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Jan Kranát
Referat zum Seminar Prag-Erlangen dem 13. Mai 06
Paul Ricoeur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen
Individuelles Gedächtnis, kollektives Gedächtnis
1. Zum Problem
Im Kontext der gegenwärtigen philosophischen Diskussionen über das Subjekt
der Gedächtnisoperationen (Wer im Denken eigentlich denkt?), könnten wir ganz
analoge Frage nach dem Subjekt des Gedächtnisses stellen (Wem gehört eigentlich
das Gedächtnis?). Diese Frage kann aber sehr schnell zu einer falschen Alternative
führen: Ist das Gedächtnis ursprünglich individuell oder kollektiv?
Ricoeur will dieser lästigen Debatte entkommen. Diese Alternative sei die relativ
späte Frucht einer doppelten Bewegung:
1) Formierung einer offen egologischen Subjektivität
2) Einbruch der Soziologie und eines völlig neuartigen Konzepts kollektiven
Bewusstseins in das Gebiet der Sozialwissenschaften.
Die antiken Denker haben diese Frage (wer erinnert sich, ich oder wir?) so
überhaupt nicht gestellt. Sie stellten andere Fragen, die z.B. das praktische Verhältnis
zwischen Individuum und Polis betrafen. – Nun aber stehen eine ältere Tradition der
Reflexivität und eine jüngere Tradition der Objektivität polemisch einander
gegenüber und dadurch geraten auch das individuelle und das kollektive Gedächtnis
in eine Rivalität. Diese zwei Traditionen stehen aber nicht auf derselben Ebene,
sondern in Diskurswelten, die einander fremd geworden sind. Ricoeur – als
Philosoph – will zwischen beiden Diskursen Brücken schlagen, in der Hoffnung, der
Hypothese einer zwar distinkten, doch wechselseitigen und überkreuzten
Konstitution von individuellem und kollektivem Gedächtnis einige Glaubwürdigkeit
zu verleihen. – Und er weiß, dass das Problem damit nicht abgeschlossen sein wird.
2. Die Tradition der Innerlichkeit
Der „private“ Charakter des Gedächtnisses kommt erst mit der vertieften
individuellen Selbstreflexion des beginnenden Christentums und dauert durch lange
Jahrhunderte hin bis zu seinem Höhepunkt in Husserls egologischen Analysen des
transzendentalen Zeitbewusstseins. In dieser Tradition scheint (1) das Gedächtnis in
radikaler Weise singulär zu sein, d.h. man kann die Erinnerungen des einen nicht in
das Gedächtnis des Anderen übertragen. Alle Erlebnisse und Erfahrungen des
Subjekts sind als sein eigener Besitz angesehen. (2) Mein Gedächtnis verbindet mich
mit meiner Vergangenheit und gerade diese Verbindung bildet die Identität und
Kontinuität meiner Person. (3) Der Sinn für die Orientierung in der Zeit ist eng mit
meinem Gedächtnis verbunden. Auf diesen Alltagserfahrungen und aus der
Alltagssprache entnommenen Bestimmungen baute die Tradition der Innerlichkeit
auf.
2.1. Augustinus
Augustinus kennt noch kein Bewusstsein, kein Selbst und kein Subjekt. Im X. und
XI. Buch seiner Bekenntnissen beschreibt er nur den inneren Menschen, der sich
seiner selbst erinnert. Die Analysen der menschlichen Seele sind sehr eng mit denen
des Gedächtnisses und der Zeit verbunden. Das Gedächtnis spielt eine zentrale Rolle
in Augustins schmerzhafter Gottessuche. Höhe und Tiefe sind hier dasselbe – höhlen
sich zur Innerlichkeit aus, die durch die räumliche Metapher geschildert wurde. Die
Untersuchung konzentriert sich auf das Wunder der Widererinnerung und fürchtet
sich vor der Möglichkeit eines Vergessens. Im Innenraum der Seele (oder des Geistes)
entfaltet sich die Dialektik der distentio und intentio. Distentio animi, das Erlebnis
der Gegenwart hat drei Ausrichtungen: Gedächtnis, Erwartung und
Vergegenwärtigung, was die „Unähnlichkeit des Selbst mit sich selbst impliziert.“
Darin verbirgt sich eine Polemik mit der aristotelischen Zeitkonstitution aus den
kosmischen Bewegungen.
2.2. Locke
Es ist sicher eine Überraschung, dass anstatt des kartesischen cogito oder
kantischen a priori, Ricoeur als „Erfinder des Bewusstseins“ gerade Locke anführt.
Locke ist Erfinder der drei Begriffe: identity, consciousness und self, die alle
Verbindungen mit der alten Substanzmetaphysik auflösen (zu der noch cogito
gehört). Eine Person, ein denkendes und verständigendes Wesen, ist nur durch ihr
eigenes Bewusstsein identifiziert. Self, die personale Identität, braucht keine
körperliche Substanz. Es ist nur zeitliches Geschehen, die Vereinigung der getrennten
Handlungen zu einer Einheit und das sich selbst indentifizierende Bewusstsein
erfordern endlich ein Gedächtnis. Diese strenge Identität des Bewusstseins und des
Selbst behandelt Locke nur in seinem Versuch über den menschlichen Verstand. In
seiner Zweiten Abhandlung über die Regierung finden wir eine ganz andere
Begrifflichkeit. Wenn wir nach dem Ursprung der politischen Macht fragen, reicht
uns die in sich selbst abgeschlossene Identitätsphilosophie nicht mehr. Die Macht ist
„Macht über einen anderen“ In einer Regierung oder in einem Krieg handelt der
Mensch, nicht das Selbst. Und wir leben von Anfang an in einer Welt und in einem
Natur- und Kriegszustand und nicht in der Theorie des Selbst.
2.3. Husserl
Die Egologie der Husserlschen Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren
Zeitbewußtseins (1905) bedeutet für Ricoeur einen gewissen Höhepunkt den die
Tradition der Innerlichkeit erreicht hat (er vergleicht Husserl mit Fichte „dem er in
zahlreichen Punkten nahe ist“!!). Erst in der fünften der Cartesianischen
Meditationen (1935) ist ein Übergang von der radikalen Egologie zur
Intersubjektivität vorbereitet.
Schon früher aber, in den Vorlesungen, vollzieht sich ein Perspektivenwechsel,
der für die Konstitution des Gedächtnisses von großer Bedeutung ist. Zeitbewusstsein
wird deutlich zu etwas „Innerem“ erklärt, Bewusstsein ist nicht mehr als
intentionales „Bewusstsein von“
verstanden. Es handelt sich hier um eine
immanente Zeit des Bewusstseinsverlaufes, es fehlt also der Abstand zwischen
Bewusstsein und Zeit. Diese radikale Immanenz der Zeit ist durch die Reduktion der
„objektiven“ Zeit „außerhalb“ des Bewusstseins. Nach der Ausschaltung des Objekts
und des individuellen Prozesses, bleibt uns das reine innere Verhältnis zur
Kontinuität zwischen einem Jetzt und einem Früher, ein Zeitfluß, eine stetige
Umwandlung des immanenten Jetzt in Modi des unmittelbar Vergangenen (nichts
zeitlich Objektives). Es bleibt auch eine „Konstitution“ aber nicht als eine
„Konstitution von etwas“. Die immanente Zeit konstituiert sich als eine für alle
immanenten Objekte und Vorgänge, als eine „Alleinheit“. Der Bewusstseinsfluß
konstituiert seine eigene Einheit. Es ist auch ein „Urbewusstsein“, das hinter sich
kein Bewusstsein mehr hat, in dem es bewusst wäre. Dieses in seinem Fluß
konstituierte transzendentale Bewusstsein bezeichnet sich selbst als ein ego. Das
transzendentale Bewusstsein des Flusses bezeichnet sich selbst als Bewusstsein eines
einzelnen Ich.
Dies ist auch der Ausgangspunkt der fünften Meditation, in der Husserl ein
Problem der Intersubjektivität löst. Es ist extrem schwierig von einem ego zu einem
anderen überzugehen, damit Wir zu werden. Der egologischen Zugangsweise fehlt
Anerkennung einer ursprünglichen Abwesenheit, Abwesenheit eines fremden Ich,
eines Anderen, der im Bewusstsein des einen Selbst immer schon impliziert ist. Am
Ende der fünften Meditation entfaltet Husserl ein Thema der „Vergemeinschaftung“
der Erfahrung auf all ihren Bedeutungsebenen (physische Natur, höhere
intersubjektiven Gemeinschaften) und beschreibt die Konstitution des Anderen als
Fremden. Die Erfahrung des Anderen als Fremden wird aber in der Eigenheitssphäre
konstituiert, die erst sekundär mit Theorien über die analoge Apperzeption, Paarung
oder Appräsentation ergänzt wird. Ricoeur ist skeptisch zu dieser Reihenfolge
(Eigenheit – Erfahrung des Anderen – gemeinschaftliche Erfahrung) und stellt die
offene Frage, ob die Gründe dazu nicht mehr idealistische als phänomenologische
sind. „Es gibt sicher einen Moment, an dem man vom ich zum wir übergehen muß.
Ist dieser Moment aber nicht ursprünglich, und zwar im Sinne eines neuen
Ausgangspunkts?“ (S. 184)
3. Die Tradition der „Objektivität“ (kollektives Bewusstsein)
Unter vielen Soziologen und soziologisch geprägten Denkern findet Ricoeur
gerade Maurice Halbwachs und sein Buch La mémoire collective. Seine Perspektive
ist umgekehrte zu der egologischen: um sich zu erinnern, bedarf es der Anderen. In
der Wirklichkeit sind wir nie allein und die These des Solipsismus ist von Anfang an
eine Denkhypothese. „Man erinnert sich nur unter der Bedingung, dass man den
Standpunkt einer oder mehrerer Gruppen einnimmt und sich von neuem in eine oder
mehrere Strömungen kollektiven Denkens einfügt.“ Allein gibt es keine Erinnerung.
Es entsteht aber die umgekehrte Frage: Ist es wirklich nur eine Illusion, wenn wir
vorgeben, die ursprünglichen Besitzer einer Erinnerung zu sein? Sind wir noch ein
authentisches Subjekt oder können wir nur von einem kollektiven Denken unser
Gefühl der Einheit des Ich ableiten? Halbwachs gibt nur ein Vermögen des
Bewusstseins zu, sich in den Blickpunkt einer Gruppe hineinzuversetzen. Wir
bemerken es aber nicht.
4. Drei Subjekte der Erinnerung
Das Ergebnis der vorangegangenen Analysen befriedigt aber nicht unser Fragen
nach dem Wer des Gedächtnisses. Die Phänomenologie des individuellen
Gedächtnisses und die Soziologie des kollektiven Gedächtnisses sind nicht in der
Lage aus ihrer starken Positionen die Legitimität ihrer eigenen Gegenthese
abzuleiten, solchen Versuchen fehlt gewisse Symmetrie. Daher gibt es keinen
Überschneidungbereich zwischen den phänomenologischen Versuchen um die
Ableitung des kollektiven Gedächtnisses und den soziologischen Versuchen um die
Ableitung des individuellen Gedächtnisses.
Trotz dieser (scheinbaren?) gegenseitigen Unüberbrückbarkeit beider Diskurse,
versucht Ricoeur zuerst einen Sprachbereich, in dem sie zur Überschneidung
gebracht werden können. Danach will er die fatale Polarität des Ich und des Wir
durch ein neues Subjekt, eine dritte Ebene der „Nahestehenden“ (les proches) auch
„phänomenologisch“ vermitteln.
Der Schlüsselbegriff weiterer Analysen ist für Ricoeur der der Attribution
psychischer Operationen an jemanden und das Feld der Untersuchungen ist die
Alltagsprache. Die grammatikalische Form unserer Sprache, z.B. der Gebrauch der
Possessivpronomen wie mein in Singular oder Plural usw., impliziert die Behauptung
des Eigentums auch auf die psychischen Phänomene im allgemeinen und die
mnemonischen Phänomene im besonderen Sinne. Wenn aber so ein Phänomen mir
zugeschrieben werden kann, kann es ebenso gut auch einem anderen zugeschrieben
werden. In solchen Attributionen bleibt aber eine gewisse Asymmetrie der Erfüllung
beibehalten, die wir aus Husserls fünften Meditation kennen. Im Falle der
Selbstattribution ist die Erfüllung unmittelbar und gewiß, sie drückt eine distanzlose
Jemeinigkeit aus. Im Gegenteil das, was man den Anderen zuschreibt, bleibt nur
spekulativ und indirekt. Das Problem der beiden Gedächtnisse ist damit noch nicht
aufgehoben. Wenn es aber schon zum Aussprechen einer Erinnerung kommt,
geschieht es in einer Alltagssprache, die in den meisten Fällen die Muttersprache ist,
und so auch die Sprache der Anderen. Auf dem Weg zur Mündlichkeit, zur Erzählung
usw. wird die ausgesprochene Erinnerung im gewissen Sinne öffentlich. Die
Erinnerung verliert mit ihrer „Veröffentlichung“ den Stempel der Jemeinigkeit,
unmittelbarer Gegebenheit und kognitiver Evidenz, was aber auf der anderer Seite
neue „Verifikationsmöglichkeiten“ anbietet: verhindertes Gedächtnis kann durch die
Behandlung eines Psychoterapeuts – im Gespräch mit ihm – geheilt werden,
Vergleich mit den Erinnerungen der Anderen im Gespräch kann unsere Illusionen
erschüttern…
Wenn Ricoeur das Gedächtnis zur Sprache geführt hat, also in eine öffentliche
Sphäre, entsteht damit auch eine neue Gelegenheit für eine „objektiv“ gerichtete
Untersuchung, für eine Soziologie. Aber schon bei Husserl selbst, in seiner Krise,
finden wir eine ganz neue Konzeption einer „Lebenswelt“, die weder mit den
Bedingungen der Einsamkeit, noch mit solipsistischen Bedingungen der Einsamkeit
gleichzusetzen ist, sondern von Anfang an eine gemeinschaftliche Form aufweist. An
diese Idee der Ausweitung der Phänomenologie auf die Sozialsphäre knüpft das
bemerkenswerte Buch des Soziologen Alfred SCHÜTZ1. Für ihn ist die Fremderfahrung
eine genauso ursprüngliche Gegebenheit wie die Selbsterfahrung. Ihre
Unmittelbarkeit beruht weniger auf kognitiver Evidenz als vielmehr auf einem
praktischen Glauben. Wir Glauben an die Existenz des Anderen, weil wir mit ihm und
über ihn handeln und weil wir Betroffene seines Handelns sind. Die handelnden und
leidenden Subjekte sind von Anfang an Mitglieder einer Gemeinschaft oder eines
Kollektivs. Bei Schütz finden wir auch die Grundlinien einer Phänomenologie des
Gedächtnisses, nämlich in seinem Phänomen der Generationsfolge. Die Welt nach
Schütz besteht aus der Welt der Zeitgenossen, der Vorgänger und der Nachfolger (aus
der „Mitwelt“, der „Vorwelt“ und der „Folgewelt“). Die Mitwelt konstituiert sich in
der Gleichzeitigkeit des fremden Bewusstseins mit dem eigenen. Die gemeinsame
Welterfahrung beruht auf einer räumlichen und zeitlichen Koexistenz, die eine
Abstufung zwischen zwei Polen ist: dem personalen und dem anonymen, zwischen
authentischen wir und dem des man oder sie.
In diesen Analysen der „mittleren“ Stufen zwischen Ich und Wir gipfelt das
Kapitel über das individuellen und kollektiven Gedächtnis. Erst am Ende bringt
Ricoeur seine eigene höchst interessante Konzeption der drei Subjekte des
Gedächtnisses und der Nahestehenden (les proches) als privilegierte Andere, die die
natürliche Ebene darstellen, auf der die konkreten Austausche stattfinden zwischen
dem lebendigen Gedächtnis individueller Personen und dem öffentlichen Gedächtnis
der Gemeinschaften. Der Lektüre dieser zwei letzten Seiten des Kapitels können wir
jetzt unsere Aufmerksamkeit widmen.
Lektüre: Seite 203, der letzte Absatz unten – bis Ende
1
Alfred SCHÜTZ, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Wien 1932
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