als
Schlussgebet gemeinsam sprechen lassen. Es ist gewiss ein altertümlicher Text aus
dem 19. Jahrhundert. Aber in der Situation des Abschieds, im Ernst der Trauer und
des Gefühls von Verlassenheit kann dieses gemeinsame Gebet gegenseitige
Tröstung und Stärkung vermitteln, trotz oder gerade wegen seiner Ich-Form.
Gestatten Sie mir noch ein Wort zur Form der „kurzen Andacht“ in der lutherischen
Kirche. So sehr die Hausandacht zur Seltenheit geworden ist, so stark ist in manchen
Gemeinden der Wunsch nach einer Andacht angesichts eines Todesfalles. Hier
werden gemeinsames Gebet, gemeinsamer Gesang und gemeinsames Hinhören auf
ein Wort heiliger Schrift, verbunden mit dem persönlich zugesprochenen Trost, oder
auch dem schweigend verstehenden Händedruck als ein Aufgehobensein in der
Gemeinschaft von MitchristInnen gewünscht und angenommen. Unsere Kirche ist
gerade dabei, diesem Bedürfnis auch zu entsprechen und dafür zeitgemäße Formen
zu entwickeln.
4) Den Glauben ins Leben ziehen
Lutherische Frömmigkeit verlangt danach, geerdet zu werden. Den Glauben ins
Leben ziehen bedeutet, die Trennung zwischen „sakral“ und „säkular“, zwischen
heilig und weltlich aufzuheben. So wie der christliche Glaube davon lebt, dass Gott
selbst sich in die Welt hinein gegeben hat, in Jesus von Nazareth, Stichwort:
Inkarnation = Menschwerdung Gottes, so muss auch der christliche Glaube nach
unserem Verständnis in die Welt eingehen und inmitten des alltäglichen Lebens
umgesetzt, transformiert werden. Der Gottesdienst endet nicht mit dem Schlusslied
und dem Postludium sondern setzt sich fort im Christsein im Alltag bis hin zu solch
Belanglosigkeit wie das „Fegen der Stube“, wie Martin Luther es einst formuliert hat.
Aber selbstverständlich muss dieser Glaube auch seinen Niederschlag finden im
sozialen und politischen Engagement für Notleidende und im Widerstand gegen
Gewalt und Menschenverachtung, gegen Krieg und Diktatur (gestern ist der Film
über Sophie Scholl in Österreich angelaufen). Ein Blick in die Zeitung zeigt sehr
rasch, dass in unserer Welt, auch in unserer kleinen österreichischen Welt, die Dinge
noch lange nicht so sind, wie sie nach Jesu Willen sein sollten. Diesem ehrlichen
Blick gilt es evangelischerseits stand zu halten. Die Zeitung muss neben der Bibel
gelesen werden. Nur so wird er Glaube ins Leben gezogen, wird Spiritualität geerdet
und damit bewahrt vor einem falschen Rückzug in die private Frömmigkeit bzw. in
übersteigerte und fanatisierte Religiosität. So unterscheidet sich lutherische
Spiritualität zwar manchmal in gewissen Formen und Ausprägungen von jener
anderer Konfessionen - wobei ich durchaus eine Offenheit bei mir und vielen
anderen Gemeindegliedern und auch PfarrerInnen merke, Traditionen und Rituale
aus anderen Schwesterkirchen auszuprobieren und eventuell auch in die jeweils
eigene Frömmigkeit zu integrieren, was ja vielleicht auch ein Ziel dieser Tagung ist.
Vielmehr aber erlebe ich Spiritualität und Frömmigkeit als Verbindendes und
Gemeinsames, auch über jeweils differierende Lehrtraditionen hinweg.
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