Forum österreichischer Katholiken Spiegelgasse 3 1010 Wien Tel. 01/51552/3664 Fax 01/51552/3764 E-mail: [email protected] HP: http://www.laienrat.at P. Eberhard von Gemmingen SJ, München Kann Papst Franziskus die Kirchenkrise mit „Evangelii gaudium“ wenden? Vortrag vor dem Katholischen Laienrat Österreichs am 8.3.2014 1. Einleitung, Vorbemerkungen Im Lauf des Jahres 2013 habe ich rund 40 mal zu diesem Thema gesprochen. Vor keinem Vortrag hatte ich so viele Zweifel wie vor dem Vortrag, den ich hier vor Ihnen – den katholischen Laien Österreichs – zu halten habe. Das möchte ich eingangs erklären. Ich hoffe, die Situation der engagierten Katholiken in Österreich einigermaßen zu verstehen. Die Lage von Glauben und Kirche in den einzelnen Ländern Europas und der Welt hängt meines Erachtens auch ganz wesentlich von den Mentalitäten der jeweiligen Bevölkerung ab. Die Menschen ticken verschieden, auch getaufte Katholiken ticken sehr verschieden. Daher sind die Kirchengefühle in den einzelnen Populationen meines Erachtens recht unterschiedlich. Ich erlaube mir die Vermutung, dass die Seele des österreichischen Katholiken in besonderer Weise gereizt, wenn nicht gar verletzt ist. Verzeihen Sie mir diese kühne Behauptung. Ich meine, ein bisschen mit Ihnen zu leiden. Haben Sie Geduld mit meiner Erklärung. Der engagierte österreichische Katholik kommt aus einem Spannungsfeld zwischen Kardinal König und Bischof Krenn, zwischen Bischof Stecher und Kardinal Groer, zwischen Bischof Aichern und Bischof Küng, zwischen Paul Zulehner und Gregor HenckelDonnersmarck. Es kommt dazu, dass wohl auch in Österreich selbst sehr unterschiedliche Mentalitäten und Kirchentraditionen zusammenkommen. Im äußersten Westen sind die schwäbischen Vorarlberger, die eher schaffig sind, dann kommen die bajuwarischen Tiroler, die ich besonders liebe, weil ich in Innsbruck hätte Theologie studieren sollen, de facto aber nicht studiert habe. Ich war mit Bischof Stecher bis zu seinem Tod in Kontakt und befreundet. Die Salzburger sind eben Salzburger, die Wiener sind Wiener und dann gibt es auch noch die Oberösterreicher und die Niederösterreicher und die Kärntner und die Steirer. Eine Tante von mir war Provinzoberin der Barmherzigen Schwestern in Graz. Ich habe eine Ahnung von Österreich und glaube, dass die österreichische Kirchenseele mehr leidet als die Kirchenseelen in anderen Ländern. Warum? Weil sie die Kirche, weil sie den Glauben ernst nimmt, weil sie etwas in besonderer Weise hat, was an sich alle Germanen haben: sie wollen gerne mit der Autorität übereinstimmen können. Germanen haben mehr als Angelsachsen, Romanen und Slaven den Wunsch mit der Autorität übereinzustimmen. Sie wollen Ordnung, sie wollen wissen, wie man dran ist, was gilt. Ich spreche nicht von Untertanengeist, sondern von einem besonders ausgeprägten Wunsch nach Ordnung. Die Welt soll in Ordnung sein. KLRÖ, Vollversammlung 2014, Studienteil, 8. März 2014 1 Es kommt wie mir scheint dazu, dass man in Österreich als denkender Mensch weniger an der Kirche vorbei kann als in Deutschland. Österreich ist nicht nur Klöster-reich, sondern eben auch Kirchen-reich. Österreich ist in außerordentlicher Weise von Kirche und Glauben und Glaubenskultur geprägt. Mehr als andere Länder. Man kann in Österreich als denkender Mensch schwer als anderswo ganz gleichgültig sein gegen christlichen Glauben und die Vertretung dieses Glaubens, eben die Kirche. Vielleicht täusche ich mich, vielleicht vereinfache ich. Aber in der Vorbereitung auf diese Gedanken vor Ihnen schienen mir diese Überlegungen einfach auf der Hand zu liegen. Es sollen Denkanstöße am Anfang meiner Ausführungen sein. Und nun zweitens: ich glaube nicht, dass ich Ihnen wirklich Antworten geben kann auf Ihre Fragen. Dafür ist die Situation zu schwierig und zu komplex. Ich wage nicht, Ihnen sagen zu können, wie es mit der Kirche in Österreich weitergehen wird. Ich kann Ihnen auch keine Vorschläge machen, wie Sie sich heute im neuen Pontifikat als Katholiken in Österreich verhalten sollen. Ich kann Ihnen keine Ratschläge geben, wie Sie sich verhalten sollen. Ich wage aber, Ihnen einige Überlegungen vorzutragen, die Ihnen vielleicht helfen können selbst weiter zu denken. Dazu möchte ich zunächst noch etwas mehr ausführen: 1. über die Glaubenskrise in Europa allgemein, 2. dann etwas über die verschiedenen Mentalitäten und die Konsequenzen aus diesen Mentalitäten, 3. dann möchte ich einige Anmerkungen machen über das Christentum weltweit. Und in einem weiteren Teil möchte ich dann auf einige Akzente von Papst Franziskus hinweisen, die uns vielleicht helfen, weiter zu kommen. 2. Zu Glaubenskrise und Akzente im Pontifikat von Papst Franziskus Zunächst zur Glaubenskrise: „Wie kurieren wir die Kirche?“ so der Titel eines von mehreren Büchern, die sich mit den Defekten der katholischen Kirche auseinander setzen. Hans Küng nennt sein Buch „Ist die Kirche noch zu retten?“ Sie scheint ein Reparaturbetrieb zu sein. Im Gegensatz dazu scheint die evangelische Kirche repariert und in Ordnung. Papst Franziskus weckt die Hoffnung, dass die katholische Kirche reparabel ist. Erlauben Sie mir gleich die These: Auch wenn an der katholischen Kirche einiges reparaturbedürftig ist, so liegt das Problem doch wesentlich tiefer. Es geht eigentlich nicht um die Kirche. Es geht um die Krise des Glaubens, des christlichen Glaubens in Mitteleuropa. Ich beschränke mich auf Mitteleuropa. Obwohl die evangelische Kirche moderner, frauenfreundlicher, toleranter ist, geht es ihr doch keineswegs besser. Im Gegenteil: ich wage die Behauptung, es geht ihr schlechter, nur wird kaum darüber gesprochen. Also: Lassen wir uns nicht irreführen: es geht nicht um Kirchenkrise, sondern um die Krise einer christlichen Orientierung an Gott, eines Glaubens an Gott und Jesus Christus. Keine Frage: in der katholischen Kirche stehen einige ernste Fragen ungeklärt da: Rolle der Frauen in der Kirche, Rolle der Laien allgemein, Umgang mit geschiedenen Wiederverheirateten, mit Mischehepaaren, mit Zölibat. Aber – machen wir uns nichts vor – wenn diese Fragen im Sinne einer barmherzigen und modernen Denkweise gelöst wären, würden sich die Kirchen damit noch lange nicht füllen. Das zeigt die evangelische Erfahrung. Auch wenn immer wieder von Rückkehr der Religion gesprochen wird, so ist das vielleicht mehr eine Hoffnung. Und es lässt sich nicht übersehen, dass immer weniger Menschen ihre Kinder KLRÖ, Vollversammlung 2014, Studienteil, 8. März 2014 2 taufen lassen, dass immer weniger in der Kirche heiraten, dass immer weniger sich nach Kirchenvorschriften richten, dass immer weniger eine Ahnung haben von Grunddaten des Christentums. Ich nenne hier allerdings einige Punkte im Pontifikat von Papst Franziskus, die Hoffnung wecken und die Lösungen anzeigen: 1. Frauen: Ich kann mir nicht vorstellen, dass er nicht den Frauen in der katholischen Kirche eine Stimme gibt für die Mitbestimmung über den Weg der Kirche. Kann er es dabei belassen, dass in Synoden, Konzilien und anderen Gremien nur Männer entscheiden. Ich kann es mir nicht vorstellen. 2. Geschiedene Wiederverheiratete: Kardinal Kasper hat jetzt vor den Kardinälen den Weg angedeutet, den die Kirche gehen sollte: Nach entsprechender Prüfung des einzelnen Falles, nach Umkehr und Busse, kann der einzelne geschiedene wiederverheiratete Katholik zur Kommunion zugelassen werden. Aber es gibt keine Lösung: alle Ja – oder alle Nein. 3. Dezentralisierung: Der Papst will die Ortskirchen stärken, er will Bischof von Rom sein. 4. Er will den Armen dienen. 5. Er will wirkliche Seelsorge, nicht Kirchenverwaltung 6. Er will auch eine Einmischung in Politik und Wirtschaft 7. Er will Entscheidungsvollmacht für die Bischofskonferenzen 8. Er will überzeugenden Lebensstil. 9. Er erkennt, dass die Menschen Vertrauen haben müssen in die Verantwortlichen der Kirche. Ohne Vertrauen in die Kirchenleute finden sie weniger als sonst den Weg zu Gott. Aber auch wenn das alles gilt und stimmt, so wird meiner Ansicht nach ein Papst doch die Gesamtsituation von Glaube und Kirche nicht ändern, wenn er nicht die Vordenker in Mitteleuropa dafür gewinnt, den Glauben an Gott, die Religion wieder zu rehabilitieren als eine Quelle von Kultur. Wir erleben genau das, was Wolfgang Böckenförde klassisch gesagt hat: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“ Meine These: derzeit gehen die moralischen Voraussetzungen des freiheitlichen, säkularen Staates massiv verloren, daher verliert Mitteleuropa eine Wurzel seiner Identität, seine innere Kraft. Darauf müssten die Vordenker gemeinsam hinweisen, um eine Trendwende zu ermöglichen. Ein Papst kann das nicht. Es wird ihm eine große Wende in Mitteleuropa nur gelingen, wenn er die Vordenker gewinnt und die Vordenker gemeinsam auf die christlichen Wurzeln Europas verweisen. Und dann sind die Meinungsmacher gefragt. Solange der KLRÖ, Vollversammlung 2014, Studienteil, 8. März 2014 3 „Spiegel“ sich im Unterschied zu Jüdischem und Muslimischem sich lustig machen kann über Christliches, werden wir Kraft und Identität Europas verlieren. Man muss sich fragen, was die Ursache für diesen Verlust der Mitte ist. Ist es die Aufklärung, das heißt die rationale Infragestellung von Glaubensaussagen, vom Schöpfungsbericht bis zu Tod und Auferstehung Jesu. Oder ist es vielmehr nur Oberflächlichkeit, praktischer Materialismus? Ich schließe mich der These des US-amerikanischen Soziologen Casanova an. Er vertritt seit langem die Ansicht: Europa hat Angst vor der Religion. Die Europäer sind im Unterschied zu den Bevölkerungen der anderen Kontinente der Ansicht, Religion verursache Kriege, Konflikte, Religion zerstöre Freiheit, verhindere Selbstentfaltung. Religion sei schädlich. Die Vordenker in Asien, Afrika und Amerika sind im Gegensatz dazu der Überzeugung, dass Religion Quelle der Kultur und Hilfe für den Menschen ist. Casanova fordert von Europa nach der Versöhnung zwischen den Nationen und den Konfessionen, zwischen Naturwissenschaft und Glauben auch die Versöhnung zwischen Vernunft und Religion. Es kommt dazu, dass Völkerkundler wissen: Religion dient der Gesundheit der Menschen, religiöse Menschen leben gesünder und länger. Aber in Mitteleuropa gilt Religion auf große Strecken immer noch als gefährlich, als unterdrückend und Ursache von Konflikten. Die Religionskriege sind noch nicht vergessen, könnten aber vergessen werden. Daher gilt Religion als Privatsache. Jeder darf glauben, was er mag, aber sie sollte gesellschaftlich eine möglichst geringe Rolle spielen. Präsident Gauck hat an Weihnachten vermieden, den Namen Jesu zu nennen. Und das mit der Begründung: Das würde die Nicht-Glaubenden beleidigen. Gleichzeitig aber kann man durchaus anerkennen, dass Mitteleuropäer ohne Religion durchaus nicht weniger ethisch zu leben scheinen. Ich halte diese stillschweigend angenommene Grundüberzeugung, dass Religion nur Privatsache sein darf, für sehr problematisch, vielleicht für falsch. Vielleicht kann man sogar sagen: Europa macht erstmals in der Geschichte den Versuch, eine Gesellschaft zu organisieren unter Absehung von einer transzendenten Autorität. Man versucht es, ohne die Arbeitshypothese Gott. Denn mir scheint: In vielen Kulturen der Erde wurde und wird stillschweigend vorausgesetzt, dass eine überirdische, eine göttliche Autorität hinter der Ordnung von Welt und Gesellschaft steht. Mitteleuropa macht den Versuch, ohne die Arbeitshypothese Gott die Gesellschaft zu gestalten. Zunächst muss man einmal anerkennen: es scheint zu gehen. Die Zahl der Verbrechen ist wohl nicht gestiegen. Es scheint mir also, dass hinter der Kirchenkrise eine Glaubenskrise steht und aufgrund der Glaubenskrise sogar eine Kulturkrise, eine Krise seiner Identität. Denn hat nicht jede Kultur ganz wesentlich auch religiöse Wurzeln? Ich erlaube mir die Frage: Hat nicht vielleicht Mitteleuropa wegen der tiefen und verbreiteten Glaubenskrise eine ganz wesentliche Identitätskrise? Ist Europa mit sich im Reinen? Und kann Europa seine Bedeutung für die Welt behalten, wenn es in seiner Identität unsicher ist, wenn es das Christentum als eine der Wurzeln Europas ins Private abdrängt? Kann Europa sein geistiges Gewicht angesichts der wachsenden Bedeutung von China, von Indien, von Arabien bewahren, wenn es eine seiner Quellen – das Christentum – zu einer Privatsache macht. Angela Merkel sagte am ….. „Wir haben nicht zu viel Islam, wir haben zu wenig Christentum.“ Und der evangelische Theologe Jürgen Moltmann fordert sogar mehr Mission durch seine KLRÖ, Vollversammlung 2014, Studienteil, 8. März 2014 4 Kirche. Das Dialogische sei langweilig, es brauche Mission. Wenn man nur noch auf Konsensfähigkeit aus sei, dann blieben nur angepasste Typen ohne Ecken und Kanten. Moltmann schlägt vor, Muslime in Kirchen einzuladen, um ihnen das Evangelium zu erklären. Am Ende dieser ersten Gedankenrunde fasse ich zusammen: wir haben nicht nur eine Kirchenkrise, wir haben sicher eine Glaubens- und vielleicht auch eine tiefe Kulturkrise. 3. Christentum in Asien, Afrika und Amerika Und wenn wir nicht nur um uns selbst kreisen, dann müssen wir einen Blick auf das Christentum rund um den Globus werfen. Denn da sieht es teilweise ganz anders aus. Christlicher Glaube wächst vor allem in einigen Ländern Ostasiens gewaltig. Ich spreche vor allem von der Volksrepublik China, von Vietnam und von Südkorea. Ein chinesischer Regierungsvertreter hat kürzlich die Vermutung ausgesprochen, dass es in etwa zwanzig Jahren 150 Millionen Christen in China geben wird. Derzeit sind es zwischen 70 und 100 Millionen. Wohlgemerkt: Christen verschiedener Konfession, nicht Katholiken! Etwa ein Zehntel aller Christen in China dürften Katholiken sein. Die Regierung hasst deren Abhängigkeit von Rom und verfolgt Amtsträger, die öffentlich den Papst als ihren obersten Amtsträger anerkennen. Sie haben es schwer und werden teilweise verfolgt. Aber die Regierung toleriert die Hauskirchen verschiedener Konfessionen, wenn sie nicht politisch sind. Die Chinesen werden vor allem vom Gleichnis des verlorenen Sohnes angezogen. Denn ein Sohn, der sein Vermögen verspielt und sein Leben vertut, wird nach chinesischer Tradition von seinem Vater verstoßen. Der verlorene Sohn des Evangeliums wird aber vom Vater umarmt und liebevoll aufgenommen. Das ist für Chinesen überzeugend und anziehend. Man muss an die schweren Christenverfolgungen noch vor 30 Jahren erinnern. Vielleicht sind sie Mitursache für den heutigen Zulauf. In der Volksrepublik China werden jährlich 10 bis 12 Millionen Bibeln gedruckt. Seit 25 Jahren wurden über 100 Millionen Bibeln gedruckt. 60 Prozent davon bleiben in China, 40 Prozent gehen ins Ausland. Eine Bibel kostet in China etwa 2 Euro. (Quellen: Radio Vatikan, Die Welt, Deutsche Bibelgesellschaft) Ein ähnliches Christenwachstum gibt es in Vietnam. Heute gibt es in Vietnam rund 5 Millionen Katholiken. Ich weiß keine Zahl der sonstigen Christen. Und die Katholiken wurden in Vietnam aufs schwerste verfolgt. Auch hier gilt das alte Wort „Sanguis martyrum – semen christianorum“. Das Blut der Märtyrer ist der Samen neuer Christen. Südkorea hatte keine so schlimme Verfolgung und dennoch wächst auch dort das Christentum sehr stark. Es gibt also Weltregionen, in denen christlicher Glauben und Wirtschaft in gleicher Weise wachsen. Wirtschaftswachstum, Reichtum verhindern nicht per se religiösen Glauben, im Gegenteil. Man muss auch erwähnen, dass etwa in Japan christlicher Glaube kaum wächst, ähnlich in Indien. Dass Afrikaner zu christlichen Kirchen übertreten, kann man vielleicht leichter verstehen als Ost-Asiaten. Die beiden Großreligionen Christentum und Islam sind für die Afrikaner offenbar überzeugend. Rund 45 Prozent der Menschen südlich der Sahara bezeichnen sich als Christen, 40 Prozent bezeichnen sich als Muslime. Ihr Zusammenleben geht im Allgemeinen auch gut. Es gibt kaum Konflikte zwischen religiösen Gruppen. Die Konflikte, von denen wir hören, haben meist politische oder andere Ursachen. Offenbar überzeugen KLRÖ, Vollversammlung 2014, Studienteil, 8. März 2014 5 die Stammesreligionen nicht mehr so. Aber vermutlich spielen alte Riten auch bei Christen und Muslimen in Afrika immer noch eine große Rolle. Ein Krisenkontinent für die katholische Kirche ist neben Mitteleuropa meiner Ansicht nach Lateinamerika. Dort wandern viele Katholiken zu den Pfingst-Hauskirchen. Sie erhalten oft Unterstützung aus den USA. Millionen Katholiken wandern ab zu ihnen. Vielleicht kann Papst Franziskus hier etwas ändern. Nordamerika ist spezifisch anders als Mitteleuropa. Die Kirchen spielen dort eine große gesellschaftliche Rolle. Der klassische Nordamerikaner gehört einer Kirche an, will sie gestalten, er bekennt sich zu ihr und bekennt seinen Glauben an Gott. Wer Präsident werden möchte, muss sagen, zu welcher Glaubensgemeinschaft er gehört. Christentum scheint mir gesellschaftlich in den USA stabil. Ein kurzer Blick auf Süd- und Osteuropa. Ganz einfach gesagt scheint mir der Glaube an Gott, an eine jenseitige Macht gehört bei den Romanen und den Slaven zum Selbstverständlichen. Sie haben eine andere Antenne für Transzendentes, sind vielleicht sogar abergläubisch. Glaube ist zwar auch durch Materialismus bedroht, aber eine Säkularisierung wie in Mitteleuropa spielt im Süden und bei den Slaven nicht die Rolle wie bei Germanen, Angelsachsen und Skandinaviern. Zum Ende dieses Abschnittes als Quintessenz: Weltweit ist christlicher Glaube trotz Wirtschaftswachstums teilweise stark im Wachsen, teilweise stabil. Nirgends scheint mir religiöser Glaube so sehr bedroht wie in Mitteleuropa. In Lateinamerika ist besonders das Leben in der katholischen Kirche bedroht. 4. Die Verschiedenheit der Mentalitäten Wir sind immer noch bei der Frage: kann Papst Franziskus die Kirchenkrise oder die Glaubenskrise meistern? Um uns einer Antwort zu nähern, müssen wir aber noch weiter fragen, vor welcher Situation Papst Franziskus steht. Und dazu ein Blick auf die Mentalitäten und Denkweisen der Menschen und Völker. Um es kurz zu sagen: Die unterschiedlichen Mentalitäten der Völker oder Populationen spielen auch innerhalb der Kirche und des Glaubens eine wichtige Rolle. Sie erschweren das internationale Zusammenleben der Kirchenmitglieder. Auch wenn religiöser Glaube eine ganz persönliche Entscheidung ist, so geschieht er doch in Mentalitätsgruppen. Und diese Mentalitäten sind von Gruppe zu Gruppe verschieden. Erlauben Sie mir das zu erläutern durch einen Witz, den mir der deutsche Philosoph Robert Spaemann erzählt hat. Er lautet so: „Ein Engländer, ein Franzose und ein Deutscher sollen mit dem Fallbeil hingerichtet werden. Der Engländer wird als erster gefragt: Mit oder ohne Binde vor den Augen? Der Engländer: mit offenen Augen. Er beugt sich nieder, das Fallbeil kommt, bleibt über dem Hals hängen, schneidet nicht. Der Richter konstatiert: Maschine funktioniert nicht, sie sind frei, können gehen. Der Franzose wird gefragt: Mit verbundenen oder mit offenen Augen. Er sagt: mit verbundenen Augen. Fallbeil kommt, schneidet nicht, der Richter sagt: Sie sind frei. Der Deutsche wird das Gleiche gefragt. Er antwortet: ist mir gleich, reparieren Sie aber zuerst die Maschine.“ Erstaunlicherweise hat sich Immanuel Kant mit den Mentalitäten auseinandergesetzt. Zu finden ist es in der Schrift „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“. KLRÖ, Vollversammlung 2014, Studienteil, 8. März 2014 6 Menschen und Völker haben verschiedene Mentalitäten. Auch bei getauften Christen bleiben die Mentalitäten verschieden. Ich meine, in Europa folgende Mentalitäten unterscheiden zu können: die ordnungsliebenden Germanen, die pragmatischen Angelsachsen, die mystischen Slawen, die flexiblen Romanen. Zu den Germanen zähle ich die Deutschen, Österreicher, Deutsch-Schweizer, Flamen, Niederländer. Wir haben ein besondere Fähigkeit und Bedürfnis nach Ordnung, nach gutem Funktionieren, nach Regeln, nach Zuverlässigkeit. Wir können nicht gut leben in einer Welt, in der man sich nicht auf die Zuverlässigkeit verlassen kann. Wir wollen korrekt sein. Wir haben auch ein besonderes Bedürfnis, mit staatlicher und kirchlicher Autorität übereinzustimmen. Vielleicht steckt dahinter eine gewisse Angst. Es muss nicht Ordnungsliebe sein, vielleicht haben wir auch Angst, uns in wichtigen Dingen auf unser persönliches Urteil zu verlassen. Wir sind auch Systematiker, was sich nicht nur in unseren großen Philosophen wie Kant, Hegel und Marx zeigte, sondern auch im Maschinenbau und in der Buchhaltung. Wo es genau zugehen muss, sind wir Meister. Andere Populationen sind vielleicht spontaner, vielleicht auch pragmatischer, sie improvisieren lieber und auch nicht schlecht. Und nun müssen deutsche Katholiken mit einem Vatikan auskommen, der nun nach Gottes Zulassung in Italien ist. Und dort gehen die Uhren sehr anders. Die Angelsachsen verstehen es sehr gut, pragmatische Lösungen für weltanschauliche Fragen des Staates und der Gesellschaft zu finden. Sie machen dafür keine Kriege. Sie arrangieren sich friedlich. König Heinrich VIII. brach mit Rom nicht wegen theologischer Fragen wie Martin Luther, sondern weil er eine neue Frau wollte. Die Slaven nenne ich mystisch, weil sie wohl tief innen eine religiöse Ader haben. Sie brauchen offenbar unter den Intellektuellen nicht Aufklärung für ihren christlichen Glauben wie wir Germanen sie brauchen, sie suchen weniger die Auseinandersetzung mit der Vernunft, sie singen daher jahrhundertelang die gleichen Hymnen und formulieren ihren Glauben auch nicht neu. Offenbar haben 90 Jahre atheistischer Kommunismus den Glauben an Gott auch nicht in der Weise zerstört wie das bei den Germanen der Fall war. Vor 25 Jahren zählten sich 17 Prozent der Russen zur orthodoxen Kirche, heute sind es an die 70 Prozent. Die Zahl der orthodoxen Christen hat sich in Russland laut „katholisch.de“ vervierfacht. Die Romanen wiederum „ticken“ sehr anders, speziell die Römer sind Juristen, die gut begehbare Brücken schlagen zwischen Recht und Leben. Sie haben aber – wie mir scheint – einen siebten Sinn für Unsichtbares, für Geheimnisvolles. Sie sind nicht so nüchtern wie wir Germanen. Das Mysteriöse, Geheimnisvolle spielt in ihrem Alltagsleben eine viel größere Rolle als bei uns Germanen. Und diese Verschiedenheit der Mentalitäten schlägt sich auch im Glauben der einzelnen Völker nieder. Vor allem haben die Populationen ein sehr unterschiedliches Verhältnis zur Autorität. Das Bedürfnis nach Übereinstimmung mit ihr ist sehr unterschiedlich. Der Wunsch selbst zu entscheiden, ist unterschiedlich ausgeprägt. Der Mut, die Entschiedenheit, sich auf das eigene Gewissen zu verlassen, ist sehr unterschiedlich. Der christliche Glauben wird von Angelsachsen anders gelebt als von Germanen, von Romanen anders als von Slaven. Die Glaubensspaltungen in Europa spiegeln ein wenig auch die Verschiedenheit der Mentalitäten wider. Sie haben zwar auch wirklich theologische und historische Gründe, aber auch die Mentalitätsunterschiede spielen für die Spaltungen eine Rolle. Den Germanen Martin Luther und die Theologen seiner Zeit haben fragwürdige theologische Ansichten über Ablass und KLRÖ, Vollversammlung 2014, Studienteil, 8. März 2014 7 Rechtfertigung mehr umgetrieben als sie romanische, slawische und angelsächsische Theologen umgetrieben haben. Die Abspaltung der Ostkirchen und der Anglikaner haben wesentlich mehr politische Gründe als die Trennung zwischen Wittenberg und Rom. Und nun müssen Katholiken nördlich der Alpen, in dem Bereich, den ich Germanien nenne, leben mit einer Kirchenleitung, die in Italien sitzt und daher bisher mehrheitlich durch Italiener geprägt ist. Das wird meiner Ansicht nach bis zum Ende der Welt eine Spannung hervorrufen. Ich glaube, das Phänomen der verschiedenen Mentalitäten wird für theologische Diskussionen im Allgemeinen zu wenig beachtet. Vielleicht liegt das auch daran, dass die Mentalitätsunterschiede dann eine geringere Rolle spielen, wenn die Kirche von außen bedroht wird. Wenn ein Hitler oder Stalin die Kirche bedrohen, spielen innerkirchliche Differenzen eine viel geringere Rolle. Auch ein Bismarck ließ Differenzen zwischen deutschen Katholiken und dem Vatikan klein erscheinen. Wenn Bedrohung von außen kommt, halten Katholiken zusammen. Und nun ein Blick nach Österreich. Sie wissen selbst wohl viel besser als ich, dass die Uhren in Vorarlberg und Tirol anders gehen als in Wien. Die Menschen ticken verschieden. Die Vorarlberger sind wohl viel mehr Germanen als die Wiener, für sie spielt kirchliche Ordnung eine wesentlich andere Rolle als für Wiener. 5. Und nun kommen wir endlich zu Papst Franziskus. Die Fragestellung lautet: Kann er die Kirchenkrise wenden? Welche Zeichen setzt er, welche Maßnahmen hat er ergriffen, welche Maßnahmen wird er möglicherweise ergreifen, wird das die Kirchenkrise, die Glaubenskrise wenden? Erinnern wir uns kurz, was wir alle gehört und gelesen haben: Er setzt auf Zeichen: Sein Name, sein erstes Auftreten, das „Buona sera“, die Bitte an die am Petersplatz Versammelten um Segen, seine Kleidung, sein Wohnen, sein Autofahren, sein Bezahlen der Unterkunft, sein Umgehen mit Menschen. Er weiß, Leben und Lebensstil überzeugt mehr als Worte. Seine Fahrt nach Lampedusa, sein Auftreten in Brasilien. Zweitens: Er stellt die Armen ins Zentrum, er ruft für sie auf. Es ist unübersehbar, dass er an der Weltwirtschaft vieles nicht in Ordnung findet. Drittens: Er spricht von sich als Bischof von Rom, er möchte vermutlich Dezentralisierung, hat auch schon beklagt, dass zu viele Vorwürfe wegen Häresien nach Rom gemeldet werden. Viertens: Wie wird er die Frauenfrage angehen, den Feminismus? Er hat schon starke Worte gesagt. Frauen müssen dort, wo wichtige Entscheidungen gefällt werden, etwas zu sagen haben. Maria sei wichtiger als Päpste, Bischöfe und Priester. Aber was heißt das konkret? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er einverstanden ist damit, dass Kirchengeschichte in Synoden und Bischofskonferenzen und Konzilien nur von Männern gemacht wird. Aber was wird er machen, um den Frauen eine Stimme zu geben. Fünftens: Vielleicht will er auch das verlebendigen, was man Volksfrömmigkeit nennt. Vielleicht hat er den Eindruck, dass wir die Eucharistiefeier zu ausschließlich als Seelsorgeeinrichtung angesehen haben, dass wir damit auch den Amtsträger zu sehr betonen. Vielleicht will er zurück zu Volks-Frömmigkeitsformen, in denen Frauen eine große Rolle spielen. KLRÖ, Vollversammlung 2014, Studienteil, 8. März 2014 8 Franziskus mutet den Katholiken zu, verschiedene Spannungen auszuhalten. Die Spannung zwischen die Sünde verabscheuen und den Sünder lieben. Das ist nicht neu, sondern grundsätzlich jesuanisch. Aber es ist uns vielleicht vor allem in Mitteleuropa etwas verloren gegangen, weil wir eben eine besondere Liebe zur Ordnung haben. Wir wollen Erlaubnisse oder Verbote. Wir können nichts offen lassen. Wir neigen vielleicht dazu, bürgerlich Regeln zu suchen. Papst Franziskus mutet uns zu, ohne solche bürgerlichen Regeln zu leben. Und hier ist er wohl Jesus besonders nahe. Franziskus mutet den Katholiken zu, die Spannung auszuhalten zwischen Jesus, dem Barmherzigen und Jesus, dem Provozierenden, Anspruchsvollen. Vielleicht sind wir in den letzten Jahrzehnten der Versuchung erlegen, Jesus als Moralisierenden zu sehen, ein Jesus, der erlaubt und verbietet. Das ist aber nicht der wirkliche Jesus. Jesus ist gleichzeitig maßlos barmherzig und maßlos anspruchsvoll, ja provozierend: Wer nicht alles aufgibt, kann nicht mein Jünger sein, wer Vater und Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert. Ein deutscher Journalist hat geschrieben: Franziskus ist nicht liberal, sondern radikal. Während Papst Benedikt vielleicht als guter germanischer Denker Angst hatte davor, dass sich in der Kirche und in der Theologie alles auflöst in allgemeinmenschliche Liberalität, führt Franziskus zurück in die Spannung Jesu: total barmherzig und total anspruchsvoll. Jesus ist nicht nur ein Streichler, sondern auch ein Provozierer. Franziskus zwingt uns vielleicht aus Alternativen auszusteigen, die möglicherweise zu gut bürgerlich sind. Kann Papst Franziskus die Kirchenkrise meistern? Ich denke: wir müssen in Mitteleuropa von manchen falschen Alternativen weg kommen. Eine solche Alternative ist wohl: konservativ – progressiv. Es ist ja doch auffällig, dass die liberalere, menschenfreundlichere Art der evangelischen Kirche auch nicht mehr Anziehungskraft hat. Andererseits haben manche Konservative Zulauf. Wenn die Strenge der Konservativen nicht auf der Linie Jesu liegt, dann kann sie nicht die richtige Linie sein, aber es ist die Frage, ob und in wie weit sie auf Jesu Linie liegt. Also sicher: wenn eine barmherzige Lösung für die geschiedenen Wiederverheirateten gefunden wird, werden verletzte Katholiken in die Kirche zurückkehren. Aber das ist insgesamt eine kleine Minderheit. Die große Rückkehr zur Kirche kommt dadurch wohl kaum. Das zeigt m.E. die evangelische Erfahrung. Ähnlich: wenn Frauen ernst genommen werden, ja wenn Frauenordination eingeführt würde, wenn der Pflicht-Zölibat abgeschafft würde, das würde den großen Zulauf zur Kirche nicht bringen. Ich schließe mit einem Wort von Umberto Ecco: Er sagt: man versteht von der Kultur Europas nur 25 Prozent, wenn man das Alte und Neue Testament nicht kennt und nicht die KLRÖ, Vollversammlung 2014, Studienteil, 8. März 2014 9 Geschichte der Christlichen Heiligen. Die Kultur des Alten und Neuen Testamentes sind die Quellen Europas, seines Menschenbildes, seiner Rechts- und Sozialauffassung, der Vorstellung von Menschenwürde und von Menschenrechten. Wenn wir das Christentum zur Privatsache machen, verlieren wir unsere innere Identität und Stärke. KLRÖ, Vollversammlung 2014, Studienteil, 8. März 2014 10