PREDIGT HILDESHEIM, JUDIKA, 17.3.2013, St. Andreas Predigt von Superintendent Helmut Aßmann Joh.11, 47-53 47 Da versammelten die Hohenpriester und Pharisäer den Hohen Rat und sprachen: Was tun wir? Dieser Mensch tut viele Zeichen. 48 Lassen wir ihn so, dann werden sie alle an ihn glauben, und dann kommen die Römer und nehmen uns Land und Leute. 49 Einer aber von ihnen, Kaiphas, der in diesem Jahr Hoherpriester war, sprach zu ihnen: Ihr wisst nichts; 50 ihr bedenkt auch nicht: Es ist besser für euch, ein Mensch sterbe für das Volk, als daß das ganze Volk verderbe. 51 Das sagte er aber nicht von sich aus, sondern weil er in diesem Jahr Hoherpriester war, weissagte er. Denn Jesus sollte sterben für das Volk, 52 und nicht für das Volk allein, sondern auch, um die verstreuten Kinder Gottes zu einem zusammenzubringen. 53 Von dem Tage an war es für sie beschlossen, daß sie ihn töteten. Liebe Schwestern und Brüder, Kaiphas, die Priester am Tempel und die Pharisäer beraten sich. Was sollen sie tun? Sie stehen einem Mann gegenüber, auf den sie sich keinen richtigen Reim machen können. Sie können zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, was alles später kommen wird. Ostern gibt es nicht, Himmelfahrt, ja, noch nicht einmal der Karfreitag ist ihnen vor Augen. Das ist alles noch nicht passiert. Sie haben keine Ahnung, wie sehr sie und ihre Namen in den kommenden Jahrtausenden in das Gedächtnis der Menschheit gebrannt werden. Sie sind eingebunden und verstrickt in die Geschichten ihrer Zeit und müssen zusehen, wie sie mit dem Mann umgehen, der sie ebenso fasziniert wie verärgert. Schwierig genug ist die Lage für sie. Kaiphas überlegt: Wir sind keineswegs die Herren in ihrem Hause, sondern von überall drängen Interessen und Parteien in den Tempelbetrieb hinein. Man muß vorsichtig sein mit all diesen Lobbyisten. Man weiß nie, wofür man sie noch gebrauchen kann, wozu sie am Ende noch gut sein können. Schließlich sieht man sich im Leben immer zweimal. Es ist darauf Acht zu geben, daß die richtigen Leute an den richtigen Stellen vorkommen, damit die politischen Verwerfungen nicht zu groß werden. Religion hat ja nicht immer nur etwas mit Gott zu tun, ist nicht nur ein Interessenfeld für fromme Leute. Sie stellt auch so etwas wie eine staatstragende Aufgabe dar. Und angesichts der Machtverhältnisse, immerhin handelt es sich um ein militärisch besetztes Land, ist es nicht opportun, allzu viel Unruhe und Aufregung aufkommen zu lassen. Es gibt immer nervöse Leute, die bei der geringsten Erregung ihre Fassung verlieren. Ohne Not also keinen Aufruhr, wegen was auch immer. Der Schaden wäre durch keine Sorte von Wahrheit aufzuwiegen. Kaiphas überlegt weiter: Die verschiedenen Parteiungen wollen ihr Recht gewahrt wissen, auch unter den Religionsverantwortlichen selbst. Es ist wie immer: die Liberalen und Weltoffenen auf der einen Seite, die immer mal wieder etwas Neues brauchen, die Konservativen auf der anderen Seite, denen die Treue zur Tradition Kern und Stern des Glaubens an den einen Gott ist. Außerdem noch diejenigen, die immer etwas Besonderes sein wollen. Oder müssen. Die ewigen Ideengeber und Dauerphantasievollen, die „Man-könnte-es-doch-auch-so-machen“ – Protagonisten. Bei all diesen unterschiedlichen Aspekten kommt es am Ende darauf an, eine gute Balance herzustellen und nicht der einen oder anderen Seite das Feld zu überlassen. Hohepriesterliche Autorität zeigt sich in einer moderaten Berücksichtigung aller; die Herde zusammenhüten ist seit alters die Kunst der Ausgewogenheit. Schlußendlich, ja eigentlich vor allem, gibt es die zentrale, die religiöse Aufgabe. Natürlich ist sie die eigentlich wichtigste. Die Opfer wollen professionell dargebracht, die Altäre müssen bedient werden, und zwar von guten Leuten. Stümper in den Heiligtümern verderben die guten Sitten. Die Tradition der Schriften muss gepflegt und der priesterliche Nachwuchs umsorgt sein, die Bücher müssen sorgfältig kopiert und beaufsichtigt werden, man muß den Leuten die großen Worte unseres Glaubens einbimsen, damit sie ihn und ihre eigene Seele nicht vergessen. Besser die Gebote gehalten und nicht verstanden als sich große Gedanken machen und darüber die rechte Praxis und das spontane Handeln verlieren. Grübler und Enthusiasten haben am Tempel nichts verloren – die sollen in der Provinz ihr Mütchen kühlen, aber ihre munteren Finger aus den großen Geschäften der Leitung heraushalten. Die heiligen Geräte und Zeichen bedürfen der aufmerksamen, pflegenden Begleitung. Silber und Gold, Edelholz und Alabaster bleiben nicht von allein ansehenswert und schön. Da müssen Hände und Technik her, und die kosten nun einmal Geld, das gut ausgegeben ist zur Ehre des einen Gottes. Und: die Familien der Priester sind zu versorgen, da sind Frauen und Kinder, Väter und Mütter, die etwas auf dem Tisch haben wollen. Gott hat es schließlich selbst geboten, daß die diensthabenden Menschen am Tempel von den Geldern der Gläubigen leben sollen. Von Luft und Liebe kann man auch am Heiligtum nicht leben, die ganz wenigen Heiligen einmal ausgenommen. Die Gebäude kosten eine Menge Geld und halten sich auch nicht von selbst instand. Sie erheben die Ehre Gottes in Stein und Marmor, nicht mehr und nicht weniger, und deswegen, auch als Zeichen gegen die falschen Götter ringsum, denen man huldigt und deren Symbole die Öffentlichkeit überschwemmen, sind sie eine bleibende Verpflichtung auf Generationen hinaus. Das alles ist und bleibt für alle Zeiten eine Vollzeitaufgabe, fordert den ganzen Mann und ist alles andere als vergnügungssteuerpflichtig. So denkt Kaiphas angesichts der Unruhe, die mit dem Mann vor seinen Augen und in seinen Gedanken aufsteht und sein Denken beschwert. Der kommt daher, aus dem Norden, aus der tiefsten Provinz, dort, wo man zwischen guten und schlechten Sitten schon gar nicht mehr richtig unterscheiden kann, und macht hier großes Tamtam. Viele Anhänger, mächtiges Getöse, zahlreiche Wundertaten, großartiges Redetalent. Beeindruckend, durchaus. Einer von denen aus dem Off, von irgendwo, unbezweifelbar ein großes religiöses Talent. Jemand, der mit Gott per Du ist und all das an spiritueller Energie in sich trägt, der dem üblichen Tempelbetrieb in seiner emsigen Geschäftigkeit vollkommen abgeht. Religiöser Furor. Kraft, Vollmacht, Leidenschaft, solch ein Kaliber. Einer der so ist, wie die meisten Priester und Pharisäer gerne sein würden, aber durch ihre zahlreichen Pflichten und Verbindlichkeiten einfach nicht sein können. Einer, der so ist, wie Kaiphas es sich vorgestellt hat zu sein, als er seine Ausbildung zum Priester begann, damals vor vielen Jahren... Jesus aus Nazareth, der ihm da vorgeführt wird, ist, wie es scheint, unverheiratet, ohne Besitz, keinen politischen Hintergrund, hat also auch an diesen Stellen keinen Rahmen, der ihn bändigt oder aufhält. Er hat den Charme des Heilsbringers, des großen Erzählers von Gott und seiner Barmherzigkeit, bringt all diese verführerischen Accessoires mit sich, die die Leute auf seinen Leim gehen lassen: Das „Reich Gottes“ – eine wunderbare, eingängige, herzerwärmende Phrase, unter der sich jeder etwas für sich vorstellen kann, für die aber keiner Verantwortung übernimmt. Ein Paradies der Phantasie, ein Feuerwerk religiöser Energie, körperlich spürbar, wenn man solchen Propheten naherückt, aber kaum ist man wieder allein, verfliegt die Euphorie wie ein Schatten unter der Wolke, und aus dem „Reich Gottes“ wird eine leere Hülse. Ja, darüber läßt sich trefflich predigen, wenn man keinerlei Verantwortung für seine Einlösung übernehmen muß. Die „Umkehr“, das Bußetun, die Heiligung des Lebens – ach, wirklich? Schauen wir uns doch um, offenen Auges. Seit den Tagen Abrahams, Isaaks und Jakobs kein Fortschritt in der Heiligung des erwählten Volkes. Jedenfalls soweit Kaiphas das beurteilen kann, und er nimmt sich da keineswegs selber aus. Auch er ist nur und nicht mehr als ein Mensch, kein Gott. Beansprucht das aber auch nicht wie dieser Mann da vor ihm. Buße zu fordern ist wohlfeil, solange man die meisten Lebensjahre noch vor sich hat. Das Pathos der erzwungenen und erforderten Lebenswende ist ein Privileg der Jugend. Die Wunder an den Kranken – ja, gern, soviel als irgend möglich, es ist des Leides ja kein Ende in dieser Welt. Aber bitte kein Fanal zur politischen Wende daraus machen. Wunder dieser Art kennen wir seit dem Propheten Elisa und den ägyptischen Zauberern – daran ist nichts, weswegen man mit ewigen Titeln auftreten müßte. Wer immer gesund geworden ist, freue sich seiner Gesundheit und danke Gott, aber er halte seinen Mund in Sachen Neuschöpfung der Welt. Und wer immer ein gutes Wort empfangen hat, preise Gott darüber, aber er verkneife sich große Prophezeiungen über das Ende der Welt. Da sind schon Größere gekommen und haben sich verhoben. Kaiphas sieht: lassen wir den laufen und weitermachen, wird er allen möglichen Leuten den Kopf verdrehen. Ist erst einmal die Masse auf den Beinen, wird sie von keiner Einsicht und keinem Argument gestoppt. Dann hilft am Ende nur noch rohe Gewalt. Wenn Tausende skandieren und marschieren, bleiben als erstes die Vernunft und das Maß auf der Strecke. Es kommt dann weder auf Wahrheit noch auf Umsicht an – die Leute wollen zuletzt immer einen König, einen, der ihnen sagt, wo es langgeht, eine göttliche Orientierung, die jetzt und hier zur Verfügung steht, den Augenblick der Vollendung. Rasend kann einen das machen, wenn die Leute irgendeine Parole schreien und nicht mehr wissen wollen, ob es auch nachhaltig, überlegt und für alle gut ist. Der Mann aus Nazareth sammelt die blinden Königsmacher um sich – man spürt es schier. Sie streuen ihm Kleider und Palmen auf die Erde – da ist die Krönung nicht weit. Und dann: ja dann machen die wirklich Mächtigen mit allem einen kurzen Prozeß, dann wird aufgeräumt, dann ist alles verloren, Leute und Land. Das kann niemand ernsthaft wollen. Nein, so beeindruckend dieser Mann auch ist, so sehr es einen um diese religiöse Gabe leid tut, so sehr man ihm selber gerne zuhören, zu seinen Füßen sitzen, ja, so sehr man die eigene kranke Frau in seine Hände geben möchte, so sehr steht auch fest: er muß weg. Er ist mehr eine Gefahr als ein Segen. Er ist mehr Unruhe als Frieden. Er ist mehr Chaos als Heilung. Ja, um es ein wenig pointiert auszudrücken: er redet überwältigend von Gott, aber er tritt die Worte Gottes am Ende mit Füßen. Er vergeht sich an der heiligen Tradition seines Volkes und führt alle seine Anhänger in die Irre. Mag er selber damit auch zurande kommen – die ihm folgen, werden das nicht schaffen. Um es kurz zu fassen: Besser einer stirbt für das Volk als daß sie alle draufgehen. Ja, Kaiphas, mein Bruder, ich kann dich gut verstehen. Wir hätten genauso gehandelt. Besser einer stirbt für alle, als daß wir alle draufgehen, Amen.