Quelleninterpretation Tacitus - Lise-Meitner

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Quelleninterpretation Tacitus
1. Analyse
1.1.Autor
Tacitus, Publius Cornelius (um 55 bis ca. 115 n.Chr.), römischer Geschichtsschreiber, wahrscheinlich in Rom geboren.
Alles, was man über Tacitus’ Leben weiß, stammt entweder aus seinen eigenen Werken oder aus Briefen des römischen
Staatsmannes und Redners Plinius des Jüngeren, mit dem Tacitus eng befreundet war. Er bekleidete im Jahre 79 n.Chr. vermutlich
das Amt des Quästors, war 88 Prätor und 97 Konsul; um 112/13 war er vermutlich Prokonsul der Provinz Asia. Erst in den letzten
Jahrzehnten seines Lebens konnte er sich seiner historisch-literarischen Arbeit, von der weniger als die Hälfte erhalten ist,
widmen. Tacitus begann mit der Veröffentlichung seiner Werke erst nach der Gewaltherrschaft Domitians.
Historiae (Geschichtsbücher), das erste von Tacitus’ beiden Hauptwerken, wurde wahrscheinlich zwischen 104 und 109 n.Chr.
veröffentlicht. Es beinhaltet die Geschichte des Römischen Reiches von 69 v. Chr. bis zur Ermordung des Kaisers Domitian im
Jahre 96 n. Chr. Vom ursprünglichen Werk, das wahrscheinlich aus 14 Büchern bestand, sind nur die ersten vier und Teile des
fünften erhalten. Die Annales (um 115 bis 117 n. Chr., Annalen), die ursprünglich wohl den Titel Ab Excessu Divi Augusti (Vom
Tode des göttlichen Augustus an) trugen, beschreiben die Geschichte der Julischen Kaiser nach Augustus bis zum Tod Domitians,
also den Zeitraum von 14 bis 68 n. Chr. Ursprünglich umfasste dieses Werk 16 Bücher, davon sind aber, neben einigen
Fragmenten, nur neun Bücher vollständig erhalten.
Tacitus’ große Bedeutung als Geschichtsschreiber liegt in seinem psychologischen Blick in das Innere der Figuren und in seiner
brillanten Schilderung der Charaktere. Sein Stil zeichnet sich durch eine einzigartige Kombination von Knappheit und
farbenfrohem Ausdruck aus. Tacitus war ein glühender Verfechter der Ideale der römischen Republik und kritisierte den
politischen und moralischen Verfall in der Kaiserzeit. In diesem Zusammenhang sind die kritischen Porträts zahlreicher römischer
Kaiser (besonders Domitian) zu sehen.1
1.2. Quelle
Die Quelle ist ein Auszug aus den „Annalen“ des Tacitus. Es handelt sich also um eine „erzählende“ Quelle, die nicht rein
dokumentarischen Charakter besitzt. Verfasst wurde sie gegen Ende des 1. Jhdts. zur Zeit des stabilisierten Kaisertums, nach dem
Ende der Gewaltherrschaft des Domitian.
Er beschreibt in diesem Auszug den Prozeß der Machtsicherung des Caesar Octavianus Augustus. Dabei geht er zum einen auf die
verfassungsrechtliche Stellung, zum anderen aber v.a. auf die Wirkung seiner Machtpolitik im politischen und sozialen Geflecht
des römischen Reiches ein.
Zentral für seine verfassungsrechtliche Einordnung ist die Einschätzung: „die Titel der Magistrate waren dieselben geblieben“
(Z.28). Oktavian habe zwar seine Machtbefugnisse als Sieger über die Cäsarmörder und Marcus Antonius an die legalen
Institutionen der Republik zurückgegeben und nur einige traditionelle Ämter übernommen (zeitweise Konsul, dauernd
Volkstribun) (Z.5-7), aber tatsächlich die wesentlichen Kompetenzen des Senats, der Magistrate und der Gesetzgebung (Z.9) an
sich gerissen. Wie er das geschafft hat, erläutert Tacitus nicht. Wesentlich für ihn ist, daß er diese Rechte, Ämter und
Kompetenzen gegen republikanische Normen an junge Verwandte und Anhänger verliehen, ja sogar dadurch einen „Thronerben“
(Z.25) bestellt habe.
Der überwiegende Teil seiner Ausführungen ist jedoch der Frage gewidmet, wieso Octavian seine Herrschaft so leicht und ohne
Widerstände, ja sogar mit breiter Zustimmung durchsetzen konnte. Tacitus begründet das damit, daß die Partei der Julier nicht
mehr gespalten war (Z.4), seine Gegner über keinerlei militärische Macht mehr verfügten (Z.2) und die „Tapfersten gefallen oder
geächtet“ (Z.10f) waren. Maßgeblich für die Durchsetzung seiner Position sei aber die breite politische Akzeptanz seiner Stellung
in der römischen Gesellschaft gewesen. Die Soldaten habe er durch Schenkungen, das Volk durch Getreidespenden, alle aber
durch die erfreuliche Ruhe für sich eingenommen (Z.7f). Der Adel sei durch Geld und Ämter korrumpiert und ziehe dies und seine
Sicherheit einem Bürgerkrieg vor (Z.12f). Die Provinzen hätten unter den republikanischen Streitigkeiten und der Habgier gelitten,
sodass sie kaum zu dieser Phase zurück wollten. Zudem seien sowohl Alte als auch Junge mit den Bürgerkriegen aufgewachsen,
sodass eine Erinnerung an weniger chaotische republikanische Zeiten nicht mehr vorhanden ist (Z.29f). Die übergroße Mehrheit
ziehe die innere und äußere Stabilität des Reiches unter Octavian der größeren Freiheit der Republik vor (Z.27f, 33ff).
1.3. Adressat
Entsprechend dem Charakter einer erzählenden Quelle, ist sie nicht an eine bestimmte Adresse gerichtet, sondern sie soll der
damaligen Öffentlichkeit und sicherlich der Nachwelt die spezifische Interpretation eines historischen Ereignisses durch den Autor
nahebringen.
2. Interpretation
2.1. Zum Autor
Tacitus war nicht nur Historiker, sondern auch Staatsmann. Er hatte den aus republikanischer Zeit tradierten cursus honorum bis
zum Konsul durchlaufen. Damit war er Mitglied der senatorischen Elite, der Nobilität. Er war zwar kein Patrizier, also
Angehöriger des alten Geschlechteradels, worauf sein Familienname „Cornelius“ hinweist, sondern stand unter dem Patronat eines
Corneliers.
Seine Parteilichkeit läßt sich an der sprachlichen Gestaltung und Gliederung des Textes erkennen. Auf der einen Seite stehen bei
ihm die „Republikaner“, auf der anderen Seite die „Partei der Julier“, also die Anhänger der Cäsaren. Die verschiedenen
Volksgruppen tauchen in ihrer Haltung zur einen oder anderen Seite auf. Die Republikaner seien unglaubwürdig durch die
1"Tacitus, Publius Cornelius."Microsoft® Encarta® Enzyklopädie 2001. © 1993-2000 Microsoft Corporation. Alle Rechte vorbehalten.
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Streitigkeiten und Habgier ihrer Magistrate geworden, die Tapferen und wohl auch Ehrenwerten dezimiert und verfolgt, der
republikanische Adel korrumpiert. Oktavian und die Partei der Julier werden charakterisiert als Machtmenschen, die die
Alleinherrschaft über den Staatsapparat anstreben (Z. 8ff), die andere in Knechtschaft führen (Z.13) und die republikanischen
Institutionen okkupieren durch „Umsturz der Verfassung“ (Z.32). Die Mittel, die sie anwenden, sind die erprobten popularen
Methoden wie Getreidespenden, Schenkungen an Soldaten, Nutzen der tribunizischen Macht über die concilia plebis. Trotz seiner
Kritik an den Unzulänglichkeiten der republikanischen Zeit ist Tacitus damit ein Vertreter der mos maiorum, der
republikanischen, senatorischen Optimaten.
2.2. zur Quelle
Die Quelle beschreibt einen zentralen Wendepunkt der römischen Geschichte. Nach jahrzehntelangen Bürgerkriegen zwischen den
popularen Cäsarianern und den optimatischen Republikanern, zuletzt zwischen den Juliern selbst (Oktavian u. Marcus Antonius)
kehrte der siegreiche Cäsar Oktavian, Adoptivsohn Gaius Julius Cäsars, 29.v.Chr. nach Rom zurück. In der Tat gab es nun keinen
ernstzunehmenden Gegner mehr. Oktavian hatte nicht nur alle militärische Gewalt, sondern auch umfangreiche Finanzmittel zur
Verfügung. Politisch hatte er nicht nur die Soldaten, sondern breite Bevölkerungsschichten hinter sich. Der Rest war zumindest
kriegsmüde. Es bestand also kein Hindernis mehr die Alleinherrschaft an sich zu reißen. Der Senat fiel als Hindernis weitgehend
aus, da seine Mehrheit sicherlich vielfach aus Furcht dem Imperator huldigte und ihm diverse Ehren und Ämter antrug. Umso
erstaunlicher für die römische Öffentlichkeit, daß Oktavian seine Imperien dem Senat zurückgab und scheinbar in die Reihen der
Nobilität zurücktrat durch Einordnung in traditionelle Ämter und Aufgaben.
Hier scheint es, ist Tacitus‘ Schrift eine direkte Replik auf die Darstellung der res gestae des Oktavian, die ihm sicherlich bekannt
gewesen ist, da sie überall im Reich auf Denkmälern publiziert wurde. Aufgrund des Bekanntheitsgrades brauchte Tacitus
offenbar nicht darauf wiederholend einzugehen, sondern konnte sie gleich kommentieren. Zentral für diese res gestae ist die
ideologische Formel der „res publica restituta“. D.h. Octavian beschreibt seine Taten im Hinblick auf das Staatswohl und die
Wiederherstellung der Republik. Besonders betont er, daß er alle Ämter, die auf eine Verletzung der Tradition oder Errichtung
einer Tyrannis zielen, abgelehnt habe und lediglich prinzeps inter pares, der Erste unter Gleichen, sei. Dagegen stellt Tacitus, daß
er „die Rechte des Senats, der Magistrate und der Gesetzgebung“ an sich gerissen habe, mithin also Alleinherrscher war. Um den
Wahrheitswert der unterschiedlichen Quellen zu beurteilen, müssen wir also die spezifische Herrschaftsstruktur dieses
„Prinzipats“ untersuchen:
Als prinzeps senatus ist er Meinungsführer im Senat, bei seiner Machtfülle ist seine Meinung sicherlich Direktive für die anderen
Senatoren. Damit kontrolliert er den Senat als potentiellen Machtkonkurrenten. Als tribunus plebis hat er die Gesetzesinitiative im
concilium plebis und das Vetorecht gegen Entscheidungen der ordentlichen Magistrate. Die sakralen Funktionen sichern ihm die
Zustimmung der Götter. Der Ehrenname pater patriae bedeutet nach römischem Verständnis, daß er das ganze Volk in seine
Klientel (Gefolgschaft) aufnimmt. D.h. gegen Treue und Gehorsam zu seinem Patron tauscht das Volk Schutz und Unterstützung
durch den Patron. Es bestehen also die alten Institutionen, wie Tacitus schlußfolgert, der Form nach weiter, aber ihr Inhalt und
„Geist“ hat sich entscheidend geändert. Wesentlich ist auch die Reduktion der Machtbefugnisse der ordentlichen Magistrate auf
die senatorischen Provinzen. Oktavian hatte die Teilung des Reiches in senatorische und cäsarische Provinzen damit begründet,
daß er selbst für die vom Krieg bedrohten, unruhigen Gebiete sorgen wolle, der Senat und die Magistrate für die befriedeten. Da
letztere über kein Militär verfügten, sicherte er sich damit die militärische Kommandogewalt. Zudem wurde durch die Errichtung
einer kaiserlichen Parallelverwaltung mit eigenem Fiskus die cäsarische Herrschaft direkt. Aufstiegskanäle für ehrgeizige Römer
bot nun diese kaiserliche Verwaltungsstruktur. Es blieb nur noch das Problem der Erbfolge, um daraus eine Monarchie zu formen.
Dies löste Oktavian, wie Tacitus richtig darlegt, durch Adoption geeigneter Nachfolger, unabhängig vom cursus honorum.
Ein solches System wäre ohne eine gewisse Zustimmung im Volke und bei den Eliten kaum durchsetzbar gewesen. Hier erweist
sich Tacitus als genauer Beobachter der cäsarischen Herrschaftstechniken. Er schildert die Selbstdiskreditierung der
republikanischen Institutionen ebenso wie die Gründe der Zustimmung. Oktavian „höfisierte“ und neutralisierte den politisch
selbständigen Adel, sicherte die Existenz der Soldaten und Proletarier durch „Brot und Spiele“ und gewann die Sympathie der
Provinzen durch seine Ideologie der „pax augusta“, des augusteischen Friedens.
Tacitus Analyse ist also überzeugend und präzise: nur die Titel der Magistrate blieben, die Inhalte hatten sich verändert, eine neue
Staatsform war entstanden. Mit der römischen Expansion im 2. Jhdt. hatten sich die wirtschaftlichen Grundlagen von der
Subsistenz zur sklavengestützten Marktwirtschaft entwickelt. Eine neue Quelle des Reichtums brachte auch die Ausbeutung der
Provinzen. In sozialer Hinsicht traten nun neue, wirtschaftlich mächtige Gruppen auf, die Ritter, das Machtmonopol der
senatorischen Eliten zerfiel. In den Städten sammelte sich ein Proletariat, das die Verfügungsmasse einzelner herausragender
Angehöriger der Eliten wurde und von der Ausbeutung der Sklaven und Provinzen ernährt werden konnte. Die vielen Kriege
machten eine Berufsarmee unter dem Kommando bedeutender Heerführer notwendig, die nur schwer in die Adelsdisziplin
eingeordnet werden konnten. Letztlich mußte dieser vielfache Wandel zu einer politischen Krise führen, angefangen bei den
Gracchen, weil der senatorische Adel nicht bereit war, das politische System dem Wandel anzupassen. Rom hat nie versucht, seine
stadtstaatliche Verfassung einer direkten Demokratie in etwa repräsentative Strukturen umzuwandeln. Insofern war es ein
sozioökonomischer Wandel ohne politische Alternative und bei politischer Alternativlosigkeit bildet sich i.d.R. eine autoritäre
Lösung heraus. Diese war das augusteische Prinzipat, unter dem die Bürger ihre Freiheit gegen Sicherheit und Wohlstand
tauschten. Insofern ein Vorbild caesaristischer Herrschaften des 19. und 20. Jhdts. dies hat also Tacitus klarsichtig erkannt.
Georg Uehlein
Wörter 1712
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