Zur Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf. Ein Diskussionsbeitrag des Wissenschaftlichen Beirats des Beauftragen für Umweltfragen des Rates der EKD, 1991², EKD-Text 41. kopiert von der CD-Rom „Die Denkschriften der EKD“ (die entsprechenden Seitenzahlen sind oben eingestellt) Herausgegeben vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Herrenhäuser Straße 12 3000 Hannover 21 D:\68630092.doc -2- Inhaltsübersicht Vorwort - ............................................................................................................... Seite 3 I. Einleitung - ....................................................................................................... Seite 5 II. Grundlegende Einsichten - ............................................................................ Seite 6 III. Wie weit reicht die Verminderung der Gewalt? - ..................................... Seite 12 IV. Mitgeschöpfliches Verhalten konkret - ....................................................... Seite 15 1. Schlachtung - ............................................................................................... Seite 16 2. Nutztierhaltung - ......................................................................................... Seite 19 3. Züchtung - ................................................................................................... Seite 20 4 Tierversuche - ............................................................................................... Seite 20 5. Jagd - ........................................................................................................... Seite 22 6. Pelzgewinnung - .......................................................................................... Seite 23 7. Delikatessen, Schmuck- und Modeartikel - ................................................ Seite 25 8. Tötung von Tieren als Freizeitbeschäftigung - ........................................... Seite 25 9. Heim- und Hobbytiere - .............................................................................. Seite 25 10. Tierhandel - ................................................................................................. Seite 26 11. Zoo- und Zirkustiere - ................................................................................. Seite 26 12. Wildtiere - ................................................................................................... Seite 27 V. Aufgaben von Kirche und Politik - ............................................................... Seite 28 VI. Schluß - .......................................................................................................... Seite 30 Anhang: Auszüge aus kirchlichen Erklärungen - ............................................ Seite 33 Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats des Beauftragten für Umweltfragen des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland - ........... Seite 51 Nachwort .............................................................................................................. Seite 51 -3- Vorwort Der hier vom Wissenschaftlichen Beirat des Beauftragten für Umweltfragen vorgelegte Diskussionsbeitrag ist keine Stellungnahme der evangelischen Kirche, die eine gegenwärtig geführte Debatte abschließt. Er weist vielmehr auf Probleme hin, die wie in der Gesellschaft so auch unter Christen umstritten sind. Unumstritten dagegen ist die Aufgabe, zusammen mit einem neuem Naturverständnis auch ein neues Verhältnis der Menschen zu den Tieren als ihren Mitgeschöpfen zu finden. Die mit der technischen Zivilisation eingetretene Fremdheit des Menschen gegenüber seinen elementaren Lebensgrundlagen stört auch das Verhältnis zwischen Menschen und Tieren. Die Fremdheit äußert sich auf der einen Seite in der Einschätzung der Tiere als bloßer Sachen, als Gebrauchs- und Verbrauchsgüter, ohne Respekt vor ihrem Eigenwert, auf der anderen als Verklärung des Verhältnisses von Menschen und Tieren, die den eschatologischen Frieden schon in der Schöpfung realisieren möchte und für die Widersprüche in der von uns vorgefundenen Welt blind ist. Hier das richtige Maß zu finden, die Aufgaben des Tierschutzes konkret beim Namen zu nennen, notwendige Veränderungen nicht durch die Einsprüche einer schlechten Realität zu blockieren - dazu soll auch dieser Beitrag voranhelfen. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland hat aufgrund der hier veröffentlichten Ausarbeitung selber engagiert und kontrovers diskutiert. Er dankt den Mitgliedern des Wissenschaftlichen Beirats für viele Anregungen und Anstöße. Vom Fortgang der Diskussion erhofft er zu unser aller Nutzen mehr Klarheit, ob das Ziel der Verminderung der Gewalt zwischen Mensch und Tier vom biblischen Zeugnis her weitergeführt werden darf zu der -4- radikalen Position einer prinzipiellen Ablehnung von Gewalt, anders gesagt: in welcher Weise ein Schöpfungspazifismus eschatologische Hoffnung bleiben muß und wieweit er schon jetzt das Handeln leiten soll. Hannover, im Oktober 1991 Dr. Hartmut Löwe Präsident im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland -5- I. Einleitung (1) Das Verhältnis der Menschen zur Schöpfung beginnt sich zu verändern - wenn auch erst als Folge der Einsicht, daß mit der Natur ihre eigenen Lebensgrundlagen in Gefahr geraten. Das Gefühl für die Kostbarkeit der Natur ist gewachsen. Die Natur hört auf, nur Umwelt als Nutzungs- und Gestaltungsbereich der sich als Mittelpunkt und alleinigen Zweck der Schöpfung verstehenden Menschen zu sein: Immer deutlicher wird sie als Mitwelt empfunden. (2) Auch die Kirchen haben im letzten Jahrzehnt mehrfach zu Fragen der Verantwortung für den Bestand der Schöpfung Stellung genommen. Mit ausgelöst wurden die kirchlichen Äußerungen durch den Vorwurf, Theologie und Kirche hätten sich durch die Duldung oder gar Propagierung eines ausbeuterischen Verständnisses des Herrschaftsauftrags „Macht euch die Erde untertan“ mitschuldig gemacht an der sich seit den 60er Jahren immer deutlicher abzeichnenden Gefährdung der natürlichen Grundlagen des Lebens. Im Ergebnis dieser Diskussion besteht Einverständnis, daß die heutige Krise nicht einfach der Wirkungsgeschichte der biblischen Beauftragung des Menschen, als Treuhänder Gottes über die Erde zu herrschen, zugerechnet werden kann, daß vielmehr verschiedene Traditionen und Entwicklungsstränge in der Neuzeit dazu geführt haben, die Natur bloß noch als Material zur Optimierung des menschlichen Nutzens anzusehen und zu behandeln. In dieser Sicht sind freilich auch Christen, Kirchen und Theologie befangen. Um so notwendiger ist ein Umdenken im Verhältnis zur Natur. Dies wurde im übrigen nicht erst in den letzten 20 Jahren erkannt. Schon 1854 hatte der dänische Bischof Hans Lassen Martensen gefordert, der Natur mit Humanität zu begegnen (s. unten Ziffer 58), und 1959 - lange bevor „Umweltschutz“ zum gängigen Begriff wurde - hatte der Zürcher Theologe Fritz Blanke das Wort von der Mitgeschöpflichkeit geprägt, um damit den traditionellen Begriff der Mitmenschlichkeit in den umfassenden Schöpfungszusammenhang zu bringen. -6- (3) Das Mensch-Tier-Verhältnis nimmt an den Wandlungen im Verhältnis zur Natur teil. Augenscheinlich wird dies bis hinein in das Gebiet des Rechts: Der Zweck des 1986 verabschiedeten novellierten Tierschutzgetzes wird in § 1 dahingehend gefaßt, „aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen“. Neuerdings zeigen sich mit dem „Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstellung des Tieres im bürgerlichen Recht“ von 1990 erste Ansätze, die rechtliche Einordnung von Tieren als Sachen zu überwinden. (4) In kirchlichen Stellungnahmen ist das Mensch-Tier-Verhältnis bis heute immer nur im Kontext anderer, weiterer Themen - wie der Verantwortung für die Schöpfung, des Lebensschutzes oder der Neuorientierung der Landwirtschaft - behandelt worden; die wichtigsten Texte sind im Anhang abgedruckt. Doch was fehlt, ist ein eigenständiger, die Probleme des Mensch-Tier-Verhältnisses im Zusammenhang bearbeitender Beitrag, der dem Gewicht der Frage nach dem Verhältnis zum Tier als Mitgeschöpf gerecht wird und vor allem die Konsequenzen aus den vorliegenden grundsätzlichen Überlegungen für die verschiedenen konkreten Aufgabenfelder des Tierschutzes entfaltet. Dies soll im folgenden geschehen. II. Grundlegende Einsichten (5) Für die christliche Sicht des Verhältnisses von Mensch und Tier bleibt grundlegend, wie die Bibel, vor allem' in ihren Aussagen über die Welt als Gottes Schöpfung, dieses Verhältnis bestimmt. Mensch und Tier gehören zusammen als Geschöpfe: Beide geben sie sich ihre Lebensmöglichkeiten, ihren Lebensraum und ihre Lebensversorgung, nicht selbst. Sie verdanken ihr Leben Gott, dem Schöpfer und Erhalter. Das schließt sie zusammen in Abhängigkeit und Angewiesensein (Ps 104,27-30) und verwehrt dem Menschen, sich in Hochmut grundsätzlich vom Tier abzusetzen und über es zu erheben. -7- (6) Die Geschöpfe Mensch und Tier sind ihrerseits nur ein Teil des großen Gesamtgefüges der Schöpfung. In ihm vollzieht sich das Wunder, daß Leben stetig und ohne das Zutun der Menschen da ist und Bestand hat. Je genauer die Erscheinung des Lebens untersucht wird, desto mehr bietet sie Anlaß zu dankbarem Staunen. In solches Staunen führt gerade auch die Betrachtung der Tierwelt. Allerdings darf es kein flüchtiges Gefühl sein, sondern muß gelernt werden und als bleibende Einstellung Handeln und Verhalten bestimmen. Es gibt Grund für die Erwartung, daß Menschen, die Tiere in der Haltung dankbaren Staunens wahrnehmen, ihnen auch mit mehr Achtung und Scheu begegnen. (7) Eine solche Betrachtungsweise führt auch zu der Einsicht, daß weder die Lebewesen noch die unbelebten Teile der Welt darin aufgehen, für die Menschen und ihren Nutzen dazusein. Noch vor ihrer Nutzung durch Menschen haben sie einen Nutzwert für andere Lebewesen und für den Lebensprozeß insgesamt. Schon dies legt den Menschen bei ihrem Umgang mit der Natur und so auch mit den Tieren Rücksichten auf; sie dürfen sich nicht nur an ihren eigenen Interessen ausrichten, sondern müssen die möglichen Auswirkungen auf die Lebensmöglichkeiten anderen Lebens mitbedenken. Vor allem aber haben die Mitgeschöpfe der Menschen unabhängig von ihrem Nutzwert einen eigenen Sinn und Wert. (8) In diesem Kontext ist die Beauftragung der Menschen zur Herrschaft über die Tiere und über die Erde insgesamt (1.Mose 1,27f; Ps 8,7-9) zu lesen und zu deuten. Sie macht auf fundamentale Unterschiede zwischen den Menschen und ihren Mitgeschöpfen aufmerksam. Von der unveräußerlichen Würde und dem uneingeschränkten Lebensrecht jedes einzelnen kann nur beim Menschen die Rede sein. Insofern bleibt es auch durchaus sachgemäß, von einer Sonderstellung des Menschen gegenüber der Natur zu sprechen. Nicht die besondere Stellung selbst ist strittig, sondern die Art und Weise, in der sie wahrgenommen wird. Herrschaft verlangt Demut. Als Gottes Ebenbild hat der Mensch maßzunehmen am Urbild. Dann muß aber alle Ausübung von Macht auf die Bewahrung der Schöpfung gerichtet sein und in liebender Sorge und hegendem Bewahren geschehen. -8- (9) Die Sonderstellung des Menschen unter seinen Mitgeschöpfen schließt die Aufgabe ein, in besonderer Weise Verantwortung wahrzunehmen. Allein der Mensch kann die Folgen seines Handelns für Mitmensch und Mitgeschöpf erkennen und daraus Folgerungen ziehen; allein der Mensch kann darum auch an der Schöpfung schuldig werden. (10) Die biblischen Texte leiten aber nicht nur an, über das Wunder des Lebens zu staunen und die Größe der Verantwortung des Menschen zu erkennen. Sie zwingen auch zu einer nüchternen, illusionslosen Sicht der kreatürlichen Welt: Alles Leben wird in engen Grenzen gelebt. Damit entstehen Konkurrenz, Aggression und der Kampf ums Überleben. Das Verhältnis der Tiere untereinander ist von Gewalt geprägt und läßt den menschlichen Betrachter nicht selten erschrecken über die Grausamkeit und Brutalität des kreatürlichen Lebens. Aber auch zwischen Menschen und Tieren herrscht Gewalt (1.Mose 6,13; 9,1-4). Solange es Leben auf der Erde gibt, wird dieser Zustand andauern. Tierliebe und Menschenliebe können zueinander in Spannung treten. Ganz offenkundig wird dies etwa bei Krankheitserregern. Wenn Menschen von der Tötung tierischen Lebens leben oder zur Abwehr von Gefahren Tiere töten, dann ist dies wohl ein Zeichen der - in der Sprache der Theologie - „gefallenen“ Welt, jedoch nicht in sich bereits individuelle Schuld und Belastung des Gewissens. (11) Das bedeutet freilich keine Rechtfertigung für eine gedankenlose, ungehemmte Nutzung oder gar Ausbeutung der Tiere durch die Menschen. Die Legitimation, Leistungen und Leben der Tiere in Anspruch zu nehmen, bleibt innerhalb der Klammer des Auftrags zu einer Herrschaft in liebender Sorge und hegendem Bewahren. Dies zeigt sich in den einschlägigen biblischen Texten schon am Verbot des Blutgenusses 1.Mose 9,4, das von Juden und Moslems bis heute eingehalten wird. Dieses Bluttabu ist Ausdruck einer tiefen Achtung und Scheu vor Gott, der den Tieren das Leben gibt und darum die Verfügungsgewalt über ihr Leben besitzt. Wo bewußt bleibt, daß wir Menschen in der Tat vom Opfer anderen Lebens leben, wird auch der Umgang mit diesem anderen Leben von Ehrfurcht bestimmt sein. Heute geschieht -9- das Töten von Tieren in der Regel ohne persönliche Beteiligung des Nutzers und zudem in so riesigen Zahlen, daß das Tier nicht mehr als Opfer in einem religiösen Sinne, sondern als bloße, beliebig nutzbare Ressource wahrgenommen wird. (12) Wenn die Menschen ihre Herrschaft über die Tiere in liebender Sorge und hegendem Bewahren ausüben, ergeben sich konkrete Veränderungen und Verwandlungen in dem zwischen ihnen bestehenden Verhältnis der Gewalt: Sie laufen auf eine Verminderung der Gewalt hinaus. Dabei geht es insbesondere darum, die Zufügung von Leiden und Schmerzen zu begrenzen oder ganz zu vermeiden. Das Gewaltverhältnis zwischen Mensch und Tier ist zwar grundsätzlich unaufhebbar und besteht qualitativ fort. Aber Gewalt kann so und kann so ausgeübt werden, ihr quantitatives Ausmaß läßt sich beeinflussen. Darauf zielt auch die Mahnung des Alten Testaments, barmherzig mit den Tieren umzugehen: „Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs; aber das Herz der Gottlosen ist unbarmherzig“ (Spr 12,10; vgl. 2.Mose 20,10). Man kann noch einen Schritt weitergehen und im Sinne der Ausweitung der mitmenschlichen zu einer mitgeschöpflichen Ethik die Aussagen des Neuen Testaments über die Werke des lebendigmachenden Geistes (Gal 5,22f; Eph 5,9) auf das Verhalten gegenüber den Tieren beziehen: Liebe, Friede, Güte, Treue, Sanftmut und Gerechtigkeit müssen sich im Umgang mit allem Lebendigen bewähren. Ein Wort aus dem letzten Jahrhundert besagt, daß das „Vieh im Stall“ an seiner Behandlung merkt, „wenn der Bauer sich bekehrt“. (13) Auf eine Verminderung der Gewalt ist auch die Verpflichtung zur Humanität gerichtet. Nur auf den ersten Blick wirkt es befremdlich, den Umgang von Menschen mit Tieren am Maßstab der Humanität zu messen. Aber die Menschlichkeit des Menschen steht in allem, was er tut, auf dem Spiel. Sie bewährt sich zum Beispiel darin, daß er die Kräfte der Vernunft, die ihm gegeben sind, einsetzt und den Empfindungen des Mitgefühls Raum gibt. Ein gedankenloser oder ein brutaler Umgang mit den Tieren ist nicht menschlich. Es besteht Grund zu der Befürchtung, daß Gedankenlosigkeit und Brutalität im Verhalten gegenüber dem - 10 - Mitgeschöpf Tier durchschlagen auf das Verhalten gegenüber dem Mitgeschöpf Mensch. (14) Im Verhältnis zu den Tieren geht es jedoch nicht allein uni Barmherzigkeit und Humanität, sondern auch um Gerechtigkeit. Viele sehen in dieser Forderung eine unzulässige Gleichstellung von Mensch und Tier. Dabei wird verkannt, daß Gerechtigkeit nicht nur eine Pflicht unter Gleichgestellten ist; sie ist vielmehr gerade auch gegenüber Hilflosen, Unterdrückten und Unmündigen, somit auch gegenüber Tieren zu erfüllen. Die Forderung nach Gerechtigkeit zielt dabei keineswegs darauf, Tiere wie Menschen zu behandeln. Die Mensch-Tier-Unterschiede werden nicht eingeebnet, sondern beachtet: Das Tier ist nicht nur wegen seiner Nähe zum Menschen und nach Maßgabe seiner Menschenähnlichkeit zu akzeptieren, sondern gerade auch in seiner Andersartigkeit, die nicht als abwertender Mangel zu verstehen ist. Den Menschen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen bedeutet, ihnen ein Leben in Menschlichkeit zu sichern; entsprechend verlangt Gerechtigkeit im Blick auf die Tiere, sie tiergerecht, insbesondere artgerecht zu behandeln. Die artgerechte Behandlung von Tieren hat zur Voraussetzung, ihnen Bedürfnisse zuzugestehen - und zwar, bezogen auf den Menschen, sowohl gleiche als auch andere - und sich mit diesen Bedürfnissen vertraut zu machen. (15) In jüngster Zeit ist das Problem deutlicher ins Bewußtsein getreten, daß der Eigentumsbegriff in der Anwendung auf Lebewesen ungeklärt ist. Für den Rechtsbegriff des Eigentums ist es kennzeichnend, daß die Sache selbst, an der das Eigentum besteht, der Verfügung über sie keine immanenten Schranken setzt und Eingrenzungen der ungehinderten Verfügungsgewalt über das Eigentum (wie etwa die in Art. 14 des Grundgesetzes verankerte Norm der Sozialpflichtigkeit) erst nachträglich hinzutreten. Aber ein Tier kann schwerlich in ebendem Sinne als Sache verstanden werden, wie dies z.B. bei einem Buch oder einer Aktie oder einem Haus der Fall ist. Erst kürzlich sind daraus für das bürgerliche Recht in der Bundesrepublik Deutschland erste Konsequenzen gezogen worden (s. oben Ziffer 3). Können Tiere aber überhaupt als Größen gelten, an denen Eigentum zu begründen ist? Die biblischtheologische Sicht muß sich ohnehin an dem - 11 - Bekenntnis orientieren: „Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen“ (Ps 24,1). Alle Eigentums- und Rechtsvorstellungen, die Menschen entwickeln und von denen sie sich in ihrem Umgang mit der Natur leiten lassen, sind dem Respekt vor Gottes Rechtsvorbehalt auf seine Erde einund zuzuordnen. Zu denken gibt in diesem Zusammenhang, daß noch das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 ein Eigentum an Tieren nur im Außenverhältnis gegenüber den Bestreitern dieses Rechts, nicht aber im Innenverhältnis zu den Tieren selbst kennt. Darin steckt die Einsicht, daß Menschen mit den Mitgeschöpfen, die in ihrer Verfügung stehen, nicht nach freiem Belieben verfahren dürfen. (16) Das Mensch-Tier-Verhältnis ist aus biblisch-theologischer Sicht nicht vollständig beschrieben, wenn sich der Blick allein auf die Welt, wie sie ist, richtet. Diese Perspektive verhilft zu der nötigen Nüchternheit. Aber der nüchterne Realismus verkommt zu einem SichAbfinden mit den gegebenen schlechten Verhältnissen, wenn er nicht umgriffen wird von der Vision einer anderen, neuen Welt. Für die biblischen Texte ist es kennzeichnend, daß alle Aussagen über Mensch und Tier im Licht der Erwartung einer anderen, neuen Welt und des Friedens in und mit der Schöpfung stehen. Die Schöpfungsgeschichte (1.Mose 1,29f) bewahrt die Erinnerung daran auf, daß die von Gott sehr gut gemachte Welt kein Blutvergießen unter Tieren und Menschen kannte: Beiden wird pflanzliche Nahrung zugewiesen. Dieser Schöpfungsfrieden ist dann Gegenstand alttestamentlicher Verheißungen der kommenden neuen Welt: „ Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern ...“ (Jes 11,6-9; vgl. 65,17ff). Paulus bezieht die „Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll“, ausdrücklich auf „die ganze Schöpfung“, die „bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet“ (Röm 8,18-25). Alle diese Hoffnungen werden aufgerufen und wachgerufen, wenn wir im Vaterunser beten: „Dein Reich komme“ (Matth 6,10). Die kommende neue Welt und darum auch der Frieden mit der Natur sind für den christlichen Glauben das Werk Gottes. Menschen können die Verhältnisse des Reiches Gottes nicht heraufführen. Aber wie es im Blick auf die Verhält- - 12 - nisse unter Menschen Anfänge und den Vorschein der kommenden Erlösung gibt (vgl. 2.Kor 5,17ff; Gal 5,16ff; Eph 4,17), so kann die neue Schöpfung auch im Verhältnis zu den Tieren durch ein entsprechendes Handeln der Menschen zeichenhaft sichtbar werden. III. Wie weit reicht die Verminderung der Gewalt? (17) Die Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats sind sich darin einig, daß das Verhältnis zwischen Mensch und Tier unaufhebbar auch von Gewalt geprägt ist, daß aber das Maß der von den Menschen ausgeübten Gewalt vermindert werden kann und muß (s. oben Ziffer 1013). Unterschiedliche Auffassungen treten hervor, wenn die Frage zu beantworten ist: Wie weit reicht die Verminderung der Gewalt? Einige Mitglieder des Beirats sehen die Notwendigkeit und die Möglichkeit, die Gewalt gegen Tiere nicht bloß zu begrenzen und einzudämmen, sondern in weiten Bereichen fortschreitend zu überwinden und aufzuheben. Sie verstehen dies als eine radikale Ethik der Mitgeschöpflichkeit. (18) Die Vertreter der weitergehenden Auffassung lassen sich von Überlegungen leiten, mit denen die in Teil II dargestellten grundlegenden Einsichten teils zuspitzend interpretiert, teils überschritten werden. Sie argumentieren dabei in folgender Weise: Der Zustand des verheißenen Schöpfungsfriedens ist der Richtpunkt, an dem sich die Zielvorstellungen zu orientieren haben. Dabei wird die Grenze durchaus gewahrt, die Verwirklichung des Reiches Gottes nicht von Menschen zu erwarten; in ihren Herzen soll es zwar beginnen (Lk 17,21), aber letztlich können Menschen nichts zuwege bringen als Stückwerk. Jedoch kann auch für diesen bloßen Versuch die eschatologische Hoffnung, also die Vorstellung von der kommenden neuen Welt, unmittelbar handlungsleitend werden. Die Welt soll nicht bleiben, wie sie ist, sondern im Lichte des Reiches Gottes und in Richtung auf den Schöpfungsfrieden verwandelt werden. Wenn schon das Verhältnis der Gewalt unter Tieren sich dem menschlichen Einfluß weithin entzieht, dann rechtfertigt dieser Umstand keineswegs, auch dort auf Veränderungen zu verzichten, wo sie möglich sind: nämlich im - 13 - Verhältnis zwischen Mensch und Tier. Die Orientierung an der Vorstellung vom verheißenen Schöpfungsfrieden verleiht dem Denken und Handeln zugunsten der Mitgeschöpfe eine starke Dynamik. Die daraus folgende zugespitzte Ethik der MenschTier-Beziehung ist dabei nicht utopischer und unerreichbarer als die zwischenmenschliche Ethik der Bergpredigt, ohne die das Liebesgebot des Neuen Testamentes seinen Glanz verlöre. In der Friedensdiskussion ist auch der Frieden mit der Schöpfung ins Auge zu fassen. Mit Recht wird immer gesagt, daß der Friedenswille in der unmittelbaren Umgebung des Menschen beginnen muß; aber das bezieht sich nicht nur auf die Mitmenschen, sondern ebenso auf die Tiere. Auf Albert Schweitzer geht die Forderung einer allgemeinen „Ehrfurcht vor dem Leben“ zurück. Entsprechend kann in der biblisch-christlichen Ethik eine Tendenz festgestellt werden, dem Liebesgebot eine immer größere Reichweite zu verschaffen - bis hin zum Verständnis des Sterbens Jesu als Erlösung für die ganze, auch die außermenschliche Schöpfung (Kol 1,20). Mit den Kriterien von Ehrfurcht und Liebe sind aber dem Umgehen mit Tieren enge Grenzen gesetzt. Eine Nutzung der Tiere ist nur zulässig, solange sie weder mit Schmerzen noch mit Leiden zugunsten erhöhter Produktionsleistung für den Menschen verbunden ist und solange die geschöpfliche Würde der Tiere gewahrt bleibt. Auch das Leben der Tiere ist grundsätzlich geschützt. Die Tötung von Tieren ist lediglich als Akt der Barmherzigkeit geboten, um ein nicht zu behebendes Leiden zu beenden, oder sie muß als Folge einer Notwehrhandlung und in vergleichbaren Extremsituationen hingenommen werden. Die Ausübung von Gewalt gegenüber Tieren ist so lange mit Schuld verbunden, wie die handelnden Menschen nicht über das bisherige Maß der Gewaltminderung hinausgehen und die erforderlichen Verzichtleistungen auf sich nehmen. Die Vertreter einer radikalen Ethik der Mitgeschöpflichkeit halten im übrigen noch Zuspitzungen in einzelnen Punkten der grundlegenden Einsichten für erforderlich. Die Aussage, daß der Mensch eine unveräußerliche Würde und ein uneingeschränktes Lebensrecht hat, ist nicht strittig; aber der Begriff der Würde ist - 14 - nicht auf die Menschen zu begrenzen; die Tiere haben an der allgemeinen geschöpflichen Würde teil. Weiter ist zu fragen, ob sich die Menschen, wenn sie von der Tötung anderen Lebens leben, wirklich von jeder Gewissensbelastung frei fühlen dürfen; die Kirche hat die Pflicht, auf eine Schärfung der Gewissen hinzuwirken. Die Feststellung, daß die Legitimation, Leistungen und Leben der Tiere in Anspruch zu nehmen, innerhalb der Klammer von liebender Sorge und hegendem Bewahren zu verstehen sei, bleibt solange mit einem Widerspruch belastet, wie der Anspruch auf das Leben der Tiere nicht kritischer als bisher überprüft wird. Es ist richtig, daß Gerechtigkeit auch gegenüber den Tieren ein Doppeltes verlangt: ihre Gleich- oder Ähnlichbehandlung, soweit sie den Menschen - etwa in Bezug auf Schmerz- und Leidensfähigkeit - gleich oder ähnlich sind, ihre Andersbehandlung, wo es die Unterschiede rechtfertigen oder verlangen; nun bedeutet der Tod gewiß für ein Tier etwas anderes als für den Menschen, schon weil das Tier vom Tod nichts weiß; aber die Frage, ob dieser Unterschied auch ausreicht, eine so gravierende Andersbehandlung, wie wir sie verbreitet erleben, als gerecht anzusehen, ist bisher noch kaum diskutiert worden. (19) Der Gedanke der Gewaltminderung besitzt eine innere Dynamik. Er schließt schon als solcher die ständige Auseinandersetzung über das notwendige und mögliche Maß der Gewaltminderung ein. Diese quantitative Komponente erleichtert das Gespräch zwischen den unterschiedlichen Auffassungen zu den Aufgaben des Tierschutzes. Die Auseinandersetzung über die Reichweite der Gewaltminderung hat aber auch eine grundsätzliche Komponente: Dabei geht es um die Ermächtigung der Menschen zur Gewalt gegenüber den Tieren, wie sie in 1.Mose 9,2 ausgesprochen ist. Diese Ermächtigung wird von der radikalen Ethik der Mitgeschöpflichkeit als letztlich unvereinbar mit dem neutestamentlichen Liebesgebot und damit als ein zu überwindender Zustand angesehen. In Teil II wird sie dagegen ausdrücklich als ein bleibendes Merkmal der kreatürlichen Welt festgehalten, um eine rigoristische Sicht und die damit verbundene Überforderung zu vermeiden. An diesem Punkt läßt sich im Wissenschaftlichen Beirat der Dissens nicht überbrücken. - 15 - IV . Mitgeschöpfliches Verhalten konkret (20) In den vorausgegangenen drei Teilen sind die Grundsätze und Ziele in der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf diskutiert worden. Die Schwierigkeiten, die sich bei der konkreten Umsetzung der Grundsätze und Ziele einstellen, wurden allenfalls angedeutet. Um diese Konkretisierung soll es im folgenden gehen. Dazu werden einige ausgewählte Konfliktfelder thematisiert. (21) Von Anfang an ist bei der konkreten Umsetzung der Grundsätze und Ziele darauf zu achten, daß die Forderung nach Barmherzigkeit, Humanität und Gerechtigkeit gegenüber den Tieren nicht genau in dem Augenblick aufgegeben wird, wo sie Veränderungen im vorfindlichen Mensch-Tier-Verhältnis nach sich zieht. Es darf nicht sein, daß die Grundsätze und Ziele auf ein Podest von Denkschriften oder feiertäglichen Erklärungen gestellt werden, auf dem Boden des alltäglichen Handelns aber ein kompromißlerisches Sich-Arrangieren mit den gegenwärtigen Verhältnissen Platz greift. Minimierung von Gewalt ist als Leitlinie nur dann annehmbar, wenn dabei nicht untragbare Zustände in bedauerliche Notwendigkeiten umformuliert und Halbheiten, mit denen man bequem leben kann, schon als Lösungen ausgegeben werden. Es ist nicht Sache der Kirche, die christliche Ethik dahingehend zu prüfen und anzupassen, wie sie mit der menschlichen Schwäche und Bequemlichkeit verträglich ist. (22) Quantifizierende Fragen sind legitim und wichtig: Wieviel Bewegungsraum ist für eine artgerechte Haltung erforderlich? Auch: Welche Kosten verursacht eine bestimmte Anforderung? Aber Tierschutz läßt sich, wenn er denn tatsächlich „aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden ... schützen“ soll (Tierschutzgesetz § 1), nicht mit quantifizierenden Kategorien allein erreichen. Er erfordert vielmehr die Bereitschaft, sich der Infragestellung der Qualität des üblich gewordenen Umgangs mit den Tieren zu öffnen und, wo sie sich als unausweichlich aufdrängen, die nötigen, vielleicht schmerzlichen Konsequenzen zu ziehen. - 16 - (23) Barmherzigkeit, Humanität und Gerechtigkeit sind unteilbar. Wird eingeschärft, daß sie das Verhältnis zum Tier bestimmen sollen, so ist zugleich daran zu erinnern, daß sie auch gegenüber den Menschen' gelten, die - aus welchen Gründen auch immer die Nutzung von Tieren beruflich betreiben. Für das zum Teil skandalöse Ungenügen des Tierschutzes tragen im allgemeinen und in erster Linie nicht die Angehörigen der mit der Tiernutzung befaßten Berufe Verantwortung, sondern die Lebensweise der gesamten Gesellschaft. Sie verlangt, was in Barmherzigkeit, Humanität und Gerechtigkeit gegenüber den Tieren gar nicht erreicht werden kann. Ein bestimmtes Produkt möglichst billig haben zu wollen, aber die Erzeugungsweise zu verurteilen ist töricht und unfair. Überdies haben nur wenige Tierhalter oder Experimentatoren in ihrer Berufsausbildung Überlegungen zur moralischen Vertretbarkeit ihres Handelns anzustellen brauchen. Tierethische Fragen müssen aber ein integraler Bestandteil aller auf die Nutzung von Tieren abgestellten Ausbildungsgänge werden. (24) Die Unteilbarkeit der Ethik verlangt im übrigen auch, im Eintreten für den verbesserten Schutz von Tieren alle Mittel und Wege auszuschließen, die unter ethischen Gesichtspunkten ihrerseits fragwürdig oder offenkundig unvertretbar sind. Wer einen weitergehenden Tierschutz will und sich dabei auf ethische Forderungen beruft, muß auch bei der Wahl seiner eigenen Mittel ethische Maßstäbe anlegen und gegenüber seinen Konfliktpartnern auf unfaire Methoden wie Unterstellungen, Pauschalverurteilungen oder militantes Vorgehen verzichten. Selbst das persönliche Versagen von Menschen, für die Mitgeschöpflichkeit ein Fremdwort ist, gibt Tierschützern nicht das Recht, nun ihrerseits die Mitmenschlichkeit aus ihrem Wortschatz zu streichen. 1. Schlachtung (25) Die Schlachtung von Tieren zum Zwecke der menschlichen Ernährung ist der am meisten verbreitete Ausdruck des Gewaltverhältnisses zwischen Mensch und Tier und stellt darum für die Förderung mitgeschöpflichen Verhaltens das schärfste Problem dar. Jährlich werden in der alten Bundesrepublik Deutschland pro - 17 - Kopf der Bevölkerung ca. 100 kg Fleisch, davon etwa 21 kg vom Rind, 60 kg vom Schwein und 7,5 kg Geflügel, verbraucht; dies bedeutet, daß im Jahr rund 45 Millionen Großtiere, insbesondere Schweine, Rinder, Kälber und Schafe, dazu 303 Millionen Hühner, Enten, Gänse und Puten für den menschlichen Verzehr produziert und geschlachtet werden. Prinzipiell läßt sich auf der Basis der in Teil II entfalteten Überlegungen gegen die Tötung von Tieren zum Zwecke der menschlichen Ernährung nichts einwenden, und die große Mehrzahl der Menschen tut dies auch nicht. Die in Teil III dargestellte radikalere Position lehnt das Töten von Tieren ohne zwingende rechtfertigende Gründe jedoch grundsätzlich ab. Da jedenfalls für den gesunden Erwachsenen Fleisch nach heutigen ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen - solange andere eiweißliefernde Lebensmittel ausreichend vorhanden sind - für eine gesunde und vollständige Ernährung nicht nötig ist, gebe es keine ausreichende Legitimation, Tiere für Ernährungszwecke zu schlachten. (26) Der Dissens in der prinzipiellen Frage bleibt bestehen. Jedoch ist das Maß an praktischer Übereinstimmung breiter, als der prinzipielle Dissens zunächst vermuten läßt: Der heutige Fleischkonsum in Deutschland ist im Vergleich zu , früheren Zuständen exzessiv. Dies hängt wesentlich auch damit zusammen, daß Fleischnahrung über lange Zeit ein Privileg der oberen Stände war und in der sozialgeschichtlichen Entwicklung nun für breitere Bevölkerungskreise zum Statussymbol wurde: An der täglichen Fleischmahlzeit zeigte sich, was man sich inzwischen ebenfalls leisten konnte. Diese soziale Indikatorenfunktion der Fleischnahrung ist eigentlich hinfällig, wirkt aber im praktischen Verhalten noch nach. Der ernährungswissenschaftliche Befund besagt nicht nur, daß jedenfalls im Blick auf den gesunden Erwachsenen für eine. gesunde und vollständige Ernährung Fleisch nicht nötig ist; eine fleischarme Ernährung kann sogar risikoarmer und daher gesunder sein. Schon dies spricht für eine nachhaltige Reduzierung des heutigen Fleischkonsums. Hinzu kommen die problematischen Umstände bei der Haltung (s. dazu den folgenden Abschnitt IV 2), dem Tiertransport und der Schlachtung, die sich als Folgeerscheinungen des hohen - 18 - Fleischkonsums einstellen. Es ist etwas anderes, ob eine Familie - wie es früher nicht selten geschah - einige Tiere zur eigenen Versorgung hält und schlachtet oder ob der übermäßige Fleischkonsum einer Bevölkerung von 80 Millionen Menschen durch eine entsprechende industrielle Produktion befriedigt wird. (27) Dies gilt insbesondere im Blick auf die Praxis in den Schlachthäusern. Sicher geht es heute dort nicht mehr so brutal zu wie früher oder wie in einigen anderen Ländern. Doch immer noch sind die Qualifizierungsanforderungen für Mitarbeiter in den Schlachthäusern zu gering. Der Druck kostengünstiger Leistung diktiert das Tempo des „Durchlaufs“, und zwar auch bei der Betäubung. Sie müßte eigentlich besonders schonend und sorgfältig vorgenommen werden und verlangt ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Präzision. Über längere Zeitabschnitte ist dies aber nicht durchzuhalten. „Pannen“ sind bei der Arbeit in den Schlachthäusern unvermeidbar und gehen zulasten der Tiere. Das gilt besonders häufig für die vollautomatisierte Geflügelschlachtung. (28) Bei der rituellen Schlachtung sollte zugunsten der Tiere bedacht werden, daß der Kern der religiösen Vorschriften nur verlangt, den Blutentzug am noch lebenden Tier vorzunehmen. Genau diese Forderung wird durch die Betäubung beim weiter schlagenden Herzen nicht in Frage gestellt. Eine solche Betrachtung findet schrittweise auch bei Juden und Moslems Zustimmung. (29) Freilich blieben, selbst wenn in Bezug auf die Schlachtung den Mißständen abgeholfen werden könnte, immer noch die trotz formaler Schutzvorschriften beschämenden Zustände beim Transport lebender Tiere oft über mehrere Tage. Die Versuchung, beim Transport möglichst viele Tiere pro Raumeinheit unterzubringen und an den Betreuungskosten zu sparen, ist immer noch groß; denn die Kontrolle ist wenig effektiv, und bei „Verlusten“ springt die Versicherung ein. All dies geschieht nicht etwa aus Not, sondern weil es wesentlich billiger ist, „lebende Ware“ zu verschicken, als das Fleisch in Gefriercontainern zu liefern: Nichts hält Fleisch länger und billiger frisch als ein schlagendes Herz. - 19 - (30) Bei der Fleischproduktion bestimmt der Wettbewerbsdruck das Maß der den Tieren zugemuteten Leiden: Die große Mehrzahl der Verbraucher will möglichst billige Fleischerzeugnisse. Die Fleischwerbung hilft, die tatsächlichen Probleme und Mißstände zu verdrängen: Sie zeigt immer nur „glückliche“ Rinder und Schweine. Auf der individuellen Handlungsebene sind Fleischverzicht oder Reduzierung des Fleischkonsums mögliche Beiträge zu einer Änderung der Verhältnisse - dies um so mehr, als bei wachsender Einsicht in die Mißstände heutiger Fleischproduktion der Fleischkonsum eben doch zu einer Gewissensbelastung wird. Auf der strukturellen Ebene können die Anforderungen an Haltung, Transport und Schlachtung der Tiere so verschärft werden, daß Fleisch erheblich teurer wird und der Preis in stärkerem Maße eine regulatorische Funktion erhält. 2. Nutztierhaltung (31) Daß Menschen unter ethischen Gesichtspunkten das Recht haben, Tiere zu eigenem Nutzen zu halten, ist im Prinzip nicht strittig. Dies gilt jedenfalls für die Haltung von Milchvieh, von Legehühnern, von Wollschafen u.ä. (zur Frage von Schlachtvieh s. den vorangegangenen Abschnitt IV 1, zur Pelztierhaltung s. unten Abschnitt IV 6). Immerhin erinnert die Regelung im Sabbatgebot (2.Mose 20,10), wonach die Tiere an der Sabbatruhe der Menschen teilhaben sollen, daran, daß Nutztiere nicht ausschließlich unter dem Nutzengesichtspunkt betrachtet werden dürfen als seien sie bloße Maschinen -, sondern Mitgeschöpfe sind und darum Anteil an Gottes gnädiger Einrichtung des Sabbat haben. Es genügt im Blick auf die Nutzung von Tieren nicht, Tierquälerei zu unterlassen; sie als Mitgeschöpf zu achten heißt, sich an ihrem Wohlbefinden zu freuen und es zu fördern. Schon die bloße Wahrscheinlichkeit haltungsbedingter Schmerzen oder Leiden macht schonendere Haltungsformen zur Pflicht. Daraus ergeben sich auch die Forderungen, die übliche Amputationspraxis weiter zu beschränken und das betäubungslose Kastrieren zu verbieten. (32) Wie eine Haltung von Nutztieren, bei der sie als Mitgeschöpfe geachtet werden, in den verschiedenen Bereichen konkret aussehen muß, führt in zahlreiche kontroverse Einzelfragen. - 20 - Dazu hat sich 1984 die im Anhang mit ihren einschlägigen Abschnitten abgedruckte Denkschrift „Landwirtschaft im Spannungsfeld“ eingehend geäußert, so daß an dieser Stelle weitere Ausführungen nicht erforderlich sind. Die Probleme der Nutztierhaltung haben sich seit 1984 noch verschärft; dies wird vor allem an den verschiedenen Hormonmast-Skandalen in der alten Bundesrepublik Deutschland, bei denen freilich bezeichnenderweise nicht der Umgang mit den Tieren, sondern die gesundheitliche Gefährdung der Menschen durch den Fleischkonsum das Ärgernis ausgelöst hat, und an den großen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR fortbestehenden Tierproduktionsbetrieben mit Massentierhaltung deutlich. 3. Züchtung (33) Die Züchtung ist eine besondere Form der Tiernutzung und darum prinzipiell nicht anders als die Tiernutzung im allgemeinen zu beurteilen: Hat der Mensch das Recht, Tiere zu nutzen, dann schließt dies ein, die Nutzung durch Züchtung zu verbessern. Doch sind dabei auch Grenzen zu beachten: Gesundheit und Wohlbefinden der Tiere dürfen nicht beeinträchtigt werden; die Erfordernisse des Lebensraums und der Lebensweise der betreffenden Art müssen berücksichtigt werden, die selbständige Lebensfähigkeit der Tiere, auch in natürlicher Umgebung, muß gewährleistet bleiben; die Artgrenze - soweit sie sich in der konventionellen Tierzüchtung überhaupt überspringen läßt - ist eine Mahnung zur Vorsicht. Diese Grenzmarkierungen gewinnen noch an Bedeutung angesichts der von der Gentechnik eröffneten neuen Möglichkeiten in der Tierzüchtung (s. dazu im Anhang den Auszug aus: „Einverständnis mit der Schöpfung“). 4. Tierversuche (34) Über keine Frage des Tierschutzes ist in den letzten Jahren so erbittert gestritten worden wie über die Tierversuche. Dies ist angesichts der Größenordnung des Problems nicht nur verständlich, sondern auch notwendig. Zum ersten Mal liegen aufgrund des neuen Tierschutzgesetzes auch amtliche Zahlen vor: Der Bericht der Bundesregierung nennt für das Jahr 1989 die Zahl - 21 - von 2,64 Millionen Tieren, die in der alten Bundesrepublik Deutschland in genehmigungsund anzeigepflichtigen Versuchen verwendet wurden; darin sind jedoch nicht enthalten alle Tiere, die zur Organentnahme, zu Ausbildungszwecken oder zur Gewinnung von Impfstoffen gebraucht wurden. Immerhin gibt es begründete Annahmen, daß die Zahl der Tierversuche insgesamt rückläufig ist - sicherlich auch ein Resultat der intensiven öffentlichen Auseinandersetzung über das Problem. (35) Die Unterschiede, ja Gegensätze in den Auffassungen über Tierversuche lassen sich nicht vollständig ausräumen. Wer, wie es in Teil II geschieht, der Nutzung von Tieren bis hin zu ihrer Tötung durch die Menschen zustimmt, der wird sich prinzipiell auch nicht gegen Tierversuche wenden. Wer hingegen, wie es bei der in Teil III dargestellten weitergehenden Auffassung der Fall ist, die Rechtfertigungsgründe für die Tötung von Tieren sehr restriktiv faßt und die Tötung nur zur Abwehr von Gefahren und zur Deckung des elementaren Lebensbedarfs zuläßt, der wird Tierversuche nur in äußerst begrenztem Umfang oder überhaupt nicht akzeptieren. Bei Fortbestehen dieses Dissenses, auch in der Kirche, ist das Maß der Übereinstimmung gleichwohl groß: (36) Die Zahl der Tierversuche muß so weit wie möglich gesenkt werden. Darum sind der Einsatz von Ersatzmethoden (wie Tests an Zellkulturen) und die Forschung an solchen Ersatzmethoden voranzutreiben. Vor allem müssen in der Genehmigungspraxis entschieden höhere Anforderungen an den Versuchszweck gestellt werden als bisher: Nach § 7 Abs. 3 des geltenden Tierschutzgesetzes ist bei einem Tierversuch zu prüfen, ob „die zu erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der Versuchstiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind“; die Erfahrung der ersten Jahre nach Inkrafttreten des novellierten Gesetzes hat gezeigt, daß bisher jedenfalls Tierversuche nur in ganz seltenen Ausnahmefällen aus ethischen Gründen abgelehnt werden. (37) Schmerzen und Leiden müssen bei den Versuchstieren auf das unvermeidliche Maß eingeschränkt werden. Bei Tierversuchen werden immer noch zu viele und zu sensible Tiere eingesetzt; das Tierschutzgesetz und seine Handhabung haben diesen - 22 - Mangel bisher nicht beseitigen können. Weiterhin müssen die in § 9 des Tierschutzgesetzes eingeräumten Ausnahmen, die Eingriffe an narkosefähigen und narkosebedürftigen Tieren auch ohne Betäubung zulassen, nicht nur strengstens begrenzt, sondern auch konsequent überwacht werden. Noch darüber hinaus geht die Forderung - die auch von Mitgliedern des Wissenschaftlichen Beirats vertreten wird -, daß überhaupt keine solchen Ausnahmen zugelassen werden dürfen. Die Zufügung von Schmerzen und Leiden gegenüber einem Mitgeschöpf führt ohnehin in eine starke Spannung zu der grundsätzlichen Verpflichtung, barmherzig und human mit ihm umzugehen. So erklärt sich wohl auch eine verbreitete Neigung, die Schmerz- und Leidensfähigkeit bestimmter Tiere in Frage zu stellen oder nur eingeschränkt anzuerkennen. Doch eine bereits als wahrscheinlich anzunehmende Schmerz- und Leidensfähigkeit ist ethisch relevant. 5. Jagd (38) Die Tätigkeit des Jägers hat eine lange kulturgeschichtliche Tradition. Sie bleibt auch unter den heutigen, veränderten Verhältnissen im Rahmen der Hege und Pflege von Wald und Flur notwendig und im Sinne der Nutzung des Wildtierbestandes für die menschliche Ernährung -jedenfalls für die meisten - ethisch vertretbar. Gesetzliche Vorschriften und Regelungen auf Verbandsebene sorgen bei der Ausübung der Jagd - wie entsprechend in anderen Bereichen des Umgangs mit Tieren - für Begrenzungen und Auflagen. Auch aus mitgeschöpflicher Sicht ist nichts dagegen einzuwenden, wenn der Jäger kranke, verletzte oder altersschwache Tiere waidgerecht tötet; sofern das Tier schon leidet, ist dies sogar ein Akt der Barmherzigkeit. Zum Schutz des Waldes und des biologischen Gleichgewichts hat der Mensch nach der Ausrottung von Bären und Wölfen kaum eine andere Wahl, als regulierend einzugreifen. Nicht zu vertreten ist es allerdings, diejenigen Tierarten, die als Jagdkonkurrenten verbleiben, systematisch zu verfolgen, um so den Regulierungsauftrag des Jägers möglichst ungeschmälert zu erhalten. Die Bedenken gegen die Tötung von Tieren zu Nahrungszwecken, wie sie in - 23 - Abschnitt IV 1 wiedergegeben wurden, gelten entsprechend auch in diesem Zusammenhang. (39) Die Jagd wird verbreitet auch als Freizeit- und Gesellschaftsvergnügen ausgeübt. Das Vergnügen an der Jagd entspringt tiefsitzenden menschlichen Verhaltensmustern. In ethischer Betrachtung stellt sich aber die Frage, ob der Mensch so bleiben soll, wie er ist, oder ob er sich im Sinne der Mitgeschöpflichkeit fortentwickeln, also verändern soll. Dabei geht es darum, ob das Töten von Tieren jemals eine Form der Vergnügung sein kann und sein darf, m.a.W ob sich das Opfer tierischen Lebens mit dem menschlichen Wunsch nach Freizeit- und Gesellschaftsvergnügen rechtfertigen läßt. Diese Frage ist um so dringlicher, als die Teilnehmer an Jagdgesellschaften nicht immer die besten Schützen sind und Tieren unnötige Schmerzen und Leiden bereiten können. Die problematischen Erscheinungen der Jagd verbinden sich im wesentlichen mit ihrer Organisation als Freizeit- und Gesellschaftsvergnügen: Die Tierbestände werden durch besondere Maßnahmen wie etwa überhöhte Zusatzfütterungen „hochgehegt“, um das lange und mühsame Ansitzen zu verkürzen; leergeschossene Reviere werden durch importierte Wildfänge aus anderen Ländern oder durch gezüchtete und kurzfristig ausgewilderte Tiere zur Jagdsaison „aufgefüllt“; der Anreiz, Rekorde und Trophäen zu sammeln, wird verstärkt. Ethisch ist damit die Aufgabe gestellt, die Freizeit- und Gesellschaftsaktivität der Jagd durch Formen der Vergnügung zu ersetzen, die nicht mit dem Töten von Tieren einhergehen. 6. Pelzgewinnung (40) Wie die Jagd so hat auch die Gewinnung und Bearbeitung tierischer Pelze eine lange kulturgeschichtliche Tradition. Pelzbekleidung war in der Vergangenheit ein notwendiges Mittel, sich gegen Kälte zu schützen - in einigen begrenzten Kulturräumen ist sie das bis heute. Über Jahrzehnte war der Pelzmantel hierzulande ein unverdächtiges und weithin anerkanntes Statussymbol. Etwa seit Ende der 70er Jahre wird ein leidenschaftlicher und zum Teil militanter Streit um die Herstellung und die Benutzung von Pelzwaren ausgetragen. Es ist nur folgerichtig, daß diejenigen - 24 - auch im Wissenschaftlichen Beirat -, die das Töten von Tieren nur zur Abwehr von Gefahren und zur Deckung des elementaren Lebensbedarfs akzeptieren, der Pelzgewinnung ablehnend gegenüberstehen: Die Notwendigkeit, sich hierzulande ausgerechnet mit Hilfe von Pelzbekleidung gegen Kälte zu schützen, besteht nicht mehr; dennoch Pelzbekleidung zu tragen stelle unter diesen Umständen einen ethisch nicht zu rechtfertigenden Luxus dar. Dieses Urteil wird nicht von allen als zwingend angesehen. Freilich stellt sich bei der Gewinnung von Pelzbekleidung die Frage nach dem rechtfertigenden Grund für das Töten von Tieren mit besonderer Schärfe, so daß nicht ausgemacht ist, ob die radikale Position nicht eines Tages die herrschende sein wird. (41) Einstweilen bleiben hier wie im Falle der Schlachtung und der Tierversuche Auffassungsunterschiede bestehen. Doch lassen sich auch Übereinstimmungen namhaft machen: Die Pelzgewinnung darf nicht zur Ausrottung bedrohter Tierarten beitragen; diese Einsicht hat bereits zu staatlichen Export-/ Import-Begrenzungen und -Verboten und zu freiwilligen Selbstbeschränkungen der einschlägigen Berufsverbände geführt; jedoch lassen sich Umgehungs- und Täuschungsmanöver nicht ausschließen, so daß persönlicher Verzicht und Teilnahme an Boykottmaßnahmen wichtige individuelle Handlungsmöglichkeiten bleiben. Die Nutzung tierischer Felle (und Häute) ist nicht als solche problematisch; wo Tiere aus anderen Gründen getötet werden (oder sterben), kann gegen die Verwendung ihrer Felle (und Häute) nichts eingewendet werden. Solange Tiere speziell zur Pelzgewinnung gezüchtet werden, kann dies nur toleriert werden, wenn artgerechte Haltung und eine schonende Tötung gewährleistet sind, was bis jetzt in der Regel noch nicht der Fall ist. Es ist nicht einzusehen, warum Säugetiere, wenn sie wirtschaftlich genutzt werden, wesentlich schlechter untergebracht werden dürfen als bei der Gehegehaltung im Zoo. Die Verteuerung der Pelztierhaltung ist ein erwünschter Nebeneffekt. - 25 - 7. Delikatessen, Schmuck- und Modeartikel (42) Die Herstellung einiger sogenannter Delikatessen - wie z. B. Gänsestopfleber oder Froschschenkel - ist mit Tierquälerei verbunden. Die menschliche Freude an einem besonderen Gaumengenuß kann aber tierquälerische Handlungen niemals rechtfertigen. Die Nutzung tierischer Stoffe verliert auch dann ihre Legitimität, wenn ihre Gewinnung das Weiterbestehen der betreffenden Art gefährdet. Dies gilt z.B. für Elfenbein- und Krokodillederprodukte. Gerade die Elfenbeinschnitzerei hat eine bis weit in das Altertum zurückreichende Tradition. Doch hat der Gesichtspunkt des Tier- und Artenschutzes unbedingten Vorrang vor kulturgeschichtlichen Traditionen. 8. Tötung von Tieren als Freizeitbeschäftigung (43) Im Zusammenhang der Jagd ist bereits festgestellt worden: Jede Freizeitbeschäftigung, die mit dem Töten von Tieren einhergeht, setzt sich kritischen Rückfragen nach dem rechtfertigenden Grund für dieses Opfer tierischen Lebens aus. Ethisch ist die Aufgabe gestellt, den Wunsch nach Freizeitvergnügen auf eine andere Weise und mit anderen Aktivitäten zu befriedigen. Dies gilt auch für den Stierkampf oder das weitverbreitete Sportangeln. Daß Fische als kaltblütige Tiere schmerzunempfindlich seien, hat sich als höchst fragwürdige Annahme erwiesen. Daraus ergibt sich die Anfrage an die Sportangler, warum sie, anders als die Schützen, nur zu einem kleinen Teil den möglichen Weg der. Sublimierung, d.h. der Umorientierung ihrer, Aktivitäten gegangen sind; die große Mehrheit der Schützen schießt heute nicht mehr auf Lebewesen, sondern auf Papierscheiben oder Tontauben und trägt so auch ihre Wettkämpfe aus. 9. Heim- und Hobbytiere (44) Heim- und Hobbytiere können eine Chance sein, Mitgeschöpflichkeit, also die mit einem Tier verbindenden emotionalen Kräfte, aber auch die Verantwortung für sein Wohlbefinden, konkret zu erleben. Häufiger Anlaß, ein Tier im Haus oder in die - 26 - Familie aufzunehmen, ist das Drängen der Kinder. Gerade Kinder können an einem Tier innerhalb der Familie Freude an der und Verantwortung für die Schöpfung elementar erfahren. Aber die Eltern müssen bereit sein, die Folgen auf sich zu nehmen und einzuspringen, wenn ein Kind Fehler macht oder überfordert ist. Auch alte Menschen sollten Vorsorge für den Fall treffen, daß sie selbst nicht mehr in der Lage sind, ihr Tier zu betreuen. Verwerflich ist es, Tiere in der Urlaubszeit „freizulassen“, d.h. einfach auszusetzen und einem oft schrecklichen Schicksal auszuliefern. Auch ohne böse Absicht können Tiere mißhandelt werden, wenn sie etwa artwidrig gehalten, die meiste Zeit allein gelassen oder falsch gefüttert werden. 10. Tierhandel (45) Die Zahl der Heim- und Hobbytiere ist immer noch im Wachsen. Zählt man nur Hunde und Katzen, so liegt Frankreich mit 300 pro 1000 Einwohnern an der Spitze, die alte Bundesrepublik Deutschland mit 103 eher im Mittelfeld der europäischen Länder. Die Liebe zum Tier ist längst kommerzialisiert und als Wachstumsbranche erkannt worden, und zwar nicht nur beim Tierhandel selbst, sondern ebenso in den Zulieferbranchen für Tiernahrung, Käfige, Körbchen, Aquarien, Terrarien, Spielzeug, Dressurgerät, Reinigung, Kosmetik oder Literatur. Besondere Aufmerksamkeit erfordern die Umstände beim Transport der für den Handel bestimmten Tiere und die oft fragwürdigen, gelegentlich kriminellen Importpraktiken. Häufigere Kontrollen und spürbarere Sanktionen sollten dafür sorgen, daß die geltenden Bestimmungen in stärkerem Maße eingehalten werden. 11. Zoo- und Zirkustiere (46) Die Haltung von Tieren im Zoo und ihre Dressur oder ihre Verwendung im Zirkus sind immer noch umstritten. Dabei muß durchaus anerkannt werden, daß die Einrichtung von Zoos den Zielen des Tier- und Artenschutzes insgesamt dienlich sein kann und daß eine Entwicklung zum Besseren - etwa von den höfischen Menagerien zu den weitläufigen, auf artgerechte Haltung ausgerichteten Tierparks - stattgefunden hat. Aber es gibt weiter - 27 - hin artwidrige und insofern tierquälerische Haltung und Dressur: In der Absicht, möglichst viele Tiere zu zeigen, werden diese dann im Zoo auf zu engem Raum und unter Bedingungen gehalten, die den Tieren nicht ausreichend Bewegungs-, Kontakt- und Rückzugsmöglichkeiten bieten. Für Besucher ist wesentlich, die Tiere nicht zu reizen, nicht in Gefahr zu bringen und die Fütterungsvorschriften nicht zu mißachten. Im Zirkus ist die Unterbringung der Tiere in der Regel schlechter als im Zoo; aber sie stumpfen nicht ab, wenn einfühlsame Pfleger und Tierlehrer mit ihnen umgehen. 12. Wildtiere (47) Für Tiere, die außerhalb der Obhut von Menschen leben, haben diese keine unmittelbare aktive Sorgepflicht. Aber die menschliche Zivilisation hat Auswirkungen auf das Leben der Wildtiere. In dieser Hinsicht bestehen sehr wohl Pflichten der Menschen: Sie haben alles zu meiden, was die Lebensräume und Lebensmöglichkeiten der Wildtiere zerstört oder beschädigt und die Artenvielfalt bedroht; sie haben darüber hinaus aktiv dazu beizutragen, daß die Lebensräume und Lebensmöglichkeiten der Wildtiere bewahrt und - wo nötig wiederhergestellt werden und die Artenvielfalt erhalten bleibt. Insofern ist Tierschutz Teil des Arten- und Biotopschutzes. In dieser Beziehung kommt es zu ständigen Konflikten zwischen den Belangen des Tierschutzes und Nutzungsinteressen der Menschen. Das zeigt sich etwa schon daran, daß viele Freizeitaktivitäten - z.B. Surfen, Skifahren, Reiten, vor allem aber die an die Motorisierung geknüpften Betätigungen - die Lebensräume von Wildtieren in Anspruch nehmen und ihr Leben durch Unruhe, Lärm und Müll beeinträchtigen. Auch die Intensivierung der Flächennutzung und Verkehrswegeprojekte greifen massiv in die natürlichen Lebensräume ein. Hier sind komplexe Abwägungen erforderlich, für die angemessene Bewertungsmaßstäbe und auch nur ein befriedigendes Verfahren (z.B. unter Einschluß der Verbandsklage) bis heute nicht gefunden sind. (48) Eine eigene Kategorie bilden verwilderte Tiere wie z. B. Stadttauben oder streunende Katzen. Schon der Verzicht auf gedankenlose Fütterung trägt dazu bei, die Bestände zu verklei- - 28 - nern. Übergroße Bestände müssen auf jeden Fall reduziert werden. Aber auch hier gilt die Pflicht, jede Grausamkeit zu vermeiden. V. Aufgaben von Kirche und Politik (49) Verbesserungen beim Schutz der Tiere sind im wesentlichen in die konkrete Verantwortung derer gestellt, die mit Tieren umgehen und sie und ihre Produkte nutzen. Diese persönliche Verantwortung kann nicht an die strukturelle oder institutionelle Ebene abgegeben werden. Gleichwohl können auch Kirche und Politik hier auf ihre Weise zu einer stärkeren Achtung der Tiere als Mitgeschöpfe beitragen. (50) Zum Auftrag der Kirche gehört es, >den Mund aufzutun für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind< (Spr 31,8). Zu diesen gehören auch die Tiere. (51) In Unterricht und Gottesdienst hat die Kirche wichtige Möglichkeiten, in den Kindern, den Heranwachsenden und den Erwachsenen die Liebe zur Schöpfung zu wecken und den Grund für ein sorgfältiges, barmherziges, humanes Umgehen mit allen Geschöpfen zu legen. In gottesdienstlichen Texten spielen Tiere vorläufig eine bescheidene Rolle. Beispiele bieten im Gesangbuch vornehmlich einige Lieder zum Lob des Schöpfers (z. B. EKG 197,3; 232,6; 370,1; 371); die Verantwortung für Wohlergehen und Wohlbefinden der Mitgeschöpfe kommt im jetzigen Gesangbuch überhaupt nicht vor. Es wäre freilich unbillig, von Texten vergangener Jahrhunderte zu erwarten, daß sie bereits die Probleme der Gegenwart widerspiegeln und aufnehmen. Die Gebete der Kirche sind, wenn es um Klage, Bitte und Fürbitte geht, weitgehend schöpfungs- und insbesondere tiervergessen; dabei könnte sich die gottesdienstliche Gemeinde durch die Einbeziehung der Mitgeschöpfe in die sonntägliche Fürbitte gerade Rechenschaft darüber geben, was die Bitte des Vaterunser „Dein Reich komme“ für die ganze Kreatur bedeutet; kleine Anfänge finden sich seit 1986 in dem jedes Jahr von der Evangelischen Kirche in Deutschland und dem Bund der Evangelischen Kirchen (in der ehemaligen DDR) herausgegebenen Formular für einen - 29 - „Bittgottesdienst für den Frieden in der Welt“ (z.B. 1989: Wir „bitten für die ganze Schöpfung: Du hast sie wunderbar gemacht. Schärfe unsere Sinne, das Wunder des Lebens in Demut und Dankbarkeit zu erkennen, störe uns auf, daß wir das Seufzen und Stöhnen um uns her nicht überhören. Fördere alle Anstrengungen, die Gewalt gegen unsere Mitgeschöpfe zu vermindern“). (52) Überall, wo die Kirche mit ihren Einrichtungen, Häusern und Mitarbeitern in die Öffentlichkeit hineinwirkt, hat sie - ob sie will oder nicht - eine Vorbildfunktion. Diese Funktion ist auch im Blick auf einen schöpfungsverträglichen Lebensstil ernstzunehmen; so hat beispielsweise eine Reihe von Evangelischen Akademien in ihren Speiseplänen das Fleischangebot deutlich eingeschränkt. Soweit in kirchlichen Anstalten landwirtschaftliche Betriebseinheiten bestehen, müssen Aufzucht und Haltung der Tiere artgerecht erfolgen und von liebender Sorge geprägt sein. (53) In die kirchlichen Umweltbeiräte auf den verschiedenen Ebenen sollten, wo immer dies persönlich möglich ist, auch Fachleute für Tierschutzfragen berufen werden. (54) Auf der politischen Ebene ist die Forderung noch uneingelöst, den Umweltschutz und damit auch den Tierschutz im Grundgesetz zu verankern. Die Formulierung muß so gefaßt werden, daß die Nötigung, bei jeder Entscheidung zum Umweltschutz abzuwägen zwischen dem Nutzungsinteresse der Menschen und dem Eigenwert des betroffenen nichtmenschlichen Lebens, verstärkt wird. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat vorgeschlagen, ein Staatsziel Umweltschutz im Grundgesetz folgendermaßen zu formulieren: „In Verantwortung für die Schöpfung schützt der Staat die natürlichen Grundlagen des Lebens.“ (55) Die Tierschutzgesetzgebung bedarf der Weiterentwicklung. Einzelne Hinweise wurden in Teil IV gegeben. Der Tierschutz hängt aber nicht nur von geeigneten Vorschriften ab; die gegenwärtigen Mängel betreffen auch den Gesetzesvollzug. (56) Nach dem Vorbild des Bundeslandes Hessen sollten auch in den anderen Ländern staatliche Tierschutzbeauftragte bestellt - 30 - werden, die als Anwälte der stummen und unmündigen Kreatur auftreten. (57) Von wachsender Bedeutung für den Tierschutz wird die Entwicklung übernationalen Rechts in der EG sein. Dabei muß verstärkt darauf geachtet werden, daß neben der Förderung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auch die Belange des Tierschutzes beachtet werden. Die Kirchen haben bisher auf EG-, gesamteuropäischer und globaler Ebene noch keine wirkungsvollen Instrumente geschaffen, um ihre Einsichten und Anregungen zu einer Verantwortung für die Tiere als Mitgeschöpfe in die politische Willensbildung einzubringen. VI. Schluß (58) Nicht ohne Grund ist gesagt worden: „Wie die Hausfrau, die die Stube gescheuert hat, Sorge trägt, daß die Türe zu ist, damit ja der Hund nicht hereinkomme und das getane Werk durch die Spuren seiner Pfoten entstelle, also wachen die europäischen Denker darüber, daß ihnen keine Tiere in der Ethik herumlaufen ... Entweder lassen sie das Mitgefühl gegen die Tiere ganz weg, oder sie sorgen dafür, daß es zu einem nichtssagenden Rest zusammenschrumpft“ (Albert Schweitzer). Doch hat es in der außerchristlichen wie der christlichen Welt genug Denker und Dichter gegeben, die in den zurückliegenden Jahrzehnten und Jahrhunderten für die leidende Kreatur ihre Stimme erhoben haben. Sie mahnen die Verantwortung an, die wir den Tieren als unseren Mitgeschöpfen schulden. Was diese Stimmen in großer Klarheit und Treffsicherheit ausgesprochen haben, ist noch lange nicht eingeholt: Es „ist alle Willkürlichkeit in der Art, die Natur zu behandeln, alles unnütze Verderben, alles muthwillige Zerstören von Übel und verwerflich. Mit Einem Worte können wir sagen: Der Mensch muß die Natur mit Humanität behandeln, das heißt in der Weise, welche mit der eigenen Würde des Menschen, das heißt mit der Würde der menschlichen Natur übereinstimmt. Alsdann wird er auch die einzelnen Naturerzeugnisse, jede der Creaturen - 31 - ihrer natürlichen Beschaffenheit und der vom Schöpfer ihr gegebenen Bestimmung gemäß behandeln, und, während er die Natur als Mittel für seine Zwecke behandelt, sich zugleich erinnern, daß alles Leben auch Zweck an sich selber ist. Als Gottes Ebenbild auf Erden soll Mensch nicht allein die Gerechtigkeit Gottes abspiegeln, welche im ganzen Umfange der Schöpfung Gesetz und Ordnung, Maß und Grenze aufrechterhält, sondern auch die Güte Gottes, welcher `Allen gütig ist und sich aller seiner Werke erbarmet' (Psalm 145,9). Denn Gott hat kein Gefallen an dem Tode und Untergange Dessen, was da lebt, sondern gönnet von Herzen jedem der lebenden Wesen das kurze Leben, die kurze Freude und Erquickung, für welche es empfänglich ist, und das mitten unter allem diesem Sterben und Vergehen, unter aller dieser gegenseitigen Quälerei und Zerstörung, welcher die Natur unterworfen ist - einem Fluche, der nicht eher kann hinweggenommen werden, als nachdem das Reich Gottes vollendet und die herrliche Freiheit der Kinder Gottes geoffenbart sein wird“ (Hans Lassen Martensen 1854). - 32 - Anhang: Auszüge aus kirchlichen Erklärungen I. Zukunft der Schöpfung - Zukunft der Menschheit. Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zu Fragen der Umwelt und der Energieversorgung, Hirtenschreiben der deutschen Bischöfe 28, Bonn 1980 ...... (II2) Der Mensch ist nicht das einzige Geschöpf. Gott wollte, daß es nicht nur den Menschen gibt, das Wesen, zu dem er Du sagt und das Du sagen kann zu ihm. Er hat auch Lebewesen und Dinge geschaffen, die nicht sprechen, nicht mit Bewußtsein und Willen Gott verherrlichen können. Dinge, die einfach da sind. Der Mensch braucht sie. Aber sind sie nur dazu da, daß der Mensch sie braucht? Ist das, was wir nie brauchen werden, sinnlos? „Braucht“ der Mensch nicht auch die Erfahrung, daß es das Unerreichbare, Geheimnisvolle gibt, jenes, das vordergründig keinen bestimmten Zweck erfüllt, sondern einfach da ist? Wir sind in Gefahr, auch den Menschen nur noch nach dem zu bewerten, wozu er brauchbar ist. Wenn aber der Mensch nur nach Nützlichkeit und Brauchbarkeit beurteilt wird, ist es mit seiner Menschlichkeit zu Ende. Der Mensch ist mehr als das, wozu er dienlich ist. Und doch ist er auch verpflichtet, den anderen, dem Ganzen zu dienen. Machen wir nicht eine ähnliche Erfahrung mit der nichtmenschlichen Schöpfung auf Erden? Sie ist da, damit wir sie brauchen. Aber sie ist mehr noch da, um einfach da zu sein. Beides schließt einander nicht aus. Wo wir aber die Dinge nicht mehr sie selber sein lassen, sondern wo sie uns nur noch Werkzeug, Rohstoff, Material, Energiequelle sind, da nehmen wir uns selbst die Welt. Und so werden wir neu zu Sklaven dessen, wovon wir uns befreien wollten: unserer Abhängigkeit von der Schöpfung. Für den Menschen gilt der Vorrang des Seins vor dem Haben. Bei der nichtmenschlichen Schöpfung könnte man von einem Vorrang des Seins vor dem Nützlichsein sprechen. (II3) ... Die biblischen Religionen, Judentum und Christentum, entzaubern durch den Schöpfungsglauben eine Natur, die als unbezähmbare Übermacht den Menschen bannt, ängstigt, fasziniert. Der Mensch wird freigesetzt zu einem nüchternen, wir dürfen sagen rationalen Umgang mit den Dingen. Aber rationaler Umgang ist nicht Beliebigkeit, erst recht nicht Zerstörung. Was der Mensch zerstört, kann er nicht beherrschen, als Gottes Ebenbild hat er Maß zu nehmen am Urbild; dann aber heißt Beherrschen liebende Sorge, hegendes Wahren. Im biblischen Verständnis schließt das Beherrschen die Verantwortung für die Beherrschten mit ein. Dies gilt auch und gerade für das Verhältnis des Menschen zu seinen Mitgeschöpfen (vgl. Ps 8) ... ...... (III2) Frohe Botschaft von der Schöpfung, Spiritualität christlichen Weltverhaltens - das verlangt von uns, die Grundverhältnisse der Schöpfungsordnung anzunehmen. Daraus ergibt sich nicht unmittelbar ein energie- und umweltpolitisches Konzept. Es wäre zudem nicht Sache der Bischöfe, ein solches zu erstellen. Wohl aber ist es notwendig, einige wichtige Konsequenzen zur Sprache zu bringen, an denen Politik, Wirtschaft, Technik nicht vorbeiplanen dürfen. - 33 - Wir sind verpflichtet, den Grundbestand der Schöpfung in seinem ganzen Reichtum zu wahren. Sicher ist der Mensch darauf angewiesen und dazu berechtigt, von den Vorräten dieser Erde, auch von den Pflanzen und Tieren, zu leben. Im Unterschied zum Menschen als Personwesen haben Pflanzen und Tiere kein unantastbares individuelles Lebensrecht. Wohl aber gehört die Vielfalt der Arten in Pflanzen- und Tierwelt zu jenem Grundbestand der Schöpfung, den der Mensch als Beherrscher und Gestalter dieser Welt zu hüten hat. Dabei geht es nicht bloß um das Belassen von Einzelexemplaren, also um etwas wie eine Arche Noach, in welcher der Mensch einen Rest von Schöpfung gegen eine von ihm selbst veranstaltete Sintflut schützte. Nein, die pflanzlichen und tierischen Arten brauchen Lebensraum, in dem sie sich entfalten. Das Lebendige soll leben können, nicht nur um der Nützlichkeit für den Menschen willen, sondern um der Fülle, um der Schönheit der Schöpfung willen, einfach um zu leben und dazusein. Natur ist von Natur aus immer verschwenderisch. Wer nur nach Gesichtspunkten der Nützlichkeit fragt, verstößt ungeahnt und ungewollt oft genug auch gegen die der Nützlichkeit. - Wir Menschen sind berechtigt, Leistungen und Leben der Tiere in Anspruch zu nehmen. Es ist jedoch nicht zu verantworten, daß Tiere, die fühlende Wesen sind, ohne ernste Gründe, etwa bloß zum Vergnügen oder zur Herstellung von Luxusprodukten, gequält und getötet werden. ...... II. Landwirtschaft im Spannungsfeld zwischen Wachsen und Weichen, Ökologie und Ökonomie, Hunger und Überfluß. Eine Denkschrift der Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland für soziale Ordnung, Gütersloh 1984 ...... (78) ... Wenn die Kirche die Barmherzigkeit Gottes verkündet, gilt diese dann nicht auch den uns anvertrauten Tieren? Müßte ein solches christliches Verständnis nicht auch die Konsequenz haben, daß das Tier nicht nur in seiner bloßen Verwertbarkeit und Nützlichkeit gesehen wird? „Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs“ (Sprüche 12,10). Sensibilität für tierisches Leid ist in der Kirche, von wenigen abgesehen, nicht aufgebracht worden. Es ist kein Zufall, daß wir heute auf Stimmen wie Franz von Assisi hören. Ebenso schenken wir dem ethischen Grundsatz Albert Schweitzers neue Beachtung: „Ich bin Leben, das leben will inmitten von Leben, das leben will.“ In Schweitzers Ehrfurcht vor dem Leben wird Leben immer als Wettstreit konkurrierender Konfliktpartner gedacht. Alle Kreatur gehört mit den Menschen in Solidarität zusammen. ...... (87) Die Artenvielfalt läßt sich auf Dauer nicht erhalten, wenn für Tiere und Pflanzen nur einige Rückzugsgebiete übrig bleiben, in denen wirtschaftliche Nutzung derzeit gerade nicht interessant ist. Es gibt immer mehr ermutigende Beispiele für wirksamen Naturschutz durch Initiative von Einzelpersonen und Gruppen. Aber das reicht noch nicht aus. So ist die Schaffung und Erhaltung von Feldrainen mit nur geringem materiellen Aufwand verbunden. Für den Schutz - 34 - von Pflanzen und Tieren sind sie dann von großem Nutzen, wenn sie mit den angrenzenden Feldern und Flächen verzahnt und nicht isoliert sind. Durch Anlage oder Schonung von Hecken und Feldgehölzen, durch Schonung besonders wertvoller Lebensräume wie Feuchtund Magerwiesen (Verzicht auf Trockenlegung bzw. Aufdüngung) kann jeder landwirtschaftliche Betrieb einen Beitrag zum Umweltschutz leisten. Beachtung müssen in diesem Zusammenhang auch Flächen erfahren, die sich an Waldrändern als Übergangszonen zu Feldern erstrecken. ...... (89) In keinem anderen Bereich der Landwirtschaft ist die Produktion so durchgreifend umgestellt worden wie in der Nutztierhaltung. Der Zwang, immer preiswerter und zugleich nachfragegerecht zu erzeugen, um wettbewerbsfähig zu bleiben, und der Wunsch, an der allgemeinen Einkommensentwicklung teilzuhaben, führte zu neuartigen Produktionssystemen, die eine Tierhaltung in großen Beständen (Intensivtierhaltung) rationell ermöglichen. Diese wurden durch Fortschritte in der Züchtung und in der Haltungshygiene, durch neue Stallformen und Fütterungsmethoden bei Einsatz von Zusatzstoffen erreicht. Die modernen Produktionsmöglichkeiten haben dazu beigetragen, daß dem Verbraucher heute preiswerte tierische Erzeugnisse in großem Ausmaß bei in der Regel guter Qualität angeboten werden. Auch schwere Arbeit in den Ställen konnte erleichtert und Verbesserungen bei der Hygiene ermöglicht werden. Gleichwohl werden heute teilweise bedenkliche Folgewirkungen sichtbar, auch wenn in der Bundesrepublik Deutschland - mit Ausnahme der Hühnerhaltung die Tierhaltung heute noch durch bäuerliche Bestandsgrößen geprägt ist (13,6 % der Milchkühe stehen in Beständen ab 40 Tieren und 23,5 % der Mastschweine in Beständen ab 400 Tieren). (90) Moderne Produktionssysteme erfordern vielseitig ausgebildete Fachleute, benötigen aber gleichzeitig auch weniger Arbeitskräfte. Sie begünstigen die Produktion in größeren Einheiten bei hohem Kapitaleinsatz. Moderne Produktionssysteme aber schaffen für das Tier oft eine künstliche Umwelt. Dadurch kann es einem ständigen Streß unterworfen sein, welcher u.U. wiederum mit weiteren Maßnahmen aufgefangen werden muß. Dadurch werden dann Negativfolgen artwidriger Haltung verdeckt. Große Tierbestände sind mit hohen Risiken behaftet und bedürfen einer regelmäßigen Beobachtung durch Tierärzte. Rückstandsuntersuchungen von tierischen Produkten in größerem Umfang sind notwendig geworden. (91) Moderne Systeme der Tierhaltung begünstigen Großbetriebe. Von ihnen geht ein zunehmender Konkurrenzdruck auf Betriebe mit kleinen und mittleren Beständen aus. Bei der Entwicklung von Großbeständen stand die Rationalisierung im Vordergrund und nicht in erster Linie das ganzheitliche Wohlbefinden des Tieres. Dabei ist weiter problematisch, daß der Kontakt zwischen Betreuer und Tier im Vergleich zur bäuerlichen Tierhaltung nicht mehr so intensiv ist. Die Rückführung der großen Mengen anfallender Exkremente in den Naturkreislauf ist bei mangelnder Lagerkapazität und/oder begrenzter landwirtschaftlicher Nutzfläche fragwürdig; Boden und Grundwasser sind gefährdet, insbesondere wenn regional eine Spezialisierung auf bestimmte Tierarten stattgefunden hat. - 35 - (92) Die Landwirtschaft im Voll-, Zu- und Nebenerwerb ist so zu fördern, daß die aufgezeigten unerwünschten Entwicklungen in der Tierhaltung gestoppt und, wo notwendig, rückgängig gemacht werden. Die landwirtschaftliche Tierhaltung ist durch Einführung entsprechender Abgaben, die ethisch, ökologisch und volkswirtschaftlich begründbar sind, auf Bestandsgrößen und Haltungssysteme einzuschränken, die eine artgemäße Betreuung und damit einen verantwortungsvollen Umgang mit den Nutztieren erlauben. Betriebe mit Tierbeständen, die flächenunabhängig gehalten werden, sollten gegenüber anderen stärker durch Abgaben belastet werden. Außerdem ist verstärkt dafür zu sorgen, daß von diesen Betrieben keine Gefahr für die Umwelt z.B. durch mangelhafte Beseitigung der tierischen Exkremente ausgehen kann. Der Markt für Arzneimittel und Futterzusätze muß weiterhin streng überwacht werden. Die Rahmenbedingungen sollten einen verminderten Verbrauch dieser Mittel ermöglichen. Durch intensive Schulung und Beratung der Tierhalter sowie durch ausreichende Überwachung ist die Qualität tierischer Erzeugnisse (Lebensmittel) zu sichern und zu verbessern. ...... (147) ... Bei der Durchsetzung seiner Lebensinteressen sollte der Mensch immer auch die Lebensinteressen der anderen Kreatur angemessen berücksichtigen und Leid so weit wie möglich verringern. Wenn aus ethischen Gründen auf kostengünstigste Ausnutzung technischer Möglichkeiten verzichtet werden muß, ist dafür zu sorgen, daß auch die anderen Länder in der EG ähnliche Regelungen und Gesetze einführen und durchsetzen. Die Einsicht, daß eine Veränderung nur durch ein gemeinsames Vorgehen aller EG-Länder herbeigeführt werden kann, darf in unserem Lande nicht als Alibi dienen, abzuwarten und notwendige Schritte hinauszuzögern. Notwendig ist deshalb: - die EG-weite Einschränkung der landwirtschaftlichen Tierhaltung durch Einführung entsprechender Abgaben, die ethisch, ökologisch und volkswirtschaftlich begründet sind, auf Bestandsgrößen und Haltungssysteme, die eine artgemäße Betreuung und damit verantwortlichen Umgang mit den Nutztieren gewährleisten; - die Verhinderung regionaler Schwerpunktbildungen der intensiven Tierhaltung dann, wenn dies zu unzumutbaren Belastungen führt; - die Einschränkung von Massentierhaltungen ohne eigene Futterversorgung durch entsprechende Änderungen in der Agrarförderung, durch steuerliche Maßnahmen und durch Änderungen in Umweltschutzgesetzen von Bund und Ländern; - eine wirksame Einschränkung der gewerblichen Tierhaltung durch gesetzliche Maßnahmen und durch die gemeinsame Bereitschaft des bäuerlichen Berufsstandes. ...... - 36 - III. Verantwortung wahrnehmen für die Schöpfung. Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz, Gütersloh 1985 ...... (34) Nicht allein menschliches, sondern auch tierisches und pflanzliches Leben sowie die unbelebte Natur verdienen Wertschätzung, Achtung und Schutz. Die Ehrfurcht vor dem Leben setzt voraus, daß Leben ein Wert ist und daß es darum eine sittliche Aufgabe ist, diesen Wert zu erhalten. Das Leben ist dem Menschen vorgegeben; es ist seine Aufgabe, dieses Leben zu achten und zu bewahren. Es obliegt seiner Verantwortung, Sorge für seine Umwelt zu tragen. Dies erfordert Rücksicht, Selbstbegrenzung und Selbstkontrolle. Der Maßstab „Ehrfurcht vor dem Leben“ enthält ein Moment unbedingter Beanspruchung und Verpflichtung, ein Schaudern vor den Folgen des Gebrauchs der Macht, das den Menschen zurückhalten soll, diese Macht zur Selbstvernichtung zu mißbrauchen. Die Ehrfurcht vor der Bestimmung des Menschen und das Schaudern und Zurückschrecken vor dem, was aus dem Menschen und seiner Umwelt werden könnte und was uns als denkbare Möglichkeit der Zukunft vor Augen steht, enthüllt uns das Leben als etwas „Heiliges“, das zu achten und vor Verletzungen zu schützen ist. (35) Die Ehrfurcht vor dem Leben bewirkt auch eine Scheu vor dem rein nutzenden Gebrauch, eine Haltung der Beachtung und Schonung. So gesehen schließt sie eine „Ehrfurcht vor dem Gegebenen“ mit ein, sie weckt Wertebewußtsein und Schadenseinsicht. Diese Ehrfurcht vermittelt auch Einsicht in gegebene Grenzen, Einsicht in die Endlichkeit und Vergänglichkeit, vor allen Dingen Einsicht in die Verletzlichkeit der Schöpfung und Mitkreatur. Ehrfurcht vor dem Leben bezieht sich nicht nur auf menschliches, tierisches und pflanzliches Leben, sondern im weiteren Sinne auf die „unbelebte“ Natur mit ihren Lebenselementen (Wasser, Boden, Luft) und ihren funktionalen Kreisläufen als Lebensraum. Sie sind nicht als tote Gebrauchsgegenstände zu verstehen, sondern als Teil der Lebensbedingungen des Menschen und seiner Mitkreatur. Wir Menschen müssen uns, um mit Sokrates zu sprechen, auf die Kunst des Hirten verstehen, dem am Wohl der Schafe gelegen ist, dürfen sie also nicht bloß unter dem Blickwinkel des Metzgers betrachten. (48) Innerhalb der Schöpfungsordnung kommt dem Menschen in Unterscheidung von den Mitgeschöpfen eine Sonderstellung zu. „Macht euch die Erde untertan und herrscht über alle Tiere!“, so läßt sich der göttliche Weltauftrag in knapper Form wiedergeben. Die beiden Schlüsselworte „unter-machen/unterwerfen“ und „herrschen“ müssen weit behutsamer gedeutet werden, als dies vielfach geschah. Sie dürfen nicht im Sinne von „Unterdrückung“ und „Ausbeutung“ verstanden werden. (51) Das Herrschen des Menschen über die Tierwelt hebt sich von der Unterwerfung des Bodens nach biblischem Sprachgebrauch deutlich ab. Es erinnert an das Walten eines Hirten gegenüber seiner Herde (Ezechiel 34,4; Psalm 49,15). Gott legt dem Menschen das Leiten und Hegen der Tiergattungen auf (Genesis 1,26.28). Der Mensch soll Übergriffen einer Tierart auf die andere wehren, um - 37 - auch auf diese Weise die Tiere vor ihren Feinden zu schützen. Wie wenig aber die Tiere menschlicher Willkür freigegeben werden, sieht man auch daran, daß der erste Schöpfungsbericht Mensch und Tier nur vegetarische Nahrung zuweist. Auch die Nahrungszuweisung für die Tiere wird in den Segen, der über den Menschen ergeht, eingeschlossen (Genesis 1,29f), seiner Fürsorge unterstellt. Der Herrschaftsauftrag des Menschen und seine sachgemäße Ausübung stehen und fallen mit der Gottebenbildlichkeit. Sie gilt dem Menschen innerhalb und außerhalb des Gottesvolkes; sie ist unabhängig von Geschlechtszugehörigkeit, Rassen und Klassen. Nur wenn und solange der Mensch in seiner einzigartigen, unmittelbaren Gottesbeziehung lebt - genau dies ist mit Gottesebenbildlichkeit gemeint- und wenn er nach der Weise Gottes, als Beauftragter Gottes eine Herrschaft ausübt, entspricht dies dem Willen Gottes. ...... (56) Die von Gott gewollte Erhaltungsordnung nach der Sintflut schränkt das hinfort zugestandene Nutzen, Ausbeuten und Töten tierischer Wesen durch den Menschen mit einem gewichtigen rituellen Vorbehalt ein: „Allein esset das Fleisch nicht mit seinem Blut, in dem sein Leben ist!“ (Genesis 9,4) Dem alttestamentlichen Menschen gilt das Bluttabu als das Zeichen eines letzten Respekts vor der Verfügungsgewalt Gottes über die Tiere. Grundsätzlich ist dadurch das Tier mehr als eine Sache. Dem Tier eignet durch das von Gott gegebene Leben ein Eigenwert vor Gott, den der Mensch zu respektieren hat. (57) Der eigene Rang tierischen Daseins macht erst begreiflich, daß im alttestamentlichen Sühneritual u.U. tierisches Leben stellvertretend für das menschliche vor Gott in den Tod geschickt werden kann (Levitikus 17,11). Hieran wird zugleich erkennbar, daß es eine Rangordnung des Lebens gibt, die das menschliche Dasein über jedes tierische stellt. (58) Daraus ergibt sich selbstverständlich, daß das Verhältnis des Menschen zum Tier ethisch zu bestimmen ist: „Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs, aber das Herz der Gottlosen ist grausam“ (Sprichwörter 12,10). Das alttestamentliche Gesetz stellt deshalb auch das Verhältnis zu Tieren und Pflanzen unter gewisse göttliche Sanktionen (Levitikus 19,19.23; Deuteronomium 22,6f u.ö.). Tierquälerei ist für die biblischen Autoren ein religiöses Vergehen. Zwischen dem Eigentümer und seinem Tier waltet eine Art Gemeinschaftsbezug. Das Tier ist mehr als nur ein Objekt zur Verwertung seines Fleisches, sein Wert geht über die bloße Nützlichkeit seiner Leistung hinaus. Die christliche Ethik wird sich nicht auf menschliches Leben allein beziehen können, sondern muß tierisches und pflanzliches Leben, ja auch die leblose Natur mit einbeziehen. ...... (94) Entschiedener und umsichtiger als bisher müssen Christen und Kirchen ihren eigenen Beitrag zur Erhaltung und Verbesserung der Lebensbedingungen in unserem Land und unserer Welt leisten. Bürger, Wissenschaftler und Techniker, Unternehmer und Politiker erwarten zu Recht, daß die Kirchen sie in ihren Anstrengungen um die Sicherung unserer Zukunft nicht allein lassen. Unter Berufung auf ihre Verantwortung für das individuelle, jenseitige Heil dürfen sie - 38 - sich nicht aus ihrer Verantwortung für die Gestaltung dieser Welt heraushalten. Von ihrem Selbstverständnis her haben die Kirchen einen vierfachen Beitrag einzubringen: das Licht der Wahrheit, die Kraft zur sittlichen Entscheidung, den Dienst der Versöhnung zwischen den widerstreitenden Positionen und Interessen und die Hoffnung ... (95) Der Glaube an Gott, den Schöpfer, Erlöser und Vollender der Welt, prägt das Denken und Verhalten des Menschen tiefgreifend und nachhaltig. Gerade die harte Kritik an den Kirchen, sie hätten das Licht der Wahrheit von der Schöpfung sträflich unter den Scheffel gestellt oder sie hätten das Irrlicht der selbstherrlichen Ausbeutung der Welt in der Geschichte entzündet, bestätigt indirekt doch die Macht, die man der geistlich-geistigen Orientierung bzw. Desorientierung zuschreibt. Die entscheidende Antwort auf diese teilweise nicht ganz unberechtigte Kritik kann nur lauten: Die Kirchen müssen ihre Lehre vom Menschen als Ebenbild Gottes und von der Welt als Schöpfung Gottes klarer und verständlicher formulieren, ihr Gehör verschaffen und die sittliche Verantwortung, die der Glaube verlangt und freisetzt, auch über den Kreis der Gläubigen hinaus plausibel und einladend verkündigen. In Predigt und Unterricht, in Lied und Gebet sollte der erste Glaubensartikel dazu anleiten, der Natur staunend in Dank und Lob des Schöpfers gegenüberzutreten und so ein Naturverhalten einzuüben, das über zweckrationales Nützlichkeitsdenken grundsätzlich hinausgeht. Zumal in unserem Lande stehen den Kirchen hierfür Einrichtungen zur Verfügung, die es zu nutzen gilt: Gottesdienst und Predigt, Gemeindekatechese und .Erwachsenenbildung, theologische Fakultäten und Akademien, Kirchentage und wissenschaftliche Kongresse. Nicht nur die öffentliche Breitenwirkung, auch der sachkundige Dialog mit Wissenschaftlern und Entscheidungsträgern in Wirtschaft und Politik sind Ziele, wofür die Kirchen alle verfügbaren Kräfte mobilisieren müssen. Wir Christen sollten uns angesichts der heute anstehenden Überlebensfragen von Menschheit und Welt und der bitteren Erfahrungen aus der Zeit des Dritten Reiches daran erinnern, daß auch verlegenes Schweigen und unschlüssiges Handeln schuldig machen können. ...... IV. Gottes Gaben - Unsere Aufgabe. Die Erklärung von Stuttgart. Forum „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin(West) e.V. (20. 22.Oktober 1988), EKD-Texte 27, Hannover 1989 ...... 4.Bewahrung der Schöpfung 4.1 Theologische Einleitung Gott hat die Welt geschaffen und bleibt in seiner Schöpfung gegenwärtig. Ihre Bewahrung ist allen Menschen von Gott aufgetragen (vgl. Gen 2,15). Wir Christen glauben, daß die gesamte Schöpfung von der Liebe Gottes getragen bleibt, die sich in Jesus Christus offenbart. - 39 - Christen aller Konfessionen bekennen den dreieinigen Gott als Schöpfer, Erhalter, Erlöser und Vollender der Welt. Sie preisen Gott als den Schöpfer des Himmels und der Erde: „Herr, wie zahlreich sind deine Werke! Mit Weisheit hast du sie alle gemacht, die Erde ist voll von deinen Geschöpfen“ (Ps 104,24). Von Jesus Christus bezeugt die Bibel: „Denn in ihm wurde alles geschaffen, im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen. Er ist vor aller Schöpfung, in ihm hat alles Bestand“ (Kol 1,16f). Alles Geschaffene ist vom Geist Gottes, dem Liebhaber des Lebens, durchwaltet und wird dadurch geheiligt. In Jesus Christus wurde Gott Mensch und nahm damit das Leiden der menschlichen und der außermenschlichen Schöpfung auf sich. Durch sein Kreuz und seine Auferstehung ist er den Weg zur Erlösung der gesamten Schöpfung gegangen. In seiner Nachfolge erwarten wir, vom Heiligen Geist geleitet, den neuen Himmel und die neue Erde, die uns als Vollendung der Welt verheißen sind. Gott hat den Menschen als Teil seiner Schöpfung erschaffen. Alle Mitgeschöpfe haben ihren eigenen Wert, der darin begründet liegt, daß sie von Gott gewollt sind. Die Ehrfurcht vor dem Leben verbietet es, Tier- und Pflanzenwelt vornehmlich unter dem Gesichtspunkt ihres Nutzens und der Verwertbarkeit für den Menschen zu sehen. Das gilt auch für die unbelebte Natur. Gott hat dem Menschen jedoch auch eine besondere Stellung in seiner Schöpfung vorbehalten: Er hat ihm den Auftrag gegeben, als sein Abbild Verantwortung für die Mitgeschöpfe wahrzunehmen. Es gehört zur Verantwortung für Gottes Schöpfung, menschliches Leben, sei es stark oder schwach, groß oder klein, jung oder alt, von Anfang bis Ende zu schützen. Es darf in all seinen Erscheinungsformen nicht ausgebeutet, verletzt oder gar zerstört werden. Zur Schöpfungsverantwortung gehört daher auch der Schutz des ungeborenen Lebens. Als schwächste Form menschlichen Lebens braucht es diese besondere Achtung seiner Würde. Unsere Schuld besteht darin, daß wir immer wieder aus egoistischen Motiven die uns gezogenen Grenzen verletzen und der Schöpfung nicht mehr behebbare Schäden zufügen. Die Natur ist vorwiegend zum Rohstofffür eine verschwenderische Produktion von Konsumgütern geworden. Die Schöpfung ist uns zur Gestaltung und zur Pflege anvertraut. Mit der Anmaßung grenzenloser Herrschaft über die Natur mißachten wir unseren Auftrag und erweisen uns so als Sünder. Zudem gefährden wir das ökologische Gleichgewicht und riskieren unsere Zukunft wie die der kommenden Generationen. Mit dieser Praxis tun wir der Schöpfung Gewalt an. Umkehr zu Gott ist daher notwendig. Begründet ist diese Umkehr in der tiefen Überzeugung, daß Gott Freude an seiner Schöpfung hat und sie liebt. Es gilt, die Dankbarkeit für das Geschenk der Schöpfung wiederzugewinnen und unsere tägliche Verantwortung für das Geschaffene so wahrzunehmen, daß wir in den Lobpreis der gesamten Schöpfung einstimmen können. Der Mensch darf die Früchte und Schätze der Erde dankbar nutzen. Aber gerade darin soll er Abbild Gottes sein, daß er wie Gott fürsorglich, liebevoll die Schöpfung hegt und pflegt. Das - 40 - aber heißt heute, viel größere Anstrengungen zu unternehmen, um die Gewalt gegen die Schöpfung zu vermindern. Zum Schutz der heiligen Gabe des Lebens müssen und können wir uns um ein neues Denken und um einen neuen Lebensstil bemühen. Auch wenn die endzeitliche Befreiung des Menschen, die Befriedung der Natur und die Erlösung von den Mächten des Bösen und des Todes noch ausstehen, so können schon jetzt Zeichen der neuen Schöpfung sichtbar werden. Unsere Hoffnung ist in Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi begründet. In Christus hat die Erlösung der Schöpfung begonnen. In dieser Hoffnung glauben wir an die Auferstehung. So können wir uns nicht mit der Todesherrschaft abfinden. „Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen. Neues ist geworden“ ( 2 Kor 5,17). Wer an das ewige Leben glaubt, setzt sich auch für die Vermehrung irdischer Lebensmöglichkeiten gegen alle zerstörerischen Tendenzen ein. Er braucht nicht zu resignieren und zu kapitulieren, sondern kann inmitten aller Zwänge nach Möglichkeiten des neuen Lebens Ausschau halten: im Verhältnis zu sich selbst, zu den Mitmenschen und den übrigen Mitgeschöpfen sowie im Umgang mit der ganzen Natur. Im Gottesdienst preisen wir Gott als Schöpfer. Wir lassen uns erinnern an unseren Ort in seiner Schöpfung inmitten der anderen Kreatur. Wir danken für die Gabe der Schöpfung und des Lebens. Wir erfahren und feiern die befreiende Wirkung von Gottes Wort und Sakrament. Gemeinsam lassen wir uns zu mutigem Handeln herausfordern. 4.2 Wahrnehmung der Verantwortung Wenn wir als Christen, und sei es auch nur bruchstück- und zeichenhaft, den verheißenen Frieden Gottes in dieser Schöpfung aufzeigen wollen, müssen wir umdenken. Ausgehend vom biblischen Schöpfungsauftrag gilt es, mit Hilfe der menschlichen Vernunft Maximen für das konkrete Handeln in der Welt zu entwickeln. Wir müssen ablassen von Machtphantasien über die Schöpfung und demütig die Grenzen unseres Handlungsspielraums und unsere eigene Begrenzung anerkennen. Wir müssen Abschied nehmen von dem Glauben an ein unbegrenztes Wachstum und an Fortschritt ohne Ende und uns am Maßstab des Lebens und dessen, was dem Leben dient, orientieren. Bei der Verwirklichung dieses Umdenkens sind wir häufig konfrontiert mit starken Interessenkonflikten. Oft stehen z.B. Wirtschaftlichkeit, Besitzstandswahrung und vermehrung, politisches Machtstreben und Sicherung von Arbeitsplätzen gegen die Bestrebungen der Umwelterhaltung; ökonomische Interessen beanspruchen im allgemeinen Vorrang vor ökologischen Interessen. ...... 4.35 Arten- und Tierschutz Eine wichtige Aufgabe der Bewahrung der Schöpfung ist der Artenschutz. Die Vielfalt der Schöpfung ist ein Abglanz der Herrlichkeit Gottes, und sie ist unbedingte Voraussetzung für die globale ökologische Stabilität. - 41 - Viele Tier- und Pflanzenarten sind durch zahlreiche Umweltbelastungen bedroht bzw. bereits verschwunden (Rote Listen). Veränderungen ihres Lebensraumes und Belastungen der Nahrungskette durch Schadstoffe sind Ursachen ihrer Bedrohung. Ein effektiver Schutz der bedrohten Tier- und Pflanzenarten ist deshalb nur möglich als Biotopschutz (Bereit- und Wiederherstellung von Lebensräumen), der auch gegen wirtschaftliche und militärische Interessen durchgesetzt werden muß. Biotopschutz kann sich nicht auf voneinander isolierte Flächen beschränken, vielmehr ist ein Austausch zwischen Biotopen notwendig. Folgende Ansatzpunkte für politische Entscheidungen sehen wir: - erhebliche Ausweitung der Naturschutz- und Landschaftsschutzfläche; - Renaturierung von Gewässern und Feuchtgebieten; - Schutz ökologisch wertvoller Gebiete vor Tourismus; - Förderung und Unterstützung einer ökologisch vertretbaren Landwirtschaft; - ökologisch vertretbare Flächenstillegungen in der Landwirtschaft; - bedarfsgerechte Düngung und rückstandsfreier Pflanzenschutz zur Vermeidung schädlicher Auswirkungen auf das Grundwasser und das Leben in Flüssen, Seen und Meeren. Eine umweltverträgliche Landwirtschaft darf nicht durch unterschiedliche Rahmenbedingungen in verschiedenen Ländern erschwert werden. Deshalb müssen die bestehenden Wettbewerbsverzerrungen abgebaut werden. Auch den klassischen Anliegen des Tierschutzes muß mehr Beachtung geschenkt werden. In der Alkohol-, Tabak- und Kosmetikproduktion müssen Tierversuche unterbleiben. In der medizinischen Forschung müssen Tierversuche eingeschränkt werden. Tierquälerei, aus welchen Motiven auch immer, muß stärker als bisher geächtet werden. Artgerechte Tierhaltung ist zu fördern. Nicht artgerechte Massentierhaltung soll schrittweise verboten werden, weil sie nicht nur erhebliche Leiden für die Tiere mit sich bringt, sondern auch die Umwelt beeinträchtigt. ...... V. Gott ist ein Freund des Lebens. Herausforderungen und Aufgaben beim Schutz des Lebens. Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz, Gütersloh 1989 ..... II. Besinnung auf die Botschaft der Bibel ....... (4) Gott schützt das Leben Trotz der Sünde und ihrer zerstörerischen Folgen bleibt das Leben auf der Erde erhalten. Denn Gott schützt das Leben. Schon in der Urgeschichte (Gen/1 Mose - 42 - 1-12,3) zeigt die Bibel, wie Gott dem Anwachsen des Fluches, der Lebensminderung und zerstörung Kräfte der Lebensbewahrung und des Segens entgegenstellt. Am Ende der Sintflutgeschichte wird von einer Selbstbindung Gottes berichtet, und damit kommt die Zuversicht auf, daß niemals wieder, solange die Erde steht, eine derart umfassende Vernichtung des Lebens stattfinden wird: „Ich will die Erde wegen des Menschen nicht noch einmal verfluchen; denn das Trachten des Menschen ist böse von Jugend an ... Solange die Erde besteht, sollen nicht aufhören Aussaat und Ernte, Kälte und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ (Gen/1 Mose 8,21f). Diese Verse formulieren eine abgründige, aber gültige Erkenntnis: Der Mensch bleibt, wer er ist, „böse von Jugend an“; aber Gott zieht eine andere Konsequenz, er legt sich darauf fest, daß nicht noch einmal eine solche Zerstörung eintreten wird, und bekräftigt dies im Zeichen des Regenbogens durch den Noach-Bund (Gen/1 Mose 9,8ff). Das Vertrauen, daß Gott alles Lebendige liebt und schont, kommt in großer Eindringlichkeit noch einmal in einem späten Text des alten Israel zum Ausdruck: „ Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von allem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas gehaßt, so hättest du es nicht geschaffen. Wie könnte etwas ohne deinen Willen Bestand haben, oder wie könnte etwas erhalten bleiben, das nicht von dir ins Dasein gerufen wäre? Du schonst aber alles, weil es dein Eigentum ist, Herr, du Freund des Lebens. Denn in allem ist dein unvergänglicher Geist“ (Weisheit Salomos 11,24-12,1). Freilich bewahrt sich die Bibel, auch wenn sie Gott „Freund des Lebens“ nennt, einen nüchternen Blick für die harte und erschreckende Realität der Lebensphänomene. Leben lebt immer auch auf Kosten anderen Lebens. In der „sehr guten“ Schöpfungswelt von Gen/1 Mose 1 ist Tieren und Menschen das pflanzliche Leben als Nahrung zugewiesen (V 29f). In der vorfindlichen Welt, die vom Einbruch des Bösen gezeichnet ist, herrscht Feindschaft zwischen den Lebewesen, reißt der Wolf das Lamm, werden Tiere für die menschliche Ernährung geschlachtet, ja sogar: bringen Menschen einander um. Immerhin macht die biblische Urgeschichte sehr deutlich, daß pflanzliches und tierisches Leben dem Menschen keineswegs selbstverständlich zur Verfügung steht; der Eingriff in anderes Leben bedarf der besonderen Freigabe und Ermächtigung durch Gott, wie sie im Blick auf die tierische und menschliche Ernährung in Gen/1 Mose 1,29f bzw. Gen/1 Mose 9,2f gegeben werden. Übergriffe auf andere Menschenleben sind prinzipiell gegen Gottes Ordnung; sie werden darum mit Sanktionen bedroht (z.B. Gen/1 Mose 9,5f); kategorisch fordert das 5. (6.) Gebot: „ Du sollst nicht morden!“ Das Wirken Gottes als eines Freundes des Lebens soll im Wirken der Menschen seine Entsprechung finden. Das 5. (6.) Gebot markiert hier nur eine äußerste Grenze. Die Werke des lebendig machenden Geistes sind Liebe, Friede, Güte, Treue, Sanftmut, Gerechtigkeit (Gal 5,22f; Eph 5,9), die sich im Umgang mit allem Lebendigen bewähren müssen. Darum heißt es auch im Alten Testament über das Verhältnis des Menschen zum Tier: „Der Gerechte weiß, was sein Vieh braucht, doch das Herz der Frevler ist hart“ (Spr 12,10). - 43 - (6) Das Seufzen und Stöhnen der Kreatur Das Neue Testament sieht den Leidenszustand der Schöpfung und die vielfältigen Minderungen und Verletzungen des Lebens in einer Perspektive der Hoffnung. Am eindrücklichsten geschieht dies bei Paulus im 8.Kapitel des Römerbriefs: „Die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes. Die Schöpfung ist der Vergänglichkeit unterworfen, nicht aus eigenem Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat; aber zugleich gab er ihr Hoffnung: Auch die Schöpfung soll von der Sklaverei und Verlorenheit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt“ (Röm 8,19-22). An diesem Abschnitt wird deutlich: Das Neue Testament und insbesondere die paulinischen Briefe, denen gelegentlich eine Orientierung allein am menschlichen Individuum und an der Erlösung des einzelnen unterstellt wird, haben die gesamte Kreatur und Lebenswelt im Blick; der Zustand der kreatürlichen Welt wird als Existenz in Unfreiheit, Nichtigkeit, Seufzen und sehnsüchtigem Harren qualifiziert; zwischen der Erlösung der Menschen und der Erlösung der ganzen Kreatur besteht eine Beziehung. Daraus ergibt sich auch, daß die Menschen die Wende im Zustand der außermenschlichen Schöpfung nicht selbst herbeiführen können: Der Geduld der Christen in der Gegenwart entspricht das Warten und Seufzen der Schöpfung; beides ist eine Gestalt der Hoffnung. Aber wie es im menschlichen Leben Anfänge und Vorzeichen der kommenden Erlösung gibt (z.B. 2 Kor 5,17ff; Gal 5,16ff; Eph 4,17ff), so kann die neue Schöpfung auch in der gesamten Lebenswelt durch entsprechendes Handeln und Verhalten der Menschen zeichenhaft sichtbar werden. ...... III. Der Lebensraum Erde ...... 3. Der Auftrag des Menschen: Bebauen und Bewahren Der christliche Glaube sieht in Schöpfungswelt und Leben keine in ihrer Vorgegebenheit unantastbaren Größen. Vielmehr versteht er die Erde als einen Lebensraum, der dem Menschen anvertraut ist, um ihn zu „bebauen“ und zu „hüten/bewahren“ (Gen/ 1 Mose 2,15), also ihn in pfleglicher Behandlung zu nutzen, zu kultivieren und zu gestalten. Eingriffe in fremdes Leben sind so zugleich legitimiert und begrenzt. Damit ist dem Menschen eine Sonderstellung gegenüber der Natur und den anderen Lebewesen eingeräumt und zugemutet. Das entspricht bereits dem phänomenologischen Befund: Der Mensch ist im Vergleich mit höheren Tieren durch seine biologische Antriebsstruktur weniger auf bestimmte Lebensziele festgelegt. Er geht darum nicht in seiner Umwelt auf, sondern schafft sich seine Welt. Die Fähigkeit zu rationaler, vorausschauender Planung und zur sprachlichen Kommunikation spielt dabei eine wichtige Rolle. Im Unterschied zu den anderen Lebewesen kann sich der Mensch zu den ihm schicksalhaft vorgegebenen Bedingungen verhalten, sich ihnen anpassen, aber auch sie umbilden und sich anver- - 44 - wandeln. Im Menschen kommt das ihn umgreifende und übergreifende Leben zu sich selbst; in ihm wird es sich seiner bewußt und erfährt sich als sich selbst überantwortet. Der Vorrang des Menschen, sich zu seinem eigenen und zu allem anderen Leben verhalten zu können, ist der Kern seiner Autonomie, seiner Selbstbestimmung; sie ist nicht absolut, sondern verantwortlich vor Gott auf die Umwelt und Mitwelt bezogen. Der erste Schöpfungsbericht (Gen/1 Mose 1,28) spricht ebenso wie Psalm 8 ausdrücklich von einer Herrschaftsstellung des Menschen. Die Formel vom „Bebauen und Bewahren“ (Gen/1 Mose 2,15) korrigiert den Herrschaftsgedanken nicht, sondern interpretiert ihn. Das Handeln des Menschen gegenüber der belebten und unbelebten Natur bleibt auch beim Bebauen und Bewahren die Ausübung von Herrschaft. Darum führt es auch in die Irre, das Verhältnis des Menschen zu den anderen Lebewesen als eines der Partnerschaft zu beschreiben. Der Mensch ist in der Ordnung der vorfindlichen Welt (Gen/1 Mose 1-2 mit Gen/1 Mose 9) von Gott ermächtigt worden, die ihm vorgegebene Welt unter Eingriff in fremdes Leben zu bearbeiten und dabei etwa Bäume zu fällen, Holz zu verarbeiten, Verkehrs- und Bewässerungssysteme zu errichten, Tiere zu züchten und abzurichten oder Tiere zu Nahrungszwecken zu schlachten. Technik und Industrialisierung liegen grundsätzlich trotz der damit verbundenen Umgestaltung der Natur durchaus in der Linie der biblischen Beschreibung der Rolle des Menschen in der Schöpfungswelt. Auch der Verstand des Menschen mit seiner Neugier und seinem Erfindungsreichtum ist eine gute Gabe Gottes. Aber er kann auch verkehrt und gegen Gott und das Leben gebraucht werden. Die Versuchung, die Wissenschaft und Technik darstellen, und die geradezu religiöse Überhöhung, die sie immer wieder gefunden haben und finden, erfordern noch eine kritische Auseinandersetzung ... Aber die biblische Überlieferung bietet keinen Anhaltspunkt, Wissenschaft und Technik von vornherein unter Verdacht zu stellen oder gar eine Haltung der Wissenschafts- und Technikfeindlichkeit einzunehmen. In den vergangenen Jahrhunderten sind in Wissenschaft und Technik Entdeckungen gemacht und Entwicklungen vorangetrieben worden, die für ungezählte Menschen segensreiche Folgen gehabt haben. Es genügt, in diesem Zusammenhang an die Ablösung körperlicher Schwerstarbeit durch Einsatz von Maschinen, an die Steigerung der landwirtschaftlichen Erträge durch die künstliche Düngung oder an die Überwindung der meisten Seuchen und Epidemien zu erinnern. Auch die gegenwärtigen gravierenden Umweltgefährdungen werden sich nicht gegen Wissenschaft und Technik, sondern nur mit Hilfe der Wissenschaft und einer intelligenteren und umweltschonenderen Technik bewältigen lassen. Allerdings sind die Herrschaftsaussagen von Gen/1 Mose 1 und Ps 8 vielfach in die Richtung von Ausbeutung und Unterdrückung der Natur mißdeutet und dieser Auslegung gemäß praktiziert worden. Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik hat Instrumente der Machtausübung bereitgestellt, die mit ihren verlockenden Möglichkeiten einen ständigen Anreiz bieten, natürliche Ressourcen zugunsten des Menschen zu verbrauchen bzw. zu verändern. Demgegenüber ist die Formel von „Bebauen und Bewahren“ eine wichtige näherbestimmende Interpretation zur Art und Weise der Herrschaft. Diese Herrschaft muß nämlich im Rahmen des Schöpferwirkens Gottes zugunsten allen Lebens geschehen, sich also in den Dienst des Lebens auf der Erde stellen. Darum ist dem Menschen im - 45 - Umgang mit der natürlichen Welt alles eröffnet zur Fristung und Freude seines Lebens, sofern und solange er die Folgen seines Handelns nach dem Maß menschlicher Einsicht prüft, auch anderen Menschen und den künftigen Generationen die vorgegebene Schöpfungsqualität ihrer Lebenswelt nicht zerstört und dem anderen Lebendigen jetzt und künftig Leben und Lebensmöglichkeit in seinem eigenständigen Daseinsrecht wahrt. Die Tötung außermenschlichen Lebens ist auf die Deckung des Lebensbedarfs und die Abwehr von Gefahren zu beschränken. Gegenüber der heutigen Lebensweise und technisch-industriellen Produktion und ihren Folgen stellen sich von diesen Kriterien her ernste Anfragen. So haben etwa die Zersiedelung der Landschaft und die Entwicklung des Verkehrs Dimensionen angenommen, die mit erheblichen Eingriffen in die natürliche Umwelt teuer bezahlt und für die Menschen selbst zur drückenden Last werden. Unter den neueren technischen Entwicklungslinien sind es vor allem zwei, auf die sich die Kritik gerade auch vieler Christen richtet: Atomtechnik und Gentechnik. Das mit der Atomtechnik gegebene ungeheure Energiepotential findet seine Parallele in der von der Gentechnik ermöglichten bzw. angestrebten Fähigkeit zu schnellem und gezieltem Eingriff in das Erbgut des Menschen selbst wie des außermenschlichen Lebens. Auch Atomtechnik und Gentechnik sind nicht als solche schlecht. Freilich sind sie, wie zumal die militärische Nutzung der Atomtechnik gezeigt hat, in besonderem Maße gefährdet durch die zerstörerischen Kräfte der Sünde, durch Lebensverachtung, vermessene menschliche Selbstüberschätzung, Machtstreben oder Gewinnsucht. ...... 4. Der Eigenwert der Mitgeschöpfe des Menschen Die Mitgeschöpfe des Menschen dürfen nicht nur und nicht zuerst unter dem Gesichtspunkt des für ihn gegebenen Nutzwerts betrachtet werden. Zwar ist der Mensch legitimiert, pflanzliches und tierisches Leben zu seiner Ernährung, seiner Versorgung und seiner Freude zu gebrauchen und zu verbrauchen. Die Mitgeschöpfe gehen aber in ihrem Nutzwert für den Menschen nicht auf. Die Blume ist nicht allein dazu da, damit der Mensch sich an ihr freut; das Huhn ist keine bloße Eierlegemaschine zur Bereitstellung menschlicher Nahrung; viele Pflanzen und Tiere haben überhaupt keinen erkennbaren und benennbaren unmittelbaren Nutzen für den Menschen. Das pflanzliche und tierische Leben samt den niederen Formen des Lebens hat zunächst einen Nutzwert für andere Lebewesen neben dem Menschen und für den Lebensprozeß insgesamt; schon dies legt dem Menschen bei seinem Umgang mit der Natur Rücksichten auf; er darf sich nicht nur an seinen eigenen Interessen ausrichten, sondern muß die möglichen Auswirkungen auf die Lebensmöglichkeiten anderen Lebens mitbedenken. Von allem aber haben die Mitgeschöpfe des Menschen unabhängig von ihrem Nutzwert einen Eigenwert, nämlich darin, daß sie auf Gott als den Schöpfer bezogen sind, an seinem Leben Anteil haben und zu seinem Lob bestimmt sind. Einen eigenen Wert und Sinn zu haben bedeutet nicht, daß jedes individuelle Lebewesen oder jede Art erhalten werden müssen. Aber wo der Gedanke des Eigenwerts Anerkennung findet, kann er als Begrenzung und Korrektur dienen gegenüber einer Haltung, der das außermenschliche Leben nichts als Material und Verfügungsmasse in der Hand des Menschen darstellt. - 46 - Die Frage des Eigenwertes der Mitgeschöpfe des Menschen spielt auch in die aktuelle Diskussion um die Verankerung des Umweltschutzes im Grundgesetz hinein. Die evangelische und die katholische Kirche haben sich dafür ausgesprochen, in der Formulierung eines Staatsziels Umweltschutz nicht auf die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen abzustellen, sondern aus Verantwortung für die Schöpfung umfassender vom Schutz der natürlichen Grundlagen des Lebens oder vom Schutz der Natur und Umwelt zu sprechen. Die Kirchen erneuern und unterstreichen ihr Votum an dieser Stelle. Denn jede den Eigenwert des außermenschlichen Lebens nicht berücksichtigende Formulierung des Staatsziels würde in der Zukunft geradezu als Vorwand dienen können, Eingriffe zu legitimieren, die im Interesse des Menschen und der Wahrung seiner Rechte jeweils für erforderlich gehalten werden, die Schöpfungswelt als ganze in ihrer lebensnotwendigen Vielfalt aber bedrohen. Es ist abwegig, aus dem Standpunkt der Kirchen bzw. den in die gleiche Richtung gehenden Vorschlägen einen Schutzanspruch für jedes einzelne Lebewesen herauszulesen; geschützt werden sollen die Lebensmöglichkeiten für die notwendige Vielfalt von Lebewesen. Bei jeder umweltpolitisch relevanten Entscheidung ist abzuwägen zwischen dem Nutzungsinteresse des Menschen und dem Eigenwert des betroffenen außermenschlichen Lebens; gerade auf die Nötigung zu dieser Abwägung kommt es an. ...... VI. Einverständnis mit der Schöpfung. Ein Beitrag zur ethischen Urteilsbildung im Blick auf die Gentechnik und ihre Anwendung bei Mikroorganismen, Pflanzen und Tieren. Vorgelegt von einer Arbeitsgruppe der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1991 ...... I. Orientierung über den Sachstand ...... Die Gentechnik selbst (im Sinne der Genmanipulation) wird im Blick auf Säugetiere vornehmlich in der Grundlagenforschung eingesetzt. Anwendungsmöglichkeiten mit dem Ziel der Resistenzbildung gegen Krankheiten und Umwelteinflüsse und insbesondere der Leistungssteigerung werden erprobt. In diesem Zusammenhang dient die Genomanalyse dazu, einerseits Abweichungen von der normalen genetischen Ausstattung festzustellen und andererseits bestimmte Gene zu identifizieren. Das längerfristige Ziel ist es, Erbkrankheiten möglichst zu eliminieren, mit erwünschten Merkmalen weiterzuzüchten und damit die Zucht zu verbessern. Ein weiteres Feld gentechnisch betriebener Tierzucht ist die Herstellung bestimmter Labortiere. Mit Hilfe der Gentechnik ist es zunehmend möglich, für spezielle Fragestellungen die geeigneten Versuchstiere nicht nur auszuwählen, sondern unmittelbar zu erzeugen. Vorteile verspricht man sich hier vor allem für die Prüfung von Arzneimitteln. Weiterhin wird gemeinhin davon ausgegangen, daß mögliche Therapien von Gendefekten am besten an Tieren studiert werden können, denen der entsprechende Defekt eingepflanzt worden ist. So wird die - 47 - Tumormaus in der Krebsforschung, die Aids-Maus bei der Untersuchung der Immunschwäche und der Testung von Stoffen, die als Arzneimittel in Frage kommen könnten, eingesetzt. Die bewußte Herstellung genetisch defekter Tiere hat ihre eigene ethische Problematik: Es stellt sich die Frage, ob der Tatbestand der Tierquälerei vorliegt. Ein auch nur als wahrscheinlich anzunehmendes Schmerzempfinden von höheren Tieren ist dafür ein wichtiges Kriterium. Für den handelnden, biologisch forschenden Menschen muß es ein Gebot der Selbstachtung sein, daß die Produktion von kranken Tieren nicht ohne Not geschieht. Die ethische Frage gilt freilich auch schon für die Technisierung der Tierhaltung allgemein: Hier hat sich eine Umformung zur bloßen Tierproduktion vollzogen, die in der Intensivhaltung ausschließlich der Herstellung nützlicher Funktionsabläufe dient. Die Herauszüchtung von wenigen tierischen Hochleistungsrassen, die durch die Gentechnik noch erheblich beschleunigt wird, kann schon mittelfristig zu einer genetischen Verarmung des Viehbestandes führen. Die Anpassung an sehr begrenzte künstliche Lebensbedingungen, die bei transgenen Schweinen bereits Krankheitscharakter erreicht hat, macht solche Züchtungsprodukte gegen die verschiedensten Störfaktoren äußerst anfällig. Die Zucht von Schweinen und Rindern ist nur sinnvoll, wenn auf die Erhaltung der Fruchtbarkeit und der Gesundheit geachtet wird. Leistungen lassen sich nicht sprunghaft verbessern. Die allgemeine Abnahme der Rassenzahl, zunehmende Anpassungsschwierigkeiten und die Produktion kranker Tiere können langfristig auch ökonomisch zu empfindlichen Rückschlägen führen. Das gilt allgemein für alle Tierzüchtungen. Doch durch die Gentechnik erhöht sich die potentielle Gefahr. Die Erhaltung und Pflege der genetischen Vielfalt bei Tieren ebenso wie bei Pflanzen ist schon außerhalb aller ethischen Gesichtspunkte ökonomisch dringend geboten. Die heutige Artenvielfalt der Organismen ist naturgeschichtlich in sehr langen Zeiträumen entstanden. Sie innerhalb einer oder zweier Generationen drastisch zu reduzieren - täglich stirbt mindestens eine Art aus - bedeutet eine elementare Veränderung des natürlichen Gleichgewichts und damit der Lebensbedingungen auf der Erde. ...... V. Zum Umgang mit der Gentechnik: Perspektiven für Wahrnehmung, Urteil und Handeln ...... a) Artgerechtheit Die Lebewesen begegnen den Menschen in einer Vielheit von Arten. Lebensraum und Lebensweise jeder Art stehen in einem Wechselverhältnis von Anpassung, Lernen und fremder Einwirkung. In dieser Wechselwirkung bildet sich, verändert sich und bewahrt sich die Identität der Arten innerhalb bestimmter Grenzen ihrer Entwicklung und innerhalb bestimmter Zeiträume. Eine Art kann nicht beliebig jeder Anpassung und Veränderung ausgesetzt werden. Die Menschen besitzen im Maße der ihnen zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Erkenntnis Einsicht in die Lebensfähigkeit der Arten. Sie wissen - 48 - und können dieses Wissen noch vermehren -, welcher Lebensraum und welche Lebensweise einer Art gerecht werden. Es geht auch hier um Gerechtigkeit im Sinne der Verträglichkeit: Artgerechte Lebensverhältnisse und ein artgerechter Umgang sind daran zu messen, ob sie mit den Erfordernissen des Lebensraums und der Lebensweise des betreffenden Lebewesens vereinbar sind. Dies läßt einen gewissen, aber nicht einen beliebigen Raum für Abweichungen und Veränderungen. Es ist gut, beim Umgang vor allem mit Pflanzen und Tieren das verfügbare Wissen über den artgerechten Lebensraum und die artgerechte Lebensweise als Hinweis auf eine notwendige Grenze ernstzunehmen. Die Einsicht in Anforderungen der Artgerechtheit ist eine Mahnung zur Vorsicht. Die vorliegenden Erfahrungen mit der gentechnischen Veränderung von Pflanzen und Tieren unterstreichen die Berechtigung dieser Mahnung. So hat die Anpassung an sehr begrenzte künstliche Lebensbedingungen bei transgenen Schweinen schon jetzt Krankheitscharakter erreicht. Die auf Leistungssteigerung abgestellte Zucht ist nur solange sinnvoll, wie auf die Erhaltung der Gesundheit geachtet wird ... b) Artgrenzen Wie im Falle der Artgerechtheit ist die Artgrenze eine Mahnung zur Vorsicht. Zwischen den Arten besteht eine natürliche Barriere, die in der Regel eine spontane Kreuzung und Vermischung verhindert. Organismen, die bei einer Überspringung der Artgrenzen entstehen, sind nicht fortpflanzungsfähig. Die Artgrenze stellt eine offenkundig sinnhafte Gegebenheit dar, die nicht ohne Not übergangen werden sollte. Jedenfalls ist sorgfältig zu prüfen, ob Gründe namhaft gemacht werden können, die die Nichtbeachtung der Artgrenze rechtfertigen. Dabei sind die Unterschiede zwischen Pflanzen und Tieren entsprechend zu berücksichtigen. Auf keinen Fall ist die Neukombination von Erbmaterial unterschiedlicher Arten ein Vorgang, der zum Gegenstand von spielerischen Versuchen oder von ungehemmten Experimenten werden darf ... c) Artenvielfalt Die Artenvielfalt der Natur ist Grundlage und Bedingung des Lebens ... Der evolutionäre Prozeß ist auf einen großen `Genpool' angewiesen. Eine Verarmung des genetischen Bestandes schränkt die Entfaltungsmöglichkeiten des evolutionären Prozesses ein. Die Artenvielfalt bedeutet aber in einem noch elementareren Sinne einen erhaltenswerten Reichtum. Schon für die Menschen selbst gilt: Verschiedenartigkeit und Fülle ist zugleich eine lockende Weite. So wenig aber ein Einheitstyp Mensch erstrebenswert ist, so wenig soll es eine `Natur von der Stange' geben. Daß der Reichtum der Artenvielfalt und unsere Freude an ihr letztlich nicht erklärlich sind, besagt keineswegs, daß er vernachlässigt werden kann. Es ist den Menschen gegenwärtig nicht möglich, das notwendige und wünschenswerte Maß der Vielfalt festzulegen, und es ist auch die Frage, ob sie es überhaupt wollen sollen. Die Menschen können aber dazu beitragen, die Bedingungen zu erhalten, unter denen die Natur die ihr eigene Vielfalt zu bewahren und zu entfalten imstande ist. Die Aufbewahrung von Samen in Genbanken bietet langfristig keine hinreichende Sicherheit für die Erhaltung der Artenvielfalt. - 49 - d) Fehlerfreundlichkeit Gentechnische Veränderungen von Lebewesen zielen im allgemeinen darauf, sie auf den menschlichen Nutzen hin zu „verbessern“. Die Verbesserung ist auf bestimmte Funktionen oder Eigenschaften bezogen. Ein solches gezieltes Vorgehen entspricht dem technischen Vermögen, bestimmte Funktionen oder Eigenschaften von Werkstoffen und Maschinen zu optimieren. Dabei kommt es erfahrungsgemäß zu einer weitgehenden Spezialisierung von Arbeitsabläufen, die jeweils durch Programme der Koordination wiederum in einem einheitlichen Produktionsprozeß verbunden werden. Optimierung und Spezialisierung bedingen eine geringe Fehlertoleranz. Der kleinste technische Defekt und die kleinste nicht vorgesehene Abweichung in der Bedienung können nicht korrigiert oder kompensiert werden. Bereits ein Minimum an Ölverlust wird einem hochgezüchteten Motor gefährlich. Die Gentechnik überträgt dieses Prinzip technischer Entwicklung auf Lebewesen und ihr Zusammenspiel. Darin weicht sie von den im evolutionären Prozeß gegebenen Verhältnissen markant ab. Denn in diesem sichert gerade die Fehlerfreundlichkeit der Organismen ihr Überleben auch gegenüber einem breiten Spektrum nicht vorgesehener bzw. vorhersehbarer Belastungen und Abweichungen. Der Begriff der Fehlerfreundlichkeit bezeichnet die eigentümliche Verbindung von Fehleranfälligkeit und Fehlertoleranz: Organismen sind zweifellos äußerst fehleranfällig; zugleich ist ihnen - etwa durch den Überschuß an Funktionen, die durch Mutation hervorgerufenen Abweichungen, das Immunsystem oder die Wundheilung - ein hohes Maß an Fehlertoleranz eigen. Übergenaue Tüchtigkeit für eine bestimmte gegebene Situation ist ein Mangel an Fehlerfreundlichkeit und läuft auf Stagnation und schließlich Versagen bei neuen Herausforderungen hinaus. Nur eine Pflanze mit einem hohen Maß an Anpassungs- und Kompensationsmöglichkeiten kann Fehlernährung oder Veränderungen am Standort ertragen und ausgleichen. Wie für jede Technik ergibt sich auch für die Gentechnik daraus die Anforderung, sich mehr an der Fehlerfreundlichkeit des evolutionären Prozesses als an der Optimierung und Spezialisierung technischer Entwicklungsprozesse zu orientieren. Auch ökonomisch gesehen lohnt es sich nicht, extrem anfällige oder schutzbedürftige Kulturen zu produzieren, die aber hohe Nebenkosten verursachen. Selbst wenn die ökonomische Rechnung, auf begrenzte Zeiträume und Verantwortlichkeiten bezogen, aufgeht, fallen die Nebenkosten lediglich zu einem späteren Zeitpunkt oder außerhalb der eigenen Zuständigkeit an. Der Blick auf das evolutionäre Prinzip erfordert aber eine weiträumige Rechnung. - 50 - Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats des Beauftragten für Umweltfragen des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (Oktober 1991) Günter Altner, Heidelberg Annette Beleites, Schwerin (Gast) Claus-Benedict von der Decken, Jülich Hans Diefenbacher, Heidelberg Gabriele Hundsdörfer, Bonn Hans Kiemstedt, Hannover (Vorsitzender) Udo Krolzik, Hamburg Heinrich Freiherr von Lersner, Berlin Hans-Joachim Luhmann, Stuttgart Jürgen Salzwedel, Bonn Martin Schrenk, Homburg/Saar Udo Ernst Simonis, Berlin Gotthard M. Teutsch, Bayreuth Adelheid von Wahlert, Ingersheim Beauftragter für Umweltfragen des Rates der EKD: Kurt Oeser, Mörfelden Geschäftsführer: Hermann Barth, Hannover - 51 Nachwort Für die im Herbst 1991 veröffentlichte Ausarbeitung zum Mensch-Tier-Verhältnis ist eine 2. Auflage erforderlich geworden. Schon daran zeigt sich, daß die Fragen der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf eine erfreuliche Aufmerksamkeit finden. Wenige andere ethische Beiträge aus der Evangelischen Kirche in Deutschland haben in den letzten Jahren ähnlich lebhafte und engagierte Reaktionen, in Zustimmung wie in Ablehnung hervorgerufen. Das Mensch-Tier-Verhältnis ist kein fernliegendes und kein abstraktes Thema. Auf den verschiedenen Handlungsfeldern betrifft und berührt das mitgeschöpfliche Verhalten konkret die alltäglichen Lebensvollzüge vieler Menschen. Die Ausarbeitung verstand und versteht sich ausdrücklich als „Diskussionsbeitrag“. Sie beteiligt sich an einer in Gang befindlichen Debatte - mit einer wohlüberlegten, markanten, für manche anstößigen Positionsbestimmung, nicht aber mit dem Anspruch, eine definitive Stellungnahme der evangelischen Kirche zu formulieren, oder gar die Debatte abzuschließen. Diesem Selbstverständnis entspricht es, wenn der 2. Auflage ein Nachwort beigegeben und darin eine Zwischenbilanz gezogen wird. Besondere Beachtung verdient dabei der Gesichtspunkt, der im Vorwort nachdrücklich hervorgehoben ist: Vom Fortgang der Diskussion erhofft der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland „zu unser aller Nutzen mehr Klarheit, ob das Ziel der Verminderung der Gewalt zwischen Mensch und Tier vom biblischen Zeugnis her weitergeführt werden darf zu der radikalen Position einer prinzipiellen Ablehnung von Gewalt, anders gesagt, in welche Weise ein Schöpfungspazifismus eschatologische Hoffnung bleiben muß und wieweit er schon jetzt das Handeln leiten soll.“ 1. Betroffenheit und Wahrhaftigkeit Die Diskussion über die Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf und so auch die Reaktionen auf den vorliegenden Beitrag kennzeichnet nicht selten ein leidenschaftlicher, erregter Ton. Denn viele beteiligen sich an dieser Diskussion als Betroffene: als Landwirte, die ihr Auskommen auf Schlachtviehhaltung und damit auf den Fleischkonsum der Bevölkerung begründet haben, als Jäger und Angler, die diese Tätigkeiten durch persönliche Ausübung und durch Verbandsarbeit verbunden sind, als Mitglieder in Tierschutzorganisationen, die sich mächtigen Partikularinteressen gegenübersehen und vom Leiden der Tiere innerlich aufgewühlt sind, oder als Wissenschaftler und Beamte, die sich mit je ihren Möglichkeiten für einen sachgemäßen Tierschutz einsetzten. Es ist ebenso verständlich wie berechtigt, wenn dieser Personenkreis einen Diskussionsbeitrag der Kirche, „ihrer“ Kirche, daraufhin abklopft, ob er seiner Lebenssituation, seinen Bemühungen, seinen Argumenten gerecht wird. Hier sind Defizite sichtbar geworden, die mit der wünschenswerten Kürze der Ausarbeitung nur zum Teil zu entschuldigen sind. Manches ist allerdings auch überlesen worden und verdient, in Erinnerung gebracht zu werden, so die Ausführungen in Ziffer 23: „Barmherzigkeit, Humanität und Gerechtigkeit sind unteilbar. Wird eingeschärft, daß sie das Verhältnis zum Tier bestimmen sollen, so ist zugleich daran zu erinnern, daß sie auch gegenüber den Menschen gelten, die - aus welchen Gründen auch immer - die Nutzung von Tieren beruflich betreiben. Für das zum Teil skandalöse Ungenügen des Tierschutzes tragen im allgemeinen und in erster Linie nicht die Angehörigen der mit der Tiernutzung befaßten Berufe Verantwortung, sondern die Lebensweise der gesamten Gesellschaft.“ Viele, die beruflich von der Tiernutzung abhängig sind, reagieren auf kritische Feststellungen und Fragen wohl auch deshalb so heftig, weil sie diese im Lichte unsachlicher und demagogischer Kritik sehen, die ihnen sonst begegnet ist. - 52 Leidenschaftlichkeit und Heftigkeit haben in dieser Diskussion einen legitimen Platz. Verdrehung und Verleumdung aber machen eine produktive Auseinandersetzung unmöglich. Wenn etwa in einer Verbandszeitschrift zu lesen ist: „Sind die Jäger organisierte Tierquäler? Nach Auffassung der EKD ist diese Frage zu bejahen“, so ist das nicht nur ohne jeden Anhalt an dem Diskussionsbeitrag, sondern vergiftet und belastet den notwendigen Dialog. Die Pflicht zur Wahrhaftigkeit obliegt insbesondere Journalisten und Medien. Ihre Berichterstattung und Kommentierung ersetzt für nicht wenige die Lektüre des Originals. Wer sich aber auf einen Artikel wie den von Helmut Schoeck (in der „WELT am SONNTAG“ vom 29. Dezember 1991) stützt, kommt nicht ins Gespräch mit dem Original, sondern wird durch groteske Verfälschungen in die Irre geführt. 2. Sachkunde und Genauigkeit Der Diskussionsbeitrag behandelt nicht nur Grundfragen des Mensch-Tier-Verhältnisses, sondern ebenso eine Reihe von konkreten Handlungsfeldern mitgeschöpflichen Verhaltens. Dies setzt Sachkunde voraus; wer bei den Experten und Praktikern der verschiedenen Handlungsfelder Gehör erwartet, muß in seiner Darstellung der Probleme zeigen, daß er mit dem Sachverhalt vertraut ist. Der Erwerb solcher Sachkunde ist keineswegs daran gebunden, in den jeweiligen Handlungsfeldern selbst als Experte oder Praktiker tätig zu sein. Der Diskussionsbeitrag belegt dies durchaus. Von verschiedenen Seiten ist aber kritisch gefragt worden, ob die Autoren des Diskussionsbeitrages nicht gut daran getan hätten, in der Vorbereitungsphase Fachgespräche abzuhalten oder Anhörungen durchzuführen. Dieser Vorschlag hat prinzipiell viel für sich. Die zeitliche Begrenzung seiner Tätigkeitsperiode und die Struktur seiner Arbeit haben es im konkreten Fall dem Wissenschaftlichen Beirat aber unmöglich gemacht, so zu verfahren. Der Preis sind einige Fehler und Ungenauigkeiten, die im vorgelegten Text enthalten sind und die bei einer Erörterung des Entwurfs mit Experten und Praktikern unschwer zu eliminieren gewesen wären. So ist in Ziffer 25 davon die Rede, daß jährlich „in der alten Bundesrepublik Deutschland pro Kopf der Bevölkerung ca. 100 kg Fleisch ... verbraucht“ werden - ohne präzisierend hinzuzufügen, daß dies eine Bruttozahl ist und der Fleischverzehr pro Kopf der Bevölkerung ca. 63 kg (so der Stand von 1991) beträgt. In Ziffer 28 ist im Blick auf die rituelle Schlachtung die verschiedene Position der orthodoxen Juden zu wenig berücksichtigt und zugleich versäumt worden, das Dilemma zischen den Anforderungen des Tierschutzes und dem verfassungsrechtlich garantierten Grundrecht auf freie Religionsausübung zu würdigen. Die Aussagen in Ziffer 38 über „Jagdkonkurrenten“ und „Regulierungsauftrag“ des Menschen sowie in Ziffer 39 über das „Auffüllen“ leergeschossener Reviere durch importierte Wildfänge oder kurzfristig ausgewilderte Tiere sind zu pauschal und teilweise korrekturbedürftig. Schließlich redet Ziffer 43, wo neben dem Stierkampf speziell das als Wettkampf organisierte Fangen von Fischen (Wettangeln) in Blick genommen werden sollte, fälschlich vom „Sportangeln“ und verkennt dabei, daß Sportfischerei ein Traditionsname ist und die gesamte nicht erwerbsmäßig betriebene Fischerei bezeichnet. Fehler und Ungenauigkeiten dieser Art sind bedauerlich, auch wenn sie im Falle des Diskussionsbeitrags Details und keine tragenden Aussagen betreffen. Es ist angeregt worden, für die 2. Auflage einen durchgesehenen und verbesserten Text zu erstellen. Aber dies scheitert schon an dem Umstand, daß die Tätigkeitsperiode des verantwortlichen Wissenschaftlichen Beirats im November 1991 endete. Der Diskussionsbeitrag dokumentiert den Erkenntnisstand eines bestimmten Personenkreises in einer bestimmten zeitlichen Situation und bedarf der Ergänzung, Korrektur und Weiterführung durch andere, neue Texte. - 53 - 3. Dissens und Dialog Die Diskussion über das Mensch-Tier-Verhältnis führt gegenwärtig, in der Kirche nicht anders als in der Gesellschaft insgesamt, in Kontroversen, die sich nicht überwinden lassen. Daß Dissense auftreten, bei den grundsätzlichen Fragen ebenso wie im Blick auf die konkreten Handlungsfelder, kann nicht überraschen; entscheidend ist, wie mit ihnen umgegangen wird. Der Diskussionsbeitrag selbst offenbart einen tiefgehenden Dissens unter seinen Autoren. Er betrifft die Reichweite der Gewaltminderung gegenüber den Tieren, wird im III. Teil (Ziffer 17-19) prinzipiell verhandelt und im IV. Teil (Ziffer 20-48) mehrfach aufgegriffen. Der Wissenschaftliche Beirat hat sich bei der Vorbereitung des Diskussionsbeitrages dafür entschieden, den Dissens weder zu verschweigen noch durch einen faulen Kompromiß zu verwischen, ihn vielmehr offenzulegen und zum Gegenstand des Dialogs zu machen. In diesem Dialog zeigt sich bereits innerhalb des Beirats, daß der Dissens jedenfalls partiell keineswegs unüberbrückbar ist und durch geduldiges Aufeinanderhören der Konsens innerhalb des Dissenses verbreitert werden kann (vgl. vor allem Ziffer 25ff, 34ff und 40f). Freilich hat sich in den Reaktionen auf den Diskussionsbeitrag auch gezeigt, daß dieses differenzierte Vorgehen bei den Lesern Unklarheit und Verwirrung hervorrufen kann. Der Text, genau gelesen, vertritt als Generallinie unmißverständlich die Position der Gewaltminderung, die darauf aus ist, die Gewalt gegen Tiere zu begrenzen und einzudämmen. Er gibt aber Raum zur Selbstdarstellung auch der abweichenden Position des Gewaltverzichts, in der es darum geht, die Gewalt gegen Tiere fortschreitend zu überwinden und aufzuheben, und er läßt - ganz im Sinne seines Selbstverständnisses als eines für neue Einsichten offenen Diskussionsbeitrages - jedenfalls an einer Stelle (Ziffer 40) offen, „ob die radikale Position nicht eines Tages die herrschende sein wird“. Mehrfach sind Spitzensätze der abweichenden Position aus Ziffer 18 zum Gegenstand kritischer Anfragen an den Diskussionsbeitrag insgesamt gemacht worden. Daran wird erkennbar, daß es offenbar nur unzureichend gelungen ist, Generallinie und abweichende Position in ihrem Verhältnis verständlich zu machen. Gleichwohl bleibt es, auch für die Auseinandersetzung mit dem Diskussionsbeitrag, grundsätzlich der richtige Weg, den Dissens offenzulegen, zum Gegenstand des Dialogs zu machen und in geduldiger Annäherung partiell zu überbrücken. Ein gelungenes Beispiel für einen solchen Umgang mit den Kontroversen um den Diskussionsbeitrag ist der Dialog zwischen dem Deutschen Jagdschutz-Verband e.V. und dem Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland. In der abschließenden Pressemitteilung vom 25. Mai 1992 heißt es u.a.: „..Die Vertreter des DJV-Präsidiums wiesen insbesondere darauf hin, daß die in den Ziffern 38, 39 und 43 des Diskussionsbeitrages vorgetragenen Ansichten über die Jagd den Realitäten und dem besonderen Bemühen der Jägerschaft um eine Humanisierung der Jagd nicht gerecht würden, sondern geeignet seien, daß Ansehen der Jäger und ihre Bemühungen um die Bewahrung der Schöpfung herabzuwürdigen. Beide Seiten heben gerade gegenüber einer besonders kritischen Beurteilung des Diskussionsbeitrages hervor, daß in Ziffer 38 die Berechtigung und Notwendigkeit einer waidgerecht ausgeübten Jagd im Rahmen der Hege und Pflege von Wald und Flur ausdrücklich anerkannt und bestätigt werden. Übereinstimmend wurde festgestellt, daß die Frage nach der ethischen Begründung der Jagd angesichts der modernen gesellschaftlichen Entwicklung und der zunehmenden Naturferne der meisten Menschen ihre Berechtigung hat. Im Laufe der vergangenen Jahrhunderte habe sich ein Prozeß vollzogen, in dem sich die Jagd unter den Gesichtspunkten der - 54 Humanisierung und der Achtung des Tieres als Mitgeschöpf verändert habe; dieser Prozeß gehe weiter. Es gelte, die Menschen auf ihre enge Verbindung zu Natur- und Tierwelt wieder aufmerksam zu machen. Auch von Seiten der Vertreter des Kirchenamtes wurde eingeräumt, daß manche Formulierung dieser Aufgabe nicht gerecht werde...“ 4. Radikalität und Nüchternheit Der Dissens in der grundlegenden Frage - nämlich ob die Position der Gewaltminderung weitergetrieben werden dürfe oder müsse zu einer Position des Gewaltverzichts - besteht auch in den Reaktionen auf den Diskussionsbeitrag fort. Wolfgang Böhme wendet sich (im „Rheinischen Merkur“ vom 17. Januar 1992) dagegen, die Argumentation eines „Schöpfungspazifismus“ in einer kirchlichen Veröffentlichung zur Diskussion zu stellen, dadurch aufzuwerten und sozusagen „hoffähig“ zu machen, weil „ethische Radikalismen und theologische Übertreibungen der Sache, um die es geht, nicht dienen, sondern der begründeten Forderung, das Verhältnis von Mensch und Tier sensibler und >humaner< zu gestalten, Abbruch tun.“ Erich Gräßer hingegen urteilt (in den „Evangelischen Kommentaren“ Heft 1/92, S. 8), daß „mit der Forderung nach Gewaltminderung viel zu wenig verlangt“ wird: „Die Exzesse verlangen das kompromißlose Nein ... Die Ethik der Ehrfurcht vor allem Leben (Albert Schweitzer) ist noch längst kein kirchliches Allgemeingut.“ Wir tun gut daran, uns vor falschen Alternativen zu hüten, und sollten Radikalität ebenso wie Nüchternheit auf beiden Seiten der Kontroverse einfordern: Radikalität bedeutet, die Probleme an der Wurzel anpacken; dies verlangt - und das ist zwischen den kontroversen Positionen auch nicht umstritten -, Tiere nicht länger als Objekte der Nutzung zu betrachten, sie als Mitgeschöpfe anzusehen und mit der Mitgeschöpflichkeit ernst zu machen. Die Vorstellung eines umfassenden menschlichen Gewaltverzichts gegenüber den Tieren verträgt sich nicht - so die Generallinie des Diskussionsbeitrags - mit den Bedingungen des Lebens auf der Erde. Aber auch wer aus der Mitgeschöpflichkeit eine Position des Gewaltverzichts ableitet, muß nüchtern damit rechnen, daß der in Gang befindliche Wandel unseres Verhältnisses zur Natur (Mitwelt) und zu den Tieren (Mitgeschöpfe) mit einzelnen Schritten sich vollzieht; der Gedanke der Gewaltminderung kann aufgrund seiner inneren Dynamik weitreichende Konsequenzen haben. Die Schritte der Gewaltminderung beharrlich fortzusetzen - ist dieses nüchterne Programm nicht zugleich ungemein radikal? Hannover, im August 1992 Dr. Hermann Barth Oberkirchenrat im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland