WER HAT ANGST VOR DEM BÜRGER? ALLE PARTEIEN STELLEN SICH OFT ÜBER DAS VOLK So geht es: Zuerst war die grüne und sozialdemokratische „Linke“ für direkte Demokratie. Die christdemokratische und die liberale „Rechte“ hielt es mehr mit der repräsentativen Demokratie. Dann setzte sich das Plebiszit mit Volksbegehren und Volksabstimmungen auch im letzten Bundesland – Berlin – durch: Nicht anstelle des Parlamentes, sondern zu dessen Ergänzung. Flug machten die „Bürgerlichen“ im Berliner Westen von dem neuen Instrument Gebrauch und setzten es gegen die rot-grüne Parkraumbewirtschaftung ein. Die Sache funktionierte: Eine große Mehrheit stimmte gegen einen weiteren Ausbau der Parkraumbewirtschaftung. CDU und FDP triumphierten: „Der Bürger“ habe die rot-grüne Ideologie gestoppt. SPD und Grüne waren beleidigt: Die Leute hätten nur in ihre Geldbeutel geschaut und die Leitlinien rot-grüner Verkehrspolitik nicht beachtet. So mutierten die „bürgerlichen“ Parteien zu freudigen Anhängern des Plebiszit, während die „Linken“ nun die repräsentative Variante der Demokratie betonten: Wir – die auf Zeit gewählten Gremien - haben zu entscheiden und wissen, was richtig ist. Jeder ist auf seine Weise vom Saulus zum Paulus geworden. Nun aber wird die Sache ernst: Eigentlich ist vorgesehen, dass die Parteien nach der nächsten Wahl in den Bezirken Berlin Koalitionen bilden können, so wie es im Bund, in jedem Land und in jeder Kommune ansonsten Brauch ist. Da bekommen einige in den Großparteien Berlins Bedenken: Das bunte Volk der kleinen Parteien – in den Bezirken sind es nicht nur die FDP, die Grünen und die Linke – könnte alles durcheinander bringen. Futsch wären die sicheren Pfründe für CDU- und SPD-Kommunalpolitiker. Im Osten der Stadt könnte sich die Linke mit der FDP und den Grünen verbünden, und die Großparteien hätten das Nachsehen. Im Westen könnte hier und da gar die Jamaika-Flagge gehisst werden, und SPD-Politikern bliebe nur, zuzuschauen, wie das Tuch hochgeht. Woanders könnte eine „Ampel“ aufblinken - was im übrigen die Bundesländer Bremen und Brandenburg schon einmal überlebt haben. Das wäre ein Stopp-Signal für CDU-Karrieristen, pardon: „CDU-Gestalter“. So denkt man in der Stadt großkoalitionär darüber nach, in den Bezirken das „politische Bezirksamt“ doch nicht zuzulassen und bei der guten alten Ämterverteilung nach Proporz zu bleiben. So wären wenigstens einige SPD- und CDU-Funktionäre nach der nächsten Wahl sicher untergebracht. Merkwürdige Demokraten sind das, welche die politischen Strukturen so gestalten wollen, dass ihre Klientel davon profitieren. 1 Wie die direkte Demokratie zur Ergänzung des Parlamentarismus da sein sollte und nicht zum Wohle oder Leid einer Partei, so sollte auch das politische Bezirksamt mehr Demokratie in die Bezirke bringen. Nutzen sollte das allen Parteien, weil es als Mittel gegen die Parteienverdrossenheit gedacht war. Wenn zurück gedreht werden sollte, wird das am Ende jenen schaden, die ein möglichst großes Stück vom Kuchen festhalten wollen. Die Bürger merken das, und die ehemaligen Volksparteien würden sich wieder ein weiteres Stück vom Volke entfernen. Niemand weiß, wem das am Ende nützt. Die Reise in den Bezirken, will man mehr Verbundenheit mit dem Gemeinwesen Berlin stiften, muss weiter und in die andere Richtung gehen: Politische Bezirksämter haben nur wirklich Sinn, wenn sie eigenverantwortlich handeln können. Also müssen die Bezirke mehr Kompetenzen erhalten, bis hin zum Budgetrecht. Dann käme es zur Konkurrenz zwischen den Bezirken, ohne dass Berlin deswegen aufgelöst werden müsste: Die Zuständigkeit für die innere Sicherheit, das Hochschulwesen, die Kultur und den Verkehr werde auf jeden Fall bei der Stadt Berlin bleiben. In diesem Rahmen könnten die Bezirke politisch gestalten. Das ist auch eine Voraussetzung dafür, dass es jemals zu einer Länderfusion mit Brandenburg kommt. Denn in Brandenburg, haben selbst kleine Gemeinden, haben Kreise und Ämter eigene Gestaltungsmöglichkeiten, wie sie den großen Berliner Bezirken verwehrt werden. Das passt doch nicht zusammen! Es passt auch nicht, dass die Potsdamer, die Cottbuser, die Frankfurter und Brandenburger ihre Bürgermeister selber wählen, die Spandauer, Köpenicker, Reinickendorfer und Charlottenburg-Wilmerdorfer hingegen nicht. Im Land Brandenburg herrscht mittlerweile mehr Demokratie als in Berlin. Seltsamerweise sind es bei der direkten Bürgermeisterwahl auch die kleineren Parteien, die zögern - aus den gleichen Motiven heraus wie die Großparteien beim politischen Bezirksamt. Werden grüne oder FDP-Kandidaten bei der Direktwahl der Bürgermeister überhaupt eine Chance haben, fragt manch ein besorgter Funktionär. Wer so argumentiert, stellt die eigene Partei über die Bevölkerung und trägt ebenfalls zur Politikverdrossenheit bei. Im übrigen zeigen Beispiele aus vielen Bundesländern, dass bei Direktwahlen von Stadtoberhäuptern nicht nur CDU-, CSU-, SPD- oder Linkspartei-Kandidaten gewinnen können, sondern auch andere. Wer hat Angst vor dem Bürger? Offenbar viele Funktionäre in allen etablierten Parteien. Die Parteien aber haben nicht das Monopol auf die Willensbildung. Sie sollen daran „nur“ 2 mitwirken. Nicht die Parteien, nicht die Parlamente oder Regierungen sind der Souverän auch die Medien sind es nicht! - sondern es ist das Volk. Dieses Volk entscheidet – oh Graus – nach eigenen Interessen. Es will im Berliner Westen nicht für`s Parken auf öffentlichem Gelände geschröpft werden, es will sich in Hamburg nicht gegen den CDU-Senat instrumentalisieren lassen, es will in Bayern keine zweite Kammern für Honoratioren, es will in Kreuzberg eine Straße nach Rudi Dutschke benennen. Es wird Zeit, dass die Parteien ihre Allmachtgelüste aufgeben. Es hat auch nicht viel Zweck zu monieren, wenn das Volk anders entscheidet, als die von Experten beratenen Politiker es sich so vorstellen. Wer allen andern außer sich selbst die Schuld gibt, wenn er sich beim Volk nicht durchsetzen kann, ist ein Gesinnungspolitiker. Solche brauchen wir nicht. Wir brauchen Verantwortungspolitiker, die mit Geduld und Augenmaß und unter Achtung der Rechte der Bürger für ihre Ideen arbeiten. Das hat uns der alte Max Weber gelehrt. In Berlin kann es jetzt nur heißen: Lasst es in den Bezirken nach der nächsten Wahl zu Koalitionen kommen– wie überall in Deutschland. Dann muss es weiter gehen: Die Bezirke brauchen eigenen Kompetenzen und eigenverantwortliche Kämmerer. Schließlich sollte das Volk seine Bürgermeister wählen – nicht nur die in den Bezirken; am Ende auch den Berliner Bürgermeister. Denn wenn es irgendwann zu Wiedervereinigung von Brandenburg und Berlin kommen sollte, wäre das Berliner Stadtoberhaupt wieder Oberbürgermeister wie in München oder in Frankfurt am Main. Dort aber ist es schon lange Brauch, den Bürgermeister oder die Bürgermeisterin direkt vom Volke bestimmen zu lassen. Wäre das erreicht, dann hätten die Zehlendorfer endlich die gleichen Rechte wie ihre Nachbarn, die Potsdamer. Ein Stein auf dem Wege hin zur Länderfusion wäre beiseite geräumt. JÜRGEN DITTBERNER 3